HAMBURGISCHE DRAMATURGIE von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING Zweiter Band Verzeichnis der Theaterstücke, nach Autorennamen geordnet Verzeichnis der Theaterstücke, nach Titeln geordnet Es wird sich leicht erraten lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwärtigen Blattes ist. Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Männern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlänglich darüber erklärt, und ihre Äußerungen sind, sowohl hier, als auswärts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Beförderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern Zeiten sich versprechen darf. Freilich gibt es immer und überall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man könnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern gönnen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr hämischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen bemüht ist: so müssen sie wissen, daß sie die verachtungswürdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind. Glücklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die größere Anzahl wohlgesinnter Bürger sie in den Schranken der Ehrerbietung hält und nicht verstattet, daß das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spöttischen Aberwitzes werden! So glücklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so glücklich zu sein! Als Schlegel, zur Aufnahme des dänischen Theaters,--(ein deutscher Dichter des dänischen Theaters!)--Vorschläge tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, "daß man den Schauspielern selbst die Sorge nicht überlassen müsse, für ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten".[1] Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlässiger und eigennütziger treiben läßt, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen. Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen wäre, als daß eine Gesellschaft von Freunden der Bühne Hand an das Werk gelegt und, nach einem gemeinnützigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden hätte: so wäre dennoch, bloß dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veränderung können, auch bei einer nur mäßigen Begünstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf. An Fleiß und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen dürfte, muß die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden! Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann. Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe, natürlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist. Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret. Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden Stücken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stücke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Stärke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist. Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heißt beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht. Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die größte Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat. Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn denken. Man hat allen Grund, häufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen.--Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht höher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet. Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein ruhiges Gehör zu erlangen.--Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher als mit dem Anfange des künftigen Monats erscheinen. Hamburg, den 22. April 1767. [1] "Werke", dritter Teil, S. 252." Erstes Stück Den 1. Mai 1767 Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und Sophronia" glücklich eröffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stückes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl wäre zu tadeln, wenn sich zeigen ließe, daß man eine viel bessere hätte treffen können. "Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings für unsere Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf das was er, nach dem Urteile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen? Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine rührende Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklären, tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert. Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Stärke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmütiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlaßte: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbesserung--weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natürlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, daß nichts darüber! Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertätige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmöglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verrät sich in mehrern Stücken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der gröbste Fehler aber ist, daß er eine Religion überall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm "ein Sitz der falschen Götter", und den Priester selbst läßt er ausrufen: "So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe rüsten, Ihr Götter? Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!" Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostüm, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muß solche Ungereimtheiten sagen! Beim Tasso kömmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menschenhänden entwendet worden, oder ob eine höhere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Täter. Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr verächtliche Seite. Man kann ihm unmöglich wieder gut werden, daß er es wagen können, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Großmut. Beim Tasso läßt ihn bloß die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloß um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den nämlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem nämlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloß das Glück einer so süßen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wünschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein möge, daß er Brust gegen Brust drücken und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen dürfe. Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwärmerin und einem hitzigen, begierigen Jünglinge ist beim Cronegk völlig verloren. Sie sind beide von der kältesten Einförmigkeit; beide haben nichts als das Märtertum im Kopfe; und nicht genug, daß er, daß sie für die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena hätte nicht übel Lust dazu. Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel überhaupt. Wenn heldenmütige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern sieht, höret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem "Kodrus" sehr versündiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode für dasselbe, hätte den Kodrus allein auszeichnen sollen: er hätte als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art dastehen müssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles hält gemartert werden und sterben für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, daß sie alle Wirkung Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Märtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und höchstens können sie uns eine melancholische Träne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese Träne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Märtyrer zu seinem Helden wählet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die unumgängliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr bloßstellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein ebenso nichtswürdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; daß es noch Länder gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben würde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in Böhmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloß schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel herabläßt, läßt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestärken. Zweites Stück Den 5. Mai 1767 Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So überzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein mögen, so wenig können sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichsten Ursachen entspringen muß. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muß alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen können. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schönheiten des Detail, über Mißverhältnisse dieser Art zu täuschen; aber er täuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetäuschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden hätten bewegen können, aber viel zu unvermögend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, daß ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstände, durch welche die Wirkung einer höhern Macht in die Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater gehen dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Großmut und Ermahnungen bestürmet und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese Vermutung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas hätte geschehen müssen. Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen? Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rat:--man ließe alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rat, welcher aus den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmäßige Stücke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwächern Gemütern zustatten kömmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Stätte gefaßt machen, im Theater zu hören bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoß geben; und ich wünschte, daß es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen könnte und wollte. Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das übrige hat eine Feder in Wien dazugefüget; eine Feder --denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergänzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod löset alle Verwirrungen am besten; darum läßt er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennützigsten Großmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"--"Woran? am fünften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige böse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres Leben versprachen.-- Doch ich will mich in die Kritik des Stückes nicht tiefer einlassen. So mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der äußeren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hilfe dazu nötig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die Künstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande. Man muß mit der Vorstellung eines Stückes zufrieden sein, wenn unter vier, fünf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Notnagel so sehr beleidiget, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist. Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer für den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle übrige Rollen von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, daß er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält. Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem "Kodrus" und hier, so manche in einer so schönen nachdrücklichen Kürze ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch öfters gefärbtes Glas für Ede1steine, und witzige Antithesen für gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine, "Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht." "Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht." Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen läßt. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates würde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeinten Maximen wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil möge gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Pöbel das sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse, um des Bösen wegen, wollen, er könne nach lasterhaften Grundsätzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so gräßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden für die höchste Schönheit des Trauerspieles hält. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, daß ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein müssen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Bösewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemißbraucht hätten. Wenn die Bühne so unbesonnene Urteile über die Priester überhaupt ertönen läßt, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstraße zur Hölle ausschreien? Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stückes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen. Drittes Stück Den 8. Mai 1767 Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hören? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso unterhaltend finden sollen? Alle Moral muß aus der Fülle des Herzens kommen, von der der Mund übergehet; man muß ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen. Es verstehst sich also von selbst, daß die moralischen Stellen vorzüglich wohl gelernet sein wollen. Sie müssen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, daß sie keine mühsame Auskramungen des Gedächtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwärtigen Lage der Sachen scheinen. Ebenso ausgemacht ist es, daß kein falscher Akzent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe. Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedächtnis gepräget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschäftiget; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele muß ganz gegenwärtig sein; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann-- Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist überhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urteilen können. Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge in dem Baue des Körpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwächen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwärtig äußern und ausdrücken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegenteils kann ein anderer so glücklich gebauet sein; er kann so entscheidende Züge besitzen; alle seine Muskeln können ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfältige Abänderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglückt sein, daß er uns in denjenigen Rollen, die er nicht ursprünglich, sondern nach irgendeinem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische Nachäffung ist. Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgültigkeit und Kälte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeäffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfängt, und durch deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, daß eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die äußerste Wut des Zornes ausdrücken; ich nehme an, daß er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, daß er die Gründe dieses Zornes weder hinlänglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergröbsten Äußerungen des Zornes einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiß--den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne usw.--wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte. Nach diesen Grundsätzen von der Empfindung überhaupt habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche äußerliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so daß sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich dünkt folgendes. Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Überlegung verlangt. Er will also mit Gelassenheit und einer gewissen Kälte gesagt sein. Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindrücken, welche individuelle Umstände auf die handelnden Personen machen; er ist kein bloßer symbolischer Schluß; er ist eine generalisierte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sein. Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kälte?-- Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht. Ist die Situation ruhig, so muß sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muß über ihr Glück oder ihre Pflichten bloß darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu genießen, diese desto williger und mutiger zu beobachten. Ist die Situation hingegen heftig, so muß sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zurückholen; sie muß ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stürmischen Ausbrüchen den Schein vorbedächtlicher Entschließungen geben zu wollen scheinen. Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen gemäßigten und feierlichen. Denn dort muß das Raisonnement in Affekt entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskühlen. Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stürmisch heraus, als das übrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als das übrige. Daher geschieht es denn aber auch, daß sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und daß wir sie in jenen ebenso unnatürlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie überlegten nie, daß die Stickerei von dem Grunde abstechen muß, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist. Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was für welche. Sie machen gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende. Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen überlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natürlich, daß sie allen Bewegungen des Körpers, die von ihrem bloßen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudrücken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuß fest auf, die Arme sinken, der ganze Körper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause--und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen Stille, als ob er sich nicht stören wollte, sich selbst zu hören. Die Reflexion ist aus,--wieder eine Pause--und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu mäßigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmählich das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, während der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urplötzlich in unserer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrückenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande des ganzen übrigen Körpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kälte, mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen gesprochen Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, daß der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kältere, und welcher dort der kältere war, hier der feurige sein muß. Nämlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen höhern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Körpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Hände werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der übrige Körper gern herausarbeiten möchte. Viertes Stück Den 12. Mai 1767 Aber von was für Art sind die Bewegungen der Hände, mit welchen, in ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet? Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Hände vorgeschrieben hatten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, daß sie die Händesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner darin zu leisten imstande sind, kaum die Möglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermögen, Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, daß sie nicht bloß eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes fähig werden. Ich bescheide mich gern, daß man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schauspieler vermengen muß. Die Hände des Schauspielers waren bei weitem so geschwätzig nicht, als die Hände des Pantomimens. Bei diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Hände nicht bloß natürliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser mußte sich der Schauspieler gänzlich enthalten. Er gebrauchte sich also seiner Hände sparsamer, als der Pantomime, aber ebensowenig vergebens, als dieser. Er rührte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstärken konnte. Er wußte nichts von den gleichgültigen Bewegungen, durch deren beständigen einförmigen Gebrauch ein so großer Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand die Hälfte einer krieplichten Achte, abwärts vom Körper, beschreiben, oder mit beiden Händen zugleich die Luft von sich wegrudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu tun geübt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand in schönen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen möglichen Abänderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Größe und Dauer, fähig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Übung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes geläufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schönen Linien, immer nach der nämlichen Direktion, bestehe. Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse; und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Sprüchelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet. Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muß bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beispielen zu erläutern. Itzt würde mich dieses zu weit führen, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Gesten eine Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umständen der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermaßen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwärtige von dem weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhörer nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurückzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein können, so muß sie der Schauspieler ja nicht zu machen versäumen. Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es itzt beifällt; der Schauspieler wird sich ohne Mühe auf noch weit einleuchtendere besinnen.--Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er so grausam mit den Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrüglichkeit unsrer Hoffnungen zu Gemüte führen. "Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!" Sein Sohn ist ein feuriger Jüngling, und in der Jugend ist man vorzüglich geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen. "Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft." Doch indem besinnt er sich, daß das Alter zu dem entgegengesetzten Fehler nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Jüngling nicht ganz niederschlagen und fähret fort: "Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft." Diese Sentenzen mit einer gleichgültigen Aktion, mit einer nichts als schönen Bewegung des Armes begleiten, würde weit schlimmer sein, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die, welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschränkt. "Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft" muß in dem Tone, mit dem Gestu der väterlichen Warnung, an und gegen den Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne leichtgläubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung veranlaßt. Die Zeile hingegen, "Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft" erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Hände müssen sich notwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, daß Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, daß er selbst der Alte sei, von dem er gelte. Es ist Zeit, daß ich von dieser Ausschweifung über den Vortrag der moralischen Stellen wieder zurückkomme. Was man Lehrreiches darin findet, hat man lediglich den Beispielen des Herrn Ekhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Künstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloß gelingt, sondern der es macht! Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Akzent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrensten, holprigsten, dunke1sten Vers mit einer Leichtigkeit, mit einer Präzision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, den vol1ständigsten Kommentar erhält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube die Liebeserklärung, welche sie dem Olint tut, noch zu hören: "--Erkenne mich! Ich kann nicht länger schweigen; Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen. Olint ist in Gefahr, und ich bin außer mir-- Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute, War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. Dein Unglück aber reißt die ganze Seele hin, Und itzt erkenn' ich erst, wie klein, wie schwach ich bin. Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen, Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen, Verbrechern gleichgestellt, unglücklich und ein Christ, Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist: Itzt wag' ich's zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!" Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Überströmung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie überraschend brach sie auf einmal ab und veränderte auf einmal Stimme und Blick und die ganze Haltung des Körpers, da es nun darauf ankam, die dürren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich "Ich liebe dich, Olint,--" heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe sich so erklärt, empfand, daß sie sich so erklären sollte. Sie entschloß sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein zärtliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewöhnt sonst in allem zu männlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimütigkeit wieder da. Sie fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekümmerten Hitze des Affekts fort: "--Und stolz auf meine Liebe, Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten kann, Biet' ich dir Hand und Herz, und Kron' und Purpur an." Denn die Liebe äußert sich nun als großmütige Freundschaft: und die Freundschaft spricht ebenso dreist, als schüchtern die Liebe. Fünftes Stück Den 15. Mai 1767 Es ist unstreitig, daß die Schauspielerin durch diese meisterhafte Absetzung der Worte "Ich liebe dich, Olint,--" der Stelle eine Schönheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in dem nämlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen hätte, in diesen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er hätte sagen sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob könnte größer sein, als so ein Vorwurf? Freilich muß sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses Lob verdienen zu können. Denn sonst möchte es mit den armen Dichtern übel aussehen. Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes, widerwärtiges, häßliches Ding gemacht. Und demohngeachtet ist sie noch der einzige Charakter, der uns bei ihm interessierst. So sehr er die schöne Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die übrigen Charaktere ganz außer aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbrütenden Schwärmern sympathisieren. Nur gegen das Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton fällt, wird sie uns ebenso gleichgültig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt sie von einem Äußersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklärt, so fügt sie hinzu: "Wirst du mein Herz verschmähn? Du schweigst?--Entschließe dich; Und wenn du zweifeln kannst--so zittre!-- So zittre? Olint soll zittern? er, den sie oft in dem Tumulte der Schlacht unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen? --O wenn es der Schauspielerin eingefallen wäre, für diese ungezogene weibliche Gasconade "so zittre!" zu sagen: "ich zittre!" Sie konnte zittern, soviel sie wollte, ihre Liebe verschmäht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das wäre sehr natürlich gewesen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fordern, das ist so unartig als lächerlich. Doch was hätte es geholfen, den Dichter einen Augenblick länger in den Schranken des Woh1standes und der Mäßigung zu erhalten? Er fährt fort, Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marketenderin rasen zu lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemäntelung mehr statt. Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun könnte, wäre vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreißen ließe, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die äußerste Wut nicht mit der äußersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebärden ausdrückte. Wenn Shakespeare nicht ein ebenso großer Schauspieler in der Ausübung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens ebenso gut gewußt, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des andern gehöret. Ja vielleicht hatte er über die Kunst des erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komödianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel für alle Schauspieler, denen an einem vernünftigen Beifalle gelegen ist. "Ich bitte euch", läßt er ihn unter andern zu den Komödianten sagen, "sprecht die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muß nur eben darüber hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von unsern Schauspielern tun: seht, so wäre mir es ebenso lieb gewesen, wenn der Stadtschreier meine Verse gesagt hätte. Auch durchsägt mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles hübsch artig; denn mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften, müßt ihr noch einen Grad von Mäßigung beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt." Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben könne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anführen, daß ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein könne, als es die Umstände erfodern: so haben die, welche es leugnen, recht zu sagen, daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Überhaupt kömmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl unstreitig, daß der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stücke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so müßten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur äußersten Illusion getrieben zu sehen wünschen, wenn es möglich wäre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden könnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein, dessen Mäßigung Shakespeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muß bloß jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Mäßigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stücken mäßigen müsse. Es gibt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig würden; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Äußerung der heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen verlangt, wenn sie den höchsten Eindruck machen und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen. Die Kunst des Schauspielers stehet hier zwischen den bildenden Künsten und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr alle das Ausdrückende, welches ihm eigentümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß sie nicht allzu lang darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmählich vorbereiten und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verständlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen gibet, unverfälscht überliefern soll. Es könnte leicht sein, daß sich unsere Schauspieler bei der Mäßigung, zu der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in Ansehung des Beifalles nicht allzuwohl befinden dürften.--Aber welches Beifalles?--Die Galerie ist freilich ein großer Liebhaber des Lärmenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Händen zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schläfrigste rafft sich, gegen das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal die Stimme und überladet die Aktion, ohne zu überlegen, ob der Sinn seiner Rede diese höhere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was tut das ihm? Genug, daß er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu sein, und wenn es die Güte haben will, ihm nachzuklatschen. Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug, teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, für die Tat. Ich getraue mich nicht, von der Aktion der übrigen Schauspieler in diesem Stücke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemüht sein müssen, Fehler zu bemänteln, und das Mittelmäßige geltend zu machen: so kann auch der Beste nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruß, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten lassen, so sind wir doch nicht aufgeräumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet. Den Beschluß des ersten Abends machte "Der Triumph der vergangenen Zeit", ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Französischen des Le Grand. Es ist eines von den drei kleinen Stücken, welche Le Grand unter dem allgemeinen Titel "Der Triumph der Zeit" im Jahr 1724 auf die französische Bühne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufschrift "Die lächerlichen Verliebten", behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind sehr lächerlich. Nur ist das Lächerliche von der Art, wie es sich mehr für eine satirische Erzählung, als auf die Bühne schickt. Der Sieg der Zeit über Schönheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines sechzigjährigen Gecks und einer ebenso alten Närrin, daß die Zeit nur über ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar lächerlich; aber diesen Geck und diese Närrin selbst zu sehen, ist ekelhafter, als lächerlich. Sechstes Stück Den 19. Mai 1767 Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem großen Stücke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefällige Miene des Scherzes zu geben. Womit könnte ich diese Blätter besser auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie. Sie bedürfen keines Kommentars. Ich wünsche nur, daß manches darin nicht in den Wind gesagt sei! Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der Würde, und die andere mit alle der Wärme und Feinheit und einschmeichelnden Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte. (Gesprochen von Madame Löwen) Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel: Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen, Wie schön, wie edel ist die Lust, sich so zu quälen; Wenn bald die süße Trän', indem das Herz erweicht, In Zärtlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht, Bald die bestürmte Seel', in jeder Nerv' erschüttert, Im Leiden Wollust fühlt und mit Vergnügen zittert! O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt, Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners wälzt, Vergnügend, wenn sie rührt, entzückend, wenn sie schrecket, Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket, Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt, Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert? Die Fürsicht sendet sie mitleidig auf die Erde, Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde; Weiht sie, die Lehrerin der Könige zu sein, Mit Würde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein; Heißt sie, mit ihrer Macht, durch Tränen zu ergötzen, Das stumpfeste Gefühl der Menschenliebe wetzen; Durch süße Herzensangst, und angenehmes Graun Die Bosheit bändigen und an den Seelen baun; Wohltätig für den Staat, den Wütenden, den Wilden Zum Menschen, Bürger, Freund und Patrioten bilden. Gesetze stärken zwar der Staaten Sicherheit Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit; Doch deckt noch immer List den Bösen vor dem Richter, Und Macht wird oft der Schutz erhabner Bösewichter. Wer rächt die Unschuld dann? Weh dem gedrückten Staat, Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat! Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen, Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen, Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit Für eines Solons Geist den Geist der Drückung leiht! Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen, Das Schwert der Majestät aus ihren Händen drehen: Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls Der Redlichkeit, den Fuß der Freiheit auf den Hals. Läßt den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten, Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten! Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann, Der schlaue Bösewicht, der blutige Tyrann, Wenn der die Unschuld drückt, wer wagt es, sie zu decken? Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken. Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?-- Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geißel trägt, Die unerschrockne Kunst, die allen Mißgestalten Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten; Die das Geweb' enthüllt, worin sich List verspinnt, Und den Tyrannen sagt, daß sie Tyrannen sind; Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erblödet, Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fürsten redet; Gekrönte Mörder schreckt, den Ehrgeiz nüchtern macht, Den Heuchler züchtiget und Toren klüger lacht; Sie, die zum Unterricht die Toten läßt erscheinen, Die große Kunst, mit der wir lachen, oder weinen. Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier; In Rom, in Gallien, in Albion, und--hier. Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Tränen flossen, Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen; Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint: Wie sie gehaßt, geliebt, gehoffet und gescheuet Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet. Lang hat sie sich umsonst nach Bühnen umgesehn: In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen! Hier, in dem Schoß der Ruh', im Schutze weiser Gönner, Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner; Hier reifet--ja ich wünsch', ich hoff', ich weissag' es!-- Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles, Der Gräciens Kothurn Germanien erneute: Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Gönner, wird der eure. O seid desselben wert! Bleibt eurer Güte gleich, Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch! (Gesprochen von Madame Hensel) Seht hier! so standhaft stirbt der überzeugte Christ! So lieblos hasset der, dem Irrtum nützlich ist, Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache, Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache. Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt, Wo Blindheit für Verdienst, und Furcht für Andacht galt. So konnt' er sein Gespinst von Lügen mit den Blitzen Der Majestät, mit Gift, mit Meuchelmord beschützen. Wo Überzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut: Die Wahrheit überführt, der Irrtum fodert Blut. Verfolgen muß man die und mit dem Schwert bekehren, Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren. Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Mörder nach Und muß mit seinem Schwert den, welchen Träumer hassen, Den Freund, den Märtyrer der Wahrheit würgen lassen. Abscheulichs Meisterstück der Herrschsucht und der List, Wofür kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist! O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst mißbrauchen, In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen, Dich, die ihr Blutpanier oft über Leichen trug, Dich, Greuel, zu verschmähn, wer leiht mir einen Fluch! Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme Laut für die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme Ein schuldlos Opfer ward und für die Wahrheit sank: Habt Dank für dies Gefühl, für jede Träne Dank! Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes: Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes! Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind, Zwar schwächere vielleicht, doch immer Menschen sind. Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Tränen, Die sonst kein Vorwurf trifft, als daß sie anders wähnen! Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu, Nichts zur Verstellung zwingt, zu böser Heuchelei; Der für die Wahrheit glüht und, nie durch Furcht gezügelt, Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt. Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert: O wohl uns! hätten wir, was Cronegk schön gelehrt, Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben, Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben! Des Dichters Leben war schön, wie sein Nachruhm ist; Er war, und--o verzeiht die Trän'!--und starb, ein Christ. Ließ sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten, Um sie--was kann man mehr?--noch tot zu unterrichten. Versaget, hat euch itzt Sophronia gerührt, Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebührt, Den Seufzer, daß er starb, den Dank für seine Lehre, Und--ach! den traurigen Tribut von einer Zähre. Uns aber, edle Freund', ermuntre Gütigkeit; Und hätten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht. Verzeihung mutiget zu edelerm Erkühnen, Und feiner Tadel lehrt das höchste Lob verdienen. Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt, In welcher tausend Quins für einen Garrick sind; Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen, Und--doch nur euch gebührt zu richten, uns zu schweigen. Siebentes Stück Den 22. Mai 1767 Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner höchsten Würde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten läßt. Es gibt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbeträchtlich und in sich selbst zu veränderlich sind, als daß sie wert oder fähig wären, unter der eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz fällt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermeßlich sind, daß sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz entgehen oder doch unmöglich nach Verdienst geahndet werden können. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Lächerlichen, die Komödie; und auf die andern, als auf außerordentliche Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen und das Herz in Tumult setzen, die Tragödie einzuschränken. Das Genie lacht über alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, daß das Schauspiel überhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes wählet und die eigentlichen Gegenstände desselben nur insofern behandelt, als sie sich entweder in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff aus den unglücklichen Zeiten der Kreuzzüge genommen ist, die Toleranz predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzüge selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Päpste waren, wurden in ihrer Ausführung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, kömmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtgläubige Europa entvölkerte, um das ungläubige Asien zu verwüsten? Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlaß dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natürlich und dringend finden sollte. Übrigens stimme ich mit Vergnügen dem rührenden Lobe bei, welches der Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich bereden lassen, daß er mit mir über den poetischen Wert des kritisierten Stückes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, daß ich verschiedene von meinen Lesern durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht hätte. Wenn ihnen bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, mißfällt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den ungekünstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit schätzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muß, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den Verfassern der "Bibliothek der schönen Wissenschaften" gekrönet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stück, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel kömmt, doch noch ein Eine Stelle in dem Epilog ist einer Mißdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt: "Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt, In welcher tausend Quins für einen Garrick sind." Quin, habe ich darwider erinnern hören, ist kein schlechter Schauspieler gewesen.--Nein, gewiß nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil für seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil für sich: man weiß, daß er in der Tragödie mit vieler Würde gespielet; daß er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genüge zu leisten gewußt; daß er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Mißverständnis liegt bloß darin, daß man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und außerordentlichen Schauspieler einen schlechten, und für schlecht durchgängig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier einen von der gewöhnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der überhaupt seine Sache so gut wegmacht, daß man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heißen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, für den das einstimmige Gerücht schon längst den Garrick erkläret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den König im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komödie waren[1]; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick der größte Akteur? Er schien ja nicht über das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das für eine Kunst, über ein Gespenst zu erschrecken? Gewiß und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen hätten, so würden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der andere hingegen, der König, schien wohl auch etwas gerührt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle mögliche Mühe, es zu verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!" Bei den Engländern hat jedes neue Stück seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhörer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindem Verständnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stückes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium für den Dichter, oder für den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl über ihn als über die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die völlige Auflösung des Stücks, die in dem fünften Akte nicht Raum hatte, darin erzählen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen über die geschilderten Sitten und über die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton ändern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts Ungewöhnliches, daß nach dem Blutigsten und Rührendsten die Satire ein so lautes Gelächter aufschlägt und der Witz so mutwillig wird, daß es scheinet, es sei die ausdrückliche Absicht, mit allen Eindrücken des Guten ein Gespötte zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wünschte, daß auch bei uns neue Origina1stücke nicht ganz ohne Einführung und Empfehlung vor das Publikum gebracht würden, so versteht es sich von selbst, daß bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein müßte. Nach dem Lustspiele könnte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei den Engländern Meisterstücke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem größten Vergnügen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil längst vergessen sind. Hamburg hätte einen deutschen Dryden in der Nähe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu würzen, so gut als der Engländer verstehen würde. [1] Teil VI, S. 15. Achtes Stück Den 26. Mai 1767 Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt. Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgeführet. Dieses Stück des Nivelle de la Chaussée ist bekannt. Es ist von der rührenden Gattung, der man den spöttischen Beinamen der Weinerlichen gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die Tränen nahe bringt, wobei wir nicht übel Lust hätten zu weinen, so sind verschiedene Stücke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Ströme von Tränen; und der gemeine Praß französischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefähr so weit, daß uns wird, als ob wir hätten weinen können, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden hätte. "Melanide" ist kein Meisterstück von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnügen. Es hat sich selbst auf dem französischen Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muß ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussée, um das beneiden, weswegen ich wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wünschte. Die Übersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muß es zum Troste des größten Haufens unserer Übersetzer anführen, daß ihre italienischen Mitbrüder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa übersetzen, erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich möchte wohl sagen, etwas anders. Allzu pünktliche Treue macht jede Übersetzung steif, weil unmöglich alles, was in der einen Sprache natürlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Übersetzung aus Versen macht sie zugleich wäßrig und schielend. Denn wo ist der glückliche Versifikateur, den nie das Silbenmaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas stärker oder schwächer, früher oder später, sagen ließe, als er es, frei von diesem Zwange, würde gesagt haben? Wenn nun der Übersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergänzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlässigkeiten seines Originals überliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache für sie machen. Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjährigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Löwen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfähigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefühl, die sicherste, wärmste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wünschen, doch allezeit mit Anstand und Würde äußert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gänzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu können, weiß sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklären. Man weiß, was in der Musik das Mouvement heißt; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stück einförmig; in dem nämlichen Maße der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, müssen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einförmigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stück nur einerlei ausdrücken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen möglich sein würde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stück annehmen und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so müssen die Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Länge wären und aus der nämlichen Anzahl von Silben des nämlichen Zeitmaßes bestünden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Rücksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein können: so ist es der Natur gemäß, daß die Stimme die geringfügigern schnell herausstößt, flüchtig und nachlässig darüber hinschlupft; auf den beträchtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzählet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine künstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht bloß aus einem fertigen Gedächtnisse fließet. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses beständig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abänderungen des Tones, nicht bloß in Ansehung der Höhe und Tiefe, der Stärke und Schwäche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden: so entstehet jene natürliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eröffnet, weil es empfindet, daß sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleißiget, noch hinzufüget, bloß dadurch seiner Deklamation eine höhere Vollkommenheit zu geben imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloß so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Rührende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort. Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe", aufgeführet. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, daß bereits zwei andere Stücke von ihm den Beifall des dortigen Publikums erhalten hätten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwärtigen zu urteilen, müssen sie nicht ganz schlecht sein. Die Hauptzüge der Fabel und der größte Teil der Situationen sind aus der "Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wünschte, daß Herr Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert hätte. Er würde mit einer sicherern Einsicht in die Schönheiten seines Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stücken glücklicher gewesen sein. Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung fähig. Die Situationen sind alltäglich oder unnatürlich, und die wenig guten so weit voneinander entfernt, daß sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzügen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Bühne unmöglich so schließen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schließt, als verlieret. Der Liebhaber der Julie mußte hier glücklich werden, und Herr Heufeld läßt ihn glücklich werden. Er bekömmt seine Schülerin. Aber hat Herr Heufeld auch überlegt, daß seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts als eine kleine verliebte Närrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schöne Stelle im Rousseau besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwähnet habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein schwaches und sogar etwas verführerisches Mädchen und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit übertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie über ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stücke nichts zu hören und zu sehen ist: was bleibt von ihr übrig, als, wie gesagt, das schwache verführerische Mädchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat? Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich wünschte, daß unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerksamer sein wollten.--St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angeführte Kunstrichter, "den Philosophen. Den Philosophen! Ich möchte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all- gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwülstig, ausgelassen, und in seinem übrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Überlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schülerin oder von seinem Freunde an der Hand geführet zu werden."--Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux! [1] Teil X, S. 255 u. f. Neuntes Stück Den 29. Mai 1767 In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklärten Verstand zu zeigen und die tätige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komödie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht und sich sehr beleidiget findet, daß man seinem zärtlichen Herzchen nicht durchgängig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit läuft auf ein paar mächtige Torheiten heraus. Das Bürschchen will sich schlagen und erstechen. Der Verfasser hat es selbst empfunden, daß sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwägen gibt: "daß ein Mensch seinesgleichen, in einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein König, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten könne. Man müsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafür erkannt hätten." Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben beimißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloß auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie interessieren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine üble Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund für den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklären, ihn auch dafür zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre günstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schätzung, die größten. Wie traf es sich denn indes, daß vierundzwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei äußersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umständen nur immer einfallen können? Die Gelegenheiten sind auch darnach; könnte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie möchten aber noch so natürlich herbeigeführet, noch so fein behandelt sein: so würden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre üble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stürmischen Scheinweisen nicht verlieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln könne, hören wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdrücken. Die Härte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewählet hatte, wird beim Rousseau nur kaum berührt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er läßt den Vater die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die Ausführung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir gestehen mußte, diesen Akteurs könne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, daß dieses unterlassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich sehen. Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stückes. Sie gehört dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kränket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte übertragen hat. Dem Rousseau muß man diesen außerordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gründe bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur durch die plötzliche Überraschung der unerwartetsten Begegnung erschüttert, und in einer Art von Betäubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verführerische Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veränderung abzugewinnen, so mußte er sich entschließen, ihr sie abzunötigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: hätte Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloß das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewöhnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in Sicherheit setzen wollte?--Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan hätte, so würden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kräftig ist; er würde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiß, wo es herkömmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausführte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor, wären es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes, merklich wird. Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen müssen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhörer muß keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stücke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen wäre, würde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst möchte ich es niemanden raten, sich dieser Besondernheit zu befleißigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewöhnet, als daß wir bei gänzlicher Vermissung des reizendern nicht etwas Leeres empfinden sollten. Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das nämliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Bühne gebracht. Sie haben beide große Stücke von fünf Aufzügen daraus gemacht und sind daher genötiget gewesen, den Plan des Römers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt "Die Mitgift" und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches führt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im Jahre 1745, auf der italienischen Bühne zu Paris, und auch dieses einzige Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgeführet. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre später, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so glücklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurückgeführet worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stücke; und meistenteils nahm er sie von dem aller- unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling für seine Mühe bekam. Zehntes Stück Den 2. Juni 1767 Das Stück des fünften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches. Wenn wir die Annales des französischen Theaters nachschlagen, so finden wir, daß die lustigsten Stücke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwärtige, noch "Der verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgeführet worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankündiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, dünket man sich berechtiget, darüber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das nämliche findet. Destouches hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in seinem "Verschwender" Muster eines feinern, höhern Komischen gegeben, als man vom Molière, selbst in seinen ernsthaftesten Stücken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentümlichen Sphäre; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufällige Wahl war, erklärten sie für vorzüglichen Hang und herrschende Fähigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu können: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern ähnlicher, als daß sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren ließen, ehe sie ihr voreiliges Urteil änderten? Ich will damit nicht sagen, daß das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molièrischen von einerlei Güte sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spüren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Händen der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hölzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie überladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als lächerlich. Aber demohngeachtet,--und nur dieses wollte ich sagen,--sind seine lustigen Stücke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzärtelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern könnten. Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Spröde; aber insgeheim war sie die gefällige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. "Wie glücklich, o wie glücklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst in der Entzückung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragte das liebe einfältige Mädchen: "Aber Mama, wer ist denn der Bernard, der die Leute glücklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten, faßte sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kürzlich gewählt habe; einer von den größten im Paradiese." Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnügen; Mama bekömmt Verdacht; Mama beschleicht das glückliche Paar; und da bekömmt Mama von dem Töchterchen ebenso schöne Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst von Mama gehört hatte. Die Mutter ergrimmt, überfällt sie, tobt. "Nun, was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Mädchen. "Sie haben sich den h. Bernard gewählt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum nicht?"--Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen, mit welchen das weise Alter des göttlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muß. Er sahe nichts Anstößiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhängerin der Lehre des Gabalis; und der h. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen näherzubringen gesucht; man hat sich aller Anständigkeit beflissen; das liebe Mädchen ist von der reizendsten, verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veränderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht näher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wünschten, daß er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten hätte.--Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles kömmt ihr hier zustatten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf. Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des Hrn. von Voltaire aufgeführet. Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die französische Bühne gebracht, erhielt großen Beifall und macht in der Geschichte dieser Bühne gewissermaßen Epoche.--Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und "Alzire", seinen "Brutus" und "Cäsar" geliefert hatte, ward er in der Meinung bestärkt, daß die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stücken weit überträfen. "Von uns Franzosen", sagt er, "hätten die Griechen eine geschicktere Exposition und die große Kunst, die Auftritte untereinander so zu verbinden, daß die Szene niemals leer bleibt und keine Person weder ohne Ursache kömmt noch abgehet, lernen können. Von uns", sagt er, "hätten sie lernen können, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der Dichter mit einer Menge erhabner, glänzender Gedanken blenden und in Erstaunen setzen müsse. Von uns hätten sie lernen können"--O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da möchte zwar ein Ausländer, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demütig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu dürfen. Er möchte vielleicht einwenden, daß alle diese Vorzüge der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen großen Einfluß hätten; daß es Schönheiten wären, welche die einfältige Größe der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermißte er bei seiner Bühne; daß die großen Meisterstücke derselben nicht mit der Pracht aufgeführet würden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewürdiget hätten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war überzeugt, daß bloß dieser Übe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und prächtigern Theater, ohne Zweifel gewagt hätte. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine "Semiramis". Eine Königin, welche die Stände ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Mörder zu rächen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat für die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Lärmen auf der Bühne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern so wie er sie wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefähr spielen ließ. Bei der ersten Vorstellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich hätte wohl ein altvätrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel mögen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Bühne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so außerordentlichen Stückes, war, ist nach der Zeit die beständige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur für die Bühne in Paris; für die, wie gesagt, "Semiramis" in diesem Stücke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch häufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu können. Eilftes Stück Den 5. Junius 1767 Die Erscheinung eines Geistes war in einem französischen Trauerspiele eine so kühne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie mit so eignen Gründen, daß es sich der Mühe lohnet, einen Augenblick dabei zu verweilen. "Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire, "daß man an Gespenster nicht mehr glaube und daß die Erscheinung der Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein könne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum hätte diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergönnt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion hätte dergleichen außerordentliche Fügungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte lächerlich sein, sie zu erneuern?" Diese Ausrufungen, dünkt mich, sind rhetorischer, als gründlich. Vor allen Dingen wünschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gründe, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu überzeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Überlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und sonach hätten wir es auch hier nur mit dem Altertume zu tun. Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgeführet finden, so wäre es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozeß zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter die nämliche Befugnis? Gewiß nicht.--Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtgläubigere Zeiten zurücklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt es vor unsern Augen nochmals geschehen; und läßt es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch die Täuschung rühren. Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Täuschung notwendig verhindern müßte; wenn ohne Täuschung wir unmöglich sympathisieren können: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns demohngeachtet solche unglaubliche Märchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren. Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Bühne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust wäre für die Poesie zu groß; und hat sie nicht Beispiele für sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spöttisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fürchterlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, daß wir die Unmöglichkeit davon erweisen können; gewisse unumstößliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und beständig so gegenwärtig, daß ihm alles, was damit streitet, notwendig lächerlich und abgeschmackt vorkommen muß? Das kann es nicht heißen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heißen: in dieser Sache, über die sich fast ebensoviel dafür als darwider sagen läßt, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu denken den Gründen darwider das Übergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der größte Haufe schweigt und verhält sich gleichgültig und denkt bald so, bald anders, hört beim hellen Tage mit Vergnügen über die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzählen. Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am häufigsten, für die er vornehmlich dichtet. Es kömmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so mögen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater müssen wir glauben, was Er will. So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie mögen ein gläubiges oder ungläubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus--lächerlich. Shakespeares Gespenst kömmt wirklich aus jener Welt; so dünkt uns. Denn es kömmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der düstern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der bloße verkleidete Komödiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen könnte, er wäre das, wofür er sich ausgibt; alle Umstände vielmehr, unter welchen er erscheinet, stören den Betrug und verraten das Geschöpf eines kalten Dichters, der uns gern täuschen und schrecken möchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man überlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau hätte ihm nicht sagen können, daß die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und große Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch Voltaire wußte zuverlässig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstände zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, dünket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befördert, störet die Illusion. Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen hätte, so würde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer großen Menge erscheinen zu lassen. Alle müssen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen äußern; alle müssen es auf verschiedene Art äußern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das glücklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des nämlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muß. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so müssen wir sie nicht allein sehen können, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einläßt; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehört. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerrütteten Gemüts wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerrüttung in ihm verursacht, für eben das zu halten, wofür er sie hält. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns über, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als daß wir an der außerordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken über seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht mehr Umstände mit ihm, als man ohngefähr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde machen würde, der auf einmal ins Zimmer tritt. Zwölftes Stück Den 9. Junius 1767 Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und französischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns für sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid. Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern überhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natürliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, dürfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen fähig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben können, in keine Betrachtung. Er wollte bloß damit lehren, daß die höchste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache. Ich will nicht sagen, daß es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so einrichtet, daß sie zur Erläuterung oder Bestätigung irgendeiner großen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, daß diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; daß sehr lehrreiche vollkommene Stücke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; daß man unrecht tut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so anzusehen, als ob das Ganze bloß um seinetwillen da wäre. Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst hätte, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, daß man nämlich daraus die höchste Gerechtigkeit verehren lerne, die, außerordentliche Lastertaten zu strafen, außerordentliche Wege wähle: so würde "Semiramis" in meinen Augen nur ein sehr mittelmäßiges Stück sein. Besonders da diese Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anständiger, wenn es dieser außerordentlichen Wege nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Bösen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken. Doch ich will mich bei dem Stücke nicht länger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgeführet worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Bühne ist geräumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Szenen auftreten läßt. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als möglich in einen. Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete Philosoph", vom Destouches, gespielet. Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die französische Bühne und fand so allgemeinen Beifall, daß es in Jahr und Tag sechsunddreißigmal aufgeführet ward. Die deutsche Übersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin übersetzten sämtlichen Werken des Destouches; sondern eine in Versen, an der mehrere Hände geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel glückliche Verse, aber auch viel harte und unnatürliche Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig französische Stücke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser ausgefallen wären, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Löwen die launigte Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront unverbesserlich. Ich kann es überhoben sein, von dem Stücke selbst zu reden. Es ist zu bekannt und gehört unstreitig unter die Meisterstücke der französischen Bühne, die man auch unter uns immer mit Vergnügen Das Stück des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus, oder Die Schottländerin" des Hrn. von Voltaire. Es ließe sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Übersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke" des Goldoni etwas Ähnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni das Urbild des Frélon gewesen zu sein. Was aber dort bloß ein bösartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frélon nannte, damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den Journalisten Fréron, fallen möchten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Ausländer, die wir an den hämischen Neckereien der französischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen über die Persönlichkeiten dieses Stücks weg und finden in dem Frélon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frélons so gut, wie die Franzosen und Engländer, nur daß sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Literatur überhaupt gleichgültiger ist. Fiele das Treffende dieses Charakters aber auch gänzlich in Deutschland weg, so hat das Stück doch, noch außer ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein könnte es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmütigkeit, und die Engländer selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden. Denn nur seinetwegen haben sie erst kürzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein rühmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die "Schottländerin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", übersetzt und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch häufig dagegen verstoßen; z.E. darin, daß er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen läßt. Colman mietet sie dafür bei einer ehrlichen Frau ein, die möblierte Zimmer hält, und diese Frau ist weit anständiger die Freundin und Wohltäterin der jungen verlassenen Schöne, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman für den englischen Geschmack kräftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist nicht bloß eine eifersüchtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie, von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer Schutzgöttin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frélon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphäre von Tätigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Französischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem glücklichen Ende bringet. Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere sehr wohl ausgeführt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans übrige Stücke weit vor, von welchen man "Die eifersüchtige Ehefrau" auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, ungefähr urteilen können. "Der englische Kaufmann" hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug darin genähret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernächst hat er ihnen zuviel Ähnlichkeit mit andern Stücken, und den besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, hätte nicht den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden müssen; seine gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw. Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegründet; indes sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und ermüdet uns; wir lieben einen einfältigen Plan, der sich auf einmal übersehen läßt. So wie die Engländer die französischen Stücke mit Episoden erst vollpfropfen müssen, wenn sie auf ihrer Bühne gefallen sollen; so müßten wir die englischen Stücke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Bühne glücklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley würden uns, ohne diesen Ausbau des allzu wollüstigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren Tragödien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem so verworren nicht, als ihre Komödien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veränderung, bei uns Glück gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komödien zu sagen wüßte. Auch die Italiener haben eine Übersetzung von der "Schottländerin", die in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frélon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener dünkte diese Entschuldigung nicht hinlänglich, und er ergänzte die Bestrafung des Frélons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind große Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit. Dreizehntes Stück Den 12. Junius 1767 Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Hälfte der Schauspieler durch einen epidemischen Zufall außerstand gesetzet, zu agieren; und man mußte sich so gut zu helfen suchen, als möglich. Man wiederholte "Die neue Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante". Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische Dorfjunker", vom Destouches, aufgeführt. Dieses Stück hat im Französischen drei Aufzüge, und in der Übersetzung fünfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche Schaubühne" des weiland berühmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Übersetzerin, war eine viel zu brave Ehefrau, als daß sie sich nicht den kritischen Aussprüchen ihres Gemahls blindlings hätte unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch für große Mühe, aus drei Aufzügen fünfe zu machen? Man läßt in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlägt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"--Die Übersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie überall ebenso glücklich gewesen, wo sie den Einfällen ihres Originals eine andere Wendung geben zu müssen geglaubt, würde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen hören. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, läßt Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen, Mademoiselle; ich habe Sie für eine Virtuosin gehalten." "O pfui!" erwidert Henriette; "wofür haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Mädchen; daß Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", fällt ihr Masuren ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Mädchen und eine Virtuosin, sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, daß man das nicht zugleich sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte man, daß sie das tat. Sie fühlte sich auch so etwas von einer Virtuosin zu sein, und ward über den vermeinten Stich böse. Aber sie hätte nicht böse werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, hätte die Frau Professorin immer, ohne Maulspitzen, nachsagen können. Doch vielleicht war ihr nur das fremde Wort Virtuosin anstößig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern Schönen fünfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und verständlich übersetzen; sie hatte sehr recht. Den Beschluß dieses Abends machte "Die stumme Schönheit", von Schlegeln. Schlegel hatte dieses kleine Stück für das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrieben, um auf demselben in einer dänischen Übersetzung aufgeführet zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich dänischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte überall eine ebenso fließende als zierliche Versifikation, und es war ein Glück für seine Nachfolger, daß er seine größern Komödien nicht auch in Versen schrieb. Er hätte ihnen leicht das Publikum verwöhnen können, und so würden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komödie sehr lebhaft angenommen; und je glücklicher er die Schwierigkeiten derselben überstiegen hätte, desto unwiderleglicher würden seine Gründe geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsägliche Mühe es koste, nur einen Teil derselben zu übersteigen, und wie wenig das Vergnügen, welches aus diesen überstiegenen Schwierigkeiten entstehet, für die Menge kleiner Schönheiten, die man ihnen aufopfern müsse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so ekel, daß man ihnen die prosaischen Stücke des Molière, nach seinem Tode, in Verse bringen mußte; und noch itzt hören sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen könne. Den Engländer hingegen würde eine gereimte Komödie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgültiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was wäre es auch, wenn sie itzt schon wählen und ausmustern wollten? Die Rolle der stummen Schöne hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme Schöne, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schönheit ist allerdings dumm zugleich; denn daß sie nichts spricht, kömmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei würde also dieses sein, daß man sie überall, wo sie, um artig zu scheinen, denken müßte, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten ließe, die bloß mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben könnte. Ihr Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht bäurisch zu sein; sie können so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muß Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen. Auch ihre Kleidung muß weder altvätrisch, noch schlumpicht sein; denn Frau Praatgern sagt ausdrücklich: "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?--Laß doch sehn! Nun!--dreh dich um!--das ist ja gut, und sitzt galant. Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?" In dieser Musterung der Fr. Praatgern überhaupt hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Äußerliche seiner stummen Schöne zu sein wünsche. Gleichfalls schön, nur nicht reizend. "Laß sehn, wie trägst du dich?--Den Kopf nicht so zurücke!" Dummheit ohne Erziehung hält den Kopf mehr vorwärts, als zurück; ihn zurückhalten, lehrt der Tanzmeister; man muß also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schönheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schönheit in ihrem besten Vorteile, nur daß sie ihr das Leben nehmen. "Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke." Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit großen schönen Augen zu dieser Rolle hat. Nur müssen sich diese schöne Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke müssen langsam und stier sein; sie müssen uns mit ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen. "Geh doch einmal herum!--Gut! hieher!--Neige dich! Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich." Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine bäurische Neige, einen dummen Knicks machen läßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praatgern muß sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Löwen bemerkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern sonst eine Rolle für sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswürdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen. Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miß Sara Sampson" aufgeführet. Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stück ward überhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkürzt es daher auf den meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkürzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der übermäßigen Länge eines Stücks durch das bloße Weglassen nur übel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Szene verkürzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu ändern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkürzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Mühe wert dünket und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen. Madame Henseln starb ungemein anständig; in der malerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug außerordentlich überrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, daß sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die glücklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, äußerte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verlöschenden Lichts; der jüngste Strahl einer untergehenden Sonne.--Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal! Vierzehntes Stück Den 16. Junius 1767 Das bürgerliche Trauerspiel hat an dem französischen Kunstrichter, welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,[1] einen sehr gründlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben. Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen. "Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man verkennst die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde und das verführerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zugrunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfnis und kann ihren Kindern, welche Brot verlangen, nichts als Tränen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?" Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Stärke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stücke gemacht hat, welches er "Das Gemälde der Dürftigkeit" nennet, hat schon große Schönheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, hätten wir es für unser Theater adoptieren sollen. Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht unglücklichen Mühe einer gänzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer ähnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer alles ausführen, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut." Den zwölften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom Regnard, aufgeführet. Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Rivière du Frény, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Bühne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurück, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlässigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so müssen wir es ihm wohl noch dazu danken, daß er sich überwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu mißbrauchen; er bemächtigte sich, bloß zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraussahe, daß sie verhunzt werden würden. Wir hätten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen wäre. Doch hätte er die Tat eingestehen und dem armen Du Frény einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen müssen. Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete Philosoph" wiederholst; und den Beschluß machte "Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter". Der Verfasser dieses kleinen artigen Stückes heißt Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es fällt ungemein wohl aus. Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter", vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgeführt. Jene wird von den Kennern unter die besten Stücke gerechnet, die sich auf dem französischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Molière nicht hätte schämen dürfen. Aber der fünfte Akt und die ganze Auflösung hätte weit besser sein können; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, kömmt nicht zum Vorscheine; das Stück schließt mit einer kalten Erzählung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des französischen Theaters deswegen mit merkwürdig, weil der lächerliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault hätte es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten Verliebten" können bewenden lassen. "Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit außerordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet und nicht auf bloßen Einfällen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwärtig aufgeführet wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz vortrefflich. Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist" vorgestellt. Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschämten Freigeistes", weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit und Irrtum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stücks erfüllen müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles Beifalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über die Hartnäckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen. Den Beschluß dieses Abends machte das Schäferspiel des Hrn. Pfeffels: "Der Schatz". Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stücke, noch durch ein anders, "Der Eremit", nicht unrühmlich bekannt gemacht. In den "Schatz" hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schäferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt tändelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur öfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein höchst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele, auf rührende Stücke könnte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gähnen [1] "Journal Étranger", Décembre 1761. Funfzehntes Stück Den 19. Junius 1767 Den sechzehnten Abend (mittewochs, den 13. Mai) ward die "Zaïre" des Herrn von Voltaire aufgeführt. "Den Liebhabern der gelehrten Geschichte", sagt der Hr. von Voltaire, "wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stück entstanden. Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, daß in seinen Tragödien nicht genug Liebe wäre. Er antwortete ihnen, daß seiner Meinung nach die Tragödie auch eben nicht der schicklichste Ort für die Liebe sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben müßten, so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stück ward in achtzehn Tagen vollendet und fand großen Beifall. Man nennt es zu Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des Polyeukts, vorgestellet worden." Den Damen haben wir also dieses Stück zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblingsstück der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwürfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schönheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien zugänglichen Sitz einer unumschränkten Gebieterin verwandelt; ein verlassenes Mädchen, zur höchsten Staffel des Glücks, durch nichts als ihre schönen Augen, erhöhet; ein Herz, um das Zärtlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das gern fromm sein möchte, wenn es nur nicht aufhören sollte zu lieben; ein Eifersüchtiger, der sein Unrecht erkennet und es an sich selbst rächet; wenn diese schmeichelnde Ideen das schöne Geschlecht nicht bestechen, durch was ließe es sich denn bestechen? Die Liebe selbst hat Voltairen die Zaïre diktiert: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger hätte er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragödie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist "Romeo und Juliet", vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire läßt seine verliebte Zaïre ihre Empfindungen sehr fein, sehr anständig ausdrücken; aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemälde aller der kleinsten geheimsten Ränke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzeleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemessenste ausdrücken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bei der spröden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter geblieben. Von der Eifersucht läßt sich ohngefähr eben das sagen. Der eifersüchtige Orosman spielt gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespeare eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman gewesen. Cibber sagt,[1] Voltaire habe sich des Brandes bemächtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich hätte gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und wärmet. Wir hören in dem Orosman einen Eifersüchtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines Eifersüchtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen ist das vollständigste Lehrbuch über diese traurige Raserei; da können wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden. Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen, immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das ärgert uns; wir können ihn ja nicht lesen.--Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsätzlich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Übersetzung von Shakespeare. Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekümmert sich schon mehr darum. Die Kunstrichter haben viel Böses davon gesagt. Ich hätte große Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Männern zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin bemerkt haben: sondern weil ich glaube, daß man von diesen Fehlern kein solches Aufheben hätte machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, würde in der Eil' noch öftrer verstoßen und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr überhüpft haben; aber was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schönheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, daß wir notwendig eine bessere Übersetzung haben müßten. Doch wieder zur "Zaïre". Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die Pariser Bühne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische übersetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Übersetzer war Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines Stücks an den Engländer Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden. Nur muß man nicht alles für vollkommen so wahr annehmen, als er es ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften überhaupt nicht mit dem skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben geschrieben hat! Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: "Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der sich selbst Addison[2] unterworfen; denn Gewohnheit ist so mächtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernünftige Gewohnheit bestand darin, daß jeder Akt mit Versen beschlossen werden mußte, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Übrige des Stücks; und notwendig mußten diese Verse eine Vergleichung enthalten. Phädra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und Kleopatra mit Kindern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Übersetzer der "Zaïre" ist der erste, der es gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es empfunden, daß die Leidenschaft ihre wahre Sprache führen und der Poet sich überall verbergen müsse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen." Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist für den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, daß die Engländer, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch länger her, die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzüge in ungereimten Versen mit ein paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß sie notwendig Vergleichungen enthalten müssen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Engländer, von dem er doch glauben konnte, daß er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen können. Zweitens ist es nicht an dem, daß Hill in seiner Übersetzung der "Zaïre" von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar beinahe nicht glaublich, daß der Hr. von Voltaire die Übersetzung seines Stücks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich oder ein anderer. Gleichwohl muß es so sein. Denn so gewiß sie in reimfreien Versen ist, so gewiß schließt sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zellen. Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare und Jonson und Dryden und Lee und Otway und Rowe, und wie sie alle heißen, ihre Aufzüge schließen, sind sicherlich hundert gegen fünfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Hätte er aber auch wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so wäre doch drittens das nicht wahr, daß sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire sein läßt. Noch bis diese Stunde erscheinen in England ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem einzigen Stücke, deren er doch verschiedene, noch nach der Übersetzung der "Zaïre", gemacht, sich der alten Mode gänzlich entäußert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hören oder keine? Wenn sie da sind, können sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen nämlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stücke selbst abgenommen würde, als daß es die Pfeife oder der Schlüssel gibt. [1] From English Plays, Zara's French author fir'd, Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd, From rack'd Othello's rage, he rais'd his style And snatch'd the brand, that lights this tragic pile. [2] Le plus sage de vos écrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie wäre das wohl recht zu übersetzen? Sage heißt: weise; aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer würde den Addison dafür erkennen? Ich besinne mich, daß die Franzosen auch ein Mädchen sage nennen, dem man keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn dürfte vielleicht hier passen. Und nach diesem könnte man ja wohl geradezu übersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nüchternen Franzosen am nächsten kömmt." Sechzehntes Stück Den 23. Junius 1767 Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatürlich; besonders war ihr tragisches Spiel äußerst wild und übertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudrücken hatten, schrien und gebärdeten sie sich als Besessene; und das übrige tönten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den Komödianten verriet. Als er daher seine Übersetzung der "Zaïre" aufführen zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaïre einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragödie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefühl und Stimme und Figur und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar Stunden überreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß nur eine sehr geübte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genüge leisten könne, wurden beschämt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komödianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstück. Es ist merkwürdig, daß auch die französische Schauspielerin, welche die Zaïre zuerst spielte, eine Anfängerin war. Die junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch berühmt, und selbst Voltaire ward so entzückt über sie, daß er sein Alter recht kläglich bedauerte. Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill übernommen, der kein Komödiant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken, öffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schätzbar als irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnügen einmal mitspielen, nicht selten. "Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist dieses, daß es uns befremdet. Wir sollten überlegen, daß alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der französische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts Besonders dabei gefunden, als daß diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Künsten für ein Unterschied, als daß die eine über die andere ebensoweit erhaben ist, als es Talente, welche vorzügliche Seelenkräfte erfodern, über bloß körperliche Fertigkeiten sind?" Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaïre" übersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache können zärtliche Klagen rührender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stücks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, läßt ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns über das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Türken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen.[1] Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er sich den tödlichen Stoß beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, daß der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkürzung mit mehrern Stücken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, daß sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schließen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher kömmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hören zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur völligen Rundung des Stücks noch so unentbehrliche Worte wären? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir hätten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hören, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir würden recht gern die letzten Befehle des großmütigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiß ich kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es wäre begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muß Künstlern kleine Eitelkeiten verzeihen. Bei keiner Nation hat die "Zaïre" einen schärfern Kunstrichter gefunden, als unter den Holländern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des berühmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, daß er es für etwas Kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine--andere[2], in der die Bekehrung der Zaïre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan über seine Liebe sieget und die christliche Zaïre mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhöhung gemäß ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, daß er uns kalt läßt; er interessiere uns und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime können wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses müssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurück, von der mißlungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik geschlossen wissen möchte. Duims Tadel ist in vielen Stücken ganz gegründet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er, "kömmt, Zaïren in die Moschee abzuholen; Zaïre weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Würde gemäß? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zaïren, sich deutlicher zu erklären? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"--Guter Duim! wenn sich Zaïre deutlicher erkläret hätte: wo hätten denn die andern Akte sollen herkommen? Wäre nicht die ganze Tragödie darüber in die Pilze gegangen?--Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts ist ebenso abgeschmackt: Orosman kömmt wieder zu Zaïren; Zaïre geht abermals, ohne die geringste nähere Erklärung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), tröstet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewißheit mußte doch bis zum fünften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare hängt, so hängen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem stärkern. Die letzterwähnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner zu empfinden fähig ist. Er muß aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Großmut, willig und geneigt, Zaïren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaïre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung über. Alles was Rémond de Sainte-Albine in seinem "Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf eine so vollkommene Art, daß man glauben sollte, er allein könne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein. Questo mortale orror che per le vene Tutte mi scorre, omai non è dolore, Che basti ad appagarti, anima bella. Feroce cor, cor dispietato, e misero, Paga la pena del delitto orrendo. Mani crudeli--oh Dio--Mani, che siete Tinte del sangue di si cara donna. Voi--voi--dov'è quel ferro? Un' altra volta In mezzo al petto--Oimè, dov'è quel ferro? L'acuta punta-- Tenebre, e notte Si fanno intorno-- Perchè non posso-- Non posso spargere Il sangue tutto? Sì, sì, lo spargo tutto, anima mia, Dove sei?--più non posso--oh Dio! non posso-- Vorrei--vederti--io manco, io manco, oh Dio! [2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745. [3] "Le Comédien", Partie II, chap. X. p. 209. Siebzehntes Stück Den 26. Junius 1767 Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom Gresset, aufgeführet. Dieses Stück kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider den Selbstmord konnte in Paris kein großes Glück machen. Die Franzosen sagten: es wäre ein Stück für London. Ich weiß auch nicht; denn die Engländer dürften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue könnte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem französischen Bedienten so angeführt zu sehen, möchte von manchen für eine Beschämung gehalten werden, die des Hängens allein würdig wäre. Doch so wie das Stück ist, scheinet es für uns Deutsche recht gut zu sein. Wir mögen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemänteln und finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurückhält und das Geständnis, falsch philosophiert zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein französischer Prahler ist, so herzlich gut, daß uns die Etikette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfährt, daß er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht näher ist, als der gesundesten einer, so läßt ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich es glauben--Rosalla!--Hamilton!--und du, dessen glücklicher Eifer usw." Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehört das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler wäre, hier würde ich es kühnlich wagen, zu tun, was der Dichter hätte tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten dürfte, so würde ich ihm wenigstens den ersten gerührten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann würde ich mich gegen Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurückkommen. Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart! Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich--Es ist ohnstreitig eine von seinen stärksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das Gefühl der Fühllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze Gemütsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit größerer Wahrheit ausdrücken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Körper gibt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstände verwandelt. Welcher fortreißende Ton der Überzeugung!-- Den Beschluß machte diesen Abend ein Stück in einem Aufzuge, nach dem Französischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man errät gleich, daß ein Narr oder eine Närrin darin vorkommen muß, der es hauptsächlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter hängt von der Aufklärung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur für den Pflegesohn eines gewissen bürgerlichen Lisanders, aber es findet sich, daß Lisander sein wahrer Vater ist. Nun wäre weiter an die Heirat nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfälle zu dem bürgerlichen Stande herablassen müssen. In der Tat ist er von ebenso guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche Ausschweifungen aus dem väterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusöhnen. Die Aussöhnung gelingt und macht das Stück gegen das Ende sehr rührend. Da also der Hauptton desselben rührender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal hätte ich ihn von dem einzigen lächerlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschöpfen; aber er sollte doch auch nicht irreführen. Und dieser tut es ein wenig. Was ist leichter zu ändern, als ein Titel? Die übrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr zum Vorteile des Stücks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem französischen Theater entlehnten Stücken mangelt. Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der Trommel" gespielt. Dieses Stück schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragödie und nur eine Komödie gemacht. Die dramatische Poesie überhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiß sich überall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stücke, wenn schon nicht die höchsten Schönheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schätzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der französischen Regelmäßigkeit mehr zu nähern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmäßigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Engländer werden. Begnüge sich damit, wer keine höhere Schönheiten kennet! Destouches, der in England persönlichen Umgang mit Addison gehabt hatte, zog das Lustspiel desselben über einen noch französischern Leisten. Wir spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natürlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche Übersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen und manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet. Den neunzehnten Abend (montags, den 18. Mai) ward "Der verheiratete Philosoph", vom Destouches, wiederholt. Des Regnard "Demokrit" war dasjenige Stück, welches den zwanzigsten Abend (dienstags, den 19. Mai) gespielet wurde. Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefällt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus dem Pöbel. Was folgt hieraus? Daß die Schönheiten, die es hat, wahre allgemeine Schönheiten sein müssen, und die Fehler vielleicht nur willkürliche Regeln betreffen, über die man sich leichter hinaussetzen kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Übliche aus den Augen gesetzt: immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stücke ähnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, so streiche man Demokrit und Athen aus und setze bloß erdichtete Namen dafür. Regnard hat es gewiß so gut als ein anderer gewußt, daß um Athen keine Wüste und keine Tiger und Bäre waren; daß es, zu der Zeit des Demokrits, keinen König hatte usw. Aber er hat das alles itzt nicht wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen Dichters, und nicht die historische Wahrheit. Andere Fehler möchten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge müßiger Personen, das abgeschmackte Geschwätz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt, weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern weil es Unsinn in jedes andern Munde sein würde, der Dichter möchte ihn genannt haben, wie er wolle. Aber was übersieht man nicht bei der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiß nicht, was man aus ihm machen soll; er ändert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spötter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein zärtlicher Schulfuchs, bald ein unverschämter Stutzer. Seine Erkennung mit der Kleanthis ist ungemein komisch, aber unnatürlich. Die Art, mit der Mademoiselle Beauval und La Thorillière diese Szenen zuerst spielten, hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortgepflanzt. Es sind die unanständigsten Grimassen, aber da sie durch die Überlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so kömmt es niemanden ein, etwas daran zu ändern, und ich will mich wohl hüten, zu sagen, daß man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden sollte. Der beste, drolligste und ausgeführteste Charakter ist der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weniger als episodisch, sondern zur Auflösung des Knoten ebenso schicklich als unentbehrlich ist.[1] [1] "Histoire du Théâtre Français", T. XIV. p. 164. Achtzehntes Stück Den 30. Junius 1767 Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgeführt. Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert für die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stück ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele beläuft sich auf einige dreißig, wovon mehr als zwei Dritteile den Harlekin haben, weil er sie für die italienische Bühne verfertigte. Unter diese gehören auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst, ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto größern erhielten. Seine Stücke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr ähnlich. In allen der nämliche schimmernde und öfters allzu gesuchte Witz; in allen die nämliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die nämliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner Kunst, weiß er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zurückgelegt zu haben glauben. Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und war ganz weiß, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph für den guten Geschmack! Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der deutschen Übersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an.--Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein ausländisches Geschöpf", sagt man. Was tut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Ausländer wären! "Er trägt sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt":--so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das nämliche Individuum alle Tage in einem andern Stücke erscheinen zu sehen." Man muß ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", übermorgen in den "Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkömmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend Varietäten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzüge hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsere Vergnügungen wähliger und gegen kahle Vernünfteleien nachgebender sein, als--ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind--sondern, als selbst die Römer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stücke über dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stücks schicken oder nicht? Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gründlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Möser über das Groteske-Komische allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darin beiläufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, daß er Einsicht genug besitze, dermaleins der Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Möser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja nicht einmal gedacht zu haben erinnern. Außer dem Harlekin kömmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige führet. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat überhaupt an den Herren Hensel und Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser verlangen kann. Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die "Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgeführet. Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern französischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der "Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stück nicht verdiente, daß die Franzosen ein solches Lärmen damit machten, so gereicht doch dieses Lärmen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersüchtig ist; auf das die großen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten überzeugt, jenen nicht zu seinen unnützen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenständen zählet, um die sich nur geschäftige Müßiggänger bekümmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stücke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersänger ein sehr schätzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgültigkeit gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Bärfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre? sicherlich für die Frage eines Narren gehalten hätten!--Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten ließe, daß sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben würde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer für französische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit fähig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschätzung alles dessen zu bestärken, was nicht geradezu den Beutel füllet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Künstler; man äußere den Wunsch, daß eine reiche blühende Stadt der anständigsten Erholung für Männer, die in ihren Geschäften des Tages Last und Hitze getragen, und der nützlichsten Zeitverkürzung für andere, die gar keine Geschäfte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?) durch ihre bloße Teilnehmung aufhelfen möge:--und sehe und höre um sich. "Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloß der Wucherer Albinus, "daß unsere Bürger wichtigere Dinge zu tun haben!" Rem poteris servare tuam!-- Wichtigere? Einträglichere; das gebe ich zu! Einträglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Künsten in Verbindung stehet. Aber, --haec animos aerugo er cura peculî Cum semel imbuerit-- Doch ist vergesse mich. Wie gehört das alles zur "Zelmire"? Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward Komödiant. Er spielte einige Zeit unter der französischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stücke, kam wieder in sein Vaterland und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so glücklich und berühmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit hätte machen können, wenn er auch ein Beaumont geworden wäre. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei würden sein gewissestes Los sein! Das erste Trauerspiel des Du Belloy heißt "Titus"; und "Zelmire" war sein zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal gespielt. Aber "Zelmire" fand desto größern; es ward vierzehnmal hintereinander aufgeführt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung. Ein französischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung überhaupt zu erklären: "Uns wäre", sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbücher der Welt sind an berüchtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragödie ist ja ausdrücklich dazu, daß sie uns die großen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß 'Zaïre', 'Alzire', 'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung wären. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzüge gegeben, in welchen sich Christen und Türken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, haßten und würgten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die glücklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europäischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwärmerei und der wahren Religion äußern müssen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betrügers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schönste philosophische Gemälde, das jemals von diesem gefährlichen Ungeheuer gemacht worden." [1] "Journal Encyclopédique", Juillet 1762. Neunzehntes Stück Den 3. Julius 1767 Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt mit einem bescheidenen "Uns wäre lieber gewesen" an und geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte, dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert. Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekümmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel ähnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefähr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbücher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Möglichkeit, daß etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gänzlich erdichtete Fabel für eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehört haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwürdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Überlieferungen bestätiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken großer Männer zu erhalten; dafür ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen tun werde. Die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heißt sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man sie zu einem bloßen Panegyrikus berühmter Männer macht, oder sie gar den Nationa1stolz zu nähren mißbraucht. Die zweite Erinnerung des nämlichen französischen Kunstrichters gegen die "Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, daß sie fast nichts als ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufälle sei, die in den engen Raum von vierundzwanzig Stunden zusammengepreßt, aller Illusion unfähig würden. Eine seltsam ausgesparte Situation über die andere! ein Theaterstreich über den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so drängen, können schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles überrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als überraschen. "Warum muß sich z.E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Fällt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemütsänderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrückt. Welch geringfügige Ursachen gibt hiernächst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muß Polydor, wenn er aus der Schlacht kömmt und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Rücken zukehren, und der Dichter muß uns sorgfältig diesen kleinen Umstand einschärfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das Gesicht, anstatt den Rücken zuwendete: so würde sie ihn erkennen, und die folgende Szene, wo diese zärtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern überliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so großen Eindruck machende Szene fiele weg. Wäre es gleichwohl nicht weit natürlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal flüchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen Wink gegeben hätte? Freilich wäre es so natürlicher gewesen, als daß die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er seinen Rücken dahin oder dorthin kehret, gründen müssen. Mit dem Billett des Azor hat es die nämliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten Akte gleich mit, so wie er es hätte mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stück hatte ein Ende." Die Übersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine körnichte, wohlklingende Prosa hören wollen, als matte, geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Übersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die erträglich sind. Und daß man mich ja nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich würde eher wissen, wo ich aufhören, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der größte Versifikateur, sondern stümperte und flickte; der Deutsche war es noch weniger, und indem er sich bemühte, die glücklichen und unglücklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu übersetzen, so ist es natürlich, daß öfters, was dort nur Lückenbüßerei oder Tautologie war, hier zu förmlichem Unsinne werden mußte. Der Ausdruck ist dabei meistens so niedrig und die Konstruktion so verworfen, daß der Schauspieler allen seinen Adel nötig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden! Aber verlohnt es denn auch der Mühe, auf französische Verse so viel Fleiß zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso wäßrig korrekte, ebenso grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa übertragen, so wird unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Übersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kühnsten Tropen und Figuren, außer einer gebundenen kadensierten Wortfügung, uns an Besoffene denken läßt, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich höchstens über die alltägliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation über den gewöhnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wünschte ich unserm prosaischen Übersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, daß das Silbenmaß überhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier kömmt es bloß darauf an, unter zwei Übeln das kleinste zu wählen; entweder Verstand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstärkung des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir können der griechischen ungleich näher kommen, die durch den bloßen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrückt werden, anzudeuten vermag. Die französischen Verse haben nichts als den Wert der überstandenen Schwierigkeit für sich; und freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert. Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Bösewichte von großem Verstande so natürlich zu sein scheinen. Kein mißlungener Anschlag wird ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Ränken unerschöpflich; er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner Blöße darzustellen drohte, empfängt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdrückt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von seiten des Schauspielers das getreueste Gedächtnis, die fertigste Stimme, die freieste, nachlässigste Aktion unumgänglich nötig. Hr. Borchers hat überhaupt sehr viele Talente, und schon das muß ein günstiges Vorurteil für ihn erwecken, daß er sich in alten Rollen ebenso gern übet, als in jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Bühne glänzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswürdigen Rollen begaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehmster, auch wohl öfters ihr einziger Beruf zum Theater ist. Zwanzigstes Stück Den 7. Julius 1767 Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward "Cenie" aufgeführet. Dieses vortreffliche Stück der Graffigny mußte der Gottschedin zum Übersetzen in die Hände fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von sich selbst ablegt, "daß sie die Ehre, welche man durch Übersetzung oder auch Verfertigung theatralischer Stücke erwerben könne, allezeit nur für sehr mittelmäßig gehalten habe", läßt sich leicht vermuten, daß sie, diese mittelmäßige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmäßige Mühe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einige lustige Stücke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine Empfindung! Das Lächerliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt und sie dafür den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle die kalte Vollständigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. z.E. Dorimond hat dem Méricourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermögens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Méricourt geht; er verweigert sich dem großmütigen Anerbieten und will sich ihm aus Uneigennützigkeit verweigert zu haben scheinen. "Wozu das?" sagt er. "Warum wollen Sie sich Ihres Vermögens berauben? Genießen Sie Ihrer Güter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet." J'en jouirai, je vous rendrai tous heureux: läßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. "Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich machen." Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlässige Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Glückes genießen, andere glücklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloß eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das nämliche zweimal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze, vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst fühlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottschedin jene acht Worte übersetzt hat? "Alsdenn werde ich meiner Güter erst recht genießen, wenn ich euch beide dadurch werde glücklich gemacht haben." Unerträglich! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Überlegung geben und eine warme Empfindung in eine frostige Schlußrede verwandeln. Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, daß ungefähr auf diesen Schlag das ganze Stück übersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgelöset worden. Hierzu kömmt in vielen Stellen der häßliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der gerührten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: "Frau Mutter! o welch ein süßer Name!" Der Name Mutter ist süß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem "Gnädiger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!" ihm in die Arme. Mon père! auf deutsch: Gnädiger Herr Vater. Was für ein respektuöses Kind! Wenn ich Dorsainville wäre, ich hätte es ebenso gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede. Madame Löwen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Würde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewußtsein ihres verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudrücken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen. Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort fällt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es kömmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wüßte nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswürdiger Fehler. Die Aktrice ist für die Rolle zu groß. Mich dünkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich möchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen könnte. Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stücks vom Méricourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das für ein Land ist, dieses Vaterland des Méricourt? Ein gefährliches, ein böses Land! Tot linguae, quot membra viro! Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des Herrn Weiße aufgeführet. "Amalia" wird von Kennern für das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgeführtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine übrige komische Stücke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden würden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen überhaupt geben einem dramatischen Stücke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafür kann es aber auch nicht fehlen, daß sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fünfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kühn kroquierte Pinselstriche zu lindern und mit dem übrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl raten möchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen könne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brüskieren. Ich will die Vermutung ungeäußert lassen, daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl hätte feiner anfangen können; daß man über einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen müsse; daß--Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeäußert lassen; denn es könnte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nämlich die Gegenstände sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, daß diejenige Frau, bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen übrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloß bekennen, daß ich für mein Teil nicht Herz genug gehabt hätte, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich würde mich, vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefürchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crébillonschen Fähigkeit bewußt gewesen wäre, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiß ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen wäre. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst öffnet. Manley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmäßig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gänzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um flüchtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen würden dadurch, ich will nicht sagen unsträflich, aber doch unsträflicher geworden sein; er würde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen können; die Probe wäre ungleich verführerischer und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender für ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man würde zugleich einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt daß man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun können, wenn sie unglücklicherweise in ihrer Verführung glücklich gewesen wäre. Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der Finanzpachter". Es besteht ungefähr aus ein Dutzend Szenen von der äußersten Lebhaftigkeit. Es dürfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswürdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewußt, als er. Den fünfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire" des Du Belloy wiederholt. Einundzwanzigstes Stück Den 10. Julius 1767 Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die Mütterschule" des Nivelle de la Chaussée aufgeführet. Es ist die Geschichte einer Mutter, die für ihre parteiische Zärtlichkeit gegen einen nichtswürdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kränkung erhält. Marivaux hat auch ein Stück unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes, gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem Himmel danken, daß es noch so gut abläuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es müßte für Kenner ein Vergnügen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander besuchen zu können. Sie haben hierzu auch alle äußerliche Schicklichkeit; das erste Stück ist von fünf Akten, das andere von einem. Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine" des Herrn von Voltaire gespielt. Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man dabei?--Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komödien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter gehöret des Plautus "Miles gloriosus". Wie kömmt es, daß man noch nicht angemerket, daß dieser Titel dem Plautus nur zur Hälfte gehören kann. Plautus nannte sein Stück bloß Gloriosus; so wie er ein anderes "Truculentus" überschrieb. Miles muß der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloß auf seinen Stand und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso großsprecherisch; er rühmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schönste und liebenswürdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufügt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschränkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero[1] verführt; aber hier hätte ihm Plautus selbst mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt: ALAZON Graece huic nomen est Comoediae Id nos latine GLORIOSUM dicimus-- und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, daß eben das Stück des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines großsprecherischen Soldaten kam in mehrern Stücken vor. Cicero kann ebensowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben.--Doch dieses beiläufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komödien überhaupt schon einmal geäußert zu haben. Es könnte sein, daß die Sache so unbedeutend nicht wäre. Mancher Stümper hat zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie gemacht; und bloß des schönen Titels wegen. Ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Molière, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht hätte, so würde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen dürfen, und niemand würde mich darüber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Molièreschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heißen. Genug, daß Molière den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat. Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: "Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stück nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der nämlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte "Das besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, daß zu einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussée sind auch ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen. "Nanine" gehört unter die rührenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel lächerliche Szenen, und nur insofern, als die lächerlichen Szenen mit den rührenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komödie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal lächelt, wo man nur immer weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Übergang von dem Rührenden zum Lächerlichen und von dem Lächerlichen zum Rührenden sehr natürlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine beständige Kette solcher Übergänge, und die Komödie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewöhnlicher", sagt er, "als daß in dem nämlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide aufhält und jeder Anverwandte bei der nämlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan äußerst bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben Viertelstunde über ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwürdige Matrone saß bei einer von ihren Töchtern, die gefährlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Tränen zerfließen, sie rang die Hände und rief: 'O Gott, laß mir, laß mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafür nehmen!' Hier trat ein Mann, der eine von ihren übrigen Töchtern geheiratet hatte, näher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Ärmel und fragte: 'Madame, auch die Schwiegersöhne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betrübte Dame, daß sie in vollem Gelächter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hörte, wäre vor Lachen fast "Homer", sagt er an einem andern Orte, "läßt sogar die Götter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, über den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht über die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heißesten Tränen vergießt. Es trifft sich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhängnisses, ein Einfall, eine ungefähre Posse, trotz aller Beängstigung, trotz alles Mitleids das unbändigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmöglich dienen!' Diese Naivetät ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komödie das Lachen auf rührende Empfindungen folgen können? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen." Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komödie für eine ebenso fehlerhafte als langweilige Gattung erkläret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein "Hausvater" vorhanden; und vieles muß das Genie erst wirklich machen, wenn wir es für möglich erkennen sollen. [1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33. Zweiundzwanzigstes Stück Den 14. Julius 1767 Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert beschlossen. Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, daß es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir über viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzu flache Manier gewöhnet. Sie machen sie ähnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewußt, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Körperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Außenlinien uns gleich an die Täuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die übrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muß sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlässigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfählen herumträumen. Sie müssen nichts von der engen Sphäre kümmerlicher Umstände verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemänteln zu können; er muß ihnen den Ehrgeiz geben, damit glänzen zu wollen. "Ich weiß gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das für ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muß seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstände machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar großes Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl." "Ganz gewiß!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Mütter. Eine Andrienne! Welche Schneidersfrau trägt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"--(ich habe die andern Namen vergessen, ich würde sie auch nicht zu schreiben wissen)--"dafür sagen! Mich in einer Andrienne zu denken; das allein könnte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muß es auch die neueste Tracht sein. Wie können wir es sonst wahrscheinlich finden, daß sie darüber krank geworden?" "Und ich", sagte eine dritte (es war die gelehrteste), "finde es sehr unanständig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser--wie soll ich es nennen?--Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig sein; die Stephan sollte es noch anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt"--Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen. Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der "Melanide" des de la Chaussée "Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann" gespielet. Der Verfasser dieses Stücks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfällen; nur schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört, alle diese Einfälle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provinzial. Und dieses könnte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fürchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes halten dürfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort grünen Kohl ißt? Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, daß jeder etwas anders sagen muß. Hier ist das nicht; "Der Mann nach der Uhr", oder "Der ordentliche Mann" sagen ziemlich das nämliche; außer daß das erste ohngefähr die Karikatur von dem andern ist. Den dreißigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der "Graf von Essex", vom Thomas Corneille, auf geführt. Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der beträchtlichen Anzahl der Stücke des jüngern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Bühnen noch öfterer wiederholt, als auf den französischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereits Calprenède die nämliche Geschichte bearbeitet hatte. "Es ist gewiß", schreibt Corneille, "daß der Graf von Essex bei der Königin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verständnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwählet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, daß ich sie in einem wichtigen Stücke verfälscht hätte, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Königin dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muß mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung des Calprenède ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das geringste davon gelesen." Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, daß er ihn für eine poetische Erfindung erklärte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedächtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre Werke aufgenommen. Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: "Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste war diese, daß dieses Übel aus einer betrübten Reue wegen des Grafen von Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz außerordentliche Achtung für das Andenken dieses unglücklichen Herrn; und wiewohl sie oft über seine Hartnäckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Tränen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zärtlichkeit belebte und ihre Betrübnis noch mehr vergällte. Die Gräfin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wünschte die Königin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig würde sterben lassen. Wie die Königin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Gräfin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen worden, gewünscht, die Königin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestät ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr nämlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bei einem etwanigen Unglücke, als ein Zeichen senden würde, er sich ihrer völligen Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person, durch welche er ihn habe übersenden wollen; durch ein Versehen aber sei er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Hände geraten. Sie habe ihrem Gemahl die Sache erzählt (er war einer von den unversöhnlichsten Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Königin zu geben noch dem Grafen zurückzusenden. Wie die Gräfin der Königin ihr Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, daß sie ihn im Verdacht eines unbändigen Eigensinnes gehabt, antwortete: 'Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr!' Sie verließ das Zimmer in großer Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gänzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Nächte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkräftet, den Geist aufgab." Dreiundzwanzigstes Stück Den 17. Julius 1767 Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß "Essex" ein vorzüglich gutes Stück sei; aber das ist leicht zu erweisen, daß viele von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden, teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den richtigsten und würdigsten Begriff von der Tragödie voraussetzen. Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem "Essex" auf dieses sein Streitroß und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, daß alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt. Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und zum Glücke für den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender. "Itzt", sagt er, "kennen wir die Königin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahrheit schärfer aufgemutzet werden". Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Königin damals, als sie dem Grafen den Prozeß machen ließ, achtundsechzig Jahr alt war. "Es wäre also lächerlich", sagt er, "wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit könne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Lächerliches in der Welt? Sich etwas Lächerliches als geschehen denken, ist das so lächerlich? "Nachdem das Urteil über den Essex abgegeben war", sagt Hume, "fand sich die Königin in der äußersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge für ihre eigene Sicherheit und Bekümmernis um das Leben ihres Lieblings stritten unaufhörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal über das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu überliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zärtlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, daß er selbst den Tod wünsche, daß er selbst erkläret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben würde. Wahrscheinlicherweise tat diese Äußerung von Reue und Achtung für die Sicherheit der Königin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange für den unglücklichen Gefangnen genähret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhärtete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ sie dem Rechte endlich seinen Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem achtundsechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schönheit rühmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muß in diesem Stücke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Höflinge stellten sich daher alle in sie verliebt und bedienten sich gegen Ihro Majestät, mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der lächerlichsten Galanterie. Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Königin eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war diese Göttin damals schon sechzig Jahr alt. Fünf Jahr darauf führte Heinrich Union, ihr Abgesandter in Frankreich, die nämliche Sprache mit ihr. Kurz, Corneille ist hinlänglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zärtliche Weib mit der stolzen Königin in einen so interessanten Streit bringet. Ebensowenig hat er den Charakter des Essex verstellet oder verfälschet. "Essex", sagt Voltaire, "war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas Merkwürdiges getan." Aber wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar kein Teil läßt, hielt er so sehr für sein Werk, daß er es durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmaßte. Er erbot sich, es mit dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Nottingham, unter dem er kommandiert hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten zu beweisen, daß sie ihm allein zugehöre. Corneille läßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr verächtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gutheißen. "Es ist nicht erlaubt", sagt er, "eine so neue Geschichte so gröblich zu verfälschen, und Männer von so vornehmer Geburt, von so großen Verdiensten, so unwürdig zu mißhandeln. "Aber hier kömmt es ja gar nicht darauf an, was diese Männer waren, sondern wofür sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuräumen. Wenn Corneille den Essex sagen läßt, daß es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so läßt er ihn freilich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire hätte darum doch nicht ausrufen müssen. "Wie? Essex auf dem Throne? mit was für Recht? unter was für Vorwande? wie wäre das möglich gewesen?" Denn Voltaire hätte sich erinnern sollen, daß Essex von mütterlicher Seite aus dem königlichen Hause abstammte, und daß es wirklich Anhänger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zählen, die Ansprüche auf die Krone machen könnten. Als er daher mit dem Könige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erste sein, ihn zu versichern, daß er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger, als was ihn Corneille voraussetzen läßt. Indem also Voltaire durch das ganze Stück nichts als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Über eine hat sich Walpole[1] schon lustig gemacht. Wenn nämlich Voltaire die erstern Lieblinge der Königin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beide nur eine Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Voltaire zu zwei verschiedenen Personen machen könnte. Ebenso unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohrfeige verfällt, die die Königin dem Essex gab. Es ist falsch, daß er sie nach seiner unglücklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, daß er damals den Zorn der Königin durch die geringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darüber ausließ. Er tat zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Königin mußte ihn tun. Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von Voltaire an? Ebensowenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen. Die ganze Tragödie des Corneille sei ein Roman: wenn er rührend ist, wird er dadurch weniger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat? Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxi der Dichter übereinstimmender auszudrücken: sind es die bloßen Fakta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, soweit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache geben können. [1] "Le Château d'Otrante", Préf. p. XIV. Vierundzwanzigstes Stück Den 21. Julius 1767 Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Königin dieses Namens beilegt; wenn wir in ihr die Unentschlüssigkeit, die Widersprüche, die Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei diesen und jenen Umständen wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu können vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede beiläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruf verkennen, heißt von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren. Zwar bei dem Herrn von Voltaire könnte es leicht weder Verkennung noch Schikane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere Corneille. Es wäre denn, daß man ein Meister in einer Kunst sein und doch falsche Begriffe von der Kunst haben könnte. Und was die Schikane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen und in der Philosophie den witzigen Kopf. Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth achtundsechzig Jahr alt war, als sie den Grafen köpfen ließ? Im achtundsechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was für lustige Einfälle muß das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfälle in dem Kommentare über eine Tragödie; also da, wo sie nicht hingehören. Der Dichter hätte recht zu seinem Kommentator zu sagen: "Mein Herr Notenmacher, diese Schwänke gehören in Eure allgemeine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth achtundsechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stücke, das Euch hinderte, sie nicht ungefähr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, daß die Erinnerung bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen überzeugen ihn, daß es nicht Eure achtundsechzigjährige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?"-- So ungefähr könnte sich auch der Dichter über die Rolle des Essex erklären. "Euer Essex im Rapin de Thoyras", könnte er sagen, "ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu sein dünkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter glücklichem Umständen, für die Königin vielleicht getan hätte, hat meiner getan. Ihr hört ja, daß es ihm die Königin selbst zugesteht; wollt Ihr meiner Königin nicht ebensoviel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug für mich, daß er doch immer noch groß und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen." Kurz: die Tragödie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist für die Tragödie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Umstände zur Ausschmückung und Individualisierung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hieraus ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache! Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das übrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. "Essex" ist ein mittelmäßiges Stück, sowohl in Ansehung der Intrige als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht sein kann, als aus edelmütigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten herabzulassen, auf das Schafott zu führen: das war der unglücklichste Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben mußte. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Übersetzung ist er oft kriechend geworden. Aber überhaupt ist das Stück nicht ohne Interesse und hat hier und da glückliche Verse, die aber im Französischen glücklicher sind als im Deutschen. "Die Schauspieler", setzt der Herr von Voltaire hinzu, "besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie und mit einem großen blauen Bande über die Schulter darin erscheinen können. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das macht Eindruck. Übrigens ist die Zahl der guten Tragödien bei allen Nationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur aufgestutzet werden." Er bestätiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die ebenso richtig als scharfsinnig sind und deren man sich vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnügen erinnern dürfte. Ich teile die vorzüglichsten also hier mit; in der festen Überzeugung, daß die Kritik dem Genusse nicht schadet und daß diejenigen, welche ein Stück am schärfesten zu beurteilen gelernt haben, immer diejenigen sind, welche das Theater am fleißigsten besuchen. "Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muß man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat. Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernünftige, tugendhafte Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser Charakter würde sehr schön sein, wenn er mehr Leben hätte, und wenn er zur Verwickelung etwas beitrüge; aber hier vertritt sie bloß die Stelle eines Freundes. Das ist für das Theater nicht hinlänglich. Mich dünket, daß alles, was die Personen in dieser Tragödie sagen und tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmt ist. Die Handlung muß deutlich, der Knoten verständlich und jede Gesinnung plan und natürlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen? Ist er schuldig, oder ist er fälschlich angeklagt? Wenn ihn die Königin für unschuldig hält, so muß sie sich seiner annehmen. Ist er aber schuldig: so ist es sehr unvernünftig, die Vertraute sagen zu lassen, daß er nimmermehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu stolz dazu sei. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl für einen tugendhaften unschuldigen Helden, aber für keinen Mann, der des Hochverrats überwiesen ist. Er soll sich unterwerfen: sagt die Königin. Ist das wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muß, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich selbst: sagt die Königin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen Sie doch die Beschuldigungen Ihres Gebliebten selbst und verstatten nicht, daß ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdrücken, wie es durch das ganze Stück, obwohl ganz ohne Grund, heißt. Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn für schuldig oder für unschuldig hält. Er stellt der Königin vor, daß der Anschein öfters betriege, daß man alles von der Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Königin. Was hatte er dieses nötig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was soll der Zuschauer glauben? Der weiß ebensowenig, woran er mit der Verschwörung des Grafen, als woran er mit der Zärtlichkeit der Königin gegen ihn ist. Salisbury sagt der Königin, daß man die Unterschrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Königin läßt sich im geringsten nicht einfallen, einen so wichtigen Umstand näher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Königin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht einmal auf diese Eröffnung, die sie doch begierig hätte ergreifen müssen. Sie erwidert bloß mit andern Worten, daß der Graf allzu stolz sei, und daß sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten." Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht Fünfundzwanzigstes Stück Den 24. Julius 1767 "Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben, als die Königin davon überzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht. Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemäß? Soll er aus Liebe zur Irton so widersinnig handeln: so hätte ihn der Dichter durch das ganze Stück von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen müssen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser Heftigkeit sehen wir ihn nicht. Der Stolz der Königin streitet unaufhörlich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln läßt, so ist er bei der Elisabeth sowohl als bei dem Grafen, bloßer Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um Gnade bitten; das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muß vergessen, daß Elisabeth entweder sehr abgeschmackt oder sehr ungerecht ist, wenn sie verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen, und er vergißt es wirklich, um sich bloß mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschäftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist. Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die für sich selbst rührend ist.--Ein großer Mann, den man auf das Schafott führet, wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Hilfe der Poesie, Eindruck; ungefähr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen würde." So viel liegt für den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein können die schwächsten, verwirrtesten Stücke eine Art von Glück machen; und ich weiß nicht, wie es kömmt, daß es immer solche Stücke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstück so meisterhaft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mittelmäßige fährt mit ihnen immer besser. Vielleicht, weil sie in dem Mittelmäßigen mehr von dem ihrigen hinzutun können; vielleicht, weil uns das Mittelmäßige mehr Zeit und Ruhe läßt, auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmäßigen alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt daß in einem vollkommenem Stücke öfters eine jede Person ein Hauptakteur sein müßte, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die übrigen verderben hilft. Beim "Essex" können alle diese und mehrere Ursachen zusammenkommen. Weder der Graf noch die Königin sind von dem Dichter mit der Stärke geschildert, daß sie durch die Aktion nicht noch weit stärker werden könnten. Essex spricht so stolz nicht, daß ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebärde, in jeder Miene noch stolzer zeigen könnte. Es ist sogar dem Stolze wesentlich, daß er sich weniger durch Worte, als durch das übrige Betragen äußert. Seine Worte sind öfters bescheiden, und es läßt sich nur sehen, nicht hören, daß es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese Rolle muß also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht völlig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz verunglücken. Elisabeth ist so zärtlich als stolz; ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz beides zugleich sein kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen könne, das begreife ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zärtlichkeit, und einer zärtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich geläufig sind; hat sie aber nur die einen vorzüglich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrückt, zwar empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, daß sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen als die Natur? Ist sie von einem majestätischen Wuchse, tönt ihre Stimme voller und männlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie steht es mit den zärtlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr Anstand und Würde, als Kraft und Geist: so wird sie den zärtlichen Stellen die völligste Genüge leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiß nicht; sie wird sie noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zürnende Liebhaberin in ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich täuschend zu zeigen vermögend wären, dürften noch seltner sein, als die Elisabeths selber; und wir können und müssen uns begnügen, wenn eine Hälfte nur recht gut gespielt und die andere nicht ganz verwahrloset wird. Madame Löwen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zärtliche Frau, als die stolze Monarchin sehen und hören lassen. Ihre Bildung, ihre Stimme, ihre bescheidene Aktion ließen es nicht anders erwarten; und mich dünkt, unser Vergnügen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als daß nicht die Königin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist es zuträglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Königin, als von der Liebhaberin und der Zärtlichkeit verloren geht. Es ist nicht bloß eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein würde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen wäre. Ich weiß einem Künstler, er sei von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu machen; und diese besteht darin, daß ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm über alles, er höre gern frei und laut über sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht wert, daß wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefühl für seine Schwäche haben. Er spottet bei sich über jede uneingeschränkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln. Ich wollte sagen, daß sich Gründe anführen lassen, warum es besser ist, wenn die Aktrice mehr die zärtliche als die stolze Elisabeth ausdrückt. Stolz muß sie sein, das ist ausgemacht: und daß sie es ist, das hören wir. Die Frage ist nur, ob sie zärtlicher als stolz, oder stolzer als zärtlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu wählen hätte, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte Königin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der rächerischen Majestät, auszudrücken vermöchte, oder die, welche die eifersüchtige Liebhaberin, mit allen kränkenden Empfindungen der verschmähten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller Beängstigung über seine Hartnäckigkeit, mit allem Jammer über seinen Verlust, angemessener wäre? Und ich sage: diese. Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des nämlichen Charakters vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so muß sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die Zärtlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muß bei der Königin die Zärtlichkeit den Stolz überwiegen. Wenn der Graf sich eine höhere Miene gibt, als ihm zukommt, so muß die Königin etwas weniger zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist, herabblicken lassen, würde die ekelste Einförmigkeit sein. Man muß nicht glauben können, daß Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle wäre, ebenso wie Essex handeln würde. Der Ausgang weiset es, daß sie nachgebender ist als er; sie muß also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren als er. Wer sich durch äußere Macht emporzuhalten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muß. Wir wissen darum doch, daß Elisabeth die Königin ist, wenn sie gleich Essex das königlichere Ansehen gibt. Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, daß die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als daß sie fallen. Es ist schicklicher, daß ein zärtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein stolzer von der Zärtlichkeit sich fortreißen läßt. Jener scheint sich zu erheben; dieser zu sinken. Eine ernsthafte Königin, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen könnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird und nach den kleinen Bedürfnissen ihrer Leidenschaft seufzet, ist fast, fast lächerlich. Eine Geliebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, daß sie Königin ist, erhebt sich über sich selbst, und ihre Schwachheit wird fürchterlich. Sechsundzwanzigstes Stück Den 28. Julius 1767 Den einunddreißigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, "Die Hausfranzösin, oder die Mamsell" aufgeführet. Dieses Stück ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fünften Bande der "Schaubühne" beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen. "Das Testament", von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber "Die Hausfranzösin" ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch obendarein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben können. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird.-- Den zweiunddreißigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die "Semiramis" des Herrn von Voltaire wiederholt. Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt, so haben Kenner schon längst gewünscht, daß die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stücke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr übereinstimmen möchte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld für die Kunst bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Rührung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwächt und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem "Polyeukt" und "Mithridat" den Versuch, besondere diesen Stücken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwärts aufgeführet wurden; sondern ließ sich auch in einem besondern Blatte seines "Kritischen Musikus"[1] umständlich darüber aus, was überhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle. "Alle Symphonien," sagt er, "die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehören also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragödien und Komödien unter sich selbst sind, so verschieden muß auch die dazugehörige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehört, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stückes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzügen vorkommen, müssen teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges übereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemäß sein muß." "Alle Symphonien zu Trauerspielen müssen prächtig, feurig und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragödien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den 'Polyeukt' gegen den 'Brutus', oder auch die 'Alzire' gegen den 'Mithridat': so wird man gleich sehen, daß sich keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufällen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das Prächtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmut, die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Unglücksfällen im Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele 'Cato', 'Brutus', 'Mithridat'. 'Alzire' aber und 'Zaïre' erfordern hingegen schon eine etwas veränderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stücken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veränderung der Affekten zeigen." "Ebenso müssen die Komödiensymphonien überhaupt frei, fließend und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentümlichen Inhalte einer jeden Komödie richten. So wie die Komödie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komödien 'Der Falke' und 'Die beiderseitige Unbeständigkeit' würden ganz andere Symphonien erfordern als 'Der verlorne Sohn'. So würden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum 'Geizigen' oder zum 'Kranken in der Einbildung' sehr wohl schicken möchten, zum 'Unentschlüssigen' oder zum 'Zerstreuten' schicken. Jene müssen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdrießlicher und ernsthafter." "Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stück beziehen; zugleich aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem ersten Auftritte übereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Sätzen bestehen, so wie es der Komponist für gut findet.--Die Symphonien zwischen den Aufzügen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natürlichsten zwei Sätze haben können. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein nötig, wenn die Affekten einander allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehörige Länge erhält, damit die Bedürfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden können.--Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste übereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdrücklicher zu machen. Was ist lächerlicher, als wenn der Held auf eine unglückliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komödie auf eine fröhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf?"-- "Da übrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veränderung derselben sehr nötig, damit die Zuhörer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren möchten, wenn sie immer einerlei Instrumente hören sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, daß die Anfangssymphonie sehr stark und vollständig ist, und also desto nachdrücklicher ins Gehör falle. Die Veränderung der Instrumenten muß also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muß aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdrücken kann, was man ausdrücken soll. Es muß also auch hier eine vernünftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veränderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Übelstand vermeidet." Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkünstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten imstande sei. Die mehresten müssen es von ihren Kunstverwandten erst hören, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden. Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankömmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkünstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin glücklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsätze aus ihren Beispielen hergeleitet hätte. Aber je häufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher können wir sie uns versprechen; und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkünstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen könnte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfterer hören, wir werden sie miteinander öfterer vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen. Welchen Zuwachs unser Vergnügen im Theater dadurch erhalten würde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters hat man sich daher nicht nur überhaupt bemüht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch würdige Männer bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die über alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks "Olint und Sophronia" hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Aufführung der "Semiramis" wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgeführt. [1] Stück 67. Siebenundzwanzigstes Stück Den 31. Julius 1767 Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen;--denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Vergnügen ist, desto weniger läßt es sich mit Worten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprüche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und diese sind ebenso ununterrichtend für den Liebhaber, als ekelhaft für den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet;--sondern bloß nach den Absichten, die ihr Meister damit gehabt, und nach den Mitteln überhaupt, deren er sich, zur Erreichung derselben, bedienen wollen. Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Sätzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Flöten; der Grundbaß ist durch Fagotte verstärkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stürmisch; der Zuhörer soll vermuten, daß er ein Schauspiel ungefähr dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zärtlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung nehmen ihr Teil daran; und der zweite Satz, ein Andante mit gedämpften Violinen und konzertierenden Fagotten, beschäftigst sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Bühne eröffnet sich mit mehr als gewöhnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spüren muß, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in dem ersten, außer daß die Hoboen, Flöten und Fagotte miteinander einige besondere kleinere Sätze haben. Die Musik zwischen den Akten hat durchgängig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der sich auf das Folgende bezöge, scheinet Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich würde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das Unerwartete, das Überraschende mehr als ein anderer; er läßt seinen Gang nicht gern voraus verraten; und die Musik würde ihn verraten, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des Stücks angeben, und nicht stärker, nicht bestimmter, als ihn ungefähr der Titel angibt. Man darf dem Zuhörer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn führen will, aber die verschiedenen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, müssen ihm gänzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten ist aus dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestärkt. Denn gesetzt, daß die Leidenschaften, welche in zwei aufeinanderfolgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen wären, so würden notwendig auch die beiden Sätze von ebenso widriger Beschaffenheit sein müssen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? Es sei, daß er es in einem Stücke, von der erforderlichen Länge, ebensowohl tun könne; aber in zwei besondern, voneinander gänzlich abgesetzten Stücken muß der Sprung, z.E. aus dem Ruhigen in das Stürmische, aus dem Zärtlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder plötzliche Übergang aus einem Äußersten in das andere, aus der Finsternis in das Licht, aus der Kälte in die Hitze zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie läßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend als ergötzend. Die Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergrößte. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschränken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewähren können, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des Mannigfaltigen bemerke. Nun aber würde, bei dem doppelten Satze zwischen den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hintennach kommen; wir würden es erst hintennach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegengesetzte überspringen müssen: und das ist für die Musik so gut, als erführen wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine üble Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, daß er uns nicht hätte beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, daß sonach alle Symphonien verwerflich sein müßten, weil alle aus mehrern Sätzen bestehen, die voneinander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders ausdrückt als der andere. Sie drücken etwas anders aus, aber nicht etwas Verschiednes; oder vielmehr, sie drücken das nämliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß ebendieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser Beschaffenheit; das Ungestüme des ersten Satzes zerfließt in das Klagende des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen Würde erhebet. Ein Tonkünstler, der sich in seinen Symphonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren läßt, um sich in einen dritten ebenso verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann überraschen, kann betäuben, kann kitzeln, nur rühren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß ebensowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann. Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der "Semiramis" zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat; Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante mesto, bloß mit gedämpften Violinen und Bratsche. In dem zweiten Akt spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der darauffolgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro assai aus dem G-dur mit Waldhörnern, durch Flöten und Hoboen, auch den Grundbaß mitspielende Fagotte verstärkt, drückt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz dieses treulosen und herrschsüchtigen Ministers aus. In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen läßt. Aber der Tonkünstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E-moll, mit der nämlichen Instrumentenbesetzung des Vorhergehenden, nur daß E-Hörner mit G-Hörnern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und träges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestürzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muß. Die Beängstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir bedauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen. Bedauern und Mitleid läßt also auch die Musik ertönen; in einem Larghetto aus dem A-moll, mit gedämpften Violinen und Bratsche und einer konzertierenden Hoboe. Endlich folget auch auf den fünften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E-dur, nächst den Violinen und der Bratsche, mit Hörnern, mit verstärkenden Hoboen und Flöten und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene und ins Erhabene gezogene Betrübnis, mit einiger Rücksicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde ebenso würdig als mächtig erhebt. Die Absichten eines Tonkünstlers merken, heißt ihm zugestehen, daß er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Rätsel sein, dessen Deutung ebenso mühsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob wächst mit seiner Verständlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter jenes.--Es ist kein Ruhm für mich, daß ich recht gehört habe; aber für den Hrn. Agricola ist es ein so viel größerer, daß in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehört hat als ich. Achtundzwanzigstes Stück Den 4. August 1767 Den dreiunddreißigsten Abend (freitags, den 12. Junius) ward die "Nanine" wiederholt, und den Beschluß machte "Der Bauer mit der Erbschaft", aus dem Französischen des Marivaux. Dieses kleine Stück ist hier Ware für den Platz und macht daher allezeit viel Vergnügen. Jürge kömmt aus der Stadt zurück, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hunderttausend Mark geerbt. Glück ändert Stand und Sitten; nun will er leben, wie vornehme Leute leben, erhebt seine Liese zur Madame, findet geschwind für seinen Hans und für seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bote kömmt nach. Der Makler, bei dem die hunderttausend Mark gestanden, hat Bankerott gemacht, Jürge ist wieder nichts wie Jürge, Hans bekommt den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluß würde traurig genug sein, wenn das Glück mehr nehmen könnte, als es gegeben hat; gesund und vergnügt waren sie, gesund und vergnügt bleiben sie. Diese Fabel hätte jeder erfinden können; aber wenige würden sie so unterhaltend zu machen gewußt haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine ganz eigene Würze. Die Übersetzung ist von Krügern, der das französische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu übertragen gewußt hat. Es ist nur schade, daß verschiedene Stellen höchst fehlerhaft und verstümmelt abgedruckt werden. Einige müßten notwendig in der Vorstellung berichtiget und ergänzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene. "Jürge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dahlers. Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken? Jürge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die. Lise. Woto denn, Hans Narr? Jürge. För düssen Jungen, de mie mienen Bündel op dee Reise bed in unse Dörp dragen hed, un ik bün ganß licht und sacht hergahn. Lise. Büst du to Foote hergahn? Jürge. Ja. Wielt't veel kummoder is. Lise. Da hest du een Maark. Jürge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat. Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig. Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak Jürge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven. Valentin. Sollen die fünf Schilling für mich, Herr Jürge? Jürge. Ja, mien Fründ! Valentin. Fünf Schilling? ein reicher Erbe! fünf Schillinge? ein Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele? Jürge. O! et kumt mie even darop nich an, jy dörft't man seggen. Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so." Wie ist das? Jürge ist zu Fuße gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert fünf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fünf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hinschmeißen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja noch übrig. Ohne das Französische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Jürge war nicht zu Fuße gekommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein "Wielt't veel kummoder is". Aber die Kutsche ging vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, ließ er sich bis zu seinem Hause das Bündel nachtragen. Dafür gibt er dem Jungen die fünf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das hat er für die Kutsche bezahlen müssen, und er erzählt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher darüber fertig geworden.[1] Den vierunddreißigsten Abend (montags, den 29. Junius) ward "Der Zerstreute" des Regnard aufgeführt. Ich glaube schwerlich, daß unsere Großväter den deutschen Titel dieses Stücks verstanden hätten. Noch Schlegel übersetzte Distrait durch "Träumer". Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Französischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das Regnard brachte seinen "Zerstreuten" im Jahre 1679 aufs Theater; und er fand nicht den geringsten Beifall. Aber vierunddreißig Jahr darauf, als ihn die Komödianten wieder versuchten, fand er einen so viel größern. Welches Publikum hatte nun recht? Vielleicht hatten sie beide nicht unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stück als eine gute förmliche Komödie, wofür es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm es für nichts mehr auf, als es ist; für eine Farce, für ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte und war dankbar. Jenes Publikum dachte: --non satis est risu diducere rictum Auditoris-- --et est quaedam tamen hic quoque virtus. Außer der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlässig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Mühe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyère völlig entworfen. Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Züge teils in Handlung zu bringen, teils erzählen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufügte, will nicht viel sagen. Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralität fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf für die Komödie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden, als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spöttereien ebensowenig bessern als ein Hinkender. Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemühungen nicht abhelfen können? Sollte sie wirklich mehr natürliche Verwahrlosung als üble Angewohnheit sein? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Eindrücken zufolge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betäubt, nicht außer Tätigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwärts tätig. Aber so gut sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natürlicher Beruf, bei den sinnlichen Veränderungen ihres Körpers gegenwärtig zu sein; es kostet Mühe, sie dieses Berufs zu entwöhnen, und es sollte unmöglich sein, ihr ihn wieder geläufig zu machen? Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komödie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen. "Molière", sagt er z.E., "macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stücks; Molière beweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht." Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schätzen seine übrige guten Eigenschaften, wie wir sie schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig, ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich. Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons que de grosses pièces. Claudine (le contrefaisant). Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire? Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, te dis-je. Claudine. Pourquoi donc, Nicodème? Blaise. Pour ce garçon qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu'à cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et à mon Claudine. T'es venu dans la voiture? Blaise. Oui, parce que cela est plus commode. Claudine. T'a baillé un écu? Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un écu, ce m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ça. Claudine. Et tu dépenses cinq sols en porteurs de paquets? Blaise. Oui, par manière de recréation. Arlequin. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise? Blaise. Oui, mon ami. etc. Neunundzwanzigstes Stück Den 7. August 1767 Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß der "Geizige" des Molière nie einen Geizigen, der "Spieler" des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumt, daß das Lachen diese Toren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben müssen; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche.-- "Das Rätsel oder Was den Damen am meisten gefällt", ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Löwen, machte diesen Abend den Beschluß. Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzählungen und Märchen geschrieben hätten, so würde das französische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren müssen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen Quellen bereichert. Des letztern "Ce qui plaît aux dames" gab den Stoff zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzügen, welches unter dem Titel "La fée Urgèle", von den italienischen Komödianten zu Paris, im Dezember 1765 aufgeführet ward. Herr Löwen scheinet nicht sowohl dieses Stück, als die Erzählung des Voltaire selbst vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsäule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, daß dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Löwen wegen der Einrichtung seines Stücks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmärchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Löwen selbst gibt sein Rätsel für nichts anders, als für eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es wäre bloßer Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur dünkt mich, daß ein Waffenträger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gründet und ritterliche Abenteuer als rühmliche Handlungen eines vernünftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien muß man nicht zergliedern wollen. Den fünfunddreißigsten Abend (mittewochs, den 1. Julius) ward, in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, die "Rodogune" des Peter Corneille aufgeführt. Corneille bekannte, daß er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, daß er es weit über seinen "Cinna" und "Cid" setze, daß seine übrige Stücke wenig Vorzüge hätten, die in diesem nicht vereint anzutreffen wären; ein glücklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gründliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse.-- Es ist billig, daß wir uns bei dem Meisterstücke dieses großen Mannes Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzählt Appianus Alexandrinus gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. "Demetrius, mit dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Königes Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermählte. Inzwischen bemächtigte sich Diodotus, der den vorigen Königen gedienet hatte, des syrischen Thrones und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Namen er als Vormund anfangs die Regierung führte. Bald aber schaffte er den jungen König aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf und gab sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Königs, das Schicksal desselben und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hörte, kam er nach Syrien zurück, überwand mit vieler Mühe den Tryphon und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates und foderte die Befreiung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichtsdestoweniger kam es zwischen ihm und Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kürzern zog und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlin Kleopatra aus Haß gegen die Rodogune umgebracht; obschon Kleopatra selbst, aus Verdruß über diese Heirat, sich mit dem nämlichen Antiochus, seinem Bruder, vermählet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwei Söhne, wovon sie den ältesten, mit Namen Seleukus, der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhändig mit einem Pfeile erschoß; es sei nun, weil sie besorgte, er möchte den Tod seines Vaters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemütsart dazu veranlaßte. Der jüngste Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung und zwang seine abscheuliche Mutter, daß sie den Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken mußte." In dieser Erzählung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es würde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen "Tryphon", einen "Antiochus", einen "Demetrius", einen "Seleukus" daraus zu machen, als es ihm, eine "Rodogune" daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzüglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug rächen zu können glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß sonach sein Stück nicht "Rodogune", sondern "Kleopatra" heißen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhörer diese Königin von Syrien mit jener berühmten letzten Königin von Ägypten gleichen Namens verwechseln dürften, wollte er lieber von der zweiten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. "Ich glaubte mich", sagt er, "dieser Freiheit um so eher bedienen zu können, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht für notwendig gehalten, ein Stück eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger teil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z.E. Sophokles eines seiner Trauerspiele 'Die Trachinerinnen' genannt, welches man itziger Zeit schwerlich anders, als den 'sterbenden Herkules' nennen würde." Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel für ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, daß er den Inhalt angeben müsse; genug, wenn dadurch ein Stück von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlänglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das Stück, welches er "Die Trachinerinnen" überschrieb, würde haben "Dejanira" nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verführerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des Corneille ging hiernächst zu weit; wer die ägyptische Kleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Ägypten ist, weiß, daß mehr Könige und Königinnen einerlei Namen geführt haben: wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens hätte Corneille in dem Stück selbst den Namen Kleopatra nicht so sorgfältig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Übersetzer tat daher sehr wohl, daß er sich über diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muß seine Leser oder Zuhörer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, das mögen sie fragen! Dreißigstes Stück Den 11. August 1767 Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschießt den einen von ihren Söhnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens läßt es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die einzige Eifersucht ein wütendes Eheweib zu einer ebenso wütenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er für Kleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl fällt; aber in ihm fällt auch ein Vater, der rächende Söhne hinterläßt. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Söhne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern wählen müßte, ohnfehlbar sich für den zuerst beleidigten Teil erklären würde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward König, und der König sahe in der Kleopatra nicht die Mutter, sondern die Königsmörderin. Sie hatte alles von ihm zu fürchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Söhnen übrig; sie fing an, alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des ältere Sohnes wäre auch das Schicksal des jüngern geworden; aber dieser war rascher, oder war glücklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen rächet das andere; und es kömmt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen. Dieser dreifache Mord würde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nämlichen Leidenschaft der nämlichen Person hätte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragödie? Für das Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang reizet das Genie; und den Stümper schrecket er ab. Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die ineinander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurückzuführen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegründete, sondern nur auf das Ähnliche oder Unähnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, hält sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestürzt werden; das kann er, der Witz; und nur das. Aus der beständigen Durchkreuzung solcher Fäden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, grün oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz für Kinder. Nun urteile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung. Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das wäre ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Kleopatra muß eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren hätte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, als daß Rodogune Königin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner.-- Ganz recht; weit erhabner und--weit unnatürlicher. Denn einmal ist der Stolz überhaupt ein unnatürlicheres, ein gekünstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatürlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es genießen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefällt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glückseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuß ganzen Völkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natürliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswürdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus überlegtem Ehrgeize Freveltaten verübet, empört sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesättiget haben, so danken wir dem Himmel, daß sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und ärgern uns über den Dichter, der uns dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns ersprießlich sein könnte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Männer vom Throne gestürzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen könnte, daß nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Zepter selbst zu führen, welches ein liebreicher Ehemann führte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem männlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, mürrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwürfigkeit Kränkendes hat, zu sehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der äußersten Gefahr erlangte Unabhängigkeit nicht um so viel schätzbarer hätte sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von sich sagen läßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der größte Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sei, oder daß ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters, rühmet; und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glänzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten. Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter häufiger, als bei Corneillen, und es könnte leicht sein, daß sich zum Teil sein Beiname des Großen mit darauf gründe. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines fähig sein sollte, und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist. Einunddreißigstes Stück Den 14. August 1767 In der Geschichte rächet sich Kleopatra bloß an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht rächen. Bei dem Dichter ist jene Rache längst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloß erzählt, und alle Handlung des Stücks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muß sich noch gar nicht gerächet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen rächet. Einer Eifersüchtigen ist es allerdings natürlich, daß sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversöhnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersüchtig; sie ist bloß ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersüchtigen ähnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als daß ihre Wirkungen die nämlichen sein könnten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als daß die Rache des Ehrgeizigen ohne Maß und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kälter und überlegender zu werden anfängt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fürchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gänzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versöhnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhöret, die nämliche Beleidigung zu sein, und immer wächset, je länger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erlöschen, die sie spat oder früh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Kleopatra beim Corneille; und die Mißhelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als äußerst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbändiger Trieb nach Ehre und Unabhängigkeit, lassen sie uns als eine große, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tückischer Groll; ihre hämische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befürchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben müßte; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, daß wir sie nicht genug verachten zu können glauben. Endlich muß diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Kleopatra nichts übrig, als ein häßliches, abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet. Aber nicht genug, daß Kleopatra sich an Rodogunen rächet: der Dichter will, daß sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie fängt er dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natürlich: denn was ist natürlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet würde? Und daß sie von ihrem Liebhaber hingerichtet würde? Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch nicht völlig vermählet gewesen; laßt uns erdichten, daß nach seinem Tode sich die beiden Söhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt uns erdichten, daß die beiden Söhne Zwillinge sind, daß dem ältesten der Thron gehöret, daß die Mutter es aber beständig verborgen gehalten, welcher von ihnen der älteste sei; laßt uns erdichten, daß sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen für den ältesten zu erklären und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun hätten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren. Schön; aber könnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Könnten wir die guten Prinzen nicht noch in größere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Laßt uns also weiter erdichten, daß Rodogune den Anschlag der Kleopatra erfährt; laßt uns weiter erdichten, daß sie zwar einen von den Prinzen vorzüglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, daß sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen dürfte, zu ihrem Gemahle zu wählen, daß sie allein den wählen wolle, welcher sich ihr am würdigsten erzeigen werde; Rodogune muß gerächet sein wollen; muß an der Mutter der Prinzen gerächet sein wollen; Rodogune muß ihnen erklären: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter! Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, daß es sehr tugendhafte Prinzen sein müssen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt für den Teufel von Mama, und ebensoviel Zärtlichkeit für eine liebäugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, daß es gar nicht möglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlägt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlägt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Mädchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere totschlagen; so stehen sie beide hübsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schönheit davon. Freilich wird das Stück dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, daß die Weiber darin ärger als rasende Männer, und die Männer weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stückes mehr; denn das Gegenteil ist so gewöhnlich, so abgedroschen!-- Doch im Ernste: ich weiß nicht, ob es viel Mühe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich möchte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiß ich, daß es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen. Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit hätte sich Corneille immer ersparen können. "Vielleicht", sagt er, "dürfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzählung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fünften, nicht das geringste vorkömmt, welches einigen historischen Grund hätte. Doch", fährt er fort, "Mich dünkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorläufige Umstände, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wüßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausübung der Alten ist völlig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein haben, als das bloße Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentümliche Mittel gelanget, so daß wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muß. Oder man werfe nur die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragödie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, daß sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloß auf das Vorgeben gründet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrückt und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten als die Auflösung, gänzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben." Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer Kindheit gewesen wären. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte! Zweiunddreißigstes Stück Den 18. August 1767 Mit den Beispielen der Alten hätte Corneille noch weiter zurückgehen können. Viele stellen sich vor, daß die Tragödie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens großer und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fußtapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die historische Richtigkeit ganz unbekümmert.[1] Es ist wahr, er zog sich darüber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so läßt sich den Folgerungen, die man aus seiner Mißbilligung ziehen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nützlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln Folgen sein könnte. Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Erdichtungen des großen Corneille nichts als leidige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit überladet, das Geringste wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er hätte doch wohl wissen sollen, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Söhne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragödie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Faktum, und dieses ist ebenso gräßlich als außerordentlich. Es gibt höchstens drei Szenen, und da es von allen nähern Umständen entblößt ist, drei unwahrscheinliche Szenen.--Was tut also der Poet? So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kürze der größere Mangel seines Stückes scheinen. Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen: daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft, bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt, und voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher Strom dahinreißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.--Und schlägt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kürze seiner Fabel verschwunden; es bekümmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf Akte füllen wolle; ihm ist nur bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet. Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstößig sein, daß er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervorzubringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten nehmen zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra, eine Mörderin ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgesagt, so sieht er, um eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Lücken zwischen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen auszufüllen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer Häcksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, läßt erzählen und erzählen, läßt rasen und reimen,--und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankömmt, ist das Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, --wird gedruckt und aufgeführt,--gelesen und angesehen,--bewundert oder ausgepfiffen,--beibehalten oder vergessen,--so wie es das liebe Glück will. Denn et habent sua fata libelli. Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen?--Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine "Rodogune", nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück des größten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjährige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen? O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechzehnten Säculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelin dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen, sammelte Almosen für sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen großen einträglichen Kommentar über die Werke ihres Großvaters usw.) aber gleichwohl erklärte er die "Rodogune" für ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so großer Mann, als der große Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben können.--Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Ausländern über die Fehler eines Franzosen die Augen eröffnet. Diesem ganz gewiß betet er nach;--oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen,--wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst die Kühnheit hätte, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das Ich rede von diesen meinen Vorgängern mehr bei der nächsten Wiederholung der "Rodogune". Meine Leser wünschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Übersetzung, nach welcher dieses Stück aufgeführet worden. Es war nicht die alte Wolfenbüttelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schämen, und ist voller starken, glücklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als daß er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu übersetzen, muß man bessere Verse machen können, als er [1] Diogenes Laërtius, Lib. I. § 59. Dreiunddreißigstes Stück Den 21. August 1767 Den sechsunddreißigsten Abend (freitags, den 3. Julius) ward das Lustspiel des Herrn Favart, "Soliman der Zweite", ebenfalls in Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, aufgeführet. Ich mag nicht untersuchen, wieweit es die Geschichte bestätiget, daß Soliman II. sich in eine europäische Sklavin verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich förmlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserin erklären müssen. Genug, daß Marmontel hierauf eine von seinen moralischen Erzählungen gegründet, in der er aber jene Sklavin, die eine Italienerin soll gewesen sein, zu einer Französin macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, daß irgendeine andere Schöne, als eine französische, einen so seltnen Sieg über einen Großtürken erhalten können. Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Erzählung des Marmontel sagen soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Lächerlichen, ausgeführet und mit der Eleganz und Anmut geschrieben wäre, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzählung sein, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so anstößig, als eine Erzählung des La Fontaine oder Grécourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist? Ein Sultan, der in dem Schoße der Wollüste gähnet, dem sie der alltägliche und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und ekel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinierteste Zärtlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft: dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in der Erzählung. Ich sage der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Magen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfällt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken würde, auf faule Eier, auf Rattenschwänze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die edelste, bescheidenste Schönheit, mit dem schmachtendsten Auge, groß und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan,--bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestätischer in ihrer Form, blendender von Kolorit, blühende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Töne, eine wahre Muse, nur verführerischer, wird--genossen und vergessen. Endlich erscheinet ein weibliches Ding, flüchtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur Unverschämtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie, wenig Schönheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sultan erblickt, fällt mit der plumpesten Schmeichelei, wie mit der Türe ins Haus: Grâces au ciel, voici une figure humaine! --(Eine Schmeichelei, die nicht bloß dieser Sultan, auch mancher deutscher Fürst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hören bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich enthält, zu fühlen.) Und so wie dieses Eingangskompliment, so das übrige --Vous êtes beaucoup mieux, qu'il n'appartient à un Turc: vous avez même quelque chose d'un Français--En vérité ces Turcs sont plaisants--Je me charge d'apprendre à vivre à ce Turc--Je ne désespère pas d'en faire quelque jour un Français.--Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebäugelt und mault, bis der Sultan, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Seraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abändern und Geistlichkeit und Pöbel wider sich aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr ebenso glücklich sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Mühe! Marmontel fängt seine Erzählung mit der Betrachtung an, daß große Staatsveränderungen oft durch sehr geringfügige Kleinigkeiten veranlaßt worden, und läßt den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst schließen: Wie ist es möglich, daß eine kleine aufgestülpte Nase die Gesetze eines Reiches umstoßen können? Man sollte also fast glauben, daß er bloß diese Bemerkung, dieses anscheinende Mißverhältnis zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erläutern wollen. Doch diese Lehre wäre unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, daß er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt. "Ich nahm mir vor", sagt er, "die Torheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefälligkeit bringen wollen; ich wählte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als die zwei Extrema der Herrschaft und Abhängigkeit." Allein Marmontel muß sicherlich auch diesen seinen Vorsatz während der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten Versuch einiger Gewaltsamkeit von seiten des Sultans; er ist gleich bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Französin sagt, der zurückhaltendste, nachgebendste, gefälligste, folgsamste, untertänigste Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein würde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzählung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Käfer, wenn er alle Blumen durchschwärmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen. Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern läßt oder nicht; und also war die Erzählung des Marmontel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat Favart, und sehr glücklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus ähnlichen Erzählungen bereichern wollen, die Favartsche Ausführung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammenzuhalten. Wenn sie die Gabe zu abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veränderungen, die dieser gelitten und zum Teil leiden müssen, lehrreich sein, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein Kritikus zur Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der öfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Dramas machen möchten. Ich will nur bei einer von diesen Veränderungen stehenbleiben. Aber ich muß vorher das Urteil anführen, welches Franzosen selbst über das Stück gefällt haben.[1] Anfangs äußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den größten Fürsten seines Jahrhunderts; die Türken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen teurer wäre als dieses Solimans; seine Siege, seine Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswürdig, über die er siegte: aber welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten, schwärzesten Streiche fähig war, die den Sultan durch ihre Ränke und falsche Zärtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut wütete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine närrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein Erzähler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Fakta nach seinem Gutdünken verändern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?" Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich möchte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht übernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geäußert,[2] daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen allerlei Faktum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Faktis, sondern in der Erkenntnis bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Fakta hervorzubringen pflegen und hervorbringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Seraglio eine europäische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget, oder eine andere, sowie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzählung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere als die historischen, oder wohl gar diesen völlig entgegengesetzte wählet, auch der historischen Namen enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Fakta betrachten wir als etwas Zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigentümliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, solange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheinet uns die Individualität aufzuheben und andere Personen unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpieren und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind. [1] "Journal Encyclop.", Janvier 1762. [2] Oben im 23. Stück. Vierunddreißigstes Stück Den 25. August 1767 Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;[1] was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: "Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können!--Wie ist es möglich, daß ihm nicht beifiel!--Überlegte er denn nicht?" Oh, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloß, daß wir fleißiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe bleiben wollten. Marmontels Soliman hätte daher meinetwegen immer ein ganz anderer Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein mögen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, daß man ihm auch jenes nicht für genossen ausgehen läßt. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muß uns nicht vorsätzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt. Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet oder sich schaffet, Übereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet Übereinstimmung:--Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nachdem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von Schwarz auf Weiß zu ändern. Ein Türk und Despot muß, auch wenn er verliebt ist, noch Türk und Despot sein. Dem Türken, der nur die sinnliche Liebe kennt, müssen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwöhnte europäische Einbildungskraft damit verbindet. "Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts Anzügliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu überwinden haben und, wenn ich sie überwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein": so kann ein König von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so kömmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entäußert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu genießen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: "Soliman war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angelegenheiten seines Seraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschäfte hätte treiben sollen." Sehr wohl; aber so hätte er auch am Ende wichtige Staatsgeschäfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben müssen. Denn zu einem großen Manne gehört beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt, freie Herzen, die sich aus bloßer Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen ließen; er hätte ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zärtliche Elmire wird von einer wollüstigen Delia verdrängt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick über die Hörner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muß, ehe er die zweideutige Gunst genießet, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muß lachen über den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, für ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: "Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!" Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Soliman so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. --Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, daß auch wir uns mit dem ebenso geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und größere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht, uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich selbst im Glücke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns statthat, wenigstens unsere Begehrungs-und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren. Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefeimte Buhlerin werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist. Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angeführten französischen Kunstrichter recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. "Die Wahrscheinlichkeit", sagen sie, "auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der große Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar hätte sie das alles sagen können; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdrücken gesagt hätte. Aber wer kann es aushalten, den großen Soliman von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hören? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unerträglich." [1] Pindarus, "Olymp." II. str. 5. v. 10. Fünfunddreißigstes Stück Den 28. August 1767 Der letztere Zug, muß man wissen, gehört dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu gönnen, als sich selbst; sie scheinet es zu verschmähen: das ist Beleidigung. Beim Marmontel hingegen läßt sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen willens ist, und das mit der uneigennützigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich über nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht errät oder nicht besser erraten will. Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Überladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß seine Roxelane noch unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewußt, als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das? Eben auf diese Veränderung wollte ich oben kommen; und mich dünkt, sie ist so glücklich und vorteilhaft, daß sie von den Franzosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient hätte. Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines närrisches, vermessenes Ding, dessen Glück es ist, daß der Sultan Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahingebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt und ihm eine Erklärung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ein Licht auf ihre vorige Aufführung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesöhnet werden. "Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzückt mich! Aber lerne nun auch mich kennen. Ich liebe dich, Soliman; ich muß dich wohl lieben! Nimm all deine Rechte, nimm meine Freiheit zurück; sei mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen müssen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget. Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erröten darf; sieh hier in Roxelanen --nichts, als deine untertänige Sklavin."[1] So sagt sie, und uns wird auf einmal ganz anders; die Kokette verschwindet, und ein liebes, ebenso vernünftiges als drollichtes Mädchen steht vor uns; Soliman höret auf, uns verächtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe würdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fürchten, er möchte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er möchte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber möchte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt, eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zurückhalten wollen, möchte anstatt einer feurigen Bestätigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind möchte durch ihre Großmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige Vermessenheiten so mühsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stück schließt sich zu unserer völligen Zufriedenheit. Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veränderung? Ist sie bloß willkürlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Erzählung diesen vergnügendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem, was dort eine Schönheit ist, hier ein Fehler? Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der Aesopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzählung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollständige Handlung, die für sich ein wohlgeründetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausführen läßt, ist er unbekümmert, er hat uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses mag befriediget werden oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fließende Lehre keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner Fabel anzufachen und zu unterhalten vermögend sind, oder auf das Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewähret; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzählung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt. Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzählung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und Gefälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er recht, so aufzuhören, wie er aufhört. Die unbändige Roxelane wird durch nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, mögen wir sie doch immer für eine Närrin und ihn für nichts Bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich sein, daß den Sultan seine blinde Gefälligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefälligkeit über das Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekümmert, ob es eine solche Gefälligkeit wert sei Allein, als Favart diese Erzählung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes größtenteils verloren gehe und daß, wenn sie auch vollkommen erhalten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch nicht so groß und lebhaft sei, daß man dabei ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren könne. Ich meine das Vergnügen, welches uns ebenso rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewähren. Nichts beleidiget uns aber, von seiten dieser, mehr als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit betrogen hat oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer Weisheit gibt und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfährt unsere Überlegung; das häßliche Gesicht, das wir so schön geschminkt sehen, wird für noch einmal so häßlich erklärt, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu wählen, ob er von uns lieber für einen Giftmischer oder für einen Blödsinnigen will gehalten sein. So wäre es dem Favart, so wäre es seinen Charakteren des Solimans und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang ändern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterres zu sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun übrig, als was er tat. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnügt zu haben, was wir nicht auch hochachten könnten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit stärker ist, als einer bloßen Erzählung, so interessieren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnügen uns nicht, ihr Schicksal bloß für den gegenwärtigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufriedengestellet wissen. Sultan, j'ai pénétré ton âme; J'en ai démêlé les ressorts. Elle est grande, elle est fière, et la gloire l'enflamme, Tant de vertus excitent mes transports. A ton tour, tu vas me connaître: Je t'aime, Soliman; mais tu l'as mérité. Reprends tes droits, reprends ma liberté; Sois mon Sultan, mon Héros et mon Maître. Tu me soupçonnerais d'injuste vanité. Va, ne fais rien que ta loi n'autorise; Il est des préjugés qu'on ne doit point trahir, Et je veux un Amant, qui n'ait point à rougir: Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise. Sechsunddreißigstes Stück Den 1. September 1767 So unstreitig wir aber, ohne die glückliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Krönung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den lächerlichen Triumph einer "Serva Padrona" würden betrachtet haben; so gewiß, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein kläglicher Pimpinello, und die neue Kaiserin nichts als eine häßliche, verschmitzte Serbinette gewesen wäre, von der wir vorausgesehen hätten, daß sie nun bald dem armen Sultan Pimpinello dem Zweiten noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natürlich dünkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir müssen uns wundern, daß sie, demohngeachtet, so manchem Dichter nicht beigefallen und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische Erzählung in der dramatischen Form darüber verunglücken müssen. Zum Exempel, "Die Matrone von Ephesus". Man kennt dieses beißende Märchen, und es ist unstreitig die bitterste Satire, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nacherzählt; und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte man, daß es ein ebenso glücklicher Stoff auch für das Theater sein müsse. Houdar de la Motte und andere machten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefühl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzählung ein nicht unangenehmes höhnisches Lächeln über die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem Drama ekel und häßlich. Wir finden hier die Überredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich ernst ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwäche dünkt uns die Schwäche des ganzen Geschlechts zu sein; wir fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie tut, glauben wir, würde ungefähr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu müssen; oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermutung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des hämischen Erzählers sei, der sein Märchen gern mit einer recht giftigen Spitze schließen wollte. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht statt; was wir dort nur hören, daß es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der bloßen Möglichkeit ergötzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Bühne den Rücken und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus imperator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verführung angewendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib überhaupt, sondern ein vorzüglich leichtsinniges, lüderliches Weibsstück insbesondere.--Kurz, die Petronische Fabel glücklich auf das Theater zu bringen, müßte sie den nämlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; müßte die Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen.--Die Erklärung hierüber anderwärts! Den siebenunddreißigsten Abend (sonnabends, den 4. Julius) wurden "Nanine" und der "Advokat Patelin" wiederholt. Den achtunddreißigsten Abend (dienstags, den 7. Julius) ward die "Merope" des Herrn von Voltaire aufgeführt. Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der "Merope" des Maffei; vermutlich im Jahr 1737 und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania, der Marquise du Châtelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit und als Verfasser des Théâtre des Grecs am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafür einzuflößen und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemäß zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern mußte er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lieben Sohn Voltaire über ein Trauerspiel, über eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden, ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darüber zurückschrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, jederzeit dem Stücke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin für eines von den vollkommensten Trauerspielen, für ein wahres Muster erklärt, und wir können uns nunmehr ganz zufrieden geben, daß das Stück des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses ist nun nicht länger verloren, Voltaire hat es uns wiederhergestellt. So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein mußte, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht übereilen zu wollen, welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von seiner staatsklugen Verzögerung auch alle die Früchte, die er sich nur immer davon versprechen konnte. "Merope" fand den außerordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zurzeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr vorzüglich; sein Stuhl auf dem Theater ward beständig freigelassen, wenn der Zulauf auch noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Geblüte gewürdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als daß ihm die Gäste ihre Höflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch ganz etwas anders; das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen und rufte und schrie und lärmte, bis der Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet hätte, ob die kindische Neugierde des Publikums oder die eitele Gefälligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dichter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so überschwenglich, daß es dem rohern Menschen zu verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, daß Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzücket. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Türsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde für einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, sein müßte (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten, dem besten Murmeltiere voraus, welches der Pöbel gesehen zu haben ebenso begierig ist?), so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der französischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Karessen werden könne, so machte es sich dieses Vergnügen öftrer, und selten ward nachher ein neues Stück aufgeführt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormußte, und auch ganz gern hervorkam. Von Voltairen bis zu Marmontel und von Marmontel bis tief herab zu Cordier haben fast alle an diesem Pranger gestanden. Wie manches Armesündergesichte muß daruntergewesen sein! Der Posse ging endlich so weit, daß sich die Ernsthaftern von der Nation selbst darüber ärgerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kühn genug, das Parterre vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stück war mittelmäßig, aber dieses sein Betragen desto braver und rühmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Übe1stand lieber abgeschafft, als durch zehn "Meropen" ihn veranlaßt haben. Siebenunddreißigstes Stück Den 4. September 1767 Ich habe gesagt, daß Voltairens "Merope" durch die "Merope" des Maffei veranlasset worden ist. Aber veranlasset sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel, Plan und Sitten gehören dem Maffei; Voltaire würde ohne ihn gar keine oder doch sicherlich eine ganz andere "Merope" geschrieben haben. Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, müssen wir zuvörderst das Original des Italieners kennenlernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehörig zu schätzen, müssen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Fakta werfen, auf die er seine Fabel gegründet hat. Maffei selbst fasset diese Fakta in der Zueignungsschrift seines Stückes folgendergestalt zusammen. "Daß, einige Zeit nach der Eroberung von Troja, als die Herakliden, d.I. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das messenische Gebiete durch das Los zugefallen; daß die Gemahlin dieses Kresphonts Merope geheißen; daß Kresphont, weil er dem Volke sich allzugünstig erwiesen, von den Mächtigern des Staats, mitsamt seinen Söhnen, umgebracht worden, den jüngsten ausgenommen, welcher auswärts bei einem Anverwandten seiner Mutter erzogen ward; daß dieser jüngste Sohn, Namens Aepytus, als er erwachsen, durch Hilfe der Arkader und Dorier, sich des väterlichen Reiches wieder bemächtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Mördern gerächet habe: dieses erzählet Pausanias. Daß, nachdem Kresphont mit seinen zwei Söhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; daß dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; daß der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Daß Merope selbst den geflüchteten Sohn unbekannterweise töten wollen; daß sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den sie für den Mörder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; daß der nun erkannte Sohn bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldete Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes führet." Es wäre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glückswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis wäre genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Mörder ihres Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf ebendieses Stück,[1] wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen könne. Aristoteles erwähnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber bei dem Cicero und mehrern Alten einen "Kresphont" des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes als das Werk dieses Dichters gemeiner haben. Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: "Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques). Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, daß, so oft der 'Kresphont' des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstücke so gewöhnte Volk ganz außerordentlich sei betroffen, gerührt und entzückt worden." --Hübsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber über dieses verlohnet es der Mühe, ein paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles ebenso unrecht verstanden haben. Die Sache verhält sich wie folget. Aristoteles untersucht in dem vierzehnten Kapitel seiner "Dichtkunst", durch was eigentlich für Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen entweder unter Freunden oder unter Feinden oder unter gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tötet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der Tat sonst weiter einiges Mitleid als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen überhaupt verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgültigen Personen. Folglich müssen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden ereignen; ein Bruder muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter töten oder töten wollen oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln oder mißhandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollführt oder nicht vollführt werden muß, so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit völliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird und der Täter die Person, an der er sie vollzogen, zu spät kennenlernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug, und da er die Handlung der "Merope" in dem "Kresphont" davon zum Beispiele anführet: so haben Tournemine und andere dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erkläre. Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel sich nicht glücklich, sondern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses beides beieinander bestehen? Sie soll sich unglücklich enden, und gleichwohl läuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glücklich ab. Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar? Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln könne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z.E. die Ermordung der Klytämnestra durch den Orest der Inhalt des Stückes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nämlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun überlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den Orest geschehen müsse. Nach der zweiten darum nicht: weil sie zu gräßlich sei. Nach der vierten darum nicht: weil Klytämnestra dadurch abermals gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts als die dritte Klasse übrig. Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloß in einzeln Fällen, nach Maßgebung der Umstände, sondern überhaupt. Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bei ihm recht, nicht weil er recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine ebenso schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener in diese zu stoßen: so ist es ja doch um die Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Übereinstimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden müssen? Die Ermordung der Klytämnestra müßte eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsätzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten wählen, weil dieser tragischer ist und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z.E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen, als den zweiten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was für eine Rangordnung kann also unter diesen Planen stattfinden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist, kömmt in einem andern gar nicht in Betracht. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung nicht auf historische, sondern auf bloß erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytämnestra wäre von dieser letztern Art, und es hätte dem Dichter freigestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne völlige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen, um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten, denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschähe es bloß aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich glücklich schließt? Aber die besten Tragödien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich unglücklich schließen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestätiget hat er ihn vielmehr. [1] Dieses vorausgesetzt (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann, weil es bei den alten Dichtern nicht gebräuchlich und auch nicht erlaubt war, einander solche eigene Situationen abzustehlen), würde sich an der angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Josua Barnes nicht mitgenommen hätte und ein neuer Herausgeber des Dichters nutzen könnte. Achtunddreißigstes Stück Den 8. September 1767 Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen Dichtkunst[1] hat sie ebensowenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. "Ich überlasse", schließt er, "einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe." Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Widerspruch gewissermaßen unvermeidlich machen müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anscheinend ist. Denn sonst würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, gewiß am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurück, ponderiere ein jedes Wort und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Erklärung, an welcher Herr Curtius verzweifelt.--Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer größern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnügen. Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, [Greek: praxeos]; und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten, [Greek: synthesin pragmaton]. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Güte eines jeden Ganzen auf der Güte seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede für sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung statthaben können, unter drei Hauptstücke: des Glückswechsels, [Greek: peripeteias]; der Erkennung, [Greek: anagnorismou]; und des Leidens, [Greek: pathous]. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, [Greek: mythos peplegmenos], von der einfachen, [Greek: aplo], unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schöner und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, [Greek: pathos], muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glückswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstücke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glückswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, daß derjenige Glückswechsel der beste, das ist der fähigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befördern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem nämlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt. Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten müssen? Ist denn die möglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glückswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmöglich, daß ein Ganzes Teile von entgegengesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, daß die beste Tragödie nichts als die Vorstellung einer Veränderung des Glückes in Unglück sei? Oder, wo sagt er, daß die beste Tragödie auf nichts, als auf die Erkennung dessen hinauslaufen müsse, an dem eine grausam widernatürliche Tat verübet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragödie überhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glückswechsel kann sich mitten in dem Stücke ereignen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z.E. der Glückswechsel im "Oedip", der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts äußert, zu dem aber noch mancherlei Leiden ([Greek: pathos]) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stück schließet. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem nämlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so daß durch diese Erkennung das Stück nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten "Iphigenia" des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glückswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der "Merope" selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch den ersteren haben könnte, wenn nämlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht ebensowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schließen? Warum sollte es einem Dichter nicht freistellen können, um unser Mitleiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde eine solche Merope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet? Ich merke wohl, was das Mißverständnis veranlasset haben kann. Man hat sich einen Glückswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glückswechsel denken können. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwähnen, daß auch nicht beides eben die nämliche Person treffen muß, und wenn es die nämliche Person trifft, daß eben nicht beides sich zu der nämlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammenfließen, oder der eine den andern notwendig ausschließt. Daß es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten Allgemeinheit abfaßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Teile alle notwendig haben müsse? Genug für ihn, daß es Fabeln gibt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren würdet, und wählet. Das ist es alles! [1] Herrn Curtius, S. 214. Neununddreißigstes Stück Den 11. September 1767 Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der "Merope" ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle so schlechterdings für eine vollkommene tragische Fabel zu erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er ebensowohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muß erst untersucht werden, wo er das größere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklärung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, daß eine so vollkommene Fabel, von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstück werden müssen. Doch Tournemine und Tournemine--Ich fürchte, meine Leser werden fragen: "Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine." Denn viele dürften ihn wirklich nicht kennen; und manche dürften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu[1]. Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns von dem verlornen Stücke des Euripides die nämlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem coup de théâtre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste von allen Stücken desselben gehalten habe.[2] Dieses letztere ist nun gänzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stücke, aus welchem er die Situation der Merope anführt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder, wie es heißt, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, daß er es für das rührendste von allen Stücken des Euripides Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei! Welche Ausdrücke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Bühne! Sollte man hieraus nicht schließen: Aristoteles gehe mit Fleiß alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben könne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, untereinander ab und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch für diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beispiele in der "Iphigenia", wo die Schwester den Bruder, und in der "Helle", wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die "Helle" ein Werk dieses Dichters gewesen: so wäre es doch sonderbar, daß Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen glücklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der "Iphigenia" die glückliche Erkennung auf die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glücklich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine unglückliche Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente? Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art möglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, läßt sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem "Kresphontes" übrig sind, nicht schließen. Sie enthalten nichts als Sittensprüche und moralische Gesinnungen, von spätern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Ökonomie des Stückes.[3] Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Göttin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein paar andern sollte man fast schließen, daß die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei ältern Söhne entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des jüngern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brüder zu rächen kam, nicht wohl zusammenreimet. Die größte Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des jüngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen. Wie konnte das Stück "Kresphontes" heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde führte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muß längst tot sein, wenn sich der Sohn des väterlichen Reiches wieder bemächtiget. Hat man jemals gehört, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkommt? Corneille und Dacier haben sich geschwind über diese Schwierigkeit hinwegzusetzen gewußt, indem sie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kresphont geheißen;[4] aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde? Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so können wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn nämlich bei dem Hyginus, in der hundertundvierundachtzigsten Fabel, gefunden zu haben.[5] Denn er hält die Fabeln des Hyginus überhaupt größtenteils für nichts, als für die Argumente alter Tragödien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war, und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht übel und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er ihn gegeben. Herr Weiße hat den Stoff zu seinem "Thyest" aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verständiges Auge. Nur möchte es nicht der größte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragödien zusammengesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragödienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst die Tragödien als abgeleitete verdorbene Bäche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwürdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdrücklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzählt er z.E. die Fabel von der Ino und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser und darauf in einem besondern Abschnitte nach der Behandlung des [1] "Lettres familières". [2] Aristote, dans sa Poétique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnaissance de Mérope et de son fils était le moment le plus intéressant de toute la scène Grecque. Il donnait à ce coup de Théâtre la préférence sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, frémissaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le bras de Mérope, n'arrivât pas asseztôt. Cette pièce, qu'on jouait de son temps, et dont il nous reste très peu de fragments, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragédies d'Euripide etc. Lettre à [3] Dasjenige, welches Dacier anführet ("Poétique d'Aristote", Chap. XV. Rem. 23.), ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem Plutarch in der Abhandlung: "Wie man seine Feinde nützen solle". [4] Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poét. d'Arist. Une Mère, qui va tuer son fils, comme Mérope va tuer Cresphonte etc. [5] Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184 d'Igino, la quale a mio credere altro non è, che l'Argomento di quella Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch'io feci già in quell' Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le più di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di ciò col confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi è stato caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera è pero questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fantasia: io la scoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col loro ingegno alla nostra età ciò, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto più di considerazione quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non è stato creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori delle favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate, secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso convertendole, le avean ridotte. Vierzigstes Stück Den 15. September 1767 Damit will ich jedoch nicht sagen, daß, weil über derhundertundvierund- Achtzigsten Fabel Der Name Des Euripides Nicht Stehe, Sie Auch Nicht Aus Dem "Kresphont" Desselben Könne Gezogen Sein. Vielmehr Bekenne Ich, Daß Sie Wirklich Den Gang Und Die Verwickelung Eines Trauerspieles Hat; So Daß, Wenn Sie Keines Gewesen Ist, Sie Doch Leicht Eines Werden Könnte, Und Zwar Eines, Dessen Plan Der Alten Simplizität Weit Näher Käme, Als Alle Neuere Meropen. Man Urteile Selbst: Die Erzählung Des Hyginus, Die Ich Oben Nur Verkürzt Angeführt, Ist Nach Allen Ihren Umständen Folgende. Kresphontes war König von Messenien und hatte mit seiner Gemahlin Merope drei Söhne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem er, nebst seinen beiden ältesten Söhnen, das Leben verlor. Polyphontes bemächtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche während dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewärtigen und versprach also demjenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege räumen würde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafür ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen könne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen und meldete ihr, daß Telephontes aus Aetolien weg sei, ohne daß man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde rühme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer und hätte ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt und die Mutter an der Freveltat verhindert hätte. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versöhnt. Polyphontes dünkte sich aller seiner Wünsche gewähret und wollte den Göttern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, führte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier fällen zu wollen sich stellte, auf den König; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines väterlichen Auch hatten, schon in dem sechzehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Pomponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, "Kresphont" und "Merope", aus dieser Fabel des Hyginus genommen und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Überzeugung ohngeachtet wollte Maffei selbst sein Werk so wenig zu einer bloßen Divination über den Euripides machen und den verlornen "Kresphont" in seiner "Merope" wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von verschiednen Hauptzügen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin gerührt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte. Die Mutter nämlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem Mörder desselben mit eigner Hand rächen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die mütterliche Zärtlichkeit überhaupt zu schildern und mit Ausschließung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stück zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward verändert; welches besonders die Umstände von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswärtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu befreien. Der Sohn mußte nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die mütterliche Liebe erkaltet natürlicherweise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß nicht von Meropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafür ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr rührender Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel Und diesen Veränderungen zufolge kann man sich den Maffeischen Plan ungefähr vorstellen. Polyphontes regieret bereits fünfzehn Jahre, und doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Königes zugetan und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnügten zu beruhigen, fällt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er trägt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht verhelfen können. Eben dringt er am schärfsten in sie, als ein Jüngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße über einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Jüngling, hatte nichts getan, als sein eignes Leben gegen einen Räuber verteidiget; sein Ansehen verrät so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die noch außerdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den König für ihn zu bitten; und der König begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ihren jüngsten Sohn, den sie einem alten Diener, namens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er für seinen Vater hält, heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen wäre? So denkt sie und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene Umstände, durch die Bereitwilligkeit des Königs, den Mörder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestärket, den man bei dem Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, daß ihn Aegisth dem Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhändigen, wenn er erwachsen, und es Zeit sein würde, ihm seinen Stand zu entdecken. Sogleich läßt sie den Jüngling, für den sie vorher selbst gebeten, an eine Säule binden und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstoßen. Der Jüngling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Eltern; ihm entfährt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfältig zu vermeiden; Merope verlangt hierüber Erklärung: indem kömmt der König dazu, und der Jüngling wird befreiet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfällt sie wiederum darein zurück, als sie siehet, wie höhnisch der König über ihre Verzweiflung triumphiert. Nun ist Aegisth unfehlbar der Mörder ihres Sohnes, und nichts soll ihn vor ihrer Rache schützen. Sie erfährt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und kömmt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme fällt. Aegisth erwacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Mörder ihres Sohnes. Sie will ihm nach und würde ihn leicht durch ihre stürmische Zärtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurückgehalten hätte. Mit frühem Morgen soll ihre Vermählung mit dem Könige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, dränget sich durch das Volk, und--das übrige wie bei dem Hyginus. [1] In der 184. Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzählung genommen, sind offenbar Begebenheiten ineinander geflossen, die nicht die geringste Verbindung unter sich haben. Sie fängt an mit dem Schicksale des Pentheus und der Agave und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen können; es wäre denn, daß sie sich bloß in derjenigen Ausgabe, welche ich vor mir habe (Johannis Schefferi, Hamburgi 1674), befände. Diese Untersuchung überlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat. Genug, daß hier, bei mir, die 184. Fabel mit den Worten: quam Licoterses excepit, aus sein muß. Das übrige macht entweder eine besondere Fabel, von der die Anfangsworte verloren gegangen, oder gehöret, welches mir das Wahrscheinlichste ist, zu der 137., so daß, beides miteinander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137. oder zu der 184. machen wollen, folgendermaßen zusammenlegen wurde. Es versteht sich, daß in der letztern die Worte: cum qua Polyphontes, occiso Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnötige Wiederholung, mitsamt dem darauffolgenden ejus, welches auch so schon überflüssig ist, wegfallen müßte. Merope. [2] Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat, aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem. Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit, occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso simulavit se hostiam percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus est. Einundvierzigstes Stück Den 18. September 1767 Je schlechter es zu Anfange dieses Jahrhunderts mit dem italienischen Theater überhaupt aussahe, desto größer war der Beifall und das Zujauchzen, womit die "Merope" des Maffei aufgenommen wurde. Cedite Romani scriptores, cedite Graii, Nescio quid majus nascitur Oedipode: schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stück gespielt als "Merope"; die ganze Welt wollte die neue Tragödie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbühnen fanden sich darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechzehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreißig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Französische, ins Englische, ins Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Übersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Französische war sie bereits zweimal übersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals darübermachen wollte, um sie auch wirklich auf die französische Bühne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigentliche Übersetzung nicht geschehen könnte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen "Merope" vorsetzte, umständlich angibt. Der Ton, sagt er, sei in der italienischen "Merope" viel zu naiv und bürgerlich, und der Geschmack des französischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen; und diese Züge müßten zu Paris weit anders als zu Verona sein. Das ganze Schreiben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheinen, aber nicht groß; und der Franzose will ebenso groß, als liebenswürdig scheinen. Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei ebensoviel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist schade, daß eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat und übrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich Lindelle: wer einen französischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise lächelt und hinten die hämischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich möchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Höflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener hätte freimütiger, und dieser gerechter sein müssen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, daß der nämliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe. Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrige auf der Liebe einer Mutter beruhe und das zärtlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natürlichsten Mitteln, welche die Umstände zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hören will;[1] wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Eltern hält und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord verübt, demohngeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werden dürfen, weil es voraussieht, daß er der Held des Stückes werden müsse, [2] wenn es beleidiget wird, daß man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Fähndrich in des Königs Armee sei, der nicht de belles nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und ähnlichen Fällen unrecht; aber warum muß Voltaire auch in andern Fällen, wo es gewiß nicht unrecht hat, dennoch lieber ihm als dem Maffei unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die französische Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solchen Stücken recht gibt, wo sie sich schämen müßten, recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanständiger sein kann, als diese französische Höflichkeit. Das Geschwätz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von prächtigen Krönungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs höchste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschäftiget ist: dieses nestorische, aber am unrechten Orte nestorische Geschwätz kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Völkern entschuldiget werden; hier muß der Geschmack überall der nämliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht ebensowohl dabei gähnet und darüber unwillig wird, als der Franzose. "Sie haben", sagt Voltaire zu dem Marquis, "in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung des Virgils: Qualis populea moerens Philomela sub umbra Amissos queritur foetus-- übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so würde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der Held und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bei kritischen Vorfällen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr kein König, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn dieses Publikum etwas Unrechtes, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum ebendieses verlangen? ebendieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publico machen wollen, weil er nicht Freimütigkeit genug hat, dem Dichter geradeheraus zu sagen, daß er hier und an mehrern Stellen luxuriere und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und müßte nach der Gesinnung des Polyphonts mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere und auf das Ganze noch größern Einfluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler wären, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. "Wie hätte ich es wagen dürfen", fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, "bloße Nebenpersonen so oft miteinander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen, die interessanten Szenen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schönen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir müssen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstücken sattgesehen hat und also äußerst verwöhnt ist." Was heißt dieses anders, als: "Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Szenen. Aber es sei fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davonkommen könnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter sein muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr übersieht"--Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; Desinit in piscem mulier formosa superne: aus der Höflichkeit wird Persiflage (ich brauche dieses französische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen), und aus der Persiflage dummer Stolz. [1] Je n'ai pu me servir, comme Mr. Maffei, d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre théâtre. [2] Je n'oserais hazarder de faire prendre un héros pour un voleur, quoique la circonstance où il se trouve autorise cette méprise. Zweiundvierzigstes Stück Den 22. September 1767 Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire als Eigentümlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgänger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen Nation überhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, diese, und noch mehrere, und noch größere, sich in der "Merope" des Maffei befinden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der berühmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen für das eigentliche Genie, welches zur Tragödie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Altertümer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung für das tragische Genie sind. Er war unter Kirchenväter und Diplomen vergraben und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche Veranlassung, seine "Merope" vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwei Monaten zustande brachte. Wenn dieser Mann unter solchen Beschäftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstück gemacht hätte, so müßte er der außerordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragödie überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indes ein Gelehrter von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Literator und der Versifikateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter. Als Versifikateur läuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemälde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden könnten, aber in dem Munde seiner Personen unerträglich sind und in die lächerlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es z.E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf mit dem Räuber, den er umgebracht, umständlich beschreibet, denn auf diesen Umständen beruhet seine Verteidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten Phänomena malet, die den Fall eines schweren Körpers ins Wasser begleiten, wie er hineinschießt, mit welchem Geräusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie sich die Flut wieder über ihn zuschließt:[1] das würde man auch nicht einmal einem kalten geschwätzigen Advokaten, der für ihn spräche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet und sein Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er in seiner Erzählung so kindisch genau sein könnte. Als Literator hat er zu viel Achtung für die Simplizität der alten griechischen Sitten und für das Kostüm bezeugt, mit welchem wir sie bei dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostüme näher gebracht werden muß, wenn es der Rührung im Trauerspiele nicht mehr schädlich als zuträglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schöne Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was für einer Art von Werken er sie entlehnt und in was für eine Art von Werken er sie überträgt. Nestor ist in der Epopee ein gesprächiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragödie ein alter ekler Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides hätte folgen wollen: so würde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes übrig sind, zu nutzen und seinem Werke getreulich einzuflechten.[2] Wo er also geglaubt hätte, daß sie sich hinpaßten, hätte er sie als Pfähle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen müssen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprüche, womit man seine Lücken füllet, so sind es andere. Demohngeachtet möchten sich wiederum Stellen finden, wo man wünschen dürfte, daß sich der Literator weniger vergessen hätte. Z.E. Nachdem die Erkennung vorgegangen und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so läßt er die Ismene voller Erstaunen ausrufen: "Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Bühne erdichtet worden!" Con così strani avvenimenti uom' forse Non vide mai favoleggiar le scene. Maffei hat sich nicht erinnert, daß die Geschichte seines Stücks in eine Zeit fällt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich würde diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu müssen glaubte, daß er den Namen Messene zu einer Zeit brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwähne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will; nur verlangt man, daß er sich immer gleichbleibet und daß er sich nicht einmal über etwas Bedenken macht, worüber er ein andermal kühnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, daß er den Anstoß vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Überhaupt würden mir die angeführten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch bestärken wollen, indem er das Theater ausdrücklich außer dem Theater annehmen läßt; doch die bloßen Worte "Bühne" und "erdichten" sind der Sache schon nachteilig und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegenzusetzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert. Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnügt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Würde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins, zu dulden wäre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. "Mit einem Worte", schließt er, "das Werk des Maffei enthält einen schönen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stück. Alle Welt kömmt in Paris darin überein, daß man die Vorstellung desselben nicht würde haben aushalten können; und in Italien selbst wird von verständigen Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragödie zu übersetzen; er konnte leichter einen Übersetzer bezahlen, als sein Stück verbessern." So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Lügen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stücken wider den Maffei recht, und möchte er doch höflich oder grob sein, wenn er sich begnügte, ihn bloß zu tadeln. Aber er will ihn unter die Füße treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schämt sich nicht, offenbare Lügen zu sagen, augenscheinliche Verfälschungen zu begehen, um nur ein recht hämisches Gelächter aufschlagen zu können. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum Teil gefühlt zu haben und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an Lindellen den Maffei in allen Stücken zu verteidigen, in welchen er sich zugleich mitverteidigen zu müssen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit sich selbst, dünkt mich, fehlt das interessanteste Stück; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire hätte mitteilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum die Eigentümlichkeiten des französischen Geschmacks ins Licht zu stellen, ihm zu zeigen, warum die französische "Merope" ebensowenig in Italien, als die italienische in Frankreich gefallen könne?-- ------In core Pero mi venne di lanciar nel fiume Il morto, o semivivio; e con fatica (Ch' inutil' era per riuscire, e vana) L' alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di sangue: a mezzo il ponte Portailo in fretta, di vermiglia striscia Sempre rigando il suol; quinci cadere Col capo in giù il lasciai; piombò, e gran tonfo S' udi nel profondarsi: in alto salse Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse. [2] Non essende dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que' sentimenti di essa, che son rimasti quà e là; avendone tradotti cinque versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso Dreiundvierzigstes Stück Den 25. September 1767 So etwas läßt sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben könnten. Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z.E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: "O mein alter Vater!" und die Königin werde durch dieses Wort "alter Vater" so gerühret, daß sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth könne wohl ihr Sohn sein. "Ist das nicht", setzt er höhnisch hinzu, "eine sehr gegründete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, daß ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei", fährt er fort, "hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stückes begangen hatte. Aegisth rief da: 'Ach, Polydor, mein Vater!' Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor hätte die Königin gar nicht mehr zweifeln müssen, daß Aegisth ihr Sohn sei; und das Stück wäre ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer eingenommen." Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Königin stutzt bloß bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloß nähere Erklärung, und ehe sie diese erhalten kann, kömmt der König dazu. Der König läßt den Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und rühmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht, so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurückfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluß muß notwendig bei ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere führen können, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe: Che dubitar? misera, ed io da un nome Trattener mi lasciai, quasi un tal nome Altri aver non potesse-- und die folgenden Äußerungen des Tyrannen können sie nicht anders als in der Meinung vollends bestärken, daß er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlässigste, gewisseste Nachricht haben müsse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen, daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal für sehr nötig halte. Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Polydor heiße! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hieße und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das für wahrscheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der bloßen Übereinstimmung eines Namens schließen könnte. Freilich, wenn sie wüßte, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gründe, so wäre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund, zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß sein.--Es versteht sich, daß ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht für schön ausgebe; der Poet hätte unstreitig seine Anlage viel feiner machen können. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und daß es gar wohl möglich und wahrscheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen können. Worüber ich mich also beleidiget finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie zum zweitenmale ihren Sohn als den Mörder ihres Sohnes zu ermorden kömmt, sondern dieses, daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum zweiten Male die nämliche Übereilung auf die nämliche Weise verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; ebendieselbe Überraschung wiederholt, hört auf, Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar ebenso abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiß, als Von den augenscheinlichen und vorsätzlichen Verfälschungen des Lindelle will ich nur zwei anführen.--"Der vierte Akt", sagt er, "fängt mit einer kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweiten Male, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal wiederholt verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher sein kann." Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das lügt Lindelle.[1] Aegisth trifft die Vertraute an und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt woanders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schläft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können als hier.[2]--Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage. "Merope", sagt er, "nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen." Bittet sie, ihn zu verjüngen? "Die Belohnung meines Dienstes", antwortet der Alte, "ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines möchte ich mir wünschen, aber das stehet weder in deiner; noch in irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde usw."[3] Heißt das: Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Stärke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt?--Anlügt! Lügen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte?--Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat?-- [1] Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout à son aise, sondern auch der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Mérope engage le jeune Egiste à dormir sur la scène, afin de donner le temps à la reine de venir l'y assassiner. Was aus dieser Übereinstimmung zu schließen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Lügner mit sich selbst überein; und wenn zwei Lügner miteinander übereinstimmen, so ist es gewiß abgeredete Karte. Egi. Mà di tanto furor, di tanto affanno Qual' ebbe mai cagion?-- Ism. Il tutto Scoprirti io non ricuso; mà egli è d'uopo Che qui t'arresti per brev' ora: urgente Cura or mi chiama altrove. Egi. Io volontieri T'attendo quanto vuoi. Ism. Mà non partire E non far sì, ch' io quà ritorni indarno. Egi. Mia fè dò in pegno; e dove gir dovrei?-- Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potrò io Darti già mai mercè, che i merti agguagli? Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora M'è, il vederti contenta, ampia mercede. Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro Sol mi saria ciò, ch' altri dar non puote; Che scemato mi fosse il grave incarco De gli anni, che mi stà su'l capo, e à terra Il curva, e prime sì, che parmi un monte.-- Vierundvierzigstes Stück Den 29. September 1767 Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war. Ich übergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fühlte, daß der Wurf auf ihn zurückpralle.--Lindelle hatte gesagt, daß es sehr schwache und unedle Merkmale wären, aus welchen Merope bei Maffei schließe, daß Aegisth der Mörder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet: "Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, das Maffei es viel künstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, daß ihr Sohn der Mörder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, würde das auf unserm Theater sehr klein scheinen." Aber mußte denn Voltaire eben eine alte Rüstung anstatt des Ringes wählen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Rüstung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen wäre, sich keine neue Rüstung kaufen dürfe und sich mit der alten seines Vaters behelfen könne? Der vorsichtige Alte! Ließ er sich nicht auch ein paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Rüstung erkannt werden könne? So eine Rüstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienrüstung, die Vulkan selbst dem Großgroßvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Rüstung? Oder wenigstens mit schönen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so mußte sie der Alte freilich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht hätte, auch zugleich an eine so nützliche Möbel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die Rüstung seines Vaters verlieren, in der er jenes wiedererobern konnte. --Zweitens hatte sich Lindelle über den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: "Weder Maffei noch ich haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen solchen Fehler für sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, beträchtlich ist." Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff verändert. Was brauchte Voltaire diese Veränderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe?-- Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine ähnliche Rücksicht auf sich selbst hätte nehmen können: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich wäre dieser Fremde! Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er seine Szenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache auftreten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heutzutage auch dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe.--Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der französischen Kunstrichter überhaupt; die muß ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein mögen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bei den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der größten Regelmäßigkeit rühmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdehnung geben, daß es sich kaum mehr der Mühe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobachten, daß es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen, als gar nicht.[1] Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freiheit behält, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer und macht so ängstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Überwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern noch so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern als aus diesem zu betrachten; da es der ist, aus welchem die Bewunderer des französischen Theaters das lauteste Geschrei erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit 1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsätzen und Beispielen der Alten, ein Hédelin verlangen zu können glaubte. Die Szene muß kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und ebendemselben Standorte zu übersehen fähig ist. Ob sie ein ganzer Palast oder eine ganze Stadt oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdrückliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung und wollte, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei. Wenn er seine besten Stücke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so mußte er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltairen recht sein. Ich sage also nichts dagegen, daß eigentlich die Szene bald in dem Zimmer der Königin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser, bald nach einer andern Aussicht muß gedacht werden. Nur hätte er bei diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie müssen nicht in dem nämlichen Akte, am wenigsten in der nämlichen Szene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in ebenderselben Szene abändern oder auch nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Ungereimtheit von der Welt.--Der dritte Akt der "Merope" mag auf einem freien Platze, unter einem Säulengange oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmal des Kresphontes zu sehen, an welchem die Königin den Aegisth mit eigener Hand hinrichten will: Was kann man sich armseliger vorstellen, als daß, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth wegführet, diese Vertiefung hinter sich zuschließen muß? Wie schließt er sie zu? Fällt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hédelin von dergleichen Vorhängen überhaupt sagt, gepaßt hat, so ist es auf diesen;[2] besonders wenn man zugleich die Ursache erwägt, warum Aegisth so plötzlich abgeführt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muß, von der ich hernach reden will.--Ebenso ein Vorhang wird in dem fünften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der siebenten erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen toten Körper in einem blutigen Rocke sehen zu können. Durch welches Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen, die Türen dieses Tempels öffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Königlichen Majestät Schloßkapelle, die gerade an den Saal stieß und mit ihm Kommunikation hatte, damit Allerhöchstdieselben jederzeit trocknes Fußes zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat und ja den kürzesten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat schon vollbracht haben soll. [1] Dieses war zum Teil schon das Urteil unsers Schlegels. "Die Wahrheit zu gestehen", sagt er in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, "beobachten die Engländer, die sich keiner Einheit des Ortes rühmen, dieselbe großenteils viel besser als die Franzosen, die sich damit viel wissen, daß sie die Regeln des Aristoteles so genau beobachten. Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der Szenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte 'der Schauplatz ist ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: 'der Schauplatz ist auf dem Theater'. Oder, im Ernste zu reden, es würde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche der Engländer die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern verlegt und also den Zuschauer seinem Helden nachgeführet hätte, als daß er seinem Helden die Mühe macht, den Zuschauern zu Gefallen an einen Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat." [2] On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les Acteurs paraissent ei disparaissent selon la nécessité du Sujet--ces rideaux ne sont bons qu'à faire des couvertures pour berner ceux qui les ont inventés, et ceux qui les approuvent. Pratique du Théâtre. Liv. II. chap. 6. Fünfundvierzigstes Stück Den 2. Oktober 1767 2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner "Merope" vorgehen läßt, an einem Tage geschehen, und sage, wieviel Ungereimtheiten man sich dabei denken muß. Man nehme immer einen völligen, natürlichen Tag; man gebe ihm immer die dreißig Stunden, auf die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem Zeitraume nicht hätten geschehen können; aber desto mehr moralische. Es ist freilich nicht unmöglich, daß man innerhalb zwölf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch soll uns, was bloß physikalischer Weise möglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen König wählen; Polyphont und der abwesende Aegisth können allein dabei in Betrachtung kommen; um die Ansprüche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heiraten; an ebendemselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich und fällt für ihn aus; Polyphont ist also König, und man sollte glauben, Aegisth möge nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwählte König könne es vors erste mit ihm ansehen. Nichts weniger; er bestehet auf der Heirat, und bestehet darauf, daß sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum ersten Male seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Könige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik. Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht König war, als sie glauben mußte, daß ihn ihre Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen sollte; aber nun ist er König und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gründen; er wiederhole seinen Antrag, und vielleicht gibt sie es näher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewöhnen, ihn als ihresgleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu nötig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhängern unbekannt bleiben, daß sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu müssen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben sich für verbunden achten? Vergebens, daß das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedächtig zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Hände liefert und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Ansprüche zu besitzen, anbietet, das weit kürzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muß geheiratet sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue König will bei der alten Königin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas Komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn daß es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen könne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eräugung ungefähr nicht viel mehr Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage tun läßt, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmöglichkeit involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstößig ist, weil diese Unmöglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z.E. in einem Stücke von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen können es an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vorteil und opfert das Wesentlichere dem Zufälligen auf.--Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Hilfe; und die Vermählung, die Polyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie übereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem Könige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfängt. 3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde öfters die Szenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heutzutage auch den geringsten Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung der Szenen", sagt Corneille, "ist eine große Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie ist aber doch nur eine Zierde und keine Regel; denn die Alten haben sich ihr nicht immer unterworfen usw." Wie? ist die Tragödie bei den Franzosen seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was dieser bloß für eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der Tragödie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Corneille immer wenigstens ebenso glaubwürdig sein, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire aufgehen, nach welchem er das Theater öfters länger voll läßt, als es bleiben sollte. Wenn z.E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Königin kömmt, und die Königin mit der dritten Szene abgeht, mit was für Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Königin verweilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das Bedürfnis des Dichters verrät sich in der vierten Szene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen müssen, nur daß wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet hätten. 4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar nicht:--und Voltaire motiviert es ebensooft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand und keine Ursache. Wenn z.E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Königin zu versammeln, so müßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hören. Da wir aber nichts davon zu hören bekommen, so ist sein Vorgeben ein schülerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Lügen, die dem Knaben einfällt. Er geht nicht ab, um das zu tun, was er sagt, sondern um, ein paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu können, die der Poet durch keinen andern erteilen zu lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Kulisse hinein, worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfängt, und nicht etwa seinen Unwillen äußert, daß ihm die Königin nicht in den Tempel gefolgt ist (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit), sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, über die er nicht hier, über die er zu Hause in seinem Gemache mit ihm hätte schwatzen sollen. Nun schließt auch der vierte Akt, und schließt vollkommen wie der dritte. Polyphont zitiert die Königin nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreiet, Courons tous vers le temple où m'attend mon outrage; und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie, Vous venez à l'autel entraîner la victime. Folglich werden sie doch gewiß zu Anfange des fünften Akts in dem Tempel sein, wo sie nicht schon gar wieder zurück sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und kömmt noch einmal wieder, und schickt auch die Königin noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fünften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen sollte, sondern es geschieht auch, platterdings, gar nichts, und der dritte und vierte Akt schließen bloß, damit der vierte und fünfte wieder anfangen können. Sechsundvierzigstes Stück Den 6. Oktober 1767 Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben. Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben würden, als es jene notwendig erfordert hätte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen wäre. Da nämlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mußten und diese Menge immer die nämliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch länger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewöhnlichermaßen der bloßen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und ebendenselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und ebendenselben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neun Malen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlaß sein, die Handlung selbst so zu simplifizieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte. Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intrigen der spanischen Stücke schon verwöhnt waren, ehe sie die griechische Simplizität kennenlernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts nicht als Folgen jener Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung unumgängliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern könnte, dem sie doch gänzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmöglich öfters dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren völligen Gehorsam aufzukündigen nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes führten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen einbilden könne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit auseinanderlägen und keiner eine besondere Verzierung bedürfe, sondern die nämliche Verzierung ungefähr dem einen so gut als dem andern zukommen könne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hörte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht öfterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin ereignen, ließen sie für einen Tag gelten. Niemand würde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stücke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am dünnsten ist.--Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen und schreien. da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren!--Gleichwohl schreien die französischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stücke der Engländer kommen. Was für ein Aufhebens machen sie von der Regelmäßigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben!--Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen länger aufzuhalten. Möchten meinetwegen Voltairens und Maffeis "Merope" acht Tage dauern und an sieben Orten in Griechenland spielen! Möchten sie aber auch nur die Schönheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen! Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei öfters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat recht, über die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu räumen; das Volk in alle die Wollüste zu versenken, die es entkräften und weibisch machen können; die größten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen usw., wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlägt, wird er sich dessen auch rühmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schulübung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen.[1]--Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig läßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mitunter läßt er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiß kein Mann von dieser Art über die Zunge bringt. Z.E. --Des Dieux quelquefois la longue patience Fait sur nous à pas lents descendre la vengeance-- Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert: Eh bien, encor ce crime!-- Wie unbesonnen und in den Tag hinein er gegen Meropen handelt, habe ich schon berührt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem ebenso verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger ähnlich. Aegisth hätte bei dem Opfer gerade nicht erscheinen müssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwören? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?[2] Er hat sich für seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkühnen Aegisth läßt er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand fällt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht und hält ihn für seinen Freund. Warum hätte Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht nähern dürfen? Niemand gab auf seine Bewegungen acht; der Streich war geschehen und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu rächen. "Merope", sagt Lindelle, "wenn sie bei dem Maffei erfährt, daß ihr Sohn ermordet sei, will dem Mörder das Herz aus dem Leibe reißen und es mit ihren Zähnen zerfleischen.[3] Das heißt, sich wie eine Kannibalin und nicht wie eine betrübte Mutter ausdrücken; das Anständige muß überall beobachtet werden." Ganz recht; aber obgleich die französische Merope delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beißen sollte: so dünkt mich doch, ist sie im Grunde ebensogut Kannibalin, als die italienische.-- [1] Atto III. Sc. I. ----Quando Saran da poi sopiti alquanto, e queti Gli animi, l'arte del regnar mi giovi. Per mute oblique vie n'andranno a Stige L'alme più audaci, e generose. A i vizi I'er cui vigor si abbatte, ardir si toglie Il freno allargherò. Lunga clemenza Con pompa di pietà farò, che splenda Su i delinquenti; a i gran delitti invito, Onde restino i buoni esposti, e paghi Renda gl' iniqui la licenza; ed onde Poi fra se distruggendosi, in crudeli Gare private il lor furor si stempri. Udrai sovente risonar gli editti. E raddopiar le leggi, che al sovrano Giovan servate, e transgredite. Udrai Correr minaccia ognor di guerra esterna; Ond' io n'andrò su l'atterrita plebe Sempre crescendo i pesi, e peregrine Milizie introdurrò.-- Si ce fils, tant pleuré, dans Messène est produit, De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit. Crois-moi, ces préjugés de sang et de naissance Revivront dans les coeurs, y prendront sa défense. Le souvenir du père, et cent rois pour aïeux, Cet honneur prétendu d'être issu de nos Dieux; Les cris, le désespoir d'une mère éplorée. Détruiront ma puissance encor mal assurée. Quel scelerato in mio poter vorrei Per trarne prima, s'ebbe parte in questo Assassinio il tiranno; io voglio poi Con una scure spalancargli il petto, Voglio strappargli il cor, vogho co' denti Lacerarlo, e sbranarlo-- Siebenundvierzigstes Stück Den 9. Oktober 1767 Und wie das?--Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach seinen Taten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in der Hitze der Leidenschaft ausgestoßen, für seinen moralischen Charakter wenig, eine überlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl recht haben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid über alle Unglückliche erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahinsinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt höret, wieder aufspringt und tobet und wütet und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schönheit und Rührung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die Henkerin sein, nicht töten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Bärin ist.--Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, daß sie ihm gefällt, wenn ich ihn nicht ebensosehr verachten, als verabscheuen soll. Vielleicht dürfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht dürfte er sagen, Merope müsse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze coup de théâtre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde sich wiederum irren und die willkürlichen Abweichungen des Maffei abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller Überlegung tun muß. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kömmt und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehört, daß ein Fremder angelangt sei, der sich rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände fällt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser zitterten für den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu dürfen. Sie zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Übereilung Gefahr lief, die Mörderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloß für den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so hätte sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hilfe zu nehmen--O pfui, Madame! Ich müßte mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden. Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, ebensowenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon berührt. Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,[1] hätten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermögen können. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer Männer überwanden und sie zu ihren zweiten Männern annahmen, wenn sie sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen könne. Ich erinnere mich etwas Ähnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen trägt, auf eine sehr rührende Art darüber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angeführt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner "Merope" zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingeführet hätte. Die kalten Szenen einer politischen Liebe wären dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter und die Situationen noch weit intriganter hätten werden Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es einen bessern geben könne, daß dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnügte er sich, auf jenem ein paar Sandsteine aus dem Gleise zu räumen, über die er meinet, daß sein Vorgänger fast umgeschmissen hätte. Würde er wohl sonst auch dieses von ihm beibehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefähr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige Merkmale in den Verdacht kommen muß, daß er der Mörder seiner selbst sei? Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdrücklichen Vorsatze, sich zu rächen, nach Messene und gab sich selbst für den Mörder des Aegisth aus: nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst für Ursache, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben dem Maffei einige Gründe zu allen den Veränderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gründe für wichtig und die Veränderungen für glücklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß sich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefähr nach Messene kommt und per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwächt auch das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sei, und je gewisser er es wußte, daß Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte notwendig das Schrecken sein, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen vermuten wir es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhöret. Das Schlimmste dabei ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gründe sind, aus welchen es Merope selbst vermuten sollte, und daß wir ihn, besonders bei Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stücke näher und zuverlässiger kennen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder ebensoviel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen ebensoviel, so halten wir den Jüngling mit ihr für einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merket und sich von weit seichtern Gründen hinreißen läßt. Beides aber taugt nicht. [1] Acte II. Sc. 1. --Mer. Non, mon fils ne le souffrirait pas. L'exil où son enfance a langui condamnée Lui serait moins affreux que ce lâche hyménée. Eur. Il le condamnerait, si, paisible en son rang, Il n'en croyait ici que les droits de son sang; Mais si par les malheurs son âme était instruite, Sur ses vrais intérêts s'il réglait sa conduite, De ses tristes amis s'il consultait la voix, Et la nécessité souveraine des loix, Il verrait que jamais sa malheureuse mère Ne lui donna d'amour une marque plus chère. Mer. Ah que me dites-vous? Eur. De dures vérités Que m'arrachent mon zèle et vos calamités. Mer. Quoi! Vous me demandez que l'intérêt surmonte Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte! Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs! Eur. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs; Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui résiste; Il est sans héritier, et vous aimez Egiste.--. Achtundvierzigstes Stück Den 13. Oktober 1767 Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, soviel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muß, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben. Ich will, über diesen Punkt, den besten französischen Kunstrichter für mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stücken", sagt Diderot,[1] "ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stücken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muß. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schürzen, ohne daß sie es wissen; für diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß sie es merken, der Auflösung immer näher und näher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den nämlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden müssen.--Weit gefehlt, daß ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man müsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen versetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten würde und aus diesem Umstande selbst das allerstärkeste Interesse entspränge.--Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles, was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. --O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, sooft es ihm beliebt!--Meine Gedanken mögen so paradox scheinen, als sie wollen: soviel weiß ich gewiß, daß für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich ereignet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert.--Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Überraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht hätte!--Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick bedauern. Aber, wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darüber verweilet?--Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.--Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen.--Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfüllet.--Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders sein würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann." Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden Planen sich Diderot erklären würde: ob für den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth ebensogut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Rätsel ist und dadurch das ganze Stück "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht, die weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorbringen. Diderot hat auch nicht ganz unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Geringfügigkeit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Überraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für ebenso neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt, in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgänger gehört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prädilektion für dieses Gegenteil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten. Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen. "Nicht genug", sagt Hédelin, "daß er meistenteils alles, was vor der Handlung des Stücks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen läßt, um ihnen auf diese Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kundmacht. Wir erfahren sonach gleich anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe und sehen jeden Zufall schon von weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beständig herrschen sollen, gänzlich zuwider ist und alle Annehmlichkeiten des Stückes vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Überraschung beruhen."[2] Nein. der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit höhern Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergötzung einer kindischen Neugierde das Geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich müßte den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstößig sein, als nur dieses, daß er uns die nötige Kenntnis des Vergangnen und des Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht; daß er ein höheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Anteil nimmt, dazu gebrauchet und daß er dieses höhere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzählenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloß hierauf einschränkten, was wäre denn ihr Tadel? Ist uns das Nützliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns verstohlnerweise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau voneinander ab, als möglich: aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und ebendemselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzählung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?-- [1] In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater, S. 327 die [2] "Prâtique du Théâtre", Liv. III. chap. 1. Neunundvierzigstes Stück Den 16. Oktober 1767 Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermögen, oder aus Gemächlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde ebenso regelmäßig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stücken eine Schönheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben. Denn es ist klar, daß alle die Stücke, deren Prologe ihnen so viel Ärgernis machen, auch ohne diese Prologe vollkommen ganz, und vollkommen verständlich sind. Streichet z.E. vor dem "Ion" den Prolog des Merkurs, vor der "Hekuba" den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Ion und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht alles den nämlichen Gang, den nämlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß die Stücke, nach eurer Art zu denken, desto schöner sein würden, wenn wir aus den Prologen nicht wüßten, daß der Ion, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Ion von dem Altar zu einem schmählichen Tode reißen will, die Mutter dieses Ion ist; wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses würde die trefflichsten Überraschungen geben, und diese Überraschungen würden noch dazu vorbereitet genug sein: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entständen; man wolle euch nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wollüstigen Schößling schneidet der Gärtner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen,--es ist wahr, es heißt sehr viel annehmen--daß Euripides vielleicht ebensoviel Einsicht, ebensoviel Geschmack könne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um soviel mehr, wie er bei dieser großen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen können: so tretet zu mir her und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, daß z.E. sein "Ion" ohne den Prolog bestehen könne; daß er, ohne denselben, ein Stück sei, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuschauers bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewißheit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fünften Akte, daß Ion der Sohn der Kreusa sei: so ist es für ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für ihn nicht die Mutter des Ion, an welcher sich Ion in dem vierten Akte rächen will, sondern bloß die Meuchelmörderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die bloße Vermutung, die sich etwa aus übereintreffenden Umständen hätte ziehen lassen, daß Ion und Kreusa einander wohl näher angehen könnten, als sie meinen, würde dazu nicht hinreichend gewesen sein. Diese Vermutung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhörer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht möglich war, daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die einzige mögliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie sein soll; und wenn ihr noch unwillig seid, daß er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads "Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und ich werde euch nie beneiden! Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht bloß darauf, daß die meisten seiner Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob ich schon weiß, daß viele den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Bühne kommen ließe, würde sich ebenso tragisch dünken dürfen, als Euripides. Aristoteles hatte unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen Charakter erteilte; und ohne Zweifel, daß die eben berührte mit dazu gehörte, vermöge der er nämlich den Zuschauern alle das Unglück, welches seine Personen überraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitleiden für die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. --Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher dürfte der Meinung sein, daß der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schönen Sittensprüchen, den er so verschwendrisch in seinen Stücken ausstreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr schuldig war; er hätte, ohne sie, ebenso spruchreich sein können; aber vielleicht würde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden sein. Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hören; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so einen Freund hat--und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!-- Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, daß es gut sein würde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Überzeugung, daß der liebenswürdige unglückliche Jüngling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Mörder ihres Aegisth hinrichten will, der nämliche Aegisth sei, sofort könne aussetzen lassen. Aber der Jüngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn könnten kennen lernen. Was tut also der Dichter? Wie fängt er es an, daß wir es gewiß wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft?--Oh, das fängt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen!--Er läßt, sobald der unbekannte Jüngling auftritt, über das erste, was er sagt, mit großen, schönen, leserlichen Buchstaben den ganzen, vollen Namen "Aegisth" setzen; und so weiter über jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan hätte, so dürften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht es lang und breit! Freilich ist es ein wenig lächerlich, wenn die Person, über deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen "Aegisth" gelesen haben, auf die Frage: --Narbas vous est connu? Le nom d'Egiste au moins jusqu'à vous est venu? Quel était votre état, votre rang, votre père? Mon père est un vieillard accablé de misère; Policlète est son nom; mais Egiste, Narbas, Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas. Freilich ist es sehr sonderbar, daß wir von diesem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auch keinen andern Namen hören; daß, da er der Königin antwortet, sein Vater heiße Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heiße so und so. Denn einen Namen muß er doch haben; und den hätte der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden können, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragödie nicht recht gut verstehen, können leicht darüber irre werden. Sie lesen, daß hier ein Bursche gebracht wird, der auf der Landstraße einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heißt Aegisth, aber er sagt, er heiße nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heiße: oh, mit dem Burschen, schließen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgefeimter Straßenräuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, daß es für die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich anfangs, zu erfahren, wie der unbekannte Jüngling ist, als gar nicht. Nur daß man mir nicht sage, daß diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten künstlicher und feiner sei, als ein Prolog im Geschmacke des Euripides!-- Funfzigstes Stück Den 20. Oktober 1767 Bei dem Maffei hat der Jüngling seine zwei Namen, wie es sich gehört; Aegisth heißt er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingeführt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stücks als kein geringes Verdienst an, daß dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate.[1] Das ist, die Italiener sind von den Überraschungen noch größere Liebhaber, als die Franzosen.-- Aber noch immer "Merope"!--Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine lustige oder rührende Romane gebracht; anstatt beiläufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie die doch wohl sein müssen, die sich mit Komödienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken über alte bekannte Stücke; schwerfällige Untersuchungen über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte; mitunter wohl gar Erklärungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angeführt!--Doch im Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich würde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten. Über die "Merope" indes muß ich freilich einmal wegzukommen suchen.--Ich wollte eigentlich nur erweisen, daß die "Merope" des Voltaire im Grunde nichts als die "Merope" des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwei oder mehrere Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts, als für den Übersetzer und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei hat die "Merope" des Euripides nicht bloß wieder hergestellet; er hat eine eigene "Merope" gemacht: denn er ging völlig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze, ein Stück ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloß aus der mütterlichen Zärtlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut oder übel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Polyphont nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermählung dringen zu müssen glaubet; er entlehnte von ihm, daß der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeintlichen Vater entkömmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Mörder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er für den Mörder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der mütterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Händen sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Auflösung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, daß er, bloß darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um dieses Opfer desto natürlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach. Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umständen, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. z.E. Anstatt daß, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, läßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beim Maffei, Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten überfallen werden, die es ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des Tempels für die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt daß beim Maffei Aegisth durch einen Ring in Verdacht gerät, läßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Rüstung entstehen usw. Aber alle diese Veränderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle außer dem Stücke sind und auf die Ökonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Äußerungen seines schöpferischen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hätte. Ich will mich an dem mitte1sten von den angeführten Beispielen erklären. Maffei läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber und wirft den Körper in den Fluß, aus Furcht, wenn der Körper auf der Straße gefunden würde, daß man den Mörder verfolgen und ihn dafür erkennen dürfte. Ein Räuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist für mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus diesem Räuber einen Mißvergnügten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhänger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto größer, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem ältrern gemacht wird, kann hernach für den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Mißvergnügten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er trägt den toten Körper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die größte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth trägt den Körper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fürchtet; weil er glaubt, wenn der Körper beiseite geschafft sei, daß sodann nichts seine Tat verraten könne; daß diese sodann, mitsamt dem Körper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite hätte nicht entkommen müssen. Wird sich dieser begnügen, sein Leben davongetragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Mörder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Mühe hätte er sparen und dafür eilen sollen, je eher je lieber über die Grenze zu kommen. Freilich mußte der Körper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen ebenso nötig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur daß, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloß dem Dichter zu Gefallen tun muß. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu überlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Bedürfnis abhängt. Eine einzige Veränderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nämlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres Sohnes zu rächen, unterdrückt und dafür die Erkennung von seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung überhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte geteilet werden können. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegeneinander vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung überhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen müssen, um fünf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal über cette longue carrière de cinq actes qui est prodigieusement difficile à remplir sans épisodes--Und nun für diesesmal genug von der "Merope"! [1] Fin ne i nomi de' Personaggi si è levato quell' errore, comunissimo alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto. Einundfunfzigstes Stück Den 23. Oktober 1767 Den neununddreißigsten Abend (mittewochs, den 8. Julius) wurden "Der verheiratete Philosoph" und "Die neue Agnese" wiederholt.[1] Chevrier sagt,[2] daß Destouches sein Stück aus einem Lustspiele des Campistron geschöpft habe, und daß, wenn dieser nicht seinen "Jaloux désabusé" geschrieben hätte, wir wohl schwerlich einen "Verheirateten Philosophen" haben würden. Die Komödie des Campistron ist unter uns wenig bekannt; ich wüßte nicht, daß sie auf irgendeinem deutschen Theater wäre gespielt worden; auch ist keine Übersetzung davon vorhanden. Man dürfte also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sei. Die Fabel des Campistronschen Stücks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Vermögen seiner Schwester in Händen, und um dieses nicht herausgeben zu dürfen, möchte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermögen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersüchtig zu machen, indem sie verschiedne junge Mannspersonen sehr gütig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwägerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersüchtig; und williget endlich, um seiner Frau den vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu Gefallen sie die Rolle der Kokette gespielt hatte. Der Mann sieht sich berückt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem Ungrunde seiner Eifersucht überzeugt wird. Was hat diese Fabel mit der Fabel des "Verheirateten Philosophen" Ähnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweiten Akte des Campistronschen Stücks, zwischen Dorante, so heißt der Eifersüchtige, und Dubois, seinem Sekretär. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeiner hat. "Dubois. Und was fehlt Ihnen denn? Dorante. Ich bin verdrüßlich, ärgerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhören wird, mich zu martern, zu peinigen-- Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker? Dorante. Meine Frau. Dubois. Ihre Frau, mein Herr? Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau.--Sie bringt mich zur Verzweiflung. Dubois. Hassen Sie sie denn? Dorante. Wollte Gott! So wäre ich ruhig.--Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr--Verwünschte Qual! Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersüchtig? Dorante. Bis zur Raserei. Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersüchtig? Sie, der Sie von jeher über alles, was Eifersucht heißt,-- Dorante. Gelacht und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt so hinreißen zu lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich über die Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte nicht bloß ein; es währte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was für albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, beständige Liebe, pfui, wie schmeckt das nach dem kleinstädtischen Bürger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen läßt, ist ein Bär! Der es ihr übel nimmt, wenn sie auch andern gefällt und zu gefallen sucht, gehört ins Tollhaus. So sprach ich, und mich hätte man da sollen ins Tollhaus schicken.-- Dubois. Aber warum sprachen Sie so? Dorante. Hörst du nicht? Weil ich ein Geck war und glaubte, es ließe noch so galant und weise.--Inzwischen wollte mich meine Familie verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Mädchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel ändern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgültiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward täglich schöner, täglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie-- Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden! Dorante. Denn ich bin so eifersüchtig!--Daß ich mich schäme, es auch nur dir zu bekennen.--Alle meine Freunde sind mir zuwider--und verdächtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Müßiggänger? Wozu alle die Schmeicheleien, die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr gefälliges Wesen bis in den Himmel. Den entzücken ihre himmlischen Augen, und den ihre schönen Zähne. Alle finden sie höchst reizend, höchst anbetungswürdig; und immer schließt sich ihr verdammtes Geschwätze mit der verwünschten Betrachtung, was für ein glücklicher, was für ein beneidenswürdiger Mann ich bin. Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu. Dorante. Oh, sie treiben ihre unverschämte Kühnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hören! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spötterei die andere, ein kitzelndes Histörchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit Liebäugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich erwidert, daß--daß mich der Schlag oft rühren möchte! Kannst du glauben, Dubois? ich muß es wohl mit ansehen, daß sie ihr die Hand Dubois. Das ist arg! Dorante. Gleichwohl darf ich nicht mucksen. Denn was würde die Welt dazu sagen? Wie lächerlich würde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruß auslassen wollte? Die Kinder auf der Straße würden mit Fingern auf mich weisen. Alle Tage würde ein Epigramm, ein Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen usw." Diese Situation muß es sein, in welcher Chevrier das Ähnliche mit dem "Verheirateten Philosophen" gefunden hat. So wie der Eifersüchtige des Campistron sich schämet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich ehedem über diese Schwachheit allzu lustig gemacht hat: so schämt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil er ehedem über alle ernsthafte Liebe gespottet und den ehelosen Stand für den einzigen erklärt hatte, der einem freien und weisen Manne anständig sei. Es kann auch nicht fehlen, daß diese ähnliche Scham sie nicht beide in mancherlei ähnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z.E., die, in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die überlästigen Besucher vom Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, daß das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen müsse, fast die nämliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, daß er sich auf Meliten keine Rechnung machen könne. Auch leidet dort der Eifersüchtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über die Eifersüchtigen spotten und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefähr auf gleiche Weise, als hier der Philosoph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sei, als daß er sich zu so einer Torheit, wie das Heiraten, sollte haben verleiten lassen. Demohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stücke notwendig das Stück des Campistron vor Augen gehabt haben müßte; und mir ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben könnten, wenn dieses auch nicht vorhanden wäre. Die verschiedensten Charaktere können in ähnliche Situationen geraten; und da in der Komödie die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich äußern zu lassen und ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stück Original oder Kopie genannt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Ähnliche Situationen geben also ähnliche Tragödien, aber nicht ähnliche Komödien. Hingegen geben ähnliche Charaktere ähnliche Komödien, anstatt daß sie in den Tragödien fast gar nicht in Erwägung kommen. Der Sohn unsers Dichters, welcher die prächtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbänden aus der Königlichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere, dieses Stück betreffende Anekdote. Der Dichter nämlich habe sich in England verheiratet und aus gewissen Ursachen seine Verbindung geheim halten müssen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis früher ausgeplaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem "Verheirateten Philosophen" gegeben. Wenn dieses wahr ist,--und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben?--so dürfte die vermeinte Nachahmung des Campistron um so eher wegfallen. [1] S. den 5. und 7. Abend [2] "L'Observateur des Spectacles.", T. II. p. 135. Zweiundfunfzigstes Stück Den 27. Oktober 1767 Den vierzigsten Abend (donnerstags, den 9. Julius) ward Schlegels "Triumph der guten Frauen" aufgeführet. Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, soviel ich weiß, das letzte komische Werk des Dichters, das seine frühern Geschwister unendlich übertrifft und von der Reife seines Urhebers zeuget. "Der geschäftige Müßiggänger" war der erste jugendliche Versuch und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen und räche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin gefunden haben! Er enthält das kalteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur immer in dem Hause eines meißnischen Pelzhändlers vorfallen kann. Ich wüßte nicht, daß er jemals wäre aufgeführt worden, und ich zweifle, daß seine Vorstellung dürfte auszuhalten sein. "Der Geheimnisvolle" ist um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist, den Molière in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu diesem Stücke wollte genommen haben.[1] Molières Geheimnisvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Wölfen nicht gefressen zu werden. Daher kömmt es auch, daß er so viel Ähnliches mit dem Charakter des Mißtrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Bühne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des nämlichen Charakters, können nichts anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und häßlichen Seele sich finden, daß ihre Vorstellungen notwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken müssen, als Lachen. "Der Geheimnisvolle" ist wohl sonst hier aufgeführet worden; man versichert mich aber auch durchgängig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, daß man ihn läppischer gefunden habe, als lustig. "Der Triumph der guten Frauen" hingegen hat, wo er noch aufgeführet worden, und sooft er noch aufgeführet worden, überall und jederzeit einen sehr vorzüglichen Beifall erhalten; und daß sich dieser Beifall auf wahre Schönheiten gründen müsse, daß er nicht das Werk einer überraschenden blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stücks, zurückgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen gesehen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunstrichter ebensosehr seinen übrigen Lustspielen, als diese überhaupt dem gewöhnlichen Prasse deutscher Komödien vorgezogen. "Ich las", sagt einer von ihnen,[2] "den 'Geschäftigen Müßiggänger': die Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Müßiggänger, solche in ihre Kinder vernarrte Mütter, solche schalwitzige Besuche und solche dumme Pelzhändler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gähnte vor Langeweile.--Ich las darauf den 'Triumph der guten Frauen'. Welcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, echten Witz in ihren Gesprächen und den Ton einer feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgange." Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider muß man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an fremde, und besonders an französische Sitten gewöhnt, als daß er eine besonders üble Wirkung auf uns haben könnte. "Nikander", heißt es, "ist ein französischer Abenteurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stürzen, aller Frauen Verführer und aller Männer Schrecken zu werden sucht, und der bei allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten und Grundsätze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! daß ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muß.--Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit verlassen und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, kömmt auf den Einfall, ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Häuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flatterhafter und unverschämter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen, aber doch artigen Wesen sich sehen läßt, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet und glücklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petitmaitre ist gewiß kein Deutscher." "Was mir", fährt er fort, "sonst an diesem Lustspiele mißfällt, ist der Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu häßlichen Seite. Er tyrannisierst seine unschuldige Christiane auf das unwürdigste und hat recht seine Lust, sie zu quälen. Grämlich, sooft er sich sehen läßt, spöttisch bei den Tränen seiner gekränkten Frau, argwöhnisch bei ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersüchtig, hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden können, in seiner Frauen Kammermädchen verliebt.--Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als daß wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen könnten. Der Dichter gibt ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswürdigen Herzens nicht genug entwickeln können. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Ebensowenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehörig vorzubereiten und zu veranstalten. Er mußte sich begnügen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine, dieses edelmütige Kammermädchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: 'Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten!' Wenigstens solange dieses Mädchen im Hause ist, möchte ich nicht für die Aufrichtigkeit stehen." Ich freue mich, daß die beste deutsche Komödie dem richtigsten deutschen Beurteiler in die Hände gefallen ist. Und doch war es vielleicht die erste Komödie, die dieser Mann beurteilte. [1] "Misanthrope", Acte II, Sc. 4. C'est de la tête aux pieds un homme tout mystère, Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil égaré, Et sans aucune affaire est toujours affairé. Tous ce qu'il vous débite en grimaces abonde. A force de façons il assomme le monde. Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien, Un secret à vous dire, et ce secret n'est rien. De la moindre vétille il fait une merveille, Et, jusqu' au bon jour, il dit tout à l'oreille. [2] "Briefe, die neueste Literatur betreffend", T. XXI. S. 133. Ende des ersten Bandes Zweyter Band Dreiundfunfzigstes Stück Den 3. November 1767 Den einundvierzigsten Abend (freitags, den 10. Julius) wurden "Cenie" und "Der Mann nach der Uhr" wiederholt.[1] "Cenie", sagt Chevrier gerade heraus,[2] "führet den Namen der Frau von Graffigny, ist aber ein Werk des Abts von Voisenon. Es war anfangs in Versen; weil aber die Frau von Graffigny, der es erst in ihrem vierundfunfzigsten Jahre einfiel, die Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so ward 'Cenie' in Prosa gebracht. Mais l'auteur, fügt er hinzu, y a laissé 81 vers qui y existent dans leur entier." Das ist, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim verloren, aber die Silbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hatte, daß das Stück in Versen gewesen: so ist es sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die französischen Verse kommen überhaupt der Prosa so nahe, daß es Mühe kosten soll, nur in einem etwas gesuchteren Stile zu schreiben, ohne daß sich nicht von selbst ganze Verse zusammenfinden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verse machen, können dergleichen Verse am ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr für das Metrum haben und es also ebensowenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen. Was hat "Cenie" sonst für Merkmale, daß sie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers könne geflossen sein? "Das Frauenzimmer überhaupt", sagt Rousseau,[3] "liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf keine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken glücklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack, nichts als Anmut, höchstens Gründlichkeit und Philosophie verlangen. Es kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich durch Mühe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer, welches die Seele erhitzet und entflammt, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwünge, die ihr Entzückendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen." Also fehlen sie wohl auch der "Cenie"? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muß "Cenie" notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst würde so nicht schließen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer überhaupt absprechen zu müssen glaube, wolle er darum keiner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas à une femme, mais aux femmes que je refuse les talents des hommes.[4]) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der "Cenie"; ebenda, wo er die Graffigny als die Verfasserin derselben anführt. Dabei merke man wohl, daß Graffigny seine Freundin nicht war, daß sie Übels von ihm gesprochen hatte, daß er sich an eben der Stelle über sie beklagt. Demohngeachtet erklärt er sie lieber für eine Ausnahme seines Satzes, als daß er im geringsten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel, Freimütigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegenteile überzeugt gewesen wäre. Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser Abt, wie Chevrier wissen will, hat für die Favart gearbeitet. Er hat die komische Oper "Annette und Lubin" gemacht; und nicht sie, die Aktrice, von der er sagt, daß sie kaum lesen könne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer, der in Paris darüber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, daß die Gassenhauer in der französischen Geschichte überhaupt unter die glaub- würdigsten Dokumente gehören. Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen in die Welt schicke, ließe sich endlich noch begreifen. Aber warum er sich zu einer "Cenie" nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten vorziehen möchte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr als ein Stück aufführen und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als den Verfasser kennet und die der "Cenie" bei weitem nicht gleichkommen. Wenn er einer Frau von vierundfunfzig Jahren eine Galanterie machen wollte, ist es wahrscheinlich, daß er es gerade mit seinem besten Werke würde getan haben?-- Den zweiundvierzigsten Abend (montags, den 13. Julius) ward "Die Frauenschule" von Molière aufgeführt. Molière hatte bereits seine "Männerschule" gemacht, als er im Jahre 1662 diese "Frauenschule" darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht kennet, würde sich sehr irren, wenn er glaubte, daß hier den Frauen, wie dort den Männern, ihre Schuldigkeit geprediget würde. Es sind beides witzige Possenspiele, in welchen ein Paar junge Mädchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide "Die Männerschule" heißen müßten, wenn Molière weiter nichts darin hätte lehren wollen, als daß das dümmste Mädchen noch immer Verstand genug habe, zu betrügen, und daß Zwang und Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit. Wirklich ist für das weibliche Geschlecht in der "Frauenschule" nicht viel zu lernen; es wäre denn, daß Molière mit diesem Titel auf die Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen hätte, mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher lächerlich gemacht werden. "Die zwei glücklichsten Stoffe zur Tragödie und Komödie", sagt Trublet, [5] "sind der 'Cid' und die 'Frauenschule'. Aber beide sind vom Corneille und Molière bearbeitet worden, als diese Dichter ihre völlige Stärke noch nicht hatten. Diese Anmerkung", fügt er hinzu, "habe ich von dem Hrn. von Fontenelle." Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt hätte, wie er dieses meine. Oder falls es ihm so schon verständlich genug war, wenn er es doch auch seinen Lesern mit ein paar Worten hätte verständlich machen wollen. Ich wenigstens bekenne, daß ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit diesem Rätsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder Trublet hat sich verhört. Wenn indes, nach der Meinung dieser Männer, der Stoff der "Frauenschule" so besonders glücklich ist und Molière in der Ausführung desselben nur zu kurz gefallen: so hätte sich dieser auf das ganze Stück eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern teils aus einer spanischen Erzählung, die man bei dem Scarron unter dem Titel "Die vergebliche Vorsicht" findet, teils aus den "Spaßhaften Nächten" des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, daß dieser Freund sein Nebenbuhler ist. "Die Frauenschule", sagt der Herr von Voltaire, "war ein Stück von einer ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzählung, aber doch so künstliche Erzählung ist, daß alles Handlung zu sein scheinet." Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, daß man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzählung bleibt immer Erzählung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen.--Aber ist es denn auch wahr, daß alles darin erzählt wird? daß alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, hätte er wenigstens die Antwort beifügen sollen, die Molière selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzählungen nämlich sind in diesem Stücke, vermöge der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist bloße Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier streitig zu machen.[6] Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an, welche erzählt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfälle auf den betrognen Alten machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche dieses Alten wollte Molière vornehmlich schildern; ihn müssen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebärdet; und dieses hätten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er erzählen läßt, vor unsern Augen hätte vorgehen lassen, und das, was er vorgehen läßt, dafür hätte erzählen lassen. Der Verdruß, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruß zu verbergen; der höhnische Ton, den er annimmt, wenn er dem weitern Progresse des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der wir ihn sehen, wenn er vernimmt, daß Horaz demohngeachtet sein Ziel glücklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen, als alles, was außer der Szene vorgeht. Selbst in der Erzählung der Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr Handlung, als wir finden würden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der Bühne wirklich machen sähen. Also, anstatt von der "Frauenschule" zu sagen, daß alles darin Handlung scheine, obgleich alles nur Erzählung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte sagen zu können, daß alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzählung zu sein scheine. [1] S. den 23. und 29. Abend [2] "Observateur des Spectacles", Tome I. p. 211. [3] à d'Alembert, p. 133. [4] à d'Alembert, p. 78. [5] "Essais de Litt. et de Morale", T. IV. p. 295. [6] In der "Kritik der Frauenschule", in der Person des Dorante: Les récits eux-mêmes y sont des actions suivant la constitution du sujet. Vierundfunfzigstes Stück Den 6. November 1767 Den dreiundvierzigsten Abend (dienstags, den 14. Julius) ward "Die Mütterschule" des La Chaussée, und den vierundvierzigsten Abend (als den 15.) "Der Graf von Essex" wiederholt.[1] Da die Engländer von jeher so gern domestica facta auf ihre Bühne gebracht haben, so kann man leicht vermuten, daß es ihnen auch an Trauerspielen über diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das älteste ist das von Joh. Banks, unter dem Titel "Der unglückliche Liebling, oder Graf von Essex". Es kam 1682 aufs Theater und erhielt allgemeinen Beifall. Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calprenède von 1638; des Boyer von 1678, und des jüngern Corneille von ebendiesem Jahre. Wollten indes die Engländer, daß ihnen die Franzosen auch hierin nicht möchten zuvorgekommen sein, so würden sie sich vielleicht auf Daniels "Philotas" beziehen können; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden Banks scheinet keinen von seinen französischen Vorgängern gekannt zu haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel "Geheime Geschichte der Königin Elisabeth und des Grafen von Essex" führet,[3] wo er den ganzen Stoff sich so in die Hände gearbeitet fand, daß er ihn bloß zu dialogieren, ihm bloß die äußere dramatische Form zu erteilen brauchte. Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angeführten Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, daß es meinen Lesern nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stück des Corneille halten zu können. "Um unser Mitleid gegen den unglücklichen Grafen desto lebhafter zu machen und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Königin für ihn äußert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter nichts, als daß er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt hat. Burleigh, der erste Minister der Königin, der auf ihre Ehre sehr eifersüchtig ist und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit welchen sie ihn überhäuft, bemüht sich unablässig, ihn verdächtig zu machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Gräfin von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte, nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten können, was sie nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestüme Gemütsart des Grafen macht ihnen allzu gutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf folgende Weise. Die Königin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen gefährlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Scharmützeln sahe sich der Graf genötiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil seine Truppen durch Strapazen und Krankheiten sehr abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anführern mündlich betrieben ward und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Königin als ihrer Ehre höchst nachteilig und als ein gar nicht zweideutiger Beweis vorgestellet, daß Essex mit den Rebellen in einem heimlichen Verständnisse stehen müsse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats anklagen zu dürfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist, daß sie sich vielmehr über ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation erwiesen, und erklärt, daß sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid seiner Ankläger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er erhebt die Gerechtigkeit der Königin, einen solchen Mann nicht unterdrücken zu lassen; und seine Feinde müssen vor diesesmal schweigen. (Erster Akt.) Indes ist die Königin mit der Aufführung des Grafen nichts weniger als zufrieden, sondern läßt ihm befehlen, seine Fehler wieder gutzumachen, und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen völlig zu Paaren getrieben und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde bei ihr anzuschwärzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu rechtfertigen, und kömmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen vermocht, des ausdrücklichen Verbots der Königin ungeachtet, nach England über. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden ebensoviel Vergnügen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die Gräfin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den Folgen. Am meisten aber betrübt sich die Königin, da sie sieht, daß ihr durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten, wenn sie nicht eine Zärtlichkeit verraten will, die sie gern vor der ganzen Welt verbergen möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu welcher ihr natürlicher Stolz kömmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm trägt, erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken oder den geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschließt sie sich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einschränkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn auf eine Art empfangen, daß er die Hoffnung wohl verlieren soll, für seine Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham sind bei dieser Zusammenkunft gegenwärtig. Die Königin ist auf die letztere gelehnet und scheinet tief im Gespräche zu sein, ohne den Grafen nur ein einziges Mal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen, verläßt sie auf einmal das Zimmer und gebietet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen und den Verräter allein zu lassen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab, kömmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Königin den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich aber, ihn in andere, als in der Königin eigene Hände, zurückzuliefern, und beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr verächtlich begegnet. (Zweiter Akt.) Die Königin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist äußerst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkühnt, noch die Lobsprüche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der Fülle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als jene, weil sie daraus entdeckt, daß die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt sie, demohngeachtet, daß er vor sie gebracht werden soll. Er kömmt, und versucht es, seine Aufführung zu verteidigen. Doch die Gründe, die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als daß sie ihren Verstand von seiner Unschuld überzeugen sollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die sie für ihn hegt, ein Genüge zu tun; aber zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung dessen, was sie sich selbst, als Königin, schuldig zu sein glaubt. Und nun ist der Graf nicht länger vermögend, sich zu mäßigen; seine Ungestümheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Füßen und bedient sich verschiedner Ausdrücke, die zu sehr wie Vorwürfe klingen, als daß sie den Zorn der Königin nicht aufs höchste treiben sollten. Auch antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natürlich ist; ohne sich um Anstand und Würde, ohne sich um die Folgen zu bekümmern: nämlich, anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, daß es seine Königin, daß es nicht sein König ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, daß es eine Frau ist, von der er die Ohrfeige hat, hält ihn zurück, sich tätlich an ihr zu vergehen. Southampton beschwört ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigen Neid, sowie der Königin ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verläßt ihn in der äußersten Wut; und niemand als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.) Der Graf gerät über sein Unglück in Verzweiflung; er läuft wie unsinnig in der Stadt herum, schreiet über das ihm angetane Unrecht und schmähet auf die Regierung. Alles das wird der Königin, mit vielen Übertreibungen, wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern. Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangengenommen und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis daß ihnen der Prozeß gemacht werden kann. Doch indes hat sich der Zorn der Königin gelegt und günstigern Gedanken für den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn also, ehe er zum Verhöre geht, allem, was man ihr dawider sagt, ungeachtet, nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen möchten zu strafbar befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen würde, zu gewähren. Fast aber bereuet sie es wieder, daß sie so gütig gegen ihn gewesen, als sie gleich darauf erfährt, daß er mit der Rutland vermählt ist; und es von der Rutland selbst erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten kömmt. (Vierter Akt.) [1] S. den 26. und 30. Abend. [2] "Cibber's Lives of the Engl. Poets", Vol. I. p. 147. [3] "The Companion to the Theatre", Vol. II. p. 99. Fünfundfunfzigstes Stück Den 10. November 1767 Was die Königin gefürchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund Southampton desgleichen. Nun weiß zwar Elisabeth, daß sie, als Königin, den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, daß eine solche freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwäche verraten würde, die keiner Königin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den Ring senden und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes, daß es je eher je lieber geschehen möge, schickt sie die Nottingham zu ihm und läßt ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt sich, das zärtlichste Mitleid für ihn zu fühlen; und er vertrauet ihr das kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demütigsten Bitte an die Königin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wünschet; nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu rächen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet sie ihn auf das boshafteste und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Äußerste ankommen zu lassen, daß die Königin dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglück desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie sich einbildet, daß Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so viel mehr empfinden werde, wenn er sieht, daß die Gnade, die man ihm verweigert, seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht rät sie der Königin auch, seiner Gemahlin, der Gräfin von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Königin williget in beides, aber zum Unglücke für die grausame Ratgeberin; denn der Graf gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Königin, die sich eben in dem Tower befindet und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgeführet, erhält. Aus diesem Briefe ersieht sie, daß der Graf der Nottingham den Ring gegeben und sie durch diese Verräterin um sein Leben bitten lassen. Sogleich schickt sie und läßt die Vollstreckung des Urteils untersagen; doch Burleigh und Raleigh, denen sie aufgetragen war, hatten so sehr damit geeilet, daß die Botschaft zu spät kömmt. Der Graf ist bereits tot. Die Königin gerät vor Schmerz außer sich, verbannt die abscheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen und gibt allen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen." Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, daß der "Essex" des Banks ein Stück von weit mehr Natur, Wahrheit und Übereinstimmung ist, als sich in dem "Essex" des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die Geschichte gehalten, nur daß er verschiedne Begebenheiten näher zusammen gerückt, und ihnen einen unmittelbarem Einfluß auf das endliche Schicksal seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist ebensowenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon angemerkt, in der Historie, nur jener weit früher und bei einer ganz andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist begreiflicher, daß die Königin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben, da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als daß sie ihm dieses Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer eben am meisten verlustig gemacht hatte und der Fall, sich dessen zu gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er unglücklicherweise in ihren Augen etwa könnte verloren haben. Aber was braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt sie ihrer günstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht mächtig zu sein, daß sie sich mit Fleiß auf eine solche Art fesseln will? Wenn sie ihm im Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den mündlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloß um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Hände kommen oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache seiner tödlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen? So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung. Mich dünkt, er würde eine weit bessere tun, wenn ihn die Königin ganz vergessen hätte und er ihr plötzlich, aber auch zu spät, eingehändiget würde, indem sie eben von der Unschuld oder wenigstens geringern Schuld des Grafen noch aus andern Gründen überzeugt würde. Die Schenkung des Ringes hätte vor der Handlung des Stücks lange müssen vorhergegangen sein, und bloß der Graf hätte darauf rechnen müssen, aber aus Edelmut nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, daß man auf seine Rechtfertigung nicht achte, daß die Königin zu sehr wider ihn eingenommen sei, als daß er sie zu überzeugen hoffen könne, daß er sie also zu bewegen suchen müsse. Und indem sie so bewegt würde, müßte die Überzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, für unschuldig gelten zu lassen, müßten sie auf einmal überraschen, aber nicht eher überraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermögen stehet, gerecht und erkenntlich zu sein. Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stück eingeflochten.-- Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanständig! Ehe meine feinern Leser zu sehr darüber spotten, bitte ich sie, sich der Ohrfeige im "Cid" zu erinnere. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darüber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwürdig. "Heutzutage", sagt er, "dürfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gäben. Nicht einmal in der Komödie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das einzige Exempel, welches man auf der tragischen Bühne davon hat. Es ist glaublich, daß man unter andern mit deswegen den 'Cid' eine Tragikomödie betitelte; und damals waren fast alle Stücke des Scudéry und des Boisrobert Tragikomödien. Man war in Frankreich lange der Meinung gewesen, daß sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit gemeinen Zügen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomödie selbst ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen 'Amphitruo' damit zu bezeichnen, weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem Ernste betrübt ist."--Was der Herr von Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie sehr er meistenteils damit verunglückt! Es ist nicht wahr, daß die Ohrfeige im "Cid" die einzige auf der tragischen Bühne ist. Voltaire hat den "Essex" des Banks entweder nicht gekannt, oder vorausgesetzt, daß die tragische Bühne seiner Nation allein diesen Namen verdiene. Unwissenheit verrät beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der Tragikomödie hinzufügt, ist ebenso unrichtig. Tragikomödie hieß die Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen vergnügten Ausgang hat; das ist der "Cid", und die Ohrfeige kam dabei gar nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach sein Stück eine Tragödie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte, daß eine Tragödie notwendig eine unglückliche Katastrophe haben müsse. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloß im Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch abgeborgt, bis es in dem sechzehnten Jahrhunderte den spanischen und italienischen Dichtem einfiel, gewisse von ihren dramatischen Mißgeburten so zu nennen.[1] Wenn aber auch Plautus seinen "Amphitruo" im Ernste so genannt hätte, so wäre es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum hätte Plautus sein Stück lieber eine Tragikomödie nennen wollen. Denn sein Stück ist ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo ebensosehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische Handlung größtenteils unter höhern Personen vorgehet, als man in der Komödie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklärt sich darüber deutlich genug: Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia: Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia Reges quo veniant et di, non par arbitror. Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet, Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam. [1] Ich weiß zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht hat; aber das weiß ich gewiß, daß es Garnier nicht ist. Hédelin sagte: Je ne sais, si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter ce titre à sa "Bradamante", ce que depuis plusieurs ont imité. (Prât. du Th. Liv. II. ch. 10.) Und dabei hätten es die Geschichtschreiber des französischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen die leichte Vermutung des Hédelins zur Gewißheit und gratulieren ihrem Landsmanne zu einer so schönen Erfindung. Voici la première Tragi-Comedie, ou, pour mieux dire, le premier poème du Théâtre qui a porté ce titre--Garnier ne connaissait pas assez les finesses de l'art qu'il professait; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans les secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une idée, qui n'a pas été inutile à beaucoup d'Auteurs du dernier siècle. Garniers "Bradamante" ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit frühere spanische und italienische Stücke, die diesen Titel führen. Sechsundfunfzigstes Stück Den 13. November 1767 Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen.--Einmal ist es doch nun so, daß eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seinesgleichen oder von einem Höhern bekömmt, für eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, daß alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafür verschaffen können, vergebens ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem Beleidigten selbst gerächet, und auf eine ebenso eigenmächtige Art gerächet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt, es ist nun einmal so. Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange sind: warum nicht auch hier? "Die Schauspieler", sagt der Herr von Voltaire, "wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen." Sie wüßten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt sie in Feuer; die Person erhält ihn, aber sie fühlen ihn; das Gefühl hebt die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung äußert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen, und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen. Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der Masken bedauern möchte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske mehr Kontenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch weniger gewahr. Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: Der dramatische Dichter arbeitet zwar für den Schauspieler, aber er muß sich darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist. Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen, daß er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn verächtlich; es verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so weit noch nicht gebracht hat, daß ihn so etwas nicht verwirret; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebet, daß er sich, ihr zum Besten, eine kleine Kränkung will gefallen lassen: so suche er über die Stelle so gut wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, daß sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die er ihn vorstellen läßt. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre Repräsentanten dawider einzuwenden haben? Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder höchstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, für den sie eine seinem Stande angemessene Züchtigung ist? Einem Helden hingegen, einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanständig!--Und wenn sie das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanständigkeit die Quelle der gewaltsamsten Entschließungen, der blutigsten Rache werden soll, und wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht hätte haben können? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muß, soll dennoch aus der Tragödie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komödie, weil es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worüber wir einmal lachen, sollen wir ein andermal nicht erschrecken können? Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen möchte, so wäre es aus der Komödie. Denn was für Folgen kann sie da haben? Traurige? die sind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die sind unter ihr und gehören dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Mühe, sie geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, und wer sie bekömmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also den beiden Extremis, der Tragödie und dem Possenspiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder spotten oder zittern wollen. Und ich frage jeden, der den "Cid" vorstellen sehen oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder überlaufen, wenn der großsprecherische Gormas den alten würdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid für diesen, und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung nach sich ziehen müsse, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung und Furcht erfüllet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung auf ihn hat, nicht tragisch sein? Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war und eben itzt eine von seinem Nachbar verdient hätte. Wen aber die ungeschickte Art, mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu lächeln machte, der biß sich geschwind in die Lippe und eilte, sich wieder in die Täuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt. Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten könnte? Für jede andere würde es in der Macht des Königs stehen, dem Beleidigten Genugtunung zu schaffen; für jede andere würde sich der Sohn weigern dürfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten aufzuopfern. Für diese einzige läßt das Pundonor weder Entschuldigung noch Abbitte gelten; und alle gütliche Wege, die selbst der Monarch dabei einleiten will, sind fruchtlos. Corneille ließ nach dieser Denkungsart den Gormas, wenn ihm der König andeuten läßt, den Diego zufriedenzustellen, sehr wohl antworten: Ces satisfactions n'apaisent point une âme: Qui les reçoit n'a rien, qui les fait se diffame. Et de tous ces accords l'effet le plus commun, C'est de déshonorer deux hommes au lieu d'un. Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwiderliefen. Corneille erhielt also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergänzte sie aus dem Gedächtnisse und aus seiner Empfindung. In dem "Essex" wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, daß sie eine Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau und Königin; was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Über die handfertige wehrhafte Frau würde er spotten; denn eine Frau kann weder schimpfen noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souverän, dessen Beschimpfungen unauslöschlich sind, da sie von seiner Würde eine Art von Gesetzmäßigkeit erhalten. Was kann also natürlicher scheinen, als daß Essex sich wider diese Würde selbst auflehnet und gegen die Höhe tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wüßte wenigstens nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich hätte machen können. Die bloße Ungnade, die bloße Entsetzung seiner Ehrenstellen konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so knechtische Behandlung außer sich gebracht, sehen wir ihn alles, was ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entschuldigung unternehmen. Die Königin selbst muß ihn aus diesem Gesichtspunkte ihrer Verzeihung würdig erkennen; und wir haben so ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekränkten Ehre tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht. Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt, war über die Wahl eines Königs von Irland. Als er sahe, daß die Königin auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr verächtlichen Gebärde den Rücken. In dem Augenblicke fühlte er ihre Hand, und seine fuhr nach dem Degen. Er schwur, daß er diesen Schimpf weder leiden könne noch wolle; daß er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht würde erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Den Brief, den er an den Kanzler Egerton über diesen Vorfall schrieb, ist mit dem würdigsten Stolze abgefaßt, und er schien fest entschlossen, sich der Königin nie wieder zu nähern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer völligen Gnade und in der völligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings. Diese Versöhnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war. In diesem Falle war er wirklich ein Verräter, der sich alles gefallen ließ, bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Königin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn über diese Verschmälerung seiner Einkünfte verblendete ihn so, daß er ohne alle Überlegung losbrach. So finden wir ihn in der Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht und ihm weiter keine treulosen Absichten gegen seine Königin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloß durch die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war. Siebenundfunfzigstes Stück Den 17. November 1767 Banks hat die nämlichen Worte beibehalten, die Essex über die Ohrfeige ausstieß. Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mitsamt Alexandern, beifügen läßt.[1] Sein Essex ist überhaupt zuviel Prahler; und es fehlet wenig, daß er nicht ein ebenso großer Gasconier ist als der Essex des Gasconiers Calprenède. Dabei erträgt er sein Unglück viel zu kleinmütig und ist bald gegen die Königin ebenso kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergißt, ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwürdig. In der Geschichte kann man dergleichen Widersprüche mit sich selbst für Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste des Herzens kennenlernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzu vertraut, als daß wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet hätten, übereinstimmen oder nicht. Ja, sie mögen es, oder sie mögen es nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht nutzen. Ohne Verstellung fällt der Charakter weg; bei der Verstellung die Würde desselben. Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen können. Diese Frau bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex hat er mit vieler Anständigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm gewissermaßen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille, über Kälte und Verachtung, über Glut und Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert nicht, daß ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er um sie allein seufzen solle, usw. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen. Sie spricht nie als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hört es nie, aber man sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken Eifersucht verraten sie; sonst würde man sie schlechterdings für nichts, als für seine Freundin halten können. Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion zu setzen gewußt, das können folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen. --Die Königin glaubt sich allein und überlegt den unglücklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen.-- "Die Königin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein. Nottingham. Verzeihe, Königin, daß ich so kühn bin. Und doch befiehlt mir meine Pflicht, noch kühner zu sein.--Dich bekümmert etwas. Ich muß fragen,--aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, daß ich es frage--Was ist's, das Dich bekümmert? Was ist es, das diese erhabene Seele so tief herabbeuget?--Oder ist Dir nicht Die Königin. Steh auf, ich bitte dich.--Mir ist ganz wohl.--Ich danke dir für deine Liebe.--Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich,--meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fürchte, ihm nur zu lange. Es fängt an, meiner überdrüssig zu werden.--Neue Kronen sind wie neue Kränze; die frischesten sind die lieblichsten. Meine Sonne neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewärmet; man fühlet sich zu heiß; man wünscht, sie wäre schon untergegangen.--Erzähle mir doch, was sagt man von der Überkunft des Essex? Nottingham.--Von seiner Überkunft--sagt man--nicht das Beste. Aber von ihm--er ist für einen so tapfern Mann bekannt-- Die Königin. Wie? tapfer? da er mir so dienet?--Der Verräter! Nottingham. Gewiß, es war nicht gut-- Die Königin. Nicht gut! nicht gut?--Weiter nichts? Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat. Die Königin. Nicht wahr, Nottingham?--Meinen Befehl so gering zu schätzen! Er hätte den Tod dafür verdient.--Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet.-- Nottingham. Jawohl.--Und doch sollte Essex, bei soviel größerer Schuld, mit geringerer Strafe davonkommen? Er sollte nicht sterben? Die Königin. Er soll!--Er soll sterben, und in den empfindlichsten Martern soll er sterben!--Seine Pein sei, wie seine Verräterei, die größte von allen!--Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder, nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf den höchsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der vorübergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen, undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner Königin trotzte!--Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente!--Was sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch?--du schweigst?--Warum schweigst du? Willst du ihn noch vertreten? Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Königin, so will ich Dir alles sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht.-- Die Königin. Tu das!--Laß hören: was sagt die Welt von ihm und mir? Nottingham. Von Dir, Königin?--Wer ist es, der von Dir nicht mit Entzücken und Bewunderung spräche? Der Nachruhm eines verstorbenen Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertönen. Nur dieses einzige wünschet man, und wünschet es mit den heißesten Tränen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen, --dieses einzige, daß Du geruhen möchtest, ihren Beschwerden gegen diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verräter nicht länger zu schützen, ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überliefern-- Die Königin. Wer hat mir vorzuschreiben? Nottingham. Dir vorzuschreiben!--Schreibet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet?--Und so flehet Dich alles wider den Mann an, dessen Gemütsart so schlecht, so boshaft ist, daß er es auch nicht der Mühe wert achtet, den Heuchler zu spielen.--Wie stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, pöbelhaft stolz; nicht anders als ein elender Lakai auf seinen bunten verbrämten Rock!--Daß er tapfer ist, räumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der Bär ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele über Glück und Unglück erhebt, ist fern von ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset über ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; überall will er allein glänzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und herrschsüchtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stürzte-- Die Königin. Gemach, Nottingham, gemach!--Du eiferst dich ja ganz aus dem Atem.--Ich will nichts mehr hören--(beiseite) Gift und Blattern auf ihre Zunge!--Gewiß, Nottingham, du solltest dich schämen, so etwas auch nur nachzusagen; dergleichen Niederträchtigkeiten des boshaften Pöbels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, daß der Pöbel das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünscht, daß er es sagen möchte. Nottingham. Ich erstaune, Königin-- Die Königin. Worüber? Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden-- Die Königin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt hätte, wie gewünscht dir dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal glühte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich, überzufließen, und jedes Wort, jede Gebärde hatte seinen längst abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft. Nottingham. Verzeihe, Königin, wenn ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet habe. Ich maß ihn nach Deinem ab. Die Königin. Nach meinem?--Ich bin seine Königin. Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auch hat er sich der gräßlichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich.--Womit könnte dich der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er übertreten, keine Untertanen, die er bedrücken, keine Krone, nach der er streben könnte. Was findest du denn also für ein grausames Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen? Nottingham. Ich bin zu tadeln-- Die Königin. Genug davon!--Seine Königin, die Welt, das Schicksal selbst erklärt sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen?-- Nottingham. Ich bekenne es, Königin, Die Königin. Geh, es sei dir vergeben!--Rufe mir gleich die Rutland [1] Act. III. --By all The Subtilty, and Woman in your Sex, I swear, that had you been a Man, you durst not, Nay, your bold Father Harry durst not this Have done--Why say I him? Not all the Harrys, Not Alexander self, were he alive, Should boast of such a deed on Essex done Without revenge.-- Achtundfunfzigstes Stück Den 20. November 1767 Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich, daß Rutland, ohne Wissen der Königin, mit dem Essex vermählt ist. "Die Königin. Kömmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt. --Wie ist's? Ich finde dich seit einiger Zeit so traurig. Woher diese trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen. Rutland. Großmütige Frau!--Ich verdiene es nicht, daß meine Königin so gnädig auf mich herabsiehet. Die Königin. Wie kannst du so reden?--Ich liebe dich; jawohl liebe ich dich.--Du sol1st es daraus schon sehen!--Eben habe ich mit der Nottingham, der widerwärtigen!--einen Streit gehabt; und zwar--über Mylord Essex. Rutland. Ha! Die Königin. Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen. Rutland (beiseite). Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen! Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fühl' es; ich werde blaß--und wieder rot.-- Die Königin. Was ich dir sage, macht dich erröten?-- Rutland. Dein so überraschendes, gütiges Vertrauen, Königin,-- Die Königin. Ich weiß, daß du mein Vertrauen verdienest.--Komm, Rutland, ich will dir alles sagen. Du sol1st mir raten.--Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirst du es auch gehört haben, wie sehr das Volk wider den armen, unglücklichen Mann schreiet; was für Verbrechen es ihm zur Last leget. Aber das Schlimmste weißt du vielleicht noch nicht? Er ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdrücklichen Befehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der größten Verwirrung Rutland. Darf ich Dir, Königin, wohl sagen, was ich denke?--Das Geschrei des Volkes ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Haß ist öfters so ungegründet-- Die Königin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele.--Aber, liebe Rutland, er ist demohngeachtet zu tadeln.--Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen.--O gewiß, man legt mir es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen. Sie vergessen, daß ich ihre Königin bin.--Ah, Liebe; so ein Freund hat mir längst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschütten kann!-- Rutland. Siehe meine Tränen, Königin--Dich so leiden zu sehen, die ich so bewundere!--Oh, daß mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu beschwören, und Balsam in Deine Wunden zu gießen! Die Königin. Oh, so wärest du mein guter Engel! mitleidige, beste Rutland!--Sage, ist es nicht schade, daß so ein braver Mann ein Verräter sein soll? daß so ein Held, der wie ein Gott verehret ward, sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu Rutland. Das hätte er gewollt? das könnte er wollen? Nein, Königin, gewiß nicht, gewiß nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hören! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem Entzücken habe ich ihn von Dir sprechen hören! Die Königin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hören? Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte Überlegung, aus dem ein inneres Gefühl spricht, dessen er nicht mächtig ist. Sie ist, sagte er, die Göttin ihres Geschlechts, so weit über alle andere Frauen erhaben, daß das, was wir in diesen am meisten bewundern, Schönheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein größeres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem alles überströmenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts übersteigt ihre Güte; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glückliche Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels gezogen und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet.--Oh, unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues Herz ausdrückte, oh, daß sie nicht unsterblich sein kann! Ich wünsche ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit diesen Abglanz von sich zurückruft und mit eins sich Nacht und Verwirrung über Britannien verbreiten. Die Königin. Sagte er das, Rutland? Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe, dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich überströmte-- Die Königin. Oh, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du Rutland. Und kannst ihn noch für einen Verräter halten? Die Königin. Nein;--aber doch hat er die Gesetze übertreten.--Ich muß mich schämen, ihn länger zu schützen.--Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu sehen. Rutland. Ihn nicht zu sehen, Königin? nicht zu sehen?--Bei dem Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwöre ich Dich,--Du mußt ihn sehen! Schämen? wessen? daß Du mit einem Unglücklichen Erbarmen hast?--Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte Könige schimpfen?--Nein, Königin; sei auch hier Dir selbst gleich. Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen-- Die Königin. Ihn, der meinen ausdrücklichen Befehl so geringschätzen können? Ihn, der sich so eigenmächtig vor meine Augen drängen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl? Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der Gefahr, in der er sich sahe. Er hörte, was hier vorging; wie sehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu machen suche. Er kam also, zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich zu rechtfertigen und Dich nicht hintergehen zu lassen. Die Königin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich sehen.--Oh, meine Rutland, wie sehr wünsche ich es, ihn noch immer ebenso rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne! Rutland. Oh, nähre diese günstige Gedanke! Deine königliche Seele kann keine gerechtere hegen.--Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiß finden. Ich wollte für ihn schwören; bei aller Deiner Herrlichkeit für ihn schwören, daß er es nie aufgehöret zu sein. Seine Seele ist reiner als die Sonne, die Flecken hat und irdische Dünste an sich ziehet und Geschmeiß ausbrütet.--Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niederträchtigkeit fähig. Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schätze seiner Indien wider Dich verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Völkern vorher, und ehe diese noch eintrafen, hatte öfters schon sein Name gesiegt. Die Königin (beiseite). Wie beredt sie ist!--Ha! dieses Feuer, diese Innigkeit,--das bloße Mitleid gehet so weit nicht.--Ich will es gleich hören!--(Zu ihr.) Und dann, Rutland, seine Gestalt-- Rutland. Recht, Königin; seine Gestalt.--Nie hat eine Gestalt den innern Vollkommenheiten mehr entsprochen!--Bekenn' es, Du, die Du selbst so schön bist, daß man nie einen schönern Mann gesehen! So würdig, so edel, so kühn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied, in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das ganze von einem so sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus hundert Gegenständen zusammensuchen muß, was sie hier beieinander Die Königin (beiseite). Ich dacht' es!--Das ist nicht länger auszuhalten.--(Zu ihr.) Wie ist dir, Rutland? Du gerätst außer dir. Ein Wort, ein Bild überjagt das andere. Was spielt so den Meister über dich? Ist es bloß deine Königin, ist es Essex selbst, was diese wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket?--(Beiseite.) Sie schweigt; ganz gewiß, sie liebt ihn.--Was habe ich getan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt?" usw. Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Königin zu sagen, daß Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen. "Rutland", sagt die Königin, "wir sprechen einander schon weiter; geh nur.--Nottingham, tritt du näher." Dieser Zug der Eifersucht ist vortrefflich. Essex kömmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige. Ich wüßte nicht, wie sie verständiger und glücklicher vorbereitet sein könnte. Essex anfangs, scheinet sich völlig unterwerfen zu wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl hätte alles das die Königin so weit nicht aufbringen können, wenn ihr Herz nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen wäre. Es ist eigentlich die eifersüchtige Liebhaberin, welche schlägt, und die sich nur der Hand der Königin bedienet. Eifersucht überhaupt schlägt Ich, meinesteils, möchte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen "Essex" des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch, so voller Leben und Wahrheit, daß das Beste des Franzosen eine sehr armselige Figur dagegen macht. Neunundfunfzigstes Stück Den 24. November 1767 Nur den Stil des Banks muß man aus meiner Übersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gänzlich abgehen müssen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, daß er zum Muster dieser Art von Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als möglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen. Ich habe mich mehr vor dem Schwülstigen gehütet, als vor dem Platten. Die mehresten hätten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwülstig und tragisch halten viele so ziemlich für einerlei. Nicht nur viele der Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was wären das für Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragödie. "Wir haben es an nichts fehlen lassen", sagt Diderot,[1] (man merke, daß er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht), "das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle prächtige Versifikation beibehalten, die sich doch nur für Sprachen von sehr abgemessenen Quantitäten und sehr merklichen Akzenten, nur für weitläufige Bühnen, nur für eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespräche, und die Wahrheit ihrer Gemälde haben wir fahren lassen." Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen können, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragödien nicht durchgängig zum Muster nehmen dürfen. Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien, öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie müssen also fast immer mit Zurückhaltung und Rücksicht auf ihre Würde sprechen; sie können sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten den besten Worten entladen; sie müssen sie abmessen und wählen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen: was können wir für Ursache haben, sie demohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hören; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind und weder Lust noch Muße haben, Ausdrücke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mißhandelte und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den höhern Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdrücken gelernt als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhörlich, sich besser auszudrücken als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jede ihre eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut verstehet, als der Polierteste. Bei einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeugt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten. Wie ich Banks' Elisabeth sprechen lasse, weiß ich wohl, hat noch keine Königin auf dem französischen Theater gesprochen. Den niedrigen vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhält, würde man in Paris kaum einer guten adligen Landfrau angemessen finden. "Ist dir nicht wohl?--Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich.--Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich.--Erzähle mir doch.--Nicht wahr, Nottingham? Tu das! Laß hören!--Gemach, gemach!--Du eiferst dich aus dem Atem.--Gift und Blattern auf ihre Zunge!--Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auf den Kopf schlagen.--Wie ist's? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.--Wie kannst du so reden?--Du sollst es schon sehen.--Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen.--Komm her, meine Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen.--Ich dacht' es!--Das ist nicht länger auszuhalten."--Jawohl ist es nicht auszuhalten! würden die feinen Kunstrichter sagen-- Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen.--Denn leider gibt es Deutsche, die noch weit französischer sind, als die Franzosen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr zärtliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Überlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen und den Reden einen wahrern Anschein der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden und wollen sich krank darüber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: "Man hört wohl, daß der gute Mann die große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe." Demohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer für die Königinnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen dürfen. Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Königinnen mögen so gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Königinnen müssen natürlich sprechen. Er höre der Hekuba des Euripides nur fleißig zu; und tröste sich immer, wenn er schon sonst keine Königinnen gesprochen hat. Nichts ist züchtiger und anständiger als die simple Natur. Grobheit und Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem Erhabnen. Das nämliche Gefühl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt, wird sie auch hier bemerken. Der schwülstige Dichter ist daher unfehlbar auch der pöbelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine Gattung gibt mehrere Gelegenheit, in beide zu verfallen, als die Tragödie. Gleichwohl scheinet die Engländer vornehmlich nur der eine in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die pöbelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so glänzende Personen führen lasse; und wünschten lange, daß sein Stück von einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe, möchte umgearbeitet werden.[2] Dieses geschah endlich auch. Fast zu gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darüber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irländer, war seiner Profession nach ein Maurer und vertauschte, wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen Mann von großem Genie bekannt machten, brachte er seinen "Essex" 1753 aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook ließ seinen erst einige Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, daß er, wie man ihm Schuld gibt, ebensowohl den "Essex" des Jones als den vom Banks, genutzt hat. Auch muß noch ein "Essex" von einem James Ralph vorhanden sein. Ich gestehe, daß ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten Tagebüchern kenne. Von dem "Essex" des Brook sagt ein französischer Kunstrichter, daß er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der schönen Poesie des Jones zu verbinden gewußt habe. Was er über die Rolle der Rutland und über derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres Gemahls hinzufügt,[3] ist merkwürdig; man lernt auch daraus das Pariser Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht. Aber einen spanischen "Essex" habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als daß ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte.-- [1] Zweite Unterredung hinter dem "Natürlichen Sohne". S.d. Übers. 247. [2] ("Companion to the Theatre", Vol. II. p. 105.)--The Diction is every where very bad, and in some Places so low, that it even becomes unnatural.--And I think, there cannot be a greater Proof of the little Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters are perhaps the greatest the World ever produced. [3] ("Journal Encycl.", Mars 1761.) Il a aussi fait tomber en démence la Comtesse de Rutland au moment que cet illustre époux est conduit à l'échafaud; ce moment où cette Comtesse est un objet bien digne de pitié, a produit une très grande sensation, et a été trouvé admirable à Londres: en France il eût paru ridicule, il aurait été sifflé et l'on aurait envoyé la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons. Sechzigstes Stück Den 27. November 1767 Er ist von einem Ungenannten und führet den Titel: "Für seine Gebieterin sterben"[1]. Ich finde ihn in einer Sammlung von Komödien, die Joseph Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vierundsiebzigste Stück ist. Wenn er verfertiget worden, weiß ich nicht; ich sehe auch nichts, woraus es sich ungefähr abnehmen ließe. Das ist klar, daß sein Verfasser weder die französischen und englischen Dichter, welche die nämliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner Leser nicht vorgreifen. Essex kommt von seiner Expedition wider die Spanier zurück und will der Königin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hört er, daß sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zusammenkünfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin und bedient sich des Schlüssels, den er noch von der Gartentüre bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natürlich, daß er sich seiner Geliebten eher zeigen will, als der Königin. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern schleichet, wird er an dem schattichten Ufer eines durch denselben geleiteten Armes der Themse ein Frauenzimmer gewahr, (es ist ein schwüler Sommerabend), das mit den bloßen Füßen in dem Wasser sitzt und sich abkühlet. Er bleibt voller Verwunderung über ihre Schönheit stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Diese Schönheit, wie billig, wird weitläuftig beschrieben, und besonders werden über die allerliebsten weißen Füße in dem klaren Wasser sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, daß der entzückte Graf zwei kristallene Säulen in einem fließenden Kristalle stehen sieht; er weiß vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall ihrer Füße ist, welcher in Fluß geraten, oder ob ihre Füße der Kristall des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.[2]) Noch verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weißen Gesichte: er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so göttliches Monstrum gebildet und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so glänzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr zur Verspottung?[3] Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb, Tyrannin! ein Schuß auf sie geschieht, und gleich darauf zwei maskierte Männer mit bloßem Degen auf sie losgehen, weil der Schuß sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex besinnt sich nicht lange, ihr zu Hilfe zu eilen. Er greift die Mörder an, und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurück und bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, daß er verwundet ist, knüpft ihre Schärpe los und gibt sie ihm, sich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schärpe dienen, mich Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfernen, ehe über den Schuß mehr Lärmen entsteht; ich möchte nicht gern, daß die Königin den Zufall erführe, und ich beschwöre Euch daher um Eure Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen über diese sonderbare Begebenheit, über die er mit seinem Bedienten, namens Cosme, allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des Stücks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen, und hatte den Schuß zwar gehört, aber ihm doch nicht zu Hilfe kommen dürfen. Die Furcht hielt an der Türe Schildwache und versperrte ihm den Eingang. Furchtsam ist Cosme für viere;[4] und das sind die spanischen Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, daß er sich unfehlbar in die schöne Unbekannte verliebt haben würde, wenn Blanca nicht schon so völlig Besitz von seinem Herzen genommen hätte, daß sie durchaus keiner andern Leidenschaft darin Raum lasse. "Aber", sagt er, "wer mag sie wohl gewesen sein? Was dünkt dich, Cosme?"--"Wer wird's gewesen sein", antwortet Cosme, "als des Gärtners Frau, die sich die Beine gewaschen?"[5] Aus diesem Zuge kann man leicht auf das übrige schließen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es ist zu spät geworden; das Haus könnte über den Schuß in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal. Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermädchen. (Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der König von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem jüngsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist, unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese Verbindung zustande zu bringen. Es läßt sich alles, sowohl von seiten des Parlaments als der Königin, sehr wohl dazu an: aber indes erblickt er die Blanca und verliebt sich in sie. Itzt kömmt er und bittet Floren, ihm in seiner Liebe behilflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloß, Blanca suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne, dessen Stand so weit über den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung machen könne, so dürfte sie schwerlich seiner Liebe Gehör geben.--(Man erwartet, daß der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner Absichten beteuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier sind in diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora übergeben soll. Er wünscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief für Eindruck auf sie machen werde. Er schenkt Floren eine güldne Kette, und Flora versteckt ihn in eine anstoßende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt, welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet. Essex kömmt. Nach den zärtlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich würdig zu zeigen wünsche, müssen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben und ihn, unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentümer ihrer Ehre gemacht. (Te hice dueño de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist nichts in Abrede und fügt hinzu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen gekommen sei. Nun aber habe er diese glücklich vollendet; nun wolle er unverzüglich die Königin um Erlaubnis zu ihrer Vermählung antreten.--"Und so kann ich dir denn", sagt Blanca, "als meinem Geliebten, als meinem Bräutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher anvertrauen."[6]-- [1] "Dar la vida por su Dama o el Conde de Sex"; de un Ingenio de esta Las dos columnas bellas Metió dentro del río, y como al verlas Vi un cristal en el rio desatado, Y ví cristal en ellas condensado, No supe si las aguas que se vían Eran sus piés, que líquidos corrían, O si sus dos columnas se formaban De las aguas, que allí se conjelaban. Diese Ähnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand geschöpft und nach dem Munde geführt habe. Diese Hand, sagt er, war dem klaren Wasser so ähnlich, daß der Fluß selbst für Schrecken zusammenfuhr, weil er befürchtete, sie möchte einen Teil ihrer eignen Hand mittrinken. Quiso probar a caso El agua, y fueron cristalino vaso Sus manos, acercólas a los labios, Y entonces el arroyo lloró agravios, Y como tanto, en fin, se parecía A sus manos aquello que bebía, Temí con sobresalto (y no fué en vano) Que se bebiera parte de la mano. Yo, que al principio ví, ciego, y turbado, A una parte nevado Y en otra negro el rostro, Juzgué, mirando tan divino monstruo, Que la naturaleza cuidadosa Desigualdad uniendo tau hermosa, Quiso hacer por asombro, o por ultraje, De azabache y marfil un maridaie. Ruido de armas en la Quinta, Y dentro el Conde? Qué aguardo, Que no voy a socorrerle? Qué aguardo? Lindo recado: Aguardo a que quiera el miedo Dejarme entrar:-- Cosme, que ha temido un miedo Que puede valer por cuatro. La mujer del hortelano, Que se lavaba las piernas. Bien podré seguramente Revelarte intentos míos, Como a galán, como a dueño, Como a esposo, y como a amigo. Einundsechzigstes Stück Den 1. Dezember 1767 Hierauf beginnt sie eine lange Erzählung von dem Schicksale der Maria von Schottland. Wir erfahren (denn Essex selbst muß alles das, ohne Zweifel, längst wissen), daß ihr Vater und Bruder dieser unglücklichen Königin sehr zugetan gewesen; daß sie sich geweigert, an der Unterdrückung der Unschuld teilzunehmen; daß Elisabeth sie daher gefangensetzen und in dem Gefängnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, daß Blanca die Elisabeth haßt; daß sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu rächen. Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen und sie ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber Blanca ist unversöhnlich. Umsonst wählte die Königin, nur kürzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu genießen. --Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es möchte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen; und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Königin in dem Garten ermorden wollen. Nun weiß Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiß nicht, daß es Essex ist, welcher ihren Anschlag vereiteln müssen. Sie rechnet vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht bloß zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm völlig die glücklichere Vollziehung ihrer Rache zu übertragen. Er soll sogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben und gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin müsse sterben; ihr Name sei allgemein verhaßt; ihr Tod sei eine Wohltat für das Vaterland, und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu verschaffen. Essex ist über diesen Antrag äußerst betroffen. Blanca, seine teure Blanca, kann ihm eine solche Verräterei zumuten? Wie sehr schämt er sich in diesem Augenblicke seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr, wie es billig wäre, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum weniger bei ihren schändlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Königin die Sache hinterbringen? Das ist unmöglich: Blanca, seine ihm noch immer teure Blanca, läuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen, von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er müßte nicht wissen, was für ein rachsüchtiges Geschöpf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich durch Flehen erweichen und durch Gefahr abschrecken läßt. Wie leicht könnte sie seine Abratung, sein Zorn zur Verzweiflung bringen, daß sie sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht wäre und ihr zuliebe alles unternähme?[1]--Dieses in der Geschwindigkeit überlegt, faßt er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heißt der Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhängern in die Falle zu locken. Blanca wird ungeduldig, daß ihr Essex nicht sogleich antwortet. "Graf", sagt sie, "wenn du erst lange mit dir zu Rate gehst, so liebst du mich nicht. Auch nur zweifeln ist Verbrechen. Undankbarer!"[2]--"Sei ruhig, Blanca!" erwidert Essex: "ich bin entschlossen."--"Und wozu?"--"Gleich will ich dir es schriftlich geben." Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der Herzog aus der Galerie näher. Er ist neugierig, zu sehen, wer sich mit der Blanca so lange unterhält; und erstaunt, den Grafen von Essex zu erblicken. Aber noch mehr erstaunt er über das, was er gleich darauf zu hören bekömmt. Essex hat an den Roberto geschrieben und sagt der Blanca den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen; Essex will ihn mit seinen Leuten unterstützen; Essex hat die Gunst des Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Königin zu bemächtigen; sie ist schon so gut als tot.--"Erst müßt' ich sterben!" ruft auf einmal der Herzog und kömmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen über diese plötzliche Erscheinung; und das Erstaunen des letztern ist nicht ohne Eifersucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bei sich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca und versichert, daß sie von seiner Anwesenheit nichts gewußt; er habe die Galerie offen gefunden und sei von selbst hereingegangen, die Gemälde darin zu betrachten.[3] "Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern Leben der Königin, bei--Aber genug, daß ich es sage: Blanca ist unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklärung zu danken. Auf Sie ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich-- Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?-- Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie sind ein Verräter. Der Graf. Wer darf das sagen? Der Herzog. Ich!--Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hören, Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein-- Der Herzog. Denn kurz: ich bin überzeugt, daß ein Verräter kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verräter: ich muß Sie für einen Mann ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils über Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen verlustig sind. Wären Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt, so würde ich Sie zu züchtigen wissen. Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand begegnen dürfen, als der Bruder des Königs von Frankreich. Der Herzog. Wenn ich auch der nicht wäre, der ich bin; wenn nur Sie der wären, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu tun hätten.--Sie, der Graf von Essex? Wenn Sie dieser berufene Krieger sind: wie können Sie so viele große Taten durch eine so unwürdige Tat vernichten wollen?--" Ay tal traición! vive el Cielo, Que de amarla estoy corrido. Blanca, que es mi dulce dueño, Blanca, a quien quiero, y estimo, Me propone tal traición! Que haré, porque si ofendido, Respondiendo, como es justo, Contra su traición me irrito, No por eso ha de evitar So resuelto desatino. Pues darle cuenta a la Reina Es imposible, pues quiso Mi suerte, que tenga parte Blanca en aqueste delito. Pues si procuro con ruegos Disuadirla, es desvarío, Que es una mujer resuelta Animal tan vengativo, Que no se dobla a los riesgos: Antes con afecto impío, En el mismo rendimiento Suelen aguzar los filos; Y quizá desesperada De mi enojo, o mi desvío, Se declarará con otro Menos leal, menos fino, Que quizá por ella intente Lo que yo hacer no he querido. Si estás consultando, Conde, Allá dentro de tí mismo Lo que has de hacer, no me quieres, Ya el dudarlo fué delito. Vive Dios, que eres ingrato! Por vida del Rey mi hermano, Y por la que más estimo, De la Reina mi señora, Y por--pero yo lo digo, Que en mí es el mayor empeño De la verdad del decirlo, Que no tiene Blanca parte De estar yo aquí-- Y estad muy agradecido A Blanca, de que yo os dé, No satisfacción, aviso De esta verdad, porque a vos, Hombres como yo--Cond. Imagino Que no me conoceis bien. Duq. No os había conocido Hasta aquí; mas ya os conozco, Pues ya tan otro os he visto Que os reconozco traidor. Cond. Quien dijere--Duq. Yo lo digo No pronuncieis algo, Conde, Que ya no puedo sufriros. Cond. Cualquier cosa que yo intente-- Duq. Mirad que estoy persuadido Que hace la traición cobardes; Y así cuando os he cogido En un lance que me da De que sois cobarde indicios, No he de aprovecharme de esto, Y así os perdona mi brío Ese rato que teneis El valor desminuído; Que a estar todo vos entero, Supiera daros castigo. Cond. Yo soy el Conde de Sex Y nadie se me ha atrevido Sino el hermano del Rey De Francia. Duq. Yo tengo brío Para que sin ser quien soy, Pueda mi valor invicto Castigar, no digo yo Sólo a vos, mas a vos mismo, Siendo leal, que es lo más Con que queda encarecido. Y pues sois tan gran Soldado, No echeis a perder, os pido Tantas heroicas hazañas Con un hecho tan indigno-- Zweiundsechzigstes Stück Den 4. Dezember 1767 Der Herzog fährt hierauf fort, ihm sein Unrecht in einem etwas gelindern Tone vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines Bessern zu besinnen; er will es vergessen, was er gehört habe; er ist versichert, daß Blanca mit dem Grafen nicht einstimmen und daß sie selbst ihm eben das würde gesagt haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er schließt endlich: "Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so schändlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, daß Sie einen Kopf haben, und London einen Henker!"[1]--Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist in der äußersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich für einen Verräter gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muß sich gedulden, bis es der Ausgang lehre, daß er da seiner Königin am getreuesten gewesen sei, als er es am wenigsten zu sein geschienen.[2] So spricht er mit sich selbst: zur Blanca aber sagt er, daß er den Brief sogleich an ihren Oheim senden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern verwünscht, sich aber noch damit getröstet, daß es kein Schlimmerer als der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse. Die Königin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle Zugänge wohl besetzt; und morgen will sie nach London zurückkehren. Der Kanzler ist der Meinung, die Meuchelmörder aufsuchen zu lassen und durch ein öffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche Belohnung zu verheißen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein. "Denn da es ihrer zwei waren", sagt er, "die den Anfall taten, so kann leicht einer davon ein ebenso treuloser Freund sein, als er ein treuloser Untertan ist."[3] Aber die Königin mißbilliget diesen Rat; sie hält es für besser, den ganzen Vorfall zu unterdrücken und es gar nicht bekannt werden zu lassen, daß es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat erkühnen dürfen. "Man muß", sagt sie, "die Welt glauben machen, daß die Könige so wohl bewacht werden, daß es der Verräterei unmöglich ist, an sie zu kommen. Außerordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen, als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der Sünde unzertrennlich; und dieses kann oft ebensosehr anreizen, als jenes abschrecken."[4] Indem wird Essex gemeldet und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem glücklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Königin sagt ihm auf eine sehr verbindliche Weise: "Da ich Euch wieder erblicke, weiß ich von dem Ausgange des Krieges schon genug."[5] Sie will von keinen nähern Umständen hören, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königin und Essex sind allein; das Gespräch wird vertraulicher; Essex hat die Schärpe um; die Königin bemerkt sie, und Essex würde es aus dieser bloßen Bemerkung schließen, daß er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht schon geschlossen hätte. Die Königin hat den Grafen schon längst heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.[6] Es kostet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne Fragen, ihn auszulocken und zu hören, ob sein Herz schon eingenommen, und ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte gibt er ihr durch seine Antworten gewissermaßen zu verstehen, und zugleich, daß er für ebendiese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken sich erkühnen dürfe. Die Königin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen zu geben: doch siegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Ebensosehr hat der Graf mit seinem Stolze zu kämpfen: er kann sich des Gedankens nicht entwehren, daß ihn die Königin liebe, ob er schon die Vermessenheit dieses Gedankens erkennet. (Daß diese Szene größtenteils aus Reden bestehen müsse, die jedes seitab führet, ist leicht zu erachten.) Sie heißt ihn gehen und heißt ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; sie überreicht es ihm; er bedankt sich, und das Seitab fängt mit neuem Feuer an. "Die Königin. Törichte Liebe!-- Essex. Eitler Wahnsinn!-- Die Königin. Wie blind!-- Essex. Wie verwegen!-- Die Königin. So tief willst du, daß ich mich herabsetze?-- Essex. So hoch willst Du, daß ich mich versteige?-- Die Königin. Bedenke, daß ich Königin bin! Essex. Bedenke, daß ich Untertan bin! Die Königin. Du stürzest mich bis in den Abgrund,-- Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne,-- Die Königin. Ohne auf meine Hoheit zu achten. Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen. Die Königin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert:-- Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemächtiget:-- Die Königin. So stirb da, und komm' nie auf die Zunge! Essex. So stirb da, und komm' nie über die Lippen!"[7] (Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden miteinander und reden auch nicht miteinander. Der eine hört, was der andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehört hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele. Man sage jedoch nicht, daß man ein Spanier sein muß, um an solchen unnatürlichen Künsteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreißig Jahre fanden wir Deutsche ebensoviel Geschmack daran; denn unsere Staats-und Heldenaktionen wimmelten davon, die in allem nach den spanischen Mustern zugeschnitten waren.) Nachdem die Königin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab und machen dem ersten Aufzuge ein Ende.--Die Stücke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre allerältesten Stücke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komödien. Virves war der erste, welcher die vier Aufzüge auf drei brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stücke seiner Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern "Neuen Kunst, Komödien zu machen"[8]; mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch finde[9], wo sich dieser den Ruhm anmaßt, die spanische Komödie von fünf Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der spanische Literator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich dabei nicht aufhalten. Miradlo mejor, dejad Un intento tan indigno, Corresponded a quien sois, Y sino bastan avisos, Mirad que hay Verdugo en Londres, Y en vos cabeza, harto os digo. No he de responder al Duque Hasta que el suceso mismo Muestre como fueron falsos De mi traición los indicios, Y que soy más leal, cuando Más traidor he parecido. Y pues son dos los culpados Podrá ser, que alguno de ellos Entregue al otro; que es llano, Que será traidor amigo Quien fué desleal vasallo. Y es gran materia de estado Dar a entender, que los Reyes Están en sí tan guardados Que aunque la traición los busque, Nunca ha de poder hallarlos; Y así el secreto averigüe Enormes delitos, cuando Más que el castigo, escarmientos Dé ejemplares el pecado. Que ya sólo con miraros Sé el suceso de la guerra. No bastaba, amor tírano, Una inclinación tan fuerte, Sin que te hayas ayudado Del deberle yo la vida? Rein. Loco Amor--Cond. Necio imposible-- Rein. Qué ciego--Cond. Qué temerario-- Rein. Me abates a tal bajeza-- Cond. Me quieres subir tan alto-- Rein. Advierte, que soy la Reina-- Cond. Advierte, que soy vasallo-- Rein. Pues me humillas al abismo-- Cond. Pues me acercas a los rayos-- Rein. Sin reparar mi grandeza-- Cond. Sin mirar mi humilde estado-- Rein. Ya que te miro acá dentro-- Cond. Ya que en mí te vas entrando-- Rein. Muere entre el pecho, y la voz. Cond. Muere entre el alma, y los labios. "Arte nuevo de hazer Comedias", die sich hinter des Lope "Rimas" El Capitán Virués; insigne ingenio, Puso en tres actos la Comedia, que antes Andaba en cuatro, como pies de niño, Que eran entonces niñas las Comedias, Y yo las escribí de once, y doce años, De a cuatro actos, y de a cuatro pliegos, Porque cada acto un pliego contenia. [9] In der Vorrede zu seinen Komödien: Donde me atreví a reducir las Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenían. Dreiundsechzigstes Stück Den 8. Dezember 1767 Die Königin ist von dem Landgute zurückgekommen; und Essex gleichfalls. Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen Augenblick vermissen zu lassen. Er eröffnet mit seinem Cosme den zweiten Akt, der in dem königlichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des Grafen, sich mit Pistolen versehen müssen; der Graf hat heimliche Feinde; er besorgt, wenn er des Nachts spät vom Schlosse gehe, überfallen zu werden. Er heißt den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der Blanca zu tragen und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet er die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist eifersüchtig; die Schärpe könnte ihr Gedanken machen; sie könnte sie haben wollen; und er würde sie ihr abschlagen müssen. Indem er sie dem Cosme zur Verwahrung übergibt, kömmt Blanca dazu. Cosme will sie geschwind verstecken: aber es kann so geschwind nicht geschehen, daß es Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Königin; und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schärpe reinen Mund zu halten und sie niemanden zu zeigen. Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, daß er ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er fürchtet ein Geschwär im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er sich dieser Gefahr bereits sechsunddreißig Stunden ausgesetzt habe.[1] Er gibt Floren die Pistolen und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte von der maskierten Dame und der Schärpe zu erzählen. Doch eben besinnt er sich, daß es wohl eine würdigere Person sein müsse, der er sein Geheimnis zuerst mitteile. Es würde nicht lassen, wenn sich Flora rühmen könnte, ihn dessen defloriert zu haben.[2] (Ich muß von allerlei Art des spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.) Cosme darf auf diese würdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neugierde viel zu sehr gequält, daß sie sich nicht, sobald als möglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme vorhin so hastig vor ihr zu verbergen gesucht. Sie kömmt also sogleich zurück, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr geantwortet, daß er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn; doch Cosme läßt nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schärpe weiß; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines Geheimnisses entlediget, ist äußerst ekel. Sein Magen will es nicht länger bei sich behalten; es stößt ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den Finger in den Hals; er gibt es von sich, und um einen bessern Geschmack wieder in den Mund zu bekommen, läuft er geschwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen.[3] Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwätze zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, daß die Schärpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden könnte, wenn er es nicht schon sei. "Denn er ist doch nur ein Mann", sagt sie. "Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste ist noch so schlimm! "[4]--Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie ihn je eher je lieber heiraten. Die Königin tritt herein und ist äußerst niedergeschlagen. Blanca fragt, ob sie die übrigen Hofdamen rufen soll: aber die Königin will lieber allein sein; nur Irene soll kommen und vor dem Zimmer singen. Blanca geht auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern kömmt der Graf. Essex liebt die Blanca: aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber der Königin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er bestraft sich deswegen; sein Herz gehört der Blanca; eigennützige Absichten müssen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Konvenienz muß keinen echten Affekt besiegen.[5] Er will sich also lieber wieder entfernen, als er die Königin gewahr wird: und die Königin, als sie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem fängt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: "Sollten meine verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: oh, so laß das Mitleid, welches sie verdienen, den Unwillen überwältigen, den du darüber empfindest, daß ich es bin, der sie führet." Der Königin gefällt das Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte Weise, seine Liebe zu erklären. Er sagt, er habe es glossieret[6] und bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu dürfen. In dieser Glosse beschreibt er sich als den zärtlichsten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die Königin lobt seine Poesie: aber sie mißbilliget seine Art zu lieben. "Eine Liebe", sagt sie unter andern, "die man verschweigt, kann nicht groß sein; denn Liebe wächst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig." --Yo no me acordaba De decirlo, y lo callaba. Y como me lo entregó, Ya por decirlo reviento, Que tengo tal propiedad, Que en un hora, o la mitad, Se me hace postema un cuento. Allá va Flora; mas no, Será persona más grave-- No es bien que Flora se alabe Que el cuento me desfloró. Ya se me viene a la boca La purga.-- O que regüeldos tan secos Me vienen! terrible aprieto.-- Mi estómago no lo lleva; Protesto que es gran trabajo, Meto los dedos.-- Y pues la purga he trocado, Y el secreto he vomitado Desde el principio hasta el fin, Y sin dejar cosa alguna, Tal asco me dió al decillo, Voy a probar de en membrillo, O a morder de una accituna.-- Es hombre al fin, y ay! de aquella Que a un hombre fiò su honor, Siendo tan malo, el mejor. Abate, abate las alas No subas tanto, busquemos Más proporcionada esfera A tan limitado vuelo. Blanca me quiere, y a Blanca Adoro yo ya en mi dueño; Pues cómo de amor tan noble Por una ambición me alejo? No conveniencia bastarda Venza un legítimo afecto. [6] Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche sie Glosas nennen. Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte und erklären oder umschreiben diesen Text so, daß sie die Zeilen selbst in diese Erklärung oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heißen sie Mote oder Letra, und die Auslegung insbesondere Glosa, welches denn aber auch der Name des Gedichts überhaupt ist. Hier läßt der Dichter den Essex das Lied der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile schließt. Das Ganze sieht so aus: Si acaso mis desvaríos Llegaren a tus umbrales, La lástima de ser males Quite el horror de ser míos. Glosa. Aunque el dolor me provoca Decir mis quejas no puedo, Que es mi osadía tan poca, Que entre el respeto, y el miedo Se me mueren en la boca; Y así no llegan tan míos Mis males a tus orejas, Porque no han de ser oídos Si acaso digo mis quejas, Si acaso mis desvaríos. El ser tan mal explicados Sea su mayor indicio, Que trocando en mis cuidados El silencio, y vos su oficio, Quedarán más ponderados: Desde hoy por estas señales Sean de tí conocidos, Que sin duda son mis males Si algunos mal repetidos Llegaren a tus umbrales. Mas ay Dies! que mis cuidados De tu crueldad conocidos, Aunque más acreditados, Serán menos adquiridos. Que con los otros mezclados: Porque no sabiendo a cuales Más tu ingratitud se deba Viéndolos todos iguales Fuerza es que en común te mueva La lástima de ser males. En mi este afecto violento Tu hermoso desdén le causa; Tuyo, y mío es mi tormento; Tuyo, porque eres la causa; Y mío, porque yo le siento: Sepan, Laura, tus desvíos Que mis males son tan suyos, Y en mis cuerdos desvaríos Esto que tienen de tuyos Quite el horror de ser míos. Es müssen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein als diese. Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote schließt, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschränken und diese mehr als einmal wiederholen. übrigens gehören diese Glossen unter die älteren Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen. Vierundsechzigstes Stück Den 11. Dezember 1767 Der Graf versetzt, daß die vollkommenste Liebe die sei, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen selbst mache sein Glück: denn solange er seine Liebe verschweige, sei sie noch unverworfen, könne er sich noch von der süßen Vorstellung täuschen lassen, daß sie vielleicht dürfe genehmiget werden. Der Unglückliche sei glücklich, solange er noch nicht wisse, wie unglücklich er sei.[1] Die Königin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran gelegen ist, daß Essex nicht länger darnach handle: und Essex, durch diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen, von welchem die Königin behauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weise wagen müsse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um, die sie dem Cosme abgenommen, welches zwar die Königin, aber nicht Essex gewahr wird.[2] "Essex. So sei es gewagt!--Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hilfsmittel sterben kann? Was fürchte ich noch?--Königin, wann denn also,-- Blanca. Der Herzog, Ihre Majestät,-- Essex. Blanca könnte nicht ungelegener kommen. Blanca. Wartet in dem Vorzimmer,-- Die Königin. Ah! Himmel! Blanca. Auf Erlaubnis,-- Die Königin. Was erblicke ich? Blanca. Hereintreten zu dürfen. Die Königin. Sag ihm--Was seh' ich!--Sag ihm, er soll warten.--Ich komme von Sinnen!--Geh, sag ihm das. Blanca. Ich gehorche. Die Königin. Bleib! Komm her! näher! Blanca. Was befehlen Ihro Majestät?-- Die Königin. Oh, ganz gewiß!--Sage ihm--Es ist kein Zweifel mehr!-- Geh, unterhalte ihn einen Augenblick,--Weh, mir!--Bis ich selbst zu ihm herauskomme. Geh, laß mich! Blanca. Was ist das?--Ich gehe. Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren,-- Die Königin. Ha, Eifersucht! Essex. Mich zu erklären.--Was ich wage, wage ich auf ihre eigene Die Königin. Mein Geschenk in fremden Händen! Bei Gott!--Aber ich muß mich schämen, daß eine Leidenschaft so viel über mich vermag! Essex. Wenn denn also,--wie Ihre Majestät gesagt, und wie ich einräumen muß,--das Glück, welches man durch Furcht erkauft,--sehr teuer zu stehen kömmt; wenn man viel edler stirbt:--so will auch Die Königin. Warum sagen Sie das, Graf? Essex. Weil ich hoffe, daß, wann ich--Warum fürchte ich mich noch?-- wann ich Ihre Majestät meine Leidenschaft bekannte,--daß einige Die Königin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie? Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin? Und wer Sie sind? Ich muß glauben, daß Sie den Verstand verloren.--" Und so fahren Ihre Majestät fort, den armen Grafen auszufenstern, daß es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel über alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, daß der Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurückbrausen müsse? Ob er nicht wisse, daß die Dünste, welche sich zur Sonne erhüben, von ihren Strahlen zerstreuet würden?--Wer vom Himmel gefallen zu sein glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschämt zurück und bittet um Verzeihung. Die Königin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder zu betreten und sich glücklich zu schätzen, daß sie ihm den Kopf lasse, in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen können.[3] Er entfernt sich; und die Königin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie wenig ihr Herz mit ihren Reden übereinstimme. Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Bühne zu füllen. Blanca hat dem Herzog es frei gestanden, auf welchem Fuße sie mit dem Grafen stehe; daß er notwendig ihr Gemahl werden müsse, oder ihre Ehre sei verloren. Der Herzog faßt den Entschluß, den er wohl fassen muß; er will sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht er sogar, sich bei der Königin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle. Die Königin kommt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurück. Sie ist mit sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er scheine. Vielleicht, daß es eine andere Schärpe war, die der ihrigen nur so ähnlich ist.--Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde sich näher darüber erklären; er wolle sie zusammen allein lassen: und so läßt er sie. Die Königin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschließt sich Blanca, zu reden. Sie will nicht länger von dem veränderlichen Willen eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht länger anheimstellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau, nicht die Königin. Denn da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen müsse: so suche sie in ihr nicht die Königin, sondern nur die Frau.[4] --El más verdadero amor Es el que en sí mismo quieto Descansa, sin atender A más paga, o más intento: La correspondencia es paga, Y tener por blanco el precio Es querer per granjeria.-- Dentro está del silencio, y del respeto Mi amor, y así mi dicha está segura, Presumiendo tal vez (dulce locura!) Que es admitido del mayor suieto. Dejándome engañar de este concepto, Dura mi bien, porque mi engaño dura; Necia será la lengua, si aventura Un bien que está seguro en el secreto.-- Que es feliz quien no siendo venturoso Nunca llega á saber, que es desdichado. Por no morir de mal, cuando Puedo morir de remedio, Digo pues, ea, osadía, Ella me alentó, qué temo?-- Que será bien que a tu Alteza-- (Sale Blanca con la banda puesta.) Bl. Señora, el duque--Cond. A mal tiempo Viene Blanca. Bl. Está aguardando En la antecámara--Rein. Ay, cielo! Bl. Para entrar--Rein. Qué es lo que miro! Bl. Licencia. Rein. Decid;--qué veo!-- Decid que espere;--estoy loca! Decid, andad. Bl. Ya obedezco. Rein. Venid acá, volved. Bl. Qué manda Vuestra Alteza? Rein. Ei daño es cierto. Decidle--no hay que dudar-- Entretenedle un momento-- Ay de mí!--miéntras yo salgo-- Y dejadme. Bl. Qué es aquesto? Y voy. Cond. Ya Blanca se fué, Quiero pues volver--Rein. Ha celos! Cond. A declararme atrevido, Pues si me atrevo, me atrevo En fé de sus pretensiones. Rein. Mi prenda en poder ajeno? Vive Dios, pero es vergüenza Que pueda tanto un afecto En mí. Cond. Según lo que dijo Vuestra Alteza aquí, y supuesto, Que cuesta cara la dicha, Que se compra con el miedo, Quiero morir noblemente. Rein. Porqué lo decís? Cond. Qué espero Si á vuestra Alteza (que dudo!) Le declarase mi afecto, Algun amor--Rein. Que decís? A mí? cómo, loco, necio, Conoceisme? Quien soy yo? Decid, quién soy? que sospecho, Que se os huyó la memoria.-- --No me veais, Y agradeced el que os dejo Cabeza, en que se engendraron Tan livianos pensamientos. --Ya estoy resuelta; No a la voluntad mudable De un hombre esté yo sujeta, Que aunque no sé que me olvide, Es necedad, que yo quiera Dejar á su cortesía Lo que puede hacer la fuerza. Gran Isabela, escuchadme, Y al escucharme tu Alteza, Ponga aun más que la atención, La piedad con las orejas. Isabela os he llamado En esta ocasión, no Reina, Que cuando vengo a deciros Del honor una flaqueza Que he hecho como mujer, Porque mejor os parezca, No Reina, mujer os busco. Sólo mujer os quisiera.-- Fünfundsechzigstes Stück Den 15. Dezember 1767 Du? mir eine Schwachheit? fragt die Königin. "Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Tränen, sind vermögend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer kömmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf-- Die Königin. Der Graf? Was für ein Graf?-- Blanca. Von Essex. Die Königin. Was höre ich? Blanca. Seine verführerische Zärtlichkeit-- Die Königin. Der Graf von Essex? Blanca. Er selbst, Königin.-- Die Königin (beiseite). Ich bin des Todes!--Nun? weiter! Blanca. Ich zittere.--Nein, ich darf es nicht wagen--" Die Königin macht ihr Mut und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hören wünscht. Sie höret, wo und wie der Graf glücklich gewesen;[1] und als sie endlich auch höret, daß er ihr die Ehe versprochen, und daß Blanca auf die Erfüllung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange zurückgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhöhnet das leichtgläubige Mädchen auf das empfindlichste und verbietet ihr schlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca errät ohne Mühe, daß dieser Eifer der Königin Eifersucht sein müsse: und gibt es ihr zu verstehen. "Die Königin. Eifersucht?--Nein; bloß deine Aufführung entrüstet mich. --Und gesetzt,--ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich,--ich ihn liebte, und eine andere wäre so vermessen, so töricht, ihn neben mir zu lieben,--was sage ich, zu lieben?--ihn nur anzusehen,--was sage ich, anzusehen?--sich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten?--Du siehest, wie sehr mich eine bloß vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun würde. Itzt stelle ich mich nur eifersüchtig. Hüte dich, mich es wirklich zu Mit dieser Drohung geht die Königin ab und läßt die Blanca in der äußersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, über die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königin hat ihr Vater und Bruder und Vermögen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon beschlossen: aber warum soll Blanca noch erst warten, bis sie ein anderer für sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Königin muß sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen.--Sie sieht die Königin mit dem Kanzler wiederkommen und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefaßt zu machen. Der Kanzler hält verschiedne Briefschaften, die ihm die Königin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die außerordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschäften obliege; die Königin erkennt es für ihre Pflicht und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und anständigern Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Hände nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muß es denn eben", sagt sie, "von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkömmt!" Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zu Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem Bruder des Todes Linderung suchen: und so fällt sie in Schlaf. Indem tritt Blanca herein und hat eine von den Pistolen des Grafen, die sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Königin allein und entschlafen: was für einen bequemem Augenblick könnte sie sich wünschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht und sie in ihrem Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel errät man, was nun geschieht. Er kömmt also, sie hier zu suchen; und kömmt eben noch zurecht, der Blanca in den mörderischen Arm zu fallen und ihr die Pistole, die sie auf die Königin schon gespannt hat, zu entreißen. Indem er aber mit ihr ringt, geht der Schuß los: die Königin erwacht, und alles kömmt aus dem Schlosse herzugelaufen. "Die Königin (im Erwachen). Ha! Was ist das? Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das für ein Knall in dem Zimmer der Königin? Was geschieht hier? Essex (mit der Pistole in der Hand). Grausamer Zufall! Die Königin. Was ist das, Graf? Essex. Was soll ich tun? Die Königin. Blanca, was ist das? Blanca. Mein Tod ist gewiß! Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich! Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verräter? Essex (beiseite). Wozu soll ich mich entschließen? Schweige ich: so fällt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner teuersten Blanca. Die Königin. Sind Sie der Verräter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich hörte im Schlafe euch beide rufen: Verräterin! Verräter! Und doch kann nur eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig, Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt?--Wohl, schweigt nur! Ich will in dieser Ungewißheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht dürfte es mich ebensosehr schmerzen, meinen Beschützer zu erfahren, als meinen Feind. Ich will der Blanca gern ihre Verräterei vergeben, ich will sie ihr verdanken: wenn dafür der Graf nur unschuldig war."[3] Aber der Kanzler sagt: wenn es die Königin schon hierbei wolle bewenden lassen, so dürfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu groß; sein Amt erfodere, es zu ergründen; besonders da aller Anschein sich wider den Grafen erkläre. "Die Königin. Der Kanzler hat recht; man muß es untersuchen.--Graf,-- Essex. Königin!-- Die Königin. Bekennen Sie die Wahrheit.--(Beiseite.) Aber wie sehr fürchtet meine Liebe, sie zu hören! War es Blanca? Essex. Ich Unglücklicher! Die Königin. War es Blanca, die meinen Tod wollte? Essex. Nein, Königin; Blanca war es nicht. Die Königin. Sie waren es also? Essex. Schreckliches Schicksal!--Ich weiß nicht. Die Königin. Sie wissen es nicht?--Und wie kömmt dieses mörderische Werkzeug in Ihre Hand?--" Der Graf schweigt, und die Königin befiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgeführt, und der zweite Aufzug schließt. bl. le llamé una noche obscura-- rein. y vino a verte? bl. pluguiera a dios, que no fuera tanta mi desdicha, y su fineza. vino más galán que nunca, y yo que dos veces ciega, por mi mal, estaba entónces del amor, y las tinieblas-- rein. este es celo, blanca. bl. celos, añadiéndole una letra. rein. qué decis? bl. señora, que si acaso posible fuera, a no ser vos la que dice esas palabras, dijera, que eran celos. rein. qué son celos? no son celos, es ofensa que me estais haciendo vos. supongamos, que quisiera al conde en esta ocasión; pues si yo al conde quisiera y alguna atrevida, loca presumida, descompuesta le quisiera, qué es querer? que le mirara, o le viera; qué es verle? no sé que diga. no hay cosa que ménos sea-- no la quitara la vida? la sangre no le bebiera?-- los celos, aunque fingidos, me arrebataron la lengua, y dispararon mi enojo-- mirad que no me deis celos, que si fingidos se altera tanto mi enojo, ved vos, si fuera verdad, qué hiciera-- escarmentad en las burlas, no me deis celos de veras. conde, vos traidor? vos, blanca? el juicio está indiferente, cual me libra, cual me mata. conde, bianca, respondedme! tu á la reina? tu á la reina? oid, aunque confusamente: ha, traidora, dijo el conde. blanca, dijo: traidor eres. estas razones de entrambos a entrambas cosas convienen: uno de los dos me libra, otro de los me ofende. conde, cuál me daba vida? blanca, cuál me daba muerte? decidme!--no lo digais, que neutral mi valor quiere, per no saber el traidor, no saber el inocente. mejor es quedar confusa, en duda mi juicio quede, porque cuando mire a alguno, y de la traición me acuerde, a pensar, que es el traidor, que es el leal también piense. yo le agradeciera á blanca, que ella la traidora fuese, solo á trueque de que el conde fuera él, que estaba inocente.-- Sechsundsechzigstes Stück Den 18. Dezember 1767 Der dritte Aufzug fängt sich mit einer langen Monologe der Königin an, die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht gesparet, um ihn weder als ihren Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu dürfen. Besonders geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit; sie denkt über diesen Punkt überhaupt lange so zärtlich und sittsam nicht, als wir es wohl wünschen möchten, und als sie auf unsern Theatern denken müßte.[1] Es kommen der Herzog und der Kanzler: jener, ihr seine Freude über die glückliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen Beweis, der sich wider den Essex äußert, vorzulegen. Auf der Pistole, die man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehört ihm; und wem sie gehört, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen. Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewußten Briefe nach Schottland abgehen wollen und ist angehalten worden. Seine Reise sieht einer Flucht sehr ähnlich, und solche Flucht läßt vermuten, daß er an dem Verbrechen seines Herrn Anteil könne gehabt haben. Er wird also vor den Kanzler gebracht, und die Königin befiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhören. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann man leicht erraten. Er weiß von nichts; und als er sagen soll, wo er hingewollt, läßt er sich um die Wahrheit nicht lange nötigen. Er zeigt den Brief, den ihm sein Graf an einen andern Grafen nach Schottland zu überbringen befohlen: und man weiß, was dieser Brief enthält. Er wird gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hört, wohin es damit abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er über den Schluß desselben, worin der Überbringer ein Vertrauter heißt, durch den Roberto seine Antwort sicher bestellen könne. "Was höre ich?" ruft Cosme. "Ich ein Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein.--Habe ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich möchte doch wissen, was mein Herr an mir gefunden hätte, um mich dafür zu nehmen. Ich, ein Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiß zum Exempel, daß Blanca und mein Herr einander lieben, und daß sie heimlich miteinander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdrücken wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie hübsch sehen, meine Herren, was für ein Vertrauter ich bin. Schade, daß es nicht etwas viel Wichtigeres ist: ich würde es ebensowohl sagen."[2] Diese Nachricht schmerzt die Königin nicht weniger, als die Überzeugung, zu der sie durch den unglücklichen Brief von der Verräterei des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu müssen und der Königin nicht länger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufälligerweise angehört habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verräters, und sobald die Königin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestät, als gekränkte Liebe, des Grafen Tod zu beschließen. Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm in das Gefängnis. Der Kanzler kömmt und eröffnet dem Grafen, daß ihn das Parlament für schuldig erkannt und zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld. "Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber so viele Beweise wider Sie!--Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhändiger Name? Essex. Allerdings ist er es. Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdrücklich den Tod der Königin beschließen hören? Essex. Was er gehört hat, hat er freilich gehört. Der Kanzler. Sahe die Königin, als sie erwachte, nicht die Pistole in Ihrer Hand? Gehört die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht Essex. Ich kann es nicht leugnen. Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig. Essex. Das leugne ich. Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, daß Sie den Brief an den Roberto schrieben? Essex. Ich weiß nicht. Der Kanzler. Wie kam es denn, daß der Herzog den verräterischen Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen mußte? Essex. Weil es der Himmel so wollte. Der Kanzler. Wie kam es denn, daß sich das mörderische Werkzeug in Ihren Händen fand? Essex. Weil ich viel Unglück habe. Der Kanzler. Wenn alles das Unglück, und nicht Schuld ist: wahrlich, Freund, so spielst Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen müssen. Essex. Schlimm genug."[3] "Wissen Ihre Gnaden nicht", fragt Cosme, der dabei ist, "ob sie mich etwa mit hängen werden?" Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr hinlänglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu verstatten, daß er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen dürfe. Der Kanzler bedauert, daß er, als Richter, ihm diese Bitte versagen müsse; weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich, als möglich, geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er vielleicht sowohl unter den Großen, als unter dem Pöbel in Menge haben möchte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wünschte bloß deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht mündlich tun dürfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein Leben für sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge führen, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er sie beschwören, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen. No pudo ser que mintiera Blanca en lo que me contó De gozarla el Conde? No, Que Blanca no lo fingiera: No pudo haberla gozado, Sin estar enamorado, Y cuando tierno y rendido, Entónces la haya querido, No puede haberla olvidado? No le vieron mis antoios Entre acogimientos sabios, Muy callando con los labios, Muy bachiller con los ojos, Cuando al decir sus enojos Yo su despecho reñí? Qué escucho? Señores míos, Dos mil demonios me lleven, Si yo confidente soy, Si lo he sido, o si lo fuere, Ni tengo intención de serlo. --Tengo yo Cara de ser confidente? Yo no sé que ha visto en mi Mi amo para tenerme En esta opinion; y á fe, Que me holgara de que fuese Cosa de más importancia Un secretillo muy leve, Que rabio ya per decirlo, Que es que el Conde a Blanca quiere, Que están casados los dos En secreto-- Con. Sólo el descargo que tengo Es el estar inocente. Senescal. Aunque yo quiera creerlo No me dejan los indicios, Y advertid, que ya no es tiempo De dilación, que mañana Habeis de morir. Con. Yo muero Inocente. Sen. Pues decid: No escribísteis a Roberto Esta carta? Aquesta firma No es la vuestra? Con. No lo niego. Sen. El gran duque de Alanzón No os oyó en el aposento De Blanca trazar la muerte De la Reina? Con. Aqueso es cierto. Sen. Cuando despertó la Reina No os halló, Conde, a vos mesmo Con la pistola en la mano? Y la pistola que vemos Vuestro nombre allí gravado No es vuestro? Con. Os lo concedo. Sen. Luego vos estais culpado. Con. Eso solamente niego. Sen. Pues como escribísteis, Conde, La carta al traidor Roberto? Con. No lo sè. Sen. Pues cómo el Duque, Que escuchó vuestros intentos, Os convence en la traición? Con. Porque así lo quiso el cielo. Sen. Cómo hallado en vuestra mano Os culpa el vil instrumento? Con. Porque tengo poca dicha.-- Sen. Pues sabed, que si es desdicha Y no culpa, en tanto aprieto Os pone vuestra fortuna, Conde amigo, que supuesto Que no dais otro descargo, En fe de indicios tan ciertos, Mañana vuestra cabeza Ha de pagar-- Siebenundsechzigstes Stück Den 22. Dezember 1767 Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet hätte. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefängnis hereintritt. Es ist die Königin. "Der Graf", sagt sie vor sich im Hereintreten, "hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genüge geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!"[1] Indem sie näher kommt, wird sie gewahr, daß der Graf schreibt. "Ohne Zweifel", sagt sie, "an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennützigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht!--Graf!" --Der Graf hört sich rufen, sieht hinter sich und springt voller Erstaunen auf. "Was seh' ich!"--"Keinen Traum", fährt die Königin fort, "sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu überzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren.--Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich höre, daß Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben für Leben zu geben. Ich habe den Schlüssel des Gefängnisses zu bekommen gewußt. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park öffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist."-- "Essex. Teuer? Ihnen, Madame? Die Königin. Würde ich sonst soviel gewagt haben, als ich wage? Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glück selbst unglücklich zu machen. Ich scheine glücklich, weil die mich zu befreien kömmt, die meinen Tod will: aber ich bin um so viel unglücklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet."[2]-- Die Königin verstehet hieraus genugsam, daß sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gänzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen. "Die Königin. Und mit welcher? Essex. Mit der, Madame, von der ich weiß, daß sie in Ihrem Vermögen steht,--mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Königin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwöre ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu Die Königin (vor sich). Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, daß er sich rechtfertiget! Das wünsche ich ja nur. Essex. Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame. Die Königin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schlüssel; von ihm hängt Ihr Leben ab. Was ich itzt für Sie tun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.[3] Essex (indem er den Schlüssel nimmt). Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank.--Und nun, Madame,--ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Königin, oder dem Ihrigen zu lesen. Die Königin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehört doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken, (indem sie die Maske abnimmt) ist der Königin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr. Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und auch mir müßte diese Wohltat des Gesetzes zustatten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Königin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet--.[4] Die Königin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr Verbrechen, Graf, ist größer als Ihre Dienste. Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königin zu versprechen? Die Königin. Nichts. Essex. Wenn die Königin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl gütiger mit mir Die Königin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat Ihnen den Weg geöffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen. Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir ihr Leben schuldig ist? Die Königin. Sie haben schon gehört, daß ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt, ich wäre es: gebe ich Ihnen nicht ebensoviel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe? Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüssel Die Königin. Dadurch allerdings. Essex. Der Weg, den mir dieser Schlüssel eröffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muß nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Königin, mich mit diesem Schlüssel für die Reiche, die ich ihr erfochten, für das Blut, das ich um sie vergossen, für das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schlüssel für alles das abzulohnen?[5] Ich will mein Leben einem anständigem Mittel zu danken haben, oder sterben (indem er nach dem Fenster geht). Die Königin. Wo gehen Sie hin? Essex. Nichtwürdiges Werkzeug meines Lebens und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! (Er eröffnet das Fenster und wirft den Schlüssel durch das Gitter in den Kanal.) Durch die Flucht wäre mein Leben viel zu teuer erkauft.[6] Die Königin. Was haben Sie getan, Graf?--Sie haben sehr übel getan. Essex. Wenn ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, daß ich eine undankbare Königin hinterlasse.--Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanständigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr, sie zu belohnen oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen. Die Königin. Ich muß das letztere Gefahr laufen.--Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Würde, für Sie nicht tun. Essex. So muß ich denn sterben? Die Königin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königin muß dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen müssen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Könige, daß sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können, als andere. --Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!--" el conde me dió la vida y así obligada me veo; el conde me daba muerte, y así ofendida me quejo. pues ya que con la sentencia esta parte he satisfecho, pues complí con la justicia, con el amor cumplir quiero.-- ingeniosa mi fortuna halló en la dicha más nuevo modo de hacerme infeliz, pues cuando dichoso veo, que me libra quien me mata, tambien desdichado advierto, que me mata quien me libra. pues si esto ha de ser, primero tomad, conde, aquesta llave, que si ha de ser instrumento de vuestra vida, quizá tan otra, quitando el velo, seré, que no pueda entónces hacer lo que ahora puedo, y como á daros la vida me empeñé por lo que os debo, por si no puedo después, de esta suerte me prevengo. moriré yo consolado. aunque si por privilegio en viendo la cara al rey queda perdonado el reo; yo de este indulto, señora vida por ley me prometo: esto es en común, que es lo que a todos da el derecho; pero si en particular merecer el perdón quiero, oíd, vereis que me ayuda mayor indulto en mis hechos. mis hazañas-- luego esta, que así camino abrirá a mi vida, abriendo, también lo abrirá a mi infamia; luego esta, que instrumento de mi libertad, también lo habrá de ser de mi miedo. esta, que sólo me sirve de huir, es el desempeño de reinos, que os he ganado, de servicios, que os he hecho. y en fin, de esa vida, de esa, que teneis hoy por mi esfuerzo? en esta se cifra tanto?-- vil instrumento de mi vida, y de mi infamia, por esta reja cayendo del parque, que bate el río, entre sus crístales quiero, si sois mi esperanza, hundiros; caed al húmido centro, donde el tamásis sepulte mi esperanza, y mi remedio. Achtundsechzigstes Stück Den 25. Dezember 1767 Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Königin, gehen ab; jedes von einer besondern Seite. Im Herausgehen, muß man sich einbilden, hat Essex Cosmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick darauf kömmt dieser damit herein und sagt, daß man seinen Herrn zum Tode führe; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es versprochen, übergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine Neugierde. "Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung? die käme ein wenig zu spät. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch wohl nicht. Nun was denn?" Er wird immer begieriger; zugleich fällt ihm ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet hätte, daß er nicht gewußt, was in dem Briefe seines Herrn stünde. "Wäre ich nicht", sagt er, "bei einem Haare zum Vertrauten darüber geworden? Hol' der Geier die Vertrautschaft! Nein, das muß mir nicht wieder begegnen!" Kurz, Cosme beschließt den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natürlich, daß ihn der Inhalt äußerst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige und gefährliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu können; er zittert über den bloßen Gedanken, daß man es in seinen Händen finden könne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Königin zu bringen. Eben kömmt die Königin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler nur erst abfertigen lassen; und tritt beiseite. Die Königin erteilt dem Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon erfahren, bis der geköpfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und Gehorsam zurufe.[1] Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen und, nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die Großen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern und ihnen einzuschärfen, daß ihre Königin ebenso strenge zu sein wisse, als sie gnädig sein zu können wünsche: und das alles, wie sie der Dichter sagen läßt, nach Gebrauch und Sitte des Landes.[2] Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Königin an. "Diesen Brief", sagt er, "hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode der Blanca einzuhändigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiß selbst nicht warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestät wissen müssen, und die dem Grafen vielleicht noch zustatten kommen können: so bringe ich ihn Ihro Majestät, und nicht der Blanca." Die Königin nimmt den Brief und lieset: "Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergönnen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verräter gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der bewußten Sache behilflich zu sein, bloß um der Königin desto nachdrück- licher zu dienen und den Roberto, nebst seinen Anhängern, nach London zu locken. Urteile, wie groß meine Liebe ist, da ich demohngeachtet eher selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung: stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich nun nicht mehr; und es möchte sich nicht alle Tage einer finden, der dich so sehr liebte, daß er den Tod des Verräters für dich sterben wollte. "[3]-- "Mensch!" ruft die bestürzte Königin, "was hast du mir da gebracht?" "Nun?" sagt Cosme, "bin ich noch ein Vertrauter?"--"Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten!--Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich,--den Grafen,--geschwind!"--Und eben wird er gebracht: sein Leichnam nämlich. So groß die Freude war, welche die Königin auf einmal überströmte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so groß sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern!-- So schließt sich dieses Stück, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wüßte kein einziges, welches man uns übersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilet hätte. Denn die "Virginia" des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch geschrieben; aber kein spanisches Stück. ein bloßer Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmäßig, aber frostig. Ich bekenne sehr gern, daß ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehedem muß gedacht haben.[4] Wenn das zweite Stück des nämlichen Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation, welche ebendiesen Weg betreten wollen, ihn nicht glücklicher betreten haben: so mögen sie mir es nicht übelnehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen. Die echten spanischen Stücke sind vollkommen nach der Art dieses "Essex". In allen einerlei Fehler, und einerlei Schönheiten: mehr oder weniger; das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den Schönheiten dürfte man mich fragen.--Eine ganze eigne Fabel; eine sehr sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Würde und Stärke im Ausdrucke.-- Das sind allerdings Schönheiten: ich sage nicht, daß es die höchsten sind; ich leugne nicht, daß sie zum Teil sehr leicht bis in das Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatürliche können getrieben werden, daß sie bei den Spaniern von dieser Übertreibung selten frei sind. Aber man nehme den meisten französischen Stücken ihre mechanische Regelmäßigkeit: und sage mir, ob ihnen andere, als Schönheiten solcher Art, übrig bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung und Theaterstreiche und Situationen? Anständigkeit: wird man sagen.--Nun ja; Anständigkeit. Alle ihre Verwicklungen sind anständiger, und einförmiger; alle ihre Theaterstreiche anständiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen anständiger, und gezwungner. Das kömmt von der Anständigkeit! Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so berüchtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloß mit der Anständigkeit stritte,--man versteht schon, welche Anständigkeit ich meine;--wenn sie weiter keinen Fehler hätte, als daß sie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Großen verlangen, daß sie der Lebensart, der Etikette, dem Zeremoniell und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die man den größern Teil der Menschen bereden will, daß es einen kleinern gäbe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so würde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß, willkommner sein, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heißen, unfehlbar einschläfert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung. Hasta que el tronco cadáver Le sirva de muda lengua. Y así al salón de palacio Hareis que llamados vengan Los Grandes y los Milordes, Y para que allí le vean, Debajo de una cortina Hareis poner la cabeza Con el sangriento cuchillo, Que amenaza junto a ella, Por símbolo de justicia, Costumbre de Inglaterra: Y en estando todos juntos, Monstrándome justiciera, Exhortándolos primero Con amor a la obediencia, Les mostraré luego al Conde, Para que todos atiendan, Que en mi hay rigor que los rinda, Si hay piedad que los atreva. Blanca, en el último trance, Porque hablarte no me dejan, He de escribirte un consejo, Y también una advertencia; La advertencia es, que yo nunca Fuí traidor, que la promesa De ayudar en lo que sabes, Fué por servir a la Reina, Cogiendo a Roberto en Londres, Y a los que seguirle intentan; Para aquesto fué la carta: Esto he querido que sepas, Porque adviertas el prodigio De mi amor, que así se deja Morir, por guardar tu vida. Esta ha sido la advertencia: (Valgame dios!) el consejo Es, que desistas la empresa A que Roberto te incita. Mira que sin mí te quedas Y no ha de haber cada día Quien, por mucho que te quiera, Por conservarte la vida Por traidor la suya pierda.-- [4] "Theatralische Bibliothek", erstes Stück, S. 117. Neunundsechzigstes Stück Den 29. Dezember 1767 Lope de Vega, ob er schon als der Schöpfer des spanischen Theaters betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einführte. Das Volk war bereits so daran gewöhnt, daß er ihn wider Willen mit anstimmen mußte. In seinem Lehrgedichte über "die Kunst, neue Komödien zu machen", dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darüber. Da er sahe, daß es nicht möglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten für seine Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so müsse er doch seine Grundsätze haben; und es sei besser, auch nur nach diesen mit einer beständigen Gleichförmigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stücke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, können doch noch immer Regeln beobachten und müssen dergleichen beobachten, wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem bloßen Nationalgeschmacke hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des Ernsthaften und Lächerlichen die erste. "Auch Könige", sagt er, "könnet ihr in euern Komödien auftreten lassen. Ich höre zwar, daß unser weiser Monarch (Philipp der Zweite) dieses nicht gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, daß es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Würde eines Königes zuwider glaubte, so mit unter den Pöbel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, daß dieses wieder zur ältesten Komödie zurückkehren heißt, die selbst Götter einführte; wie unter andern in dem "Amphitruo" des Plautus zu sehen: und ich weiß gar wohl, daß Plutarch, wenn er von Menandern redet, die älteste Komödie nicht sehr lobt. Es fällt mir also freilich schwer, unsere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst entfernen: so müssen die Gelehrten schon auch hierüber schweigen. Es ist wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefällt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stücke sehen, als die halb ernsthaft und halb lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der sie einen Teil ihrer Schönheit entlehnet."[1] Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anführe. Ist es wahr, daß uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloß die Fehler seiner Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen, daß wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist. "Man tadelt", sagt einer von unsern neuesten Skribenten, "an Shakespeare --demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jack Fa1staff am besten gekannt und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat--daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß Komisches und Tragisches darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist und oft ebendieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur Tränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgendeinen seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte.--Man tadelt das und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darin natürliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind." "Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen dürfen) der Lebenslauf der großen Staatskörper selbst, insofern wir sie als ebensoviel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und Staatsaktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, daß man beinahe auf die Gedanken kommen möchte, die Erfinder dieser Letztern wären klüger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern sie nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben lächerlich zu machen, wenigstens die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein ließen, sie zu verschönern. Um itzt nichts von der zufälligen Ähnlichkeit zu sagen, daß in diesen Stücken, sowie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten Akteurs gespielt werden,--was kann ähnlicher sein, als es beide Arten der Haupt-und Staatsaktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen? Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft überraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall überlassen? Wie oft sehen wir die größesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gravität behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so kläglich verworren und durcheinander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfängt: wie glücklich sehen wir durch irgendeinen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöset, aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, daß auf die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat und die Zuschauer klatschen oder zischen können, wie sie wollen oder--dürfen. Übrigens weiß man, was für eine wichtige Person in den komischen Tragödien, wovon wir reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt des deutschen Reiches, erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, daß er seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wieviel große Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurst--oder, welches noch ein wenig ärger ist, durch Hanswurst --aufführen gesehen? Wie oft haben die größesten Männer, dazu geboren, die schützenden Genii eines Throns, die Wohltäter ganzer Völker und Zeitalter zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von Hanswurst oder solchen Leuten vereitelt sehen müssen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen, doch gewiß seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragikomödien die Verwicklung selbst lediglich daher, daß Hanswurst durch irgendein dummes und schelmisches Stückchen von seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh' sie sich's versehen können, ihr Spiel verderbt?"-- Wenn in dieser Vergleichung des großen und kleinen, des ursprünglichen und nachgebildeten heroischen Possenspiels--(die ich mit Vergnügen aus einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehört, aber für das deutsche Publikum noch viel zu früh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England würde es das äußerste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers würde auf aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere Großen lernen vors erste an den kauen; und freilich ist der Saft aus einem französischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß schärfer und ihr Magen stärker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal über den "Agathon"[2]. Dieses ist das Werk, von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich es bewundere: da ich mit der äußersten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darüber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgültigen Tone sie davon sprechen. Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, daß es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es darüber verlieren möchte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.) Eligese el sujeto, y no se mire, (Perdonen los preceptos) si es de Reyes, Aunque por esto entiendo, que el prudente, Filipo Rey de España, y Señor nuestro, En viendo un Rey en ellos se enfadaba, O fuese el ver, que al arte contradice, O que la autoridad real no debe Andar fingida entre la humilde plebe, Esto es volver a la Comedia antigua, Donde vemos que Plauto puso Dioses, Como en su Anfitrión lo muestra Júpiter. Sabe Dios, que me pesa de aprobarlo, Porque Plutarco hablando de Menandro, No siente bien de la Comedia antigua, Mas pues del arte vamos tan remotos, Y en España le hacemos mil agravios, Cierren los Doctos esta vez los labios. Lo Trágico, y lo Cómico mezclado, Y Terencio con Séneca, aunque sea, Como otro Minotauro de Pasife, Harán grave una parte, otra ridícula, Que aquesta variedad deleita mucho, Buen ejemplo nos da naturaleza, Que por tal variedad tiene belleza. [2] Zweiter Teil (S. 192). Siebzigstes Stück Den 1. Januar 1768 Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satirische Laune nicht zu sehr vorstäche: so würde man sie für die beste Schutzschrift des komisch- tragischen, oder tragisch-komischen Drama (Mischspiel habe ich es einmal auf irgendeinem Titel genannt gefunden), für die geflissentlichste Ausführung des Gedankens beim Lope halten dürfen. Aber zugleich würde sie auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie würde zeigen, daß eben das Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, ebensogut jedes dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschen- verstand hat, rechtfertigen könne. Die Nachahmung der Natur müßte folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhören; wenigstens keine höhere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, daß er nicht natürlich scheinen könnte; bloß und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaß und Verhältnis, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der künstlichste in diesem Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste. Als Kritikus dürfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so sinnreich aufstützen zu wollen scheinet, würde er ohne Zweifel als eine Mißgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die ersten Versuche der unter ungeschlachteten Völkern wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren Form irgendein Zusammenfluß gewisser äußerlichen Ursachen oder das Ohngefähr den meisten, Vernunft und Überlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte. Er würde schwerlich sagen, daß die ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) "die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie zu verschönern". Die Worte getreu und verschönert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Mißdeutungen unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen könne; selbst was uns in der Natur mißfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es gibt andere, welche die Verschönerung der Natur für eine Grille halten; eine Natur, die schöner sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur. Beide erklären sich für Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also müßte notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Mühe haben würden, an den Meisterstücken der Alten Geschmack zu finden. Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so große Bewunderer sie auch von der gemeinsten und alltäglichsten Natur sind, sich dennoch wider die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklärten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schöner sein will als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten Anstoß von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklären? Wir würden notwendig zurückkommen und das, was wir von beiden Gattungen erst behauptet, widerrufen müssen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen Haupt-und Staatsaktion, über deren Güte wir streiten, mit dem menschlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig! Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gründlich genug sind, doch gründlichere veranlassen können.--Der Hauptgedanke ist dieser: Es ist wahr, und auch nicht wahr, daß die komische Tragödie, gotischer Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Hälfte getreu nach und vernachlässiget die andere Hälfte gänzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkräfte dabei zu achten. In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet. Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange läuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muß uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten. Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt, und eine nicht bloß auf die andere folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, daß uns die Abstraktion des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdenn verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiß aus dieser Unmöglichkeit selbst Vorteil zu ziehen.-- Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.-- Den fünfundvierzigsten Abend (freitags, den 17. Julius) wurden "Die Brüder" des Herrn Romanus, und "Das Orakel" vom Saint-Foix gespielt. Das erstere Stück kann für ein deutsches Original gelten, ob es schon größtenteils aus den "Brüdern" des Terenz genommen ist. Man hat gesagt, daß auch Molière aus dieser Quelle geschöpft habe; und zwar seine "Männerschule". Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen über dieses Vorgeben: und ich führe Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er hätte sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere (wo dieses Sprüchelchen steht, will mir nicht gleich beifallen); und ich wüßte keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns, die zweite zu ersteigen, weniger behilflich sein könnte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan mehr mutwillig, als gründlich scheinen wollte: der soll wissen, daß selbst der gründliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere et casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, usw. O des Pedanten! würde der Herr von Voltaire rufen. --Ich bin es bloß aus Mißtrauen in mich selbst. "'Die Brüder' des Terenz", sagt der Herr von Voltaire, "können höchstens die Idee zu der Männerschule, gegeben haben. In den 'Brüdern' sind zwei Alte von verschiedner Gemütsart, die ihre Söhne ganz verschieden erziehen; ebenso sind in der 'Männerschule' zwei Vormünder, ein sehr strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Ähnlichkeit. In den 'Brüdern' ist fast ganz und gar keine Intrige: die Intrige in der 'Männerschule' hingegen ist fein und unterhaltend und komisch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, erscheinet bloß auf dem Theater, um niederzukommen. Die Isabelle des Molière ist fast immer auf der Szene und zeigt sich immer witzig und reizend und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung In den 'Brüdern' ist ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, daß ein Alter, der sechzig Jahre ärgerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und höflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der 'Männerschule' aber ist die beste von allen Entwicklungen des Molière; wahrscheinlich, natürlich, aus der Intrige selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht das Schlechteste daran ist, äußerst komisch." Einundsiebzigstes Stück Den 5. Januar 1768 Es scheinet nicht, daß der Herr von Voltaire, seitdem er aus der Klasse bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur noch sowas davon im Gedächtnisse; und das schreibt er auf gut Glück so hin, unbekümmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks sagt, "daß sie bloß auf dem Theater erscheine, um niederzukommen". Sie erscheinet gar nicht auf dem Theater; sie kommt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloß ihre Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle spielen müßte, das läßt sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und Römern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes Mädchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen und Gefahr läuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr ungeschickt.-- Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der mürrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus usw. Was geht mich Donatus an? dürfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben dürfen, daß Donatus den Terenz fleißiger gelesen und besser verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stücke die Rede; es ist noch da; man lese selbst. Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu besänftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Ärgernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber morgen, bei früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelassen hat; die Sängerin, die diesem der Vetter gekauft, will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen, sie soll kochen und backen. In der darauffolgenden vierten Szene des fünften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte nur so obenhin nimmt, als ob er völlig von seiner alten Denkungsart abgehen und nach den Grundsätzen des Micio zu handeln anfangen wolle.[1] Doch die Folge zeigt es, daß man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er sich antun soll, verstehen muß. Denn auch diesen Zwang weiß er hernach so zu nutzen, daß er zu der förmlichsten hämischsten Verspottung seines gefälligen Bruders ausschlägt. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwürfe; er wird nicht freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er Verschwenden nennt, lächerlich zu machen. Dieses erhellet unwider- sprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den Anschein betriegen läßt, und ihn wirklich verändert glaubt.[2] Hic ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores, quam mutavisse. Ich will aber nicht hoffen, daß der Herr von Voltaire meinet, selbst diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geschmält und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere mehr Gelassenheit und Kälte, als man dem Demea zutrauen dürfe. Auch hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet, bei dem geringsten Übergange so feine Schattierungen in acht genommen, daß man nicht aufhören kann, ihn zu bewundern. Nur ist öfters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe sehr nötig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen Künstler, und in dem übrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschäfte ein sehr ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre Stücke überhaupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis sie gespielt waren, als bis man sie gesehen und gehört hatte: so konnten sie es um so mehr überhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermaßen mit unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber einbildet, daß die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen, in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebärde, jede Miene, jede besondere Abänderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzählige Stellen vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdrücken muß. Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesänderung des Demea vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anführen will, weil auf ihnen gewissermaßen die Mißdeutung beruhet, die ich bestreite. Demea weiß nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, daß es sein ehrbarer frommer Sohn ist, für den die Sängerin entführet worden, und stürzt mit dem unbändigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekommt er den Micio zu Gesicht. "Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt meine Söhne, mir sie beide zugrunde richtet! Micio. Oh, so mäßige dich, und komm wieder Demea. Gut, ich mäßige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes Wort entfahren. Laß uns bloß bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte, daß sich ein jeder nur um den seinen bekümmern sollte? Antworte."[3] usw. Wer sich hier nur an die Worte hält und kein so richtiger Beobachter ist, als es der Dichter war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu geschwind austobe, viel zu geschwind diesen gelassenem Ton anstimme. Nach einiger Überlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, daß jeder Affekt, wenn er aufs äußerste gekommen, notwendig wieder sinken müsse; daß Demea, auf den Verweis seines Bruders, sich des ungestümen Jachzorns nicht anders als schämen könne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der Zornige ganz offenbar recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, daß sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Überzeugung zu demütigen. Doch da er über die Wallungen seines kochenden Geblüts nicht so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der überführen will, doch noch immer Zorn bleibt, so macht Donatus die zweite Anmerkung: Non quid dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagte zwar: "Ich mäßige mich, ich bin wieder bei mir": aber Gesicht und Gebärde und Stimme verraten genugsam, daß er sich noch nicht gemäßiget hat, daß er noch nicht wieder bei sich ist. Er bestürmt den Micio mit einer Frage über die andere, und Micio hat alle seine Kälte und gute Laune nötig, um nur zum Worte zu kommen. --Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc, Prope jam excurso spatio mitto-- Mi. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos? Quod prolubium, quae istaec subita est largitas? De. Dicam tibi: Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant, Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono, Sed ex assentando, indulgendo et largiendo, Micio. Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine, Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor; Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet! --De. Eccum adest Communis corruptela nostrum liberum. Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi. De. Repressi, redii, mitto maledicta omnia: Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit, Et ex te adeo est ortum, ne te curares meum, Neve ego tuum? responde!-- Zweiundsiebzigstes Stück Den 8. Januar 1768 Als er endlich dazukommt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringsten nicht überzeugt. Aller Vorwand, über die Lebensart seiner Kinder unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch fängt er wieder von vorne an, zu nergeln. Micio muß auch nur abbrechen und sich begnügen, daß ihm die mürrische Laune, die er nicht ändern kann, wenigstens auf heute Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen läßt, sind meisterhaft.[1] "Demea. Nun gib nur acht, Micio, wie wir mit diesen schönen Grundsätzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht am Ende fahren werden. Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest.--Und nun genug davon! Heute schenke dich mir. Komm, kläre dich auf. Demea. Mag's doch nur heute sein! Was ich muß, das muß ich.--Aber morgen, sobald es Tag wird, geh' ich wieder aufs Dorf, und der Bursche Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte ich. Sei nur heute Demea. Auch das Mensch von einer Sängerin muß mit heraus. Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiß nicht weg wünschen. Nur halte sie auch gut. Demea. Da laß mich vor sorgen! Sie soll in der Mühle und vor dem Ofenloche Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu soll sie mir am heißen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so schwarz geworden, als ein Löschbrand. Micio. Das gefällt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege!--Und alsdenn, wenn ich wie du wäre, müßte mir der Sohn bei ihr schlafen, er möchte wollen oder nicht. Demea. Lachst du mich aus?--Bei so einer Gemütsart freilich kannst du wohl glücklich sein. Ich fühl' es, leider-- Micio. Du fängst doch wieder an? Demea. Nu, nu; ich höre ja auch schon wieder auf." Bei dem "Lachst du mich aus?" des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller Ernst es war, daß er die Sängerin nicht als Sängerin, sondern als eine gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muß über den Einfall des Micio lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: "Lachst du mich aus?" und muß sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeißen. Er verbeißt es auch bald, denn das "Ich fühl' es leider" sagt er wieder in einem ärgerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch ist: so große Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je seltner ihm diese wohltätige Erschütterung ist, desto länger hält sie innerlich an; nachdem er längst alle Spur derselben auf seinem Gesichte vertilgt, dauert sie noch fort, ohne daß er es selbst weiß, und hat auf sein nächstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluß.-- Aber wer hätte wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht? Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns gekommen, verdient daher nicht bloß wegen der Sprache studiert zu werden. Nur muß man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Daß aber dieser Donatus (Aelius) so vorzüglich reich an Bemerkungen ist, die unsern Geschmack bilden können, daß er die verstecktesten Schönheiten seines Autors mehr als irgendein anderer zu enthüllen weiß: das kömmt vielleicht weniger von seinen größern Gaben, als von der Beschaffenheit seines Autors selbst. Das römische Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wurden noch gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Überlieferungen gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des römischen Geschmacks herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hörte; er brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst schwerlich dürfte ausgegrübelt haben. Ich wüßte daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen könnte, als diesen Kommentar des Donatus über den Terenz: und bis das Latein unter unsern Schauspielern üblicher wird, wünschte ich sehr, daß man ihnen eine gute Übersetzung davon in die Hände geben wollte. Es versteht sich, daß der Dichter dabei sein und aus dem Kommentar alles wegbleiben müßte, was die bloße Worterklärung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Übersetzung des Textes ist wäßrig und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr gänzlich;[2] und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Dacier zu brauchen für gut befunden. Es wäre also keine getane Arbeit, was ich vorschlage: aber wer soll sie tun? Die nichts Bessers tun könnten, können auch dieses nicht: und die etwas Bessers tun könnten, werden sich bedanken. Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen--es ist doch sonderbar, daß auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, daß am Ende mit dem Charakter des Demea eine gänzliche Veränderung vorgehe; wenigstens läßt er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. "Je, Kinder", läßt er ihn rufen, "schweigt doch! Ihr überhäuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn, Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloß weil ich einmal ein bißchen freundlich aussehe. Bin ich's denn, oder bin ich's nicht? Ich werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch hübsch, wenn man geliebt wird. Ich will auch gewiß so bleiben. Ich wüßte nicht, wenn ich so eine vergnügte Stunde gehabt hätte." Und Frontin sagt: "Nun, unser Alter stirbt gewiß bald.[3] Die Veränderung ist gar zu plötzlich." Jawohl; aber das Sprichwort und der gemeine Glaube von den unvermuteten Veränderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier etwas rechtfertigen? --De. Ne nimium modo Bonae tuae istae nos rationes, Micio, Et tuus iste animus aequus subvertat. Mi. Tace; Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi: Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert, Faciendum est: ceterum rus cras cum filio Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte censeo: Hodie modo hilarum fac te. De. Et istam psaltriam Una illuc mecum hinc abstraham. Mi. Pugnaveris. Eo pacto prorsum illic alligaris filium. Modo facito, ut illam serves. De. Ego istuc videro, Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis, Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec Meridie ipso faciam ut stipulam colligat: Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est. Mi. Placet, Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium, Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet. De. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies: Ego sentio. Mi. Ah pergisne? De. Jam jam desino. Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir, die Stelle daraus anzuführen, die ich eben itzt übersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen, ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch ungefähr daraus sehen können, worin das Verdienst besteht, das ich dieser Übersetzung absprechen muß. "Demea. Aber mein lieber Bruder, daß uns nur nicht deine schönen Gründe, und dein gleichgültiges Gemüte sie ganz und gar ins Verderben Micio. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Laß das immer sein. Überlaß dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von Demea. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muß es wohl tun. Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land. Micio. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder gehn wil1st; sei doch heute nur einmal fröhlich! Demea. Die Sängerin will ich zugleich mit herausschleppen. Micio. Da tust du wohl; dadurch wirst du machen, daß dein Sohn ohne sie nicht wird leben können. Aber sorge auch, daß du sie gut Demea. Dafür werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch, Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Außerdem soll sie mir in der größten Mittagshitze gehen und Ähren lesen, und dann will ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, überliefern. Micio. Das gefällt mir; nun seh' ich recht ein, daß du weislich hande1st; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, daß er sie mit zu Bette nimmt. Demea. Lachst du mich etwa aus? Du bist glücklich, daß du ein solches Gemüt hast; aber ich fühle. Micio. Ach! hältst du noch nicht inne? Demea. Ich schweige schon." So soll es ohne Zweifel heißen, und nicht: stirbt ohnmöglich bald. Für viele von unsern Schauspielern ist es nötig, auch solche Druckfehler anzumerken. Dreiundsiebzigstes Stück Den 12. Januar 1768 Die Schlußrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone. "Wenn euch nur das gefällt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekümmern!" Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise künftig zu bequemen versprechen.--Aber wie kömmt es, dürfte man fragen, daß die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen "Brüdern" bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der beständige Rückfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch: aber bei diesem hätte es auch bleiben müssen.--Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stücks. "Das Orakel" vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluß machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt. Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward "Miß Sara"[1], und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, "Nanine"[2] wiederholt. Auf die "Nanine" folgte "Der unvermutete Ausgang" vom Marivaux, in einem Akte. Oder, wie es wörtlicher und besser heißen würde: "Die unvermutete Entwicklung". Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, daß es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen möchte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser kömmt; aber zum Glücke ist es ein so schöner liebenswürdiger Mann, daß sie gar bald ihre Verstellung vergißt und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so mühsam geschürzt hat, in einer einzigen nicht zu lösen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekündiget, und durch diese Ankündigung gewissermaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden können? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komödie sein?--Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an. Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völlig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es kömmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stoßen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als daß Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Daß sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, daß es vielmehr sehr unerwartet sein würde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen Teil seiner Personen läßt. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das Trauerspiel des Herrn Weiße "Richard der Dritte" aufgeführt: zum Beschlusse "Herzog Michel". Dieses Stück ist ohnstreitig eines von unsern beträchtlichsten Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugsam zeigen, daß, die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht über die Kräfte des Dichters gewesen wäre, wenn er sich diese Kräfte nur selbst hätte zutrauen wollen. Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne gebracht: aber Herr Weiße erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also", sagt er, "bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, daß ich kein Plagium begangen habe;--aber vielleicht wäre es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen." Vorausgesetzt, daß man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen! Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektieret; aber er borge nichts daraus. Ich wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weiße so hätte brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks ungefähr wie ein weitläuftiges Freskogemälde gegen ein Miniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Ebenso würden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen. Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben sein, daß der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem übersteiget. Ich für mein Teil bedauere es also wirklich, daß unserm Dichter Shakespeares Richard so spät beigefallen. Er hätte ihn können gekannt haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte. Wäre mir indes eben das begegnet, so würde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen nicht vermögend gewesen wäre.--Aber woher weiß ich, daß Herr Weiße dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben? Kann es nicht ebenso wohl sein, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr recht hat, als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben. Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal oder gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas Außerordentliches halten: und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen.-- Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will.-- Wenigstens nicht bei dem Verfasser,--höchstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiß nicht, wo ich es jüngst gedruckt lesen mußte, daß ich die "Amalia" meines Freundes auf Unkosten seiner übrigen Lustspiele gelobt hätte.[3]--Auf Unkosten? aber doch wenigstens der frühern? Ich gönne es Ihnen, mein Herr, daß man niemals Ihre ältern Werke so möge tadeln können. Der Himmel bewahre Sie vor dem tückischen Lobe: daß Ihr letztes immer Ihr bestes ist!-- [1] S. den 11. Abend. [2] S. den 27. und 33. und 37. Abend. [3] Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids "Zusätzen zu seiner Theorie der Poesie", S. 45. Vierundsiebzigstes Stück Den 15. Januar 1768 Zur Sache.--Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich mir die Erklärung des Dichters wünschte. Aristoteles würde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte. Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein müsse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Unglücke lasse sich jener Zweck erreichen. Räume ich dieses ein: so ist "Richard der Dritte" eine Tragödie, die ihres Zweckes verfehlt. Räume ich es nicht ein: so weiß ich gar nicht mehr, was eine Tragödie ist. Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiße geschildert hat, ist unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich. Was für Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenständen unsers Mitleids gemacht hat. Aber Schrecken?--Sollte dieser Bösewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt hätten sein müssen; sollte dieser blutdürstige, seines Blutdurstes sich rühmende, über seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Maße erwecken? Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen über unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen über Bosheiten, die unsern Begriff übersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsätzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, überfällt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen. Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgendein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der gräßlichen Idee wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis Bei den Franzosen führt Crébillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragödie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragödie rechnet. Und dieses--hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende, welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes "Schrecken", anstatt des Wortes "Furcht" herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine.--Ich möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif. "Das Mitleid", sagt Aristoteles, "verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsersgleichen. Der Bösewicht ist weder dieses noch jenes: folglich kann auch sein Unglück weder das erste noch das andere erregen."[1] Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Übersetzer Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen. "Man hat sich", sagt einer aus der Menge,[2] "über die Erklärung des Schreckens nicht vereinigen können; und in der Tat enthält sie in jeder Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert und sie allzusehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz 'unsersgleichen' nur bloß die Ähnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil nämlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, daß sich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befände: so war dieser Zusatz überflüssig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, daß nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich hätten, Schrecken erregen könnten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüttert sich, vermöge dieses Gefühls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses würde allemal eine Verleugnung seiner natürlichen Empfindungen, und also eine bloße Prahlerei aus verderbten Grundsätzen, und kein Einwurf sein.--Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustößt, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen bloß den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes überhaupt macht uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken." Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglück unsersgleichen setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles würde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine bloße Modifikation des Mitleids verstünde. "Das Mitleid", sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen,[3] "ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man ändre nur in dem bedauerten Unglück die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichen Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können?--Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."-- [1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst". [2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35. [3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter Fünfundsiebzigstes Stück Den 19. Januar 1768 Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte sie haben können und haben müssen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im ganzen ungefähr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, daß Aristoteles entweder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften überhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen. Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhängst sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen neuen Kommentar über seine "Dichtkunst" liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muß er die Bücher der "Rhetorik" und "Moral" studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die "Dichtkunst" war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht. Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifüget, findet sich in dem fünften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner "Rhetorik". Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, hätten noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: warum z.E. die Tragödie nicht ebensowohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe? Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden stattfinden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde:[1] und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen ebenso ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe. So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann. Corneille hatte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren[2]. Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen Kodex haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rate gezogen hätte. Allein dieses scheinet er höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst getan zu haben. In den wesentlichem ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte. Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht und sie als die vollkommensten und untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden möge? "Oh", sagte er, "mit dem Aristoteles können wir uns hier leicht vergleichen.[3] Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, nötig wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend.--Wir können diese Erklärung", fährt er fort, "aus ihm selbst bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen mißbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragödie nicht, weil es bloß Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, daß sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und daß er ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur eines von beiden wirkten." [1] [Greek: Os d' aplos eipein, phobera estin, osa eph' eteron gignomena, ae mellonta, eleeina estin.] Ich weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu übersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heißen: quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt. [2] Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scène, sagt er in seiner Abhandlung über das Drama. Sein erstes Stück "Melite" war von 1625, und sein letztes "Surena" von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, so daß es gewiß ist, daß er bei den Auslegungen des Aristoteles auf alle seine Stücke ein Auge haben konnte und hatte. [3] Il est aisé de nous accommoder avec Aristote etc. Sechsundsiebzigstes Stück Den 22. Januar 1768 Aber das ist grundfalsch!--Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese größte von allen übersehen können. Zwar, wie konnte er sie nicht übersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklärung vom Mitleid zu Rate zu ziehen?--Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man müßte glauben, daß er seine eigene Erklärungen vergessen können, man müßte glauben, daß er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen können. Wenn, nach seiner Lehre, kein Übel eines andern unser Mitleid erreget, was wir nicht für uns selbst fürchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragödie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen, welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken müsse, sobald wir andere damit bedrohet oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tragödie, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen. Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verführen lassen. Diese disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren läßt. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge ebensowohl in der Natur voneinander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und durch den symbolischen Ausdruck trennen können, wenn die Sache demohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z.E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sei weder schön noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir würden zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden wäre; denn Witz und Schönheit lassen sich nicht bloß in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen: "dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hölle", wollen wir damit auch sagen: daß wir zufrieden sein würden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Himmel glaubte? Gewiß nicht: denn wer das eine glaubt, muß notwendig auch das andere glauben; Himmel und Hölle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen; wenn wir sagen, dieses Gemälde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir damit sagen, daß ein gutes Gemälde sich mit einem von beiden begnügen könne?--Das ist so klar! Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden gibt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Übeln und Unglücksfällen Mitleid fühlen könnten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben? Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das physikalische Übel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen. Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig aufgeben zu müssen. Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere empfinden können: so ist es doch unstreitig, daß unser Mitleid, wenn jene Furcht dazukommt, weit lebhafter und stärker und anzüglicher wird, als es ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, daß die vermischte Empfindung über das physikalische Übel eines geliebten Gegenstandes nur allein durch die dazukommende Furcht für uns zu dem Grade erwächst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet? Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloß als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns selbst, nennt er Philanthropie: und nur den stärkere Regungen dieser Art, welche mit Furcht für uns selbst verknüpft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, daß das Unglück eines Bösewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behält, um sein Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas Mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidähnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, sondern Philanthropie. "Man muß", sagt er, "keinen Bösewicht aus unglücklichen in glückliche Umstände gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muß es kein völliger Bösewicht sein, der aus glücklichen Umständen in unglückliche verfällt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Ich kenne nichts Kahleres und Abgeschmackteres, als die gewöhnlichen Übersetzungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben nämlich das Adjektivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Französischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch "was Vergnügen machen kann". Der einzige Goulston, soviel ich finde, scheinet den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das [Greek: philanthropon] durch quod humanitatis sensu tangat übersetzt. Denn allerdings ist unter dieser Philanthropie, auf welche das Unglück auch eines Bösewichts Anspruch macht, nicht die Freude über seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, trotz der Vorstellung, daß sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem Augenblicke des Leidens in uns sich für ihn reget. Herr Curtius will zwar diese mitleidige Regungen für einen unglücklichen Bösewicht nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Übel einschränken. "Solche Zufälle des Lasterhaften", sagt er, "die weder Schrecken noch Mitleiden in uns wirken, müssen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufällig, oder wohl gar unschuldig, so behält er in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mitleid nicht versaget." Aber er scheinet dieses nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, können wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Unglücks mit ihm "Seht jene Menge", sagt der Verfasser der "Briefe über die Empfindungen", "die sich um einen Verurteilten in dichten Haufen dränget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt und ohnmächtig auf das entsetzliche Schaugerüste. Man arbeitet sich durch das Gewühl, man stellt sich auf die Zehen, man klettert die Dächer hinan, um die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben würden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annäherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Übel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussöhnen und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit seinem Schicksale sein." Und ebendiese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit welcher sie andere stärkere Empfindungen überdecken, unverlöschlich fortglimmet und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; ebendiese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir haben recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem höchsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht für uns selbst, Affekt werden, zu unterscheiden. Siebenundsiebzigstes Stück Den 26. Januar 1768 Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er notwendig mit der Furcht für uns selbst verknüpft sein müsse: was war es nötig, der Furcht noch insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und es wäre genug gewesen, wenn er bloß gesagt hätte: die Tragödie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiß. Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloß hätte lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen können, und ohne Zweifel sich wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein größerer Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften, durch die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget werden sollten; und in dieser Absicht mußte er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids weder in noch außer dem Theater ohne Furcht für uns selbst sein kann; ob sie schon ein notwendiges Ingrediens des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid für andere ist kein Ingrediens der Furcht für uns selbst. Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, daß sie dieses tun könne und wirklich tue, fand es Aristoteles für nötig, ihrer insbesondere zu gedenken. Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloß wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die übrigen Merkmale ineinander reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen. An dem letztern dürfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wüßte ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so läßt, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergründet, aber sie bei seiner Erklärung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. "Die Tragödie", sagt er, "ist die Nachahmung einer Handlung,--die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket." So drückt er sich von Wort zu Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, "nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht", befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzählung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzählung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Übersetzer bei dieser Lücke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlässigte Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier übersetzt: d'une action--qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur usw.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch die Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget". Oh, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloß vernachlässigte Wortfügung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, daß das Mitleid notwendig ein vorhandenes Übel erfodere; daß wir längst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Übel entweder gar nicht oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden können, als ein anwesendes; daß es folglich notwendig sei, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzählenden Form, sondern als gegenwärtig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, daß unser Mitleid durch die Erzählung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwärtige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklärung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form fähig ist. Hätte er es für möglich gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Erzählung erreget werden könne: so würde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen sein, wenn er gesagt hätte, "nicht durch die Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht". Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so konnte er sich diesen Sprung, der Kürze wegen, erlauben.--Ich verweise desfalls auf das nämliche achte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik.[1] Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragödie gibt, und den er mit in die Erklärung derselben bringen zu müssen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten, darüber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, daß alle, die sich dawider erklärt, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiß wußten, welches seine wären. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinste zuschanden machen. Ich kann mich in die nähere Erörterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen. 1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tragödie solle uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigen". Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmühlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat und ihnen auf seinem bedächtlichern Pferde hinten nachruft, sich nicht zu übereilen, und doch nur erst die Augen recht aufzusperren: [Greek: Ton toiouton pathaematon], sagt Aristoteles: und das heißt nicht "der vorgestellten Leidenschaften"; das hätten sie übersetzen müssen durch "dieser und dergleichen" oder "der erweckten Leidenschaften". Das [Greek: toiouton] bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber [Greek: toiouton] und nicht [Greek: touton], er sagt "dieser und dergleichen" und nicht bloß "dieser": um anzuzeigen, daß er unter dem Mitleid nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt alle philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloß die Unlust über ein uns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein vergangenes Übel, Betrübnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften nützliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komödie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung überhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragödie, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung. [1] [Greek: Epei d' eggys phainomena ta pathae, eleeina eisi, ta de myrioston etos genomena, ae esomena, out' elpizontes, oute memnaemenoi, ae olos ouch eleousin, ae ouch' dmoios, anankae tous synapergazomenous schaemasi kai onais, kai esti, kai olos tae hypochrisei, eleeinoterous einai.] Achtundsiebzigstes Stück Den 29. Januar 1768 2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was für Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natürlich, daß sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten. Aristoteles verspricht am Ende seiner "Politik", wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst weitläuftiger zu handeln. "Weil man aber", sagt Corneille, "ganz und gar nichts von dieser Materie darin findet, so ist der größte Teil seiner Ausleger auf die Gedanken geraten, daß sie nicht ganz auf uns gekommen sei." Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch übrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, über diese Sache zu sagen für nötig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben könne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragödie geschehe: nämlich die, wo Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsersgleichen". Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur daß Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Unglücke", sagt er, "von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr Unglück vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu bessern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, daß man die Ursache abschneiden müsse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloß zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch und kann unmöglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die Tragödie gerade alle Leidenschaften reinigen könnte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdrücklich durch sie gereiniget wissen will. Sie könnte unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Haß und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglück zugezogen. Nur unser Mitleid und unsere Furcht müßte sie ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben, in welchem sie beides sind: das weiß ich wohl. Aber noch kenne ich kein solches Stück: ein Stück nämlich, in welchem sich die bemitleidete Person durch ein übelverstandenes Mitleid oder durch eine übelverstandene Furcht ins Unglück stürze. Gleichwohl würde dieses Stück das einzige sein, in welchem, so wie es Corneille versteht, das geschähe, was Aristoteles will, daß es in allen Tragödien geschehen soll: und auch in diesem einzigen würde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt. Dieses einzige Stück würde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen.--So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, daß unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der Tragödie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß der Nutzen der Tragödie sehr gering sein würde, wenn er bloß hierauf eingeschränkt wäre: so ließ er sich verleiten, nach der Erklärung des Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenschaften beizulegen. Wie nun Corneille diese für sein Teil leugnete und in Beispielen zeigte, daß sie mehr ein schöner Gedanke, als eine Sache sei, die gewöhnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so mußte er sich mit ihm in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, daß er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen mußte, um seinen Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen. Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leiden- schaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaften viel oder wenig beiträgt. An jene Reinigung hätte sich Dacier allein halten sollen: aber freilich hätte er sodann auch einen vollständigem Begriff damit verbinden müssen. "Wie die Tragödie", sagt er, "Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklären. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglück vor Augen stellet, in das unsersgleichen durch nicht vorsätzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem nämlichen Unglücke bekannt macht und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, noch allzusehr davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte.--Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle mutig zu ertragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem sie ihre Unglücksfälle mit weit größern vergleichen, die ihnen die Tragödie vorstellet. Denn in welchen Umständen kann sich wohl ein Mensch finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests nicht erkennen müßte, daß alle Übel, die er zu erdulden, gegen die, welche diese Männer erdulden müssen, gar nicht in Vergleichung gekommen?" Nun das ist wahr; diese Erklärung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand sie fast mit den nämlichen Worten bei einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes einzuwenden, daß das Gefühl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid neben sich duldet; daß folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betrübnis durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt, gelten lassen. Nur fragen muß ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten mehr damit gesagt, als, daß das Mitleid unsere Furcht reinige? Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, daß die Tragödie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, daß dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn, nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stückweise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Hälfte erläutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemüht hat, wird finden, daß jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schließet. Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugroße Furcht mäßige: und noch nicht einmal, wie es dem gänzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade erhöhe; geschweige, daß er auch das übrige sollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergänzet; aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragödie völlig außer Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber keinesweges der Tragödie, als Tragödie, insbesondere zukommen; z.E. daß sie die Triebe der Menschlichkeit nähren und stärken; daß sie Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laster wirken solle usw.[1] Lieber! welches Gedicht sollte das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende Kennzeichen der Tragödie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten. [1] Hr. Curtius in seiner "Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels", hinter der Aristotelischen Dichtkunst". Neunundsiebzigstes Stück Den 2. Februar 1768 Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen.--Richard also erweckt ebensowenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemißbrauchten Verstande, für die plötzliche Überraschung des Mitleids; noch in dem eigentlichen Verstande des Aristoteles, für heilsame Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne. Denn wenn er diese erregte, würde er auch Mitleid erregen; so gewiß er hinwiederum Furcht erregen würde, wenn wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten würdig fänden. Aber er ist so ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern Augen den Martern der Hölle übergeben sehen, ohne das geringste für ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglück, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen müssen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Königin dieses erzählt wird, läßt sie der Dichter sagen: "Dies ist etwas!"-- Ich habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stück durch über den Triumph seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen über das Glück eines Bösewichts auszudrücken: [Greek: nemesis, nemesan.][1]) Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte, unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische! Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das Stück heißt zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben, nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragödie erreicht wird; er hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid für andere zu erregen. Die Königin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?-- Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es für eine fremde, herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid für diese Personen mischt? die da macht, daß ich mir dieses Mitleid ersparen zu können wünschte? Das wünsche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile gern dabei; und danke dem Dichter für eine so süße Qual. Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiß sein! Er spricht von einem [Greek: miaron], von einem Gräßlichen, das sich bei dem Unglücke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die Königin, Elisabeth, die Prinzen vollkommen solche Personen? Was haben sie getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, daß sie in den Klauen dieser Bestie sind? Ist es ihre Schuld, daß sie ein näheres Recht auf den Thron haben als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch kaum rechts und links unterscheiden können! Wer wird leugnen, daß sie unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit Schaudern an die Schicksale der Menschen denken läßt, dem Murren wider die Vorsehung sich zugesellet und Verzweiflung von weiten nachschleicht, ist dieser Jammer--ich will nicht fragen, Mitleid?--Er heiße, wie er wolle--Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte? Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist.--Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt diese seine edelste Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darüber erregt?--O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und fröhlichen Mut behalten sollen: so ist es höchst nötig, daß wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse so wenig als möglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!-- Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige die erforderlichen Eigenschaften hat, die sie haben müßten, falls er wirklich das sein sollte, was er heißt: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes Stück geworden, wofür ihn unser Publikum hält? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muß er doch haben und hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschäftiget, wenn er sie vergnügt: was will man denn mehr? Müssen sie denn notwendig nur nach den Regeln des Aristoteles beschäftiget und vergnügt werden? Das klingt so unrecht nicht: aber es ist darauf zu antworten. Überhaupt: wenn Richard schon keine Tragödie wäre, so bleibt er doch ein dramatisches Gedicht; wenn ihm schon die Schönheiten der Tragödie mangelten, so könnte er doch sonst Schönheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kühne Gesinnungen; einen feurigen hinreißenden Dialog; glückliche Veranlassungen für den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den mannigfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Stärke in der Pantomime zu zeigen usw. Von diesen Schönheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die den eigentlichen Schönheiten der Tragödie näher kommen. Richard ist ein abscheulicher Bösewicht: aber auch die Beschäftigung unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnügen; besonders in der Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen, welche Größe und Kühnheit in uns erwecken. Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und überall, wo wir einen Plan wahrnehmen, wird unsere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgeführt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das Zweckmäßige so sehr, daß es uns, auch unabhängig von der Moralität des Zweckes, Vergnügen gewähret. Wir wollten, daß Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, daß er ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Mißvergnügen über ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so viel Blut völlig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist, möchten wir es nicht gern, auch noch bloß vor langer Weile, vergossen finden. Hinwiederum wäre dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit; nichts hören wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht wäre, würden wir nichts als das Abscheuliche derselben erblicken, würden wir wünschen, daß sie nicht erreicht wäre; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert vor der Erreichung. Die guten Personen des Stücks lieben wir; eine so zärtliche feurige Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese Gegenstände gefallen immer, erregen immer die süßesten sympathetischen Empfindungen, wir mögen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar für unsere Ruhe, zu unserer Besserung kein sehr ersprießliches Gefühl: aber es ist doch immer Gefühl. Und sonach beschäftiget uns das Stück durchaus, und vergnügt durch diese Beschäftigung unserer Seelenkräfte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht wahr, die man daraus zu ziehen meinet: nämlich, daß wir also damit zufrieden sein können. Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben. Nicht genug, daß sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß auch die haben, die ihm, vermöge der Gattung, zukommen; es muß diese vornehmlich haben, und alle andere können den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen; besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit und Kostbarkeit ist, daß alle Mühe und aller Aufwand vergebens wäre, wenn sie weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung ebensowohl zu erhalten wären. Ein Bund Stroh aufzuheben, muß man keine Maschinen in Bewegung setzen; was ich mit dem Fuße umstoßen kann, muß ich nicht mit einer Mine sprengen wollen; ich muß keinen Scheiterhaufen anzünden, um eine Mücke zu verbrennen. [1] Arist. Rhet., lib. II. cap. 9. Achtzigstes Stück Den 5. Februar 1768 Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Aufführung desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefähr auch hervorbringen würde. Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzüglich geschickt ist. Das Publikum nimmt vorlieb.--Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß. Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgültig, wie kalt dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ihrer Bühne sich mit so starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht. Ich sage, wir, unser Volk, unsere Bühne: ich meine aber nicht bloß, uns Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen und große Verehrer des französischen Theaters sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich weiß wohl, was ich dabei denke. Ich denke nämlich dabei: daß nicht allein wir Deutsche; sondern, daß auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen,--daß auch die Franzosen noch kein Theater haben. Kein tragisches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die französische Tragödie macht, sind so flach, so kalt!--Man höre einen Franzosen selbst davon sprechen. "Bei den hervorstechenden Schönheiten unsers Theaters", sagt der Herr von Voltaire, "fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte, weil das Publikum von selbst keine höhere Ideen haben konnte, als ihm die großen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremond hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt nämlich, daß unsere Stücke nicht Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremond hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters getroffen. Man sage immerhin, daß Saint-Evremond der Verfasser der elenden Komödie 'Sir Politik Wouldbe' und noch einer andern ebenso elenden, 'Die Opern' genannt, ist: daß seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das Kahlste und Gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; daß er nichts als ein Phrasendrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben und gleichwohl viel Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern Stücken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem Grade von Wärme gefehlt: das andere hatten wir alles." Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere Tragödien waren vortrefflich, nur daß es keine Tragödien waren. Und woher kam es, daß sie das nicht waren? "Diese Kälte aber", fährt er fort, "diese einförmige Mattigkeit, entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte und die Tragödie in eine Folge von verliebten Gesprächen verwandelte, nach dem Geschmacke des 'Cyrus' und der 'Clelie'. Was für Stücke sich hiervon noch etwa ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements, dergleichen den 'Sertorius' so verdorben, den 'Otho' so kalt, und den 'Surena' und 'Attila' so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene zurückhielt und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und diese war das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen. --Was ließ sich auf einem paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit Zuschauern angefüllt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen Zurüstungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln, täuschen? Welche große tragische Aktion ließ sich da aufführen? Welche Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stücke mußten aus langen Erzählungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespräche als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glänzen, und ein Stück, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen.--Bei dieser Form fiel alle theatralische Handlung weg; fielen alle die großen Ausdrücke der Leidenschaften, alle die kräftigen Gemälde der menschlichen Unglücksfälle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele dringende Züge weg; man rührte das Herz nur kaum, anstatt es zu Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie und Politik läßt immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hören: und diese fodern, daß wir nichts als den Menschen hören sollen. Aber die zweite Ursache?--Sollte es möglich sein, daß der Mangel eines geräumlichen Theaters und guter Verzierungen einen solchen Einfluß auf das Genie der Dichter gehabt hätte? Ist es wahr, daß jede tragische Handlung Pomp und Zurüstungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht vielmehr sein Stück so einrichten, daß es auch ohne diese Dinge seine völlige Wirkung hervorbrächte. Nach dem Aristoteles sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid", sagt der Philosoph, "läßt sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch aus der Verknüpfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches letztere vorzüglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die Fabel muß so eingerichtet sein, daß sie, auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten bloß anhört, zu Mitleid und Furcht über diese Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhören darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die Vorstellung des Stücks übernommen." Wie entbehrlich überhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stücken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stücke brauchten, wegen ihrer beständigen Unterbrechung und Veränderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die bloßen blanken, höchstens mit Matten oder Tapeten behangenen Wände zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem Verständnisse des Zuschauers und der Ausführung des Spielers zu Hilfe kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stücke des Shakespeares ohne alle Szenen verständlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind.[1] Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekümmern hat; wenn die Verzierung, auch wo sie nötig scheinet, ohne besondere Nachteil seines Stücks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten Theater gelegen haben, daß uns die französischen Dichter keine rührendere Stücke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst. Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine schönere, geräumlichere Bühne; keine Zuschauer werden mehr darauf geduldet; die Kulissen sind leer; der Dekorateur hat freies Feld; er malt und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber wo sind sie denn, die wärmern Stücke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt sich der Herr von Voltaire, daß seine "Semiramis" ein solches Stück ist? Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst obendarein: und doch kenne ich nichts Kälteres, als seine "Semiramis". [1] ("Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir." Vol. II. p. 78. 79.)--Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting. --In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with tapestry; so that for the place originally represented, and all the successive changes, in which the poets of those times freely indulged themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or to assist the actor's performance, but bare imagination.--The spirit and judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would insinuate, plays more intelligible without scenes than they afterwards were with them. Einundachtzigstes Stück Den 9. Februar 1768 Will ich denn nun aber damit sagen, daß kein Franzose fähig sei, ein wirklich rührendes tragisches Werk zu machen? daß der volatile Geist der Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei?--Ich würde mich schämen, wenn mir das nur eingekommen wäre. Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhours lächerlich gemacht. Und ich, für mein Teil, hätte nun gleich die wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr überzeugt, daß kein Volk in der Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzüglich vor andern Völkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Engländer, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiß nicht, die alles unter alle gleich verteilet. Es gibt ebensoviel witzige Engländer als witzige Franzosen, und ebensoviel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige Engländer: der Praß von dem Volke aber ist keines von beidem.-- Was will ich denn? Ich will bloß sagen, was die Franzosen gar wohl haben könnten, daß sie das noch nicht haben: die wahre Tragödie. Und warum noch nicht haben?--Dazu hätte sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen müssen, wenn er es hätte treffen wollen. Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas bestärkt, das sie vorzüglich vor allen Völkern haben; aber es ist keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit. Es geht mit den Nationen, wie mit einzelnen Menschen.--Gottsched (man wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle) galt in seiner Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterscheiden wußte. Philosophie und Kritik setzten nach und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem Jahrhunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen: so hätte er vielleicht wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden können. Aber da er sich schon so oft den größten Dichter hatte nennen hören, da ihn seine Eitelkeit überredet hatte, daß er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte unmöglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je älter er ward, desto hartnäckiger und unverschämter ward er, sich in diesem träumerischen Besitze zu behaupten. Gerade so, dünkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riß Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar auch nie gewesen), ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch rührender sein könne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward für unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte sich darauf einschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden als möglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer und sage ihnen das, und höre, was sie antworten! Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt; Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich. Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei Pedanten, einen Hédelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wußten, was sie wollten) als Orakelsprüche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben--ich getraue mich, es Stück vor Stück zu beweisen,--nichts anders, als das kahlste, wäßrigste, untragischste Zeug hervorbringen können. Die Regeln des Aristoteles sind alle auf die höchste Wirkung der Tragödie kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er trägt sie falsch und schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so sucht er, bei einer nach der andern, quelque modération, quelque favorable interprétation; entkräftet und verstümmelt, deutelt und vereitelt eine jede,--und warum? pour n'être pas obligés de condamner beaucoup de poèmes que nous avons vû réussir sur nos théâtres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu dürfen, die auf unsern Bühnen Beifall gefunden. Eine schöne Ich will die Hauptpunkte geschwind berühren. Einige davon habe ich schon berührt; ich muß sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen. 1. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen.-- Corneille sagt: o ja, aber wie es kömmt; beides zugleich ist eben nicht immer nötig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb' ich, ich der große Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kinder erwecken Mitleid; und sehr großes Mitleid: aber Furcht wohl schwerlich. Und wiederum: wo blieb' ich sonst mit meiner Kleopatra, mit meinem Prusias, mit meinem Phokas? Wer kann Mitleid mit diesen Nichtswürdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch.--So glaubte Corneille: und die Franzosen glaubten es ihm nach. 2. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen; beides, versteht sich, durch eine und ebendieselbe Person.--Corneille sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen; so wie ich in meiner "Rodogune" getan habe.--Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun es ihm nach. 3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen anhängig, gereiniget werden.--Corneille weiß davon gar nichts und bildet sich ein, Aristoteles habe sagen wollen. Die Tragödie erwecke unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Gegenstand sein Unglück zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht nicht sprechen: genug, daß es nicht die Aristotelische ist; und daß, da Corneille seinen Tragödien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig seine Tragödien selbst ganz andere Werke werden mußten, als die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahieret hatte; es mußten Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und das sind nicht allein seine, sondern alle französische Tragödien geworden; weil ihre Verfasser alle nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des Corneille sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, daß Dacier beide Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese bloße Verbindung wird die erstere geschwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchsten Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur einen sehr unvollständigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich daher einbildete, daß die französischen Tragödien seiner Zeit noch eher die erste, als die zweite Absicht erreichten. "Unsere Tragödie", sagt er, "ist, zufolge jener, noch so ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die übrigen Leidenschaften nur sehr wenig, oder da sie gemeiniglich nichts als Liebesintrigen enthält, wenn sie ja eine davon reinigte, so würde es einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, daß ihr Nutzen nur sehr klein ist.[1] Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher französische Tragödien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht ein Genüge leisten. Ich kenne verschiedene französische Stücke, welche die unglücklichen Folgen irgendeiner Leidenschaft recht wohl ins Licht setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade erregte, in welchem die Tragödie es erregen sollte, in welchem ich, aus verschiedenen griechischen und englischen Stücken gewiß weiß, daß sie es erregen kann. Verschiedene französische Tragödien sind sehr feine, sehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, daß es keine Tragödien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr gute Köpfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur daß sie keine tragische Dichter sind; nur daß ihr Corneille und Racine, ihr Crébillon und Voltaire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto öfterer. Denn nur weiter-- [1] (Poét. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragédie peut réussir assez dans la première partie, c'est-à-dire, qu'elle peut exciter et purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement à la dernière, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour, si elle en purgeait quelqu'une, ce serait celle-là seule, et par là il est aisé de voir qu'elle ne fait que peu de fruit. Zweiundachtzigstes Stück Den 12. Februar 1768 4. Aristoteles sagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragödie unglücklich werden lassen; denn so was sei gräßlich.--"Ganz recht", sagt Corneille; "ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Haß gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid für den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tragödie sein soll, würde, wenn sie nicht sehr fein behandelt wäre, diese ersticken, die doch eigentlich hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer würde mißvergnügt weggehen, weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm gefallen hätte, wenn er es allein mit wegnehmen können. Aber", kömmt Corneille hintennach; denn mit einem Aber muß er nachkommen--"aber, wenn diese Ursache wegfällt, wenn es der Dichter so eingerichtet, daß der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid für sich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn?--Oh, alsdenn", sagt Corneille, "halte ich dafür, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Unglücke zu zeigen."[1] --Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er nie gedacht hat. Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich. Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhört. Aristoteles sagt: es ist durchaus gräßlich, und eben daher untragisch. Corneille aber sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche findet Aristoteles in dieser Art des Unglückes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche ganz etwas anders ist als dieser Unwille; daß, wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes doch noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stücken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt, um seine Lehre darnach näher einzuschränken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglück des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden könne. En voici, sagt er, deux ou trois manières que peut-être Aristote n'a su prévoir, parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les théâtres de son temps. Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst? Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind sehen.--"Die erste", sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkömmt, und so, daß der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der 'Rodogune' und im 'Heraklius' geschiehet, wo es ganz unerträglich würde gewesen sein, wenn in dem ersten Stücke Antiochus und Rodogune, und in dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen wären, Kleopatra und Phokas aber triumphieret hätten. Das Unglück der erstern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil man beständig hofft, daß sich irgendein glücklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse." Das mag Corneille sonst jemanden weismachen, daß Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, daß er sie, wo nicht gänzlich verworfen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehört diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht unglücklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches gar wohl mitleidige Besorgnisse für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu sein.--Nun, die zweite Manier! "Auch kann es sich zutragen", sagt Corneille, "daß ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkömmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix seinen Eidam Polyeukt umkommen läßt, so ist es nicht aus wütendem Eifer gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswürdig machen würde, sondern bloß aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und mißbilliget sein Verfahren; doch überwiegt dieser Unwille nicht das Mitleid, welches wir für den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, daß ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stücks, nicht völlig wieder mit den Zuhörern aussöhnen sollte." Tragische Stümper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also dem Aristoteles an einem Stücke von ähnlicher Einrichtung gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille? Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie Felix, sind in dergleichen Stücken ein Fehler mehr und machen sie noch obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im geringsten weniger gräßlich zu machen. Denn, wie gesagt, das Gräßliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Unglücke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger mögen böse oder schwach sein, mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Helden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist?--Das nämliche würde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst näher anzugeben vergessen hätte. 5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid noch Furcht erregen könne, bringt Corneille seine Läuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben fähig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht zu befürchten habe: so könne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern ähnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den zwar proportionierten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gründet sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften hatte, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, daß die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und daß der Bösewicht, wenn es möglich wäre, daß er unsere Furcht erregen könne, auch notwendig unser Mitleid erregen müßte. Da er aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und bleibt gänzlich ungeschickt, die Absicht der Tragödie erreichen zu helfen. Ja, Aristoteles hält ihn hierzu noch für ungeschickter als den ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, falls man den Held aus der mittlere Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher besser als schlimmer wählen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist.--Was Dubos[2] von dem Gebrauche der lasterhaften Personen in der Tragödie sagt, ist das nicht, was Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloß zu Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloß zur Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen lassen, so wie in der "Rodogune": und das ist eigentlich, was mit der Absicht der Tragödie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch sehr richtig an, daß das Unglück dieser subalternen Bösewichter keinen Eindruck auf uns mache. "Kaum", sagt er, "daß man den Tod des Narciß im Britannicus bemerkt." Aber also sollte sich der Dichter auch schon deswegen ihrer so viel als möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die Absicht der Tragödie nicht unmittelbar befördert, wenn sie bloße Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, daß das Stück noch besser sein würde, wenn es die nämliche Wirkung ohne sie hätte. Je simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Räder und Gewichte sie hat, desto vollkommener ist sie. [1] J'estime qu'il ne faut point faire de difficulté d'exposer sur la scène des hommes très vertueux. [2] Réflexions cr. T. I. Sect. XV. Dreiundachtzigstes Stück Den 16. Februar 1768 6. Und endlich, die Mißdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche Aristoteles für die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie sollen gut sein, die Sitten. "Gut?" sagt Corneille. "Wenn gut hier so viel als tugendhaft heißen soll: so wird es mit den meisten alten und neuen Tragödien übel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens mit einer Schwachheit, die nächst der Tugend so recht nicht bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen." Besonders ist ihm für seine Kleopatra in der "Rodogune" bange. Die Güte, welche Aristoteles fodert, will er also durchaus für keine moralische Güte gelten lassen; es muß eine andere Art von Güte sein, die sich mit dem moralisch Bösen ebensowohl verträgt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine moralische Güte: nur daß ihm tugendhafte Personen, und Personen, welche in gewissen Umständen tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proäresis ist, durch welche allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder bösen Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in einen weitläuftigen Beweis einlassen; er läßt sich nur durch den Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen Kunstrichters einleuchtend genug führen. Ich verspare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankömmt, zu zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: daß Aristoteles unter der Güte der Sitten den glänzenden und erhabnen Charakter irgendeiner tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, sowie sie der eingeführten Person entweder eigentümlich zukomme oder ihr schicklich beigeleget werden könne: le caractère brillant et élevé d'une habitude vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable à la personne qu'on introduit. "Kleopatra in der 'Rodogune'", sagt er, "ist äußerst böse: da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind mit einer gewissen Größe der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat, daß man, indem man ihre Handlungen verdammt, doch die Quelle, woraus sie entspringen, bewundern muß. Ebendieses getraue ich mir von dem 'Lügner' zu sagen. Das Lügen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein Dorant bringt seine Lügen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so vieler Lebhaftigkeit vor, daß diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl läßt und die Zuschauer gestehen müssen, daß die Gabe, so zu lügen, ein Laster sei, dessen kein Dummkopf fähig ist."--Wahrlich, einen verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn in der Ausführung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Täuschung, um allen sittlichen Nutzen der Tragödie getan! Denn die Tugend, die immer bescheiden und einfältig ist, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel und romantisch: das Laster aber mit einem Firnis überzogen, der uns überall blendet, wir mögen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Torheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem Laster abschrecken wollen, indem man die innere Häßlichkeit desselben verbirgt! Die Folgen sind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß sie ebensooft glücklich als unglücklich fallen. Dieses bezieht sich auf die Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht mit jenem trügerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem Laster untergelegt wird, macht, daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine sind; macht, daß ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte. Zwar hat schon Dacier dieser Erklärung widersprochen, aber aus untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem Pater Le Bossu dafür annimmt, nicht ebenso nachteilig ist, wenigstens den poetischen Vollkommenheiten des Stücks ebenso nachteilig werden kann. Er meinet nämlich, "die Sitten sollen gut sein", heiße nichts mehr als, sie sollen gut ausgedrückt sein, qu'elles soient bien marquées. Das ist allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle aller Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters würdig ist. Aber wenn es die französischen Muster nur nicht bewiesen, daß man "gut ausdrücken" für stark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen personifierte Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe von Lastern und Tugenden geworden sind.-- Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die Anwendung auf unsern "Richard" selbst machen. Vom "Herzog Michel", welcher auf den "Richard" folgte, brauche ich wohl nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat ihn nicht gesehen oder gelesen? Krüger hat indes das wenigste Verdienst darum; denn er ist ganz aus einer Erzählung in den Bremischen Beiträgen genommen. Die vielen guten satirischen Züge, die er enthält, gehören jenem Dichter, sowie der ganze Verfolg der Fabel. Krügern gehört nichts, als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Bühne an Krügern viel verloren. Er hatte Talent zum Niedrig-Komischen, wie seine "Kandidaten" beweisen. Wo er aber rührend und edel sein will, ist er frostig und affektiert. Hr. Löwen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man jedoch "Die Geistlichen auf dem Lande" vermißt. Dieses war der erste dramatische Versuch, welchen Krüger wagte, als er noch auf dem Grauen Kloster in Berlin studierte. Den neunundvierzigsten Abend (donnerstags, den 23. Julius) ward das Lustspiel des Hrn. von Voltaire "Die Frau, die recht hat" gespielt, und zum Beschlusse des L'Affichard "Ist er von Familie?"[1] wiederholt. "Die Frau, die recht hat" ist eines von den Stücken, welche der Hr. von Voltaire für sein Haustheater gemacht hat. Dafür war es nun auch gut genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht zu Paris; soviel ich weiß. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine schlechtern Stücke gespielt hätten: denn dafür haben die Marins und Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil--ich weiß selbst nicht. Denn ich wenigstens möchte doch noch lieber einen großen Mann in seinem Schlafrocke und seiner Nachtmütze, als einen Stümper in seinem Feierkleide sehen. Charaktere und Interesse hat das Stück nicht; aber verschiedne Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Inkognito, auf Verkennungen und Mißverständnisse gründet. Doch die Lacher sind nicht ekel; am wenigsten würden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das Fremde der Sitten und die elende Übersetzung das mot pour rire nur nicht meistens so unverständlich machte. Den funfzigsten Abend (freitags, den 24. Julius) ward Gressets "Sidney" wiederholt. Den Beschluß machte "Der sehende Blinde". Dieses kleine Stück ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Intrige und alles einem alten Stücke des De Brosse abgeborgt. Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in die er verliebt ist, als er Ordre bekömmt, sich zur Armee zu verfügen. Er verläßt seine Versprochene mit den wechselseitigen Versicherungen der aufrichtigsten Zärtlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zunutze und nimmt einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte Intrige wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu überzeugen, ihnen schreiben läßt, daß er sein Gesicht verloren habe. Die List gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hilfe eines Bedienten, der um den Betrug weiß, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die Entwicklung läßt sich erraten; da der Offizier an der Unbeständigkeit der Witwe nicht länger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu heiraten, und der Tochter gibt er die nämliche Erlaubnis, sich mit ihrem Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe versichert, daß ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, daß sie ihn aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem Liebhaber, einen Wink mit den Augen oder bezeugt ihm sonst ihre Zärtlichkeit durch Gebärden. Das ist der Inhalt des alten Stückes vom De Brosse,[2] und ist auch der Inhalt von dem neuen Stücke des Le Grand. Nur daß in diesem die Intrige mit der Tochter weggeblieben ist, um jene fünf Akte desto leichter in einen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel geworden, und was sonst dergleichen kleine Veränderungen mehr sind. Es mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefällt sehr. Die Übersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten, die wir haben; sie ist wenigstens sehr fließend und hat viele drollige Zeilen. [1] S. den 17. Abend. [2] Hist. du Th. Fr., Tome VII. p. 226. Vierundachtzigstes Stück Den 19. Februar 1768 Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der Hausvater" des Hrn. Diderot aufgeführt. Da dieses vortreffliche Stück, welches den Franzosen nur so so gefällt, --wenigstens hat es mit Müh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem Pariser Theater erscheinen dürfen--sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf unsern Bühnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird können gespielt werden: so hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl über das Stück selbst, als über das ganze dramatische System des Verfassers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe. Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natürlichen Sohne", in den beigefügten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat Diderot sein Mißvergnügen mit dem Theater seiner Nation geäußert. Bereits verschiedne Jahre vorher ließ er es sich merken, daß er die hohen Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute täuschen und Europa sich von ihnen täuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche, in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in welchem der persiflierende Ton so herrschet, daß den meisten Lesern auch das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Höhnerei zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger Mann sagt öfters erst mit Lachen, was er hernach im Ernste wiederholen will. Dieses Buch heißt "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber doch hat er es geschrieben und muß es geschrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiß, daß nur ein solcher junger Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schämen würde, es geschrieben zu haben. Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch kennen. Ich will mich auch wohl hüten, es ihnen weiter bekannt zu machen, als es hier in meinen Kram dienet.-- Ein Kaiser--was weiß ich, wo und welcher?--hatte mit einem gewissen magischen Ringe gewisse Kleinode so viel häßliches Zeug schwatzen lassen, daß seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hören wollte. Sie hätte lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darüber brechen mögen; wenigstens nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majestät und ein paar witzige Köpfe einzuschränken. Diese waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und ein großer Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen unterhält sich die Favoritin einsmals, und das Gespräch fällt auf den elenden Ton der akademischen Reden, über den sich niemand mehr ereifert als der Sultan selbst, weil es ihn verdrießt, sich nur immer auf Unkosten seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hören, und er wohl voraussieht, daß die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung über das Theater an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile. "Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim. "Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre schönsten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen könnten. Unser Theater ward für das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafür gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Altertum!" "Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans gesehen und gleichfalls den Faden des Stücks sehr richtig geführet, den Dialog sehr zierlich und das Anständige sehr wohl beobachtet gefunden." "Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genähret, und dem größten Teile unsrer Neuern!" "Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker über die Klinge springen lassen, sind doch bei weitem so verächtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was bekümmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht? Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle nicht gelesen habe, welche es machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre! Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?" "Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schön. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müssen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgänger gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt worden. Sonst ließe sich behaupten, daß eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken haben könne; welches doch wider alle Erfahrung ist." "Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als daß die Neuern, welche sich alle die Schätze zunutze machen können, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein müssen, als die Alten: oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefällt, daß sie auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig müssen weiter sehen können, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und Poesie nicht ebensowohl überlegen sein?" "Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist groß, und Riccaric kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklären. Er mag Ihnen sagen, warum unsere Tragödien schlechter sind, als der Alten ihre; aber daß sie es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "daß Sie die Alten nicht gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schöne Kenntnisse beworben, als daß Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf ihre Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstößig sind, weil sich die Umstände geändert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlgewählt und interessant ist? ob sich die Handlung nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem Natürlichen nicht sehr nahe kömmt? ob die Entwicklungen im geringsten gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit Episoden überladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hören Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti ans Land stiegen, da gesagt ward; nähern Sie sich der Höhle des unglücklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und sagen Sie mir, ob das Geringste vorkömmt, was Sie in der Täuschung stören könnte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stück, welches die nämliche Prüfung aushalten, welches auf den nämlichen Grad der Vollkommenheit Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben." "Beim Brahma!" rief der Sultan und gähnte; "Madame hat uns da eine vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!" "Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefaßt hat. Aber ich weiß, daß nur das Wahre gefällt und rühret. Ich weiß auch, daß die Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer Handlung bestehet, daß der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwärtig zu sein glaubt. Findet sich aber in den Tragödien, die Sie uns so rühmen, nur das geringste, was diesem ähnlich sähe?" Fünfundachtzigstes Stück Den 23. Februar 1768 "Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, daß es ein Wunder sein würde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen wären. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt es auf eine Verschwörung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Maßregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit nächstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer förmlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut geführt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen "Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stücke sind ein wenig überladen; aber das ist ein notwendiges Übel; ohne Hilfe der Episoden würden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen." "Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muß man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas Lächerlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es wäre denn etwa dieses, daß man die Geigen ein lebhaftes Stück, eine muntere Sonate spielen läßt, während daß die Zuhörer um den Prinzen bekümmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren. "Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien müßte man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort. "Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, daß, wenn die Episoden uns aus der Täuschung herausbringen, der Dialog uns wieder hereinsetzt. Ich wüßte nicht, wer das besser verstünde, als unsere tragische Dichter." "Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhörlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus übersetzen; und Sie werden die bloße Natur hören, die sich durch den Mund derselben ausdrückt. Ich möchte gar zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt daß ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Umstände zu setzen, die ihnen welchen geben.'" "Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte Selim, "daß Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen." "Nein, gewiß nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte für eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich durch ein Wunder. Weiß der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fünf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstoße ab; die ganze Welt fängt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll wäre. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgängig an, daß wir die Tragödie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast für erwiesen, daß von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist." Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukürzen, wenn ich sie zu lang finde." "Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es käme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehört hätte; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefähr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlägen der Höflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt wäre, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein Freund, es äußern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fürst, der mit seinem Sohne mißvergnügt ist, weil er ihn im Verdacht hat, daß er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich für fähig halte, an beiden die grausamste Rache zu üben. Diese Sache muß, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, daß Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein können.' Er nimmt mein Anerbieten an, und ich führe ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er für den Palast des Sultans hält. Glauben Sie wohl, daß trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemühte, die Täuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern könnte? Müssen Sie nicht vielmehr gestehen, daß er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebärden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen würden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen würde, daß ich ihn entweder zum Besten haben wollte, oder daß der Fürst mitsamt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein müßten." "Ich bekenne", sagte Selim, "daß mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber könnte man Ihnen nicht zu bedenken geben, daß wir in das Schauspiel gehen, mit der Überzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen." "Und sollte denn diese Überzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die Handlung auf die allernatürlichste Art vorzustellen?"-- Hier kömmt das Gespräch nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem französischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der gerügten Mängel zu entfernen und den Weg der Natur und Täuschung besser einzuschlagen bemüht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstücken desselben fand: bloß und allein, um seinen Stücken Platz zu schaffen. Er mußte die Methode seiner Vorgänger verschrien haben, weil er empfand, daß in Befolgung der nämlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben würde. Er mußte ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots über seine Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natürlichen Sohne", manche Blöße gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der "Hausvater" ist. Zu viel Einförmigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heißt), die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, daß die Einkleidung, welche Diderot den beigefügten Unterredungen gab, daß der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompös war; daß verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; daß andere Anmerkungen die Gründlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen. Sechsundachtzigstes Stück Den 26. Februar 1768 z.E. Diderot behauptete,[1] daß es in der menschlichen Natur aufs höchste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so glücklich bearbeitet werden könnten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschäfte der ernsthaften Komödie machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber muß der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufällige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgängig die Umstände, in welchen er sich am besten äußert, und verband diese Umstände untereinander. Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmöglich verkennen. Er muß das, was er hört, notwendig auf sich anwenden." Was Palissot hierwider erinnert,[2] ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur so arm an ursprünglichen Charakteren sei, daß sie die komischen Dichter bereits sollten erschöpft haben. Molière sahe noch genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwürdig als lehrreich, indem sie vermuten läßt, daß der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen dürfte geblieben sein, wann er länger gelebt hätte.[3] Palissot selbst ist nicht unglücklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufügen: den dummen Mäzen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekünstelte Anschläge immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei.--Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne trägt, bis ins Unendliche erweitern. Das ist noch Ernte genug für die wenigen Schnitter, die sich daran wagen dürfen! Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet wären: würden die Stände denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man wähle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben müssen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch sein müssen? Wird es nicht bloß dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrige und die Moral des Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufällige sein? Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freilich muß die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, daß es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhältnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch machen will: er muß notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschäfte erfodert. Dieses, sage ich, könnte Diderot antworten: aber zugleich hätte er sich einer andern Klippe genähert; nämlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Stände würden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun müßten; sie würden handeln, völlig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen dürfen, groß genug sein, daß es sich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür festzusetzen und für diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben? Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot überhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stücken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Brüdern" des Terenz sagt.[4] "Die zwei kontrastierten Väter darin sind mit so gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Fällt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er ganzer fünf Aufzüge hindurch für einen verständigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und daß der, den er für einen Narren gehalten hat, wohl gar der verständige Mann sein könnte. Man sollte zu Anfange des fünften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stücks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, daß man gar nicht mehr weiß, für wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man für den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man für keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten." Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem nämlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloß verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natürlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Für eine Gesellschaft im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise hält, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in welchen man Väter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder völlig entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen könnte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der nämliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatürlicher, sondern auch untereinander einförmiger sein, als es die sein können, welche Väter von verschiednen Grundsätzen einführen. Auch ist es gewiß, daß die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloß verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natürlich, daß sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem soviel Übereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nützlich sein können. [1] S. die Unterredungen hinter dem "Natürlichen Sohne", S. 321-322 d. [2] "Petites Lettres sur de grands Philosophes", Lettr. II. [3] ("Impromptu de Versailles", Sc. 3.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (à Molière) fournirons toujours assez de matière, et nous ne prenons guère le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce qu'il dit. Crois-tu qu'il ait épuisé dans ses Comédies tous les ridicules des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt caractères de gens, où il n'a pas touché? N'a-t-il pas, par exemple, ceux qui se font les plus grandes amitiés du monde, et qui, le dos tourné, font galanterie de se déchirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs à outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au coeur à ceux qui les écoutent? N'a-t-il pas ces lâches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encensent dans la prospérité, et vous accablent dans la disgrâce? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mécontents de la Cour, ces suivants inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour services ne peuvent compter que des importunités, et qui veulent qu'on les récompense d'avoir obsédé le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux qui caressent également tout le monde, qui promènent leurs civilités à droite, à gauche, et courent à tous ceux qu'ils voyent avec les mêmes embrassades, et les mêmes protestations d'amitié?--Va, va, Marquis, Molière aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il a touché n'est que bagatelle au prix de ce qui reste. [4] In der dr. Dichtkunst hinter dem "Hausvater", S. 258 d. Übers. Siebenundachtzig-und achtundachtzigstes Stück Den 4. März 1768 Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit seiner Lanze stoßen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens verrückt die Lanze, und er stößt den Ring gerade vorbei. So sagt er über den "Natürlichen Sohn" unter andern: "Welch ein seltsamer Titel! der natürliche Sohn! Warum heißt das Stück so? Welchen Einfluß hat die Geburt des Dorval? Was für einen Vorfall veranlaßt sie? Zu welcher Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Lücke füllt sie auch nur? Was kann also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein paar Betrachtungen über das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwärmen? Welcher vernünftige Mensch weiß denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches Vorurteil ist?" Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur Verwickelung meiner Fabel nötig; ohne ihn würde es weit unwahrscheinlicher gewesen sein, daß Dorval seine Schwester nicht kennet und seine Schwester von keinem Bruder weiß; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen, und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen können. --Wenn Diderot dieses antwortete, sag' ich, wäre Palissot nicht ungefähr Gleichwohl ist der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe bloßgestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schärfer hätte zusetzen können. Diesem nämlich: daß der Umstand der unehelichen Geburt und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu eigentümlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zuviel Einfluß gehabt hat, als daß dieser diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muß.--Die Gelegenheit reizt mich zu einer Ausschweifung über diese Lehre: und welchem Reize von der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen? "Die komische Gattung", sagt Diderot,[1] "hat Arten, und die tragische hat Individua. Ich will mich erklären. Der Held einer Tragödie ist der und der Mensch. es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein anderer. Die vornehmste Person einer Komödie hingegen muß eine große Anzahl von Menschen vorstellen. Gäbe man ihr von ohngefähr eine so eigene Physiognomie, daß ihr nur ein einziges Individuum ähnlich wäre, so würde die Komödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten.--Terenz scheinet mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein Vater, der sich über den gewaltsamen Entschluß grämet, zu welchem er seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kümmerlich hält, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft und das Feld mit eigenen Händen bauet. Man kann gar wohl sagen, daß es so einen Vater nicht gibt. Die größte Stadt würde kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein Beispiel einer so seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben." Zuerst von der Instanz des "Heautontimorumenos". Wenn dieser Charakter wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als den Menander. Menander war der Schöpfer desselben, der ihn, allem Ansehen nach, in seinem Stücke noch weit ausführlichere Rolle spielen lassen, als er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphäre, wegen der verdoppelten Intrige, wohl sehr einziehen müssen.[2] Aber daß er von Menandern herrührt, dieses allein schon hätte, mich wenigstens, abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das [Greek: o Menandre kai bie, poteros ar' ymon poteron emimaesato]; ist zwar frostiger, als witzig gesagt: doch würde man es wohl überhaupt von einem Dichter gesagt haben, der Charaktere zu schildern imstande wäre, wovon sich in der größten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel zeiget? Zwar in hundert und mehr Stücken könnte ihm auch wohl ein solcher Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen Gegenstände der Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt haben, daß schon Horaz, der einen so besonders zärtlichen Geschmack hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen und im Vorbeigehen, aber fast unmerklich, getadelt habe. Die Stelle soll die in der zweiten Satire des ersten Buchs sein, wo Horaz zeigen will, "daß die Narren aus einer Übertreibung in die andere entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius", sagt er, "fürchtet für einen Verschwender gehalten zu werden. Wißt ihr, was er tut? Er leihet monatlich für fünf Prozent und macht sich im voraus bezahlt. Je nötiger der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiß die Namen aller jungen Leute, die von gutem Hause sind und itzt in die Welt treten, dabei aber über harte Väter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr, daß dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkünften entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in der Komödie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann sich nicht schlechter quälen: non se pejus cruciaverit."--Dieses schlechter, dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen beiläufige Hiebe, meinet er, wären dem Charakter des Horaz vollkommen Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu lassen. Denn hier, dünkt mich, würde die beiläufige Anspielung dem Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so großer Narr, wenn es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz ebenso abgeschmackt peinigte, wenn er ebensowenig Ursache hätte, sich zu peinigen, als Fufidius, so teilt er das Lächerliche mit ihm, und Fufidius ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius, ohne alle Ursache, ebenso hart und grausam gegen sich selbst ist, als der Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut, was dieser aus Reu und Betrübnis tat: nur alsdenn wird uns jener unendlich lächerlicher und verächtlicher, als mitleidswürdig wir diesen finden. Und allerdings ist jede große Betrübnis von der Art, wie die Betrübnis dieses Vaters: die sich nicht selbst vergißt, die peiniget sich selbst. Es ist wider alle Erfahrung, daß kaum alle hundert Jahre sich ein Beispiel einer solchen Betrübnis finde: vielmehr handelt jede ungefähr ebenso; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veränderung. Cicero hatte auf die Natur der Betrübnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betrübte, nicht bloß von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kälterm Geblüte fortsetzen zu müssen glauben.[3] Haec omnia recta, vera, debita putantes, faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri, quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est, aut dictum: plorare cogunt.--Quid ille Terentianus ipse se puniens? usw. Menedemus aber, so heißt der Selbstpeiniger bei dem Terenz, hält sich nicht allein so hart aus Betrübnis; sondern, warum er sich auch jeden geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich dieses: um desto mehr für den abwesenden Sohn zu sparen und dem einmal ein desto gemächlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein so ungemächliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Väter tun würden? Meint aber Diderot, daß das Eigene und Seltsame darin bestehe, daß Menedemus selbst hackt, selbst gräbt, selbst ackert: so hat er wohl in der Eil' mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit würde das freilich nicht so leicht tun: denn die wenigsten würden es zu tun verstehen. Aber die wohlhabensten, vornehmsten Römer und Griechen waren mit allen ländlichen Arbeiten bekannter und schämten sich nicht, selbst Hand anzulegen. Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des Selbstpeinigers sei wegen des Allzueigentümlichen, wegen dieser ihm fast nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so ungeschickt, als er nur will. Wäre Diderot nicht in eben den Fehler gefallen? Denn was kann eigentümlicher sein, als der Charakter seines Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukömmt, als der Charakter dieses natürlichen Sohnes? "Gleich nach meiner Geburt", läßt er ihn von sich selbst sagen, "ward ich an einen Ort verschleudert, der die Grenze zwischen Einöde und Gesellschaft heißen kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die mich mit den Menschen verknüpften, konnte ich kaum einige Trümmern davon erblicken. Dreißig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und verabsäumet umher, ohne die Zärtlichkeit irgendeines Menschen empfunden, noch irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht hätte." Daß ein natürliches Kind sich vergebens nach seinen Eltern, vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die nähern Bande des Bluts verknüpfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber daß es ganze dreißig Jahre in der Welt herumirren könne, ohne die Zärtlichkeit irgendeines Menschen empfunden zu haben, ohne irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht hätte: das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmöglich. Oder wenn es möglich wäre, welche Menge ganz besonderer Umstände müßten von beiden Seiten, von seiten der Welt und von seiten dieses so lange insulierten Wesens zusammengekommen sein, diese traurige Möglichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe sie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wünschte ich sonst, ein Bär geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter Menschen so lange verlassen sein! Man schleudere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menschen fällt, so fällt er unter Wesen, die, ehe er sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht glückliche, so sind es unglückliche Menschen! Menschen sind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Fläche des Wassers berühren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfließen: das Wasser heiße, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean. Gleichwohl soll diese dreißigjährige Einsamkeit unter den Menschen den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun ähnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in ihm erkennen? Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: "In der ernsthaften Gattung werden die Charaktere oft ebenso allgemein sein, als in der komischen Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der tragischen." Er würde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komödie und Tragödie füllen soll, so müssen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so völlig individuell sind, als diese; und solcher Art dürfte doch wohl der Charakter des Dorval sein. Also wären wir glücklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen. Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, daß die Tragödie Individua, die Komödie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, daß die Personen der Komödie eine große Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen müßten; dahingegen der Held der Tragödie nur der und der Mensch, nur Regulus oder Brutus oder Cato sei und sein solle. Ist es wahr, so hat auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er die ernsthafte Komödie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter seines Dorval wäre so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so fällt auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natürlichen Sohnes kann aus einer so ungegründeten Einteilung keine Rechtfertigung zufließen. [1] Unterred., S. 292 d. Übers. [2] Falls nämlich die 6. Zeile des Prologs Duplex quae ex argumento facta est simplici, von dem Dichter wirklich so geschrieben und nicht anders zu verstehen ist, als die Dacier und nach ihr der neue englische Übersetzer des Terenz, Colman, sie erklären. Terence only meant to say, that he had doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very properly: novam esse ostendi,--which certainly could not have been implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius, hatte das duplex nicht anders verstanden; propter senes et juvenes sagt diese; und jener schreibt: nam in hac latina senes duo, adolescentes item duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einsehe, was von dem Stücke übrigbleibt, wenn man die Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie Menander diesen Stoff ohne den Chremes und ohne den Clitipho habe behandeln können; beide sind so genau hineingeflochten, daß ich mir weder Verwicklung noch Auflösung ohne sie denken kann. Einer andern Erklärung, durch welche sich Julius Scaliger lächerlich gemacht hat, will ich gar nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit haben die Kritici bald das duplex, bald das simplici in der Zeile zu verändern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermaßen berechtigten. Einige haben gelesen: Duplex quae ex Argumente facta est duplici. Simplex quae ex argumento facta est duplici. Was bleibt noch übrig, als daß nun auch einer lieset: Simplex quae ex argumento facta est simplici? Und in allem Ernste: so möchte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle im Zusammenhange, und überlege meine Gründe: Ex integra Graeca integram comoediam Hodie sum acturus Heautontimorumenon: Simplex quae ex argumento facta est simplici. [3] Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern am Theater vorgeworfen ward: Multas contaminasse graecas, dum facit Paucas latinas-- [4] Er schmelzte nämlich öfters zwei Stücke in eines und machte aus zwei griechischen Komödien eine einzige lateinische. So setzte er seine "Andria" aus der "Andria" und "Perinthia" des Menanders zusammen; seinen "Eunuchus" aus dem "Eunuchus" und dem "Colax" eben dieses Dichters; seine "Brüder" aus den "Brüdern" des nämlichen und einem Stücke des Diphilus. Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des "Heautontimorumenos". Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm getan hätten. --Id esse factum hic non negat Neque se pigere, et deinde factum iri autumat. Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi Licere id facere, quod illi fecerunt putat. [5] Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, daß ich es noch öfterer tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stücke, und nicht auf das gegenwärtige, den "Heautontimorumenos". Denn dieser war nicht aus zwei griechischen Stücken, sondern nur aus einem einzigen gleichen Namens genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage: Simplex quae ex argumento facta est simplici. So einfach, will Terenz sagen, als das Stück des Menanders ist, ebenso einfach ist auch mein Stück; ich habe durchaus nichts aus andern Stücken eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stücke genommen, und das griechische Stück ist ganz in meinem lateinischen; ich gebe also Ex integra Graeca integram Comoediam. Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben fand, daß es soviel sein sollte als a nullo tacta, ist hier offenbar falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das zweite integram schicken würde.--Und so glaube ich, daß sich meine Vermutung und Auslegung wohl hören läßt! Nur wird man sich an die gleich folgende Zeile stoßen: Novam esse ostendi, et quae esset-- Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, daß er das ganze Stück aus einem einzigen Stücke des Menanders genommen habe, wie kann er eben durch dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, daß sein Stück neu sei, novam esse? Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar durch eine Erklärung ebendieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten getraue, daß sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur mir zugehört, und kein Ausleger, soviel ich weiß, sie nur von weitem vermutet hat. Ich sage nämlich: die Worte, Novam esse ostendi, et quae esset-- beziehen sich keinesweges auf das, was Terenz den Vorredner in dem vorigen sagen lassen; sondern man muß darunter verstehen, apud Aediles; novus aber heißt hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen, sondern bloß, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Daß mein Stück, will er sagen, ein neues Stück sei, das ist, ein solches Stück, welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem Griechischen übersetzt, das habe ich den Ädilen, die mir es abgekauft, bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an den Streit erinnern, welchen er wegen seines "Eunuchus" vor den Ädilen hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen übersetztes Stück verkauft; aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den Ädilen überreden, daß er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei alten Stücken des Nävius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der "Eunuchus" mit diesen Stücken vieles gemein; aber doch war die Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der griechischen Quelle geschöpft, aus welcher, ihm unwissend, schon Nävius und Plautus vor ihm geschöpft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen bei seinem "Heautontimorumenos" vorzubauen, was war natürlicher, als daß er den Ädilen das griechische Original vorgezeigt und sie wegen des Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Ädilen konnten das leicht selbst von ihm gefodert haben. Und darauf geht das Novam esse ostendi, et quae esset. [6] Tusc. Quaest., lib. III. c. 27. Neunundachtzigstes Stück Den 8. März 1768 Zuerst muß ich anmerken, daß Diderot seine Assertion ohne allen Beweis gelassen hat. Er muß sie für eine Wahrheit angesehen haben, die kein Mensch in Zweifel ziehen werde, noch könne; die man nur denken dürfe, um ihren Grund zugleich mitzudenken. Und sollte er den wohl gar in den wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles und Alexander und Cato und Augustus heißen und Achilles, Alexander, Cato, Augustus wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus geschlossen haben, daß sonach alles, was der Dichter in der Tragödie sie sprechen und handeln läßt, auch nur diesen einzeln so genannten Personen, und keinem in der Welt zugleich mit, müsse zukommen können? Fast scheint es so. Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zweitausend Jahren widerlegt und auf die ihr entgegenstehende Wahrheit den wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, sowie den größern Nutzen der letztern vor der ersten gegründet. Auch hat er es auf eine so einleuchtende Art getan, daß ich nur seine Worte anführen darf, um keine geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein könne. "Aus diesen also", sagt Aristoteles,[1] nachdem er die wesentlichen Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet klar, daß des Dichters Werk nicht ist, zu erzählen, was geschehen, sondern zu erzählen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene und was nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei möglich gewesen. Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Bücher des Herodotus in gebundene Rede bringen kann und sie darum doch nichts weniger in gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, daß jener erzählet, was geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nützlicher als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln würde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan oder gelitten hat. Bei der Komödie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefaßt ist, legt man die etwanigen Namen sonach bei und macht es nicht wie die jambischen Dichter, die bei dem Einzeln bleiben. Bei der Tragödie aber hält man sich an die schon vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Mögliche glaubwürdig ist und wir nicht möglich glauben, was nie geschehen, dahingegen was geschehen offenbar möglich sein muß, weil es nicht geschehen wäre, wenn es nicht möglich wäre. Und doch sind auch in den Tragödien, in einigen nur ein oder zwei bekannte Namen, und die übrigen sind erdichtet; in einigen auch gar keiner, so wie in der ›Blume‹ des Agathon. Denn in diesem Stücke sind Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefällt es darum nichts weniger." In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Übersetzung anführe, mit welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als möglich, sind verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen können, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier zur Sache gehört, muß ich mitnehmen. Das ist unwidersprechlich, daß Aristoteles schlechterdings keinen Unterschied zwischen den Personen der Tragödie und Komödie, in Ansehung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen könnte, sondern so wie ein jeder von ihrer Beschaffenheit in den nämlichen Umständen sprechen oder handeln würde und müßte. In diesem [Greek: katholou], in dieser Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer und folglich lehrreicher ist als die Geschichte; und wenn es wahr ist, daß derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene Physiognomien geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre Kindheit zurücksetzen und in Satire verkehren würde: so ist es auch ebenso wahr, daß derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den Menschen, nur den Cäsar, nur den Cato, nach allen den Eigentümlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigentümlichkeiten mit dem Charakter des Cäsar und Cato zusammengehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, daß, sage ich, dieser die Tragödie entkräften und zur Geschichte erniedrigen würde. Aber Aristoteles sagt auch, daß die Poesie auf dieses Allgemeine der Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele ([Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]); welches sich besonders bei der Komödie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die Ausleger dem Aristoteles nachzusagen sich begnügt, im geringsten aber nicht erläutert haben. Wohl aber haben verschiedene sich so darüber ausgedrückt, daß man klar sieht, sie müssen entweder nichts, oder etwas ganz Falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie, wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser Personen? und wie ist diese ihre Rücksicht auf das Allgemeine der Person, besonders bei der Komödie, schon längst sichtbar gewesen? Die Worte: [Greek: esti de katholou men, to poio ta poi atta symbainei legein, ae prattein kata to eikos, ae io anankaion, ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae], übersetzt Dacier: Une chose générale, c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractère a dû dire, ou faire vraisemblablement ou nécessairement, ce qui est le but de la poésie lors même, qu'elle impose les noms à ses personnages. Vollkommen so übersetzt sie auch Herr Curtius: "Das Allgemeine ist, was einer, vermöge eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit redet oder tut. Dieses Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.--Auch in ihrer Anmerkung über diese Worte stehen beide für einen Mann; der eine sagt vollkommen eben das, was der andere sagt. Sie erklären beide, was das Allgemeine ist; sie sagen beide, daß dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei: aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht, davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors même, sowie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, daß sie nichts davon zu sagen gewußt, ja, daß sie gar nicht einmal verstanden, was Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors même, dieses auch wenn, heißt bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach bloß sagen, daß ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln Personen beilege, sie demohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der Note anführen will,[2] zeigen dieses deutlich. Nun ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es erschöpft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, daß die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, daß sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine ziele, [Greek: ou stochazetai]. Ich sollte doch wohl meinen, daß beides nicht einerlei wäre. Ist es aber nicht einerlei: so gerät man notwendig auf die Frage: wie zielt sie darauf? Und auf diese Frage antworten die Ausleger nichts. [1] Dichtk., 9. Kapitel. [2] Aristote prévient ici une objection, qu'on pouvait lui faire, sur la définition qu'il vient de donner d'une chose générale: car les ignorants n'auraient pas manqué de lui dire qu'Homère, par exemple, n'a point en vue d'écrire une action générale et universelle, mais une action particulière, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes comme Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par conséquent, il n'y a aucune différence entre Homère et un Historien, qui aurait écrit les actions d'Achille. Le Philosophe va au-devant de cette objection, en faisant voir que les Poètes, c'est-à-dire, les Auteurs d'une Tragédie ou d'un Poème Épique lors même qu'ils imposent les noms à leurs personnages ne pensent en aucune manière à les faire parler véritablement, ce qu'ils seraient obligés de faire, s'ils écrivaient les actions particulières et véritables d'un certain homme, nommé Achille ou Edipe, mais qu'ils se proposent de les faire parler et agir nécessairement ou vraisemblablement; c'est-à-dire, de leur faire dire et faire tout ce que des hommes de ce même caractère doivent faire et dire en cet état, ou par nécessité, ou au moins selon les règles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que ce sont des actions générales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr Curtius in seiner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine und Einzelne noch an Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, daß er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zufolge würden es nur personifierte Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln ließe, da es doch charakterisierte Personen sein sollen. Neunzigstes Stück Den 11. März 1768 Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe ich schon längst an der Komödie deutlich gezeigt: [Greek: Hepi men oun taes komodias aedae touto daelon gegonen sustaesantes gar ton mython dia ton eikoton, outo ta tychonta onomata epititheasi, chai ouch osper oi iambopoioi peri ton kath' ekaston poiousin]. Ich muß auch hiervon die Übersetzungen des Dacier und Curtius anführen. Dacier sagt: C'est ce qui est déjà rendu sensible dans la comédie, car les poètes comiques, après avoir dressé leur sujet sur la vraisemblance, imposent après cela à leurs personnages tels noms qu'il leur plaît, et n'imitent pas les poètes satyriques, qui ne s'attachent qu'aux choses particulières. Und Curtius: "In dem Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die Komödienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit entworfen haben, legen sie den Personen willkürliche Namen bei und setzen sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum Ziele." Was findet man in diesen Übersetzungen von dem, was Aristoteles hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als daß die komischen Dichter es nicht machten wie die jambischen, (das ist, satirischen Dichter) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkürliche Namen, tels noms qu'il leur plaît, beilegten. Gesetzt nun auch, daß [Greek: ta tychonta onomata] dergleichen Namen bedeuten könnten: wo haben denn beide Übersetzer das "[Greek: outo]" gelassen? Schien ihnen denn dieses "[Greek: outo]" gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn diesem "[Greek: outo]" zufolge legten die komischen Dichter ihren Personen nicht allein willkürliche Namen bei, sondern sie legten ihnen diese willkürliche Namen "so", [Greek: outo], bei. Und wie "so"? So, daß sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: [Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]. Und wie geschah das? Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius! Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die Komödie gab ihren Personen Namen, welche, vermöge ihrer grammatischen Ableitung und Zusammensetzung oder auch sonstigen Bedeutung die Beschaffenheit dieser Personen ausdrückten: mit einem Worte, sie gab ihnen redende Namen; Namen, die man nur hören durfte, um sogleich zu wissen, von welcher Art die sein würden, die sie führen. Ich will eine Stelle des Donatus hierüber anziehen. Nomina personarum, sagt er bei Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der "Brüder", in comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim absurdum est, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen personae incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum.[1] Hinc servus fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraso vel Polemon: juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum poetae vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque protulerit, nisi per [Greek: antiorasin] nomen imposuerit joculariter, ut Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr Beispiele hiervon überzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus und Terenz untersuchen. Da ihre Stücke alle aus dem Griechischen genommen sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs und haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die Denkungsart oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein haben können; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und sicher angeben können. Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern muß ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles sich ihrer gleichwohl da nicht erinnern können, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klärer sein, als was der Philosoph von der Rücksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als daß [Greek: epi men taes komodias aedae touto daelon gegonen], daß sich diese Rücksicht bei der Komödie besonders längst offenbar gezeigt habe? Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die jambischen Dichter von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der beleidigenden Satire die unterrichtende Komödie entstand: suchte man jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der großsprecherische feige Soldat hieß nicht wie dieser oder jener Anführer aus diesem oder jenem Stamme: er hieß Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende Schmarutzer, der diesem um das Maul ging, hieß nicht, wie ein gewisser armer Schlucker in der Stadt: er hieß Artotrogus, Brockenschröter. Der Jüngling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater in Schulden setzte, hieß nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln Bürgers: er hieß Phidippides, Junker Sparroß. Man könnte einwenden, daß dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine Erfindung der neuern griechischen Komödie sein dürften, deren Dichtern es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; daß aber Aristoteles diese neuere Komödie nicht gekannt habe und folglich bei seinen Regeln keine Rücksicht auf sie nehmen können. Das letztere behauptet Hurd;[2] aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, daß die ältere griechische Komödie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in denjenigen Stücken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine gewisse bekannte Person lächerlich und verhaßt zu machen, waren, außer dem wahren Namen dieser Person, die übrigen fast alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet. [1] Diese Periode könnte leicht sehr falsch verstanden werden. Nämlich wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das für etwas Ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es würde ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen oder Beschäftigungen beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein bei ihm, was er seinen Personen für Namen beilegen, oder was er mit diesen Namen für einen Stand oder für eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach dürfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrückt haben; und mit Veränderung einer einzigen Silbe ist dieser Anstoß vermieden. Man lese nämlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere et nomen personae u.s.w. [2] Hurd in seiner Abhandlung über die verschiedenen Gebiete des Drama: From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking ridicule. His notion was taken from the state and practice of the Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to this description. The great revolution, which the introduction of the new comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses nimmt Hurd bloß an, damit seine Erklärung der Komödie mit der Aristotelischen nicht so geradezu zu streiten scheine. Aristoteles hat die Neue Komödie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in der Moral an den Nikomachus, wo er von dem anständigen und unanständigen Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14.) [Greek: Idoi d' an tis kai ek ton komodion ton palaion kai ton kainon. Tois men gar aen geloion ae aischrologia, tois de mallon ae hyponoia]. Man könnte zwar sagen, daß unter der Neuen Komödie hier die Mittlere verstanden werde; denn als noch keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heißen müssen. Man könnte hinzusetzen, daß Aristoteles in eben der Olympiade gestorben, in welcher Menander sein erstes Stück aufführen lassen, und zwar noch das Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komödie von dem Menander rechnet; Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach, aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazugehört schrieb viel früher, und der Übergang von der Mittleren zur Neuen Komödie war so unmerklich, daß es dem Aristoteles unmöglich an Mustern derselben kann gefehlt haben. Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; sein "Kokalos" war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen Veränderungen zueignen konnte: Kokalon heißt es in dem "Leben des Aristophanes", [Greek: en ho eisagei phthoran kai anagnorismon, kai talla panta a ezaelose Menandros]. Wie nun also Aristophanes Muster von allen verschiedenen Abänderungen der Komödie gegeben, so konnte auch Aristoteles seine Erklärung der Komödie überhaupt auf sie alle einrichten. Das tat er denn; und die Komödie hat nachher keine Erweiterung bekommen, für welche diese Erklärung zu enge geworden wäre. Hurd hätte sie nur recht verstehen dürfen, und er würde gar nicht nötig gehabt haben, um seine an und für sich richtigen Begriffe von der Komödie außer allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen. Einundneunzigstes Stück Den 15. März 1768 Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; so daß Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt und sie durchaus dafür nicht erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen des einzeln Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum Allgemeinen! Hier ließe sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen Komödie überhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es ließe sich anmerken, daß dieser Gebrauch keinesweges in der ältern griechischen Komödie allgemein gewesen,[1] daß sich nur der und jener Dichter gelegentlich desselben erkühnet,[2] daß er folglich nicht als ein unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komödie zu betrachten. [3] Es ließe sich zeigen, daß, als er endlich durch ausdrückliche Gesetze untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch stillschweigend für ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stücken des Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt und lächerlich gemacht.[4] Doch ich muß mich nicht aus einer Ausschweifung in die andere verlieren. Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragödie machen. So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal einer eiteln und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Täuscher und Verführer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloß der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband und noch näher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens bestimmte: so ist auch bloß der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Männer bekanntzumachen, nicht um das Gedächtnis derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müssen. Nun ist zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse; er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natürlicher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und über Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen scheinen und alles, was einmal geschehen, glaubwürdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser Ursachen fließt aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe überhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht nötig, sich umständlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer von anderwärts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt außer meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger mißverstanden als jene. Nun also auf die Behauptung des Diderot zurückzukommen. Wenn ich die Lehre des Aristoteles richtig erklärt zu haben glauben darf: so darf ich auch glauben, durch meine Erklärung bewiesen zu haben, daß die Sache selbst unmöglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die Charaktere der Tragödie müssen ebenso allgemein sein, als die Charaktere der Komödie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder Diderot muß unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verstehen, als Aristoteles darunter verstand. [1] Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komödie von dem Margites des Homer, [Greek: ou psogon alla to geloion dramatopoiaesantos], genommen worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die erdichteten Namen mit eingeführt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewissen Person, indem [Greek: Margeitaes] wohl eher von [Greek: margaes] gemacht worden, als daß [Greek: margaes] von [Greek: Margeitaes] sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten Komödie finden wir es auch ausdrücklich angemerkt, daß sie sich aller Anzüglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht möglich gewesen wäre. z.E. von dem Pherekrates. [2] Die persönliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche Eigenschaft der alten Komödie, daß man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkühnet. Es war Cratinus, welcher zuerst [Greek: to charienti taes komodias to ophelimon prosethaeke, tous kakos prattontas diaballon, kai osper daemosia mastigi tae komodia kolazon]. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine, verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befürchten hatte. Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, daß er es sei, welcher sich zuerst an die Großen des Staats gewagt habe (Ir. v. 750.): [Greek: Ouch idiotas anthropischous komodon, oude gynaikas, All' Haerakleous orgaen tin' echon toisi megistois epicheirei]. [3] Ja er hätte lieber gar diese Kühnheit als sein eigenes Privilegium betrachten mögen. Er war höchst eifersüchtig, als er sahe, daß ihm so viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten. [4] Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und will behaupten, daß mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et Phormis inventèrent les sujets de leurs pièces, puisque l'un et l'autre ont été des Poètes de la vieille Comédie, où il n'y avait rien de feint, et que ces aventures feintes ne commencèrent à être mises sur le théâtre, que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-à-dire dans la nouvelle Comédie. (Remarque sur le Chap. V. de la Poét. d'Arist.) Man sollte glauben, wer so etwas sagen könne, müßte nie auch nur einen Blick in den Aristophanes getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komödie, war ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer sein konnten. Kein einziges von den übriggebliebenen Stücken des Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen wäre; und wie kann man sagen, daß sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als ausgemacht annimmt, [Greek: oti ton poiaetaen mallon ton mython einai dei poiaetaen ae ton metron]: würde er nicht schlechterdings die Verfasser der alten griechischen Komödie aus der Klasse der Dichter haben ausschließen müssen, wenn er geglaubt hätte, daß sie die Argumente ihrer Stücke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl mit der poetischen Erfindung bestehen kann, daß Namen und Umstände aus der wahren Geschichte entlehnt sind: so muß es, seiner Meinung nach, auch in der Komödie bestehen können. Es kann unmöglich seinen Begriffen gemäß gewesen sein, daß die Komödie dadurch, daß sie wahre Namen brauche und auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmähsucht zurückfalle; vielmehr muß er geglaubt haben, daß sich das [Greek: katholou poiein logous ae mythous] gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den ältesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und wird es gewiß dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wußte, wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles und Sokrates namentlich mitgenommen. [5] Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komödie lächerlich zu machen, in seiner "Republik" einführen wollte ([Greek: maete logo, maete eichoni, maete thymo, maete aneu thymou, maedamno maedena ton politon komodein]) ist in der wirklichen Republik niemals darüber gehalten worden. Ich will nicht anführen, daß in den Stücken des Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit Namen genennt ward; man könnte antworten, daß dieser Abschaum von Menschen nicht zu den Bürgern gehört. Aber Ktesippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiß atheniensischer Bürger so gut wie einer, und man sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.) Zweiundneunzigstes Stück Den 18. März 1768 Und warum könnte das letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast ebenso ausdrückt als Diderot, fast ebenso geradezu dem Aristoteles zu widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht, daß ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern für denjenigen erkennen muß, der noch das meiste Licht über diese Materie verbreitet hat. Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd; ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Übersetzungen bei uns immer am spätesten bekannt werden. Ich möchte ihn aber hier nicht gern anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der Deutsche, der ihr gewachsen wäre, sich noch nicht gefunden hat: so dürften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen daran gelegen wäre. Der fleißige Mann, voll guten Willens, übereile sich also lieber damit nicht und sehe, was ich von einem noch unübersetzten guten Buche hier sage, ja für keinen Wink an, den ich seiner allezeit fertigen Feder geben wollen. Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung "Über die verschiednen Gebiete des Drama" beigefügt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, daß bisher nur die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwägung gezogen worden, ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen. Gleichwohl müsse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu fällen. Nachdem er also die Absicht des Drama überhaupt, und der drei Gattungen desselben, die er vor sich findet, der Tragödie, der Komödie und des Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in welchen sie voneinander unterschieden sein müssen. Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komödie und Tragödie, auch diese, daß der Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen eine erdichtete Begebenheit zuträglicher sei. Hierauf fährt er fort: The same genius in the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; tragedy, particular. The Avare of Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of covetousness itself. Racine's Nero on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. d.I.: "In dem nämlichen Geiste schildern die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komödie macht alle ihre Charaktere general; die Tragödie partikulär. Der Geizige des Molière ist nicht so eigentlich das Gemälde eines geizigen Mannes, als des Geizes selbst. Racines Nero hingegen ist nicht das Gemälde der Grausamkeit, sondern nur eines grausamen Mannes." Hurd scheinet so zu schließen: wenn die Tragödie eine wahre Begebenheit erfodert, so müssen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die Komödie sich mit erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn ihr wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allem ihrem Umfange zeigen können, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so weiten Spielraum nicht erlauben, so dürfen und müssen auch ihre Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren; angesehen dem Allgemeinen selbst in unserer Einbildungskraft eine Art von Existenz zukömmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhält. Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schließen nicht ein bloßer Zirkel ist: ich will die Schlußfolge bloß annehmen, so wie sie da liegt und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloß, welches aus der weitern Erklärung des Hurd erhellet. "Es wird aber", fährt er fort, "hier dienlich sein, einer doppelten Verstoßung vorzubauen, welche der eben angeführte Grundsatz zu begünstigen scheinen könnte. Die erste betrifft die Tragödie, von der ich gesagt habe, daß sie partikuläre Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind partikulärer, als die Charaktere der Komödie. Das ist: die Absicht der Tragödie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter von den charakteristischen Umständen, durch welche sich die Sitten schildern, so viele zusammenzieht, als die Komödie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als soviel der Verlauf der Handlung unumgänglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Züge, durch die er sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiß aufgesucht und angebracht. Es ist fast wie mit dem Porträtmalen. Wenn ein großer Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der nämlichen Art nur so weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentümlichen Zuges geschehen kann. Soll ebenderselbe Künstler hingegen einen Kopf überhaupt malen, so wird er alle die gewöhnlichen Mienen und Züge zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesamten Gattung bemerkt hat, daß sie die Idee am kräftigsten ausdrücken, die er sich itzt in Gedanken gemacht hat und in seinem Gemälde darstellen will. Ebenso unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des Drama: woraus denn erhellet, daß, wenn ich den tragischen Charakter partikular nenne, ich bloß sagen will, daß er die Art, zu welcher er gehöret, weniger vorstellig macht als der komische; nicht aber, daß das, was man von dem Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag nun so wenig sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als wovon ich das Gegenteil anderwärts behauptet und umständlich erläutert habe.[1] Was zweitens die Komödie anbelangt, so habe ich gesagt, daß sie generale Charaktere geben müsse, und habe zum Beispiele den Geizigen des Molière angeführt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen Mannes entspricht. Doch auch hier muß man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Molière dünkt mich in diesem Beispiele selbst fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklärung, nicht ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen. Da die komische Bühne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine ich, kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, als möglich. Denn indem auf diese Weise die in dem Stücke aufgeführte Person gleichsam der Repräsentant aller Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur möglich. Es muß aber sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den möglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, sondern nur bis auf die wirkliche Äußerung seiner Kräfte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertiget werden und im gemeinen Leben stattfinden können. Hierin haben Molière, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben erteilen könnte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll. Doch aber muß die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kräftiger ausdrücke." [1] Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque jubebo Doctum imitatorum, et veras hinc ducere voces, wo Hurd zeigt, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen das heiße, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmend sei. Dreiundneunzigstes Stück Den 22. März 1768 "Alles dieses läßt sich abermals aus der Malerei sehr wohl erläutern. In charakteristischen Porträten, wie wir diejenigen nennen können, welche eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann von wirklicher Fähigkeit ist, nicht auf die Möglichkeit einer abstrakten Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein, daß irgendeine Eigenschaft die herrschende ist; diese drückt er stark, und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden Leidenschaft am sichtbarsten äußern. Und wenn er dieses getan hat, so dürfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein Kompliment gegen seine Kunst, gar wohl von einem solchen Porträte sagen, daß es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade so wie die Alten von der berühmten Bildsäule des Apollodorus vom Silanion angemerkt haben, daß sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die Leidenschaft des Zornes vorstelle.[1] Dieses aber muß bloß so verstanden werden, daß er die hauptsächlichen Züge der vorgebildeten Leidenschaft gut ausgedrückt habe. Denn im übrigen behandelt er seinen Vorwurf ebenso, wie er jeden andern behandeln würde: das ist, er vergißt die mitverbundenen Eigenschaften nicht und nimmt das allgemeine Ebenmaß und Verhältnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht. Und das heißt denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft verwandelt wäre. Keine Metamorphosis könnte seltsamer und unglaublicher sein. Gleichwohl sind Porträte, in diesem tadelhaften Geschmacke verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer Sammlung das Gemälde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewöhnlicheres gibt es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und überladen finden, sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darüber zu äußern.--Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit würde Le Bruns Buch von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen Porträte enthalten: und die Charaktere des Theophrasts müßten, in Absicht auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein. Über das erstere dieser Urteile würde jeder Virtuose in den bildenden Künsten unstreitig lachen. Das letztere aber, fürchte ich, dürften wohl nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu urteilen, welchen dergleichen Stücke gemeiniglich gefunden haben. Es ließen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komödien Beispiele anführen. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten Ideen auszuführen, in ihrem völligen Lichte sehen will, der darf nur Ben Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein charakteristisches Stück sein soll, in der Tat aber nichts als eine unnatürliche und, wie es die Maler nennen würden, harte Schilderung einer Gruppe von für sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komödie immer ihre Bewunderer gehabt; und besonders muß Randolph von ihrer Einrichtung sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse' ausdrücklich nachgeahmet zu haben scheint. Auch hierin, müssen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern noch wesentlichern Schönheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer seine Komödien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden, daß seine auch noch so kräftig gezeichneten Charaktere, den größten Teil ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdrücken und ihre wesentlichen und herrschenden Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die Umstände eine ungezwungene Äußerung veranlassen, an den Tag legen. Diese besondere Vortrefflichkeit seiner Komödien entstand daher, daß er die Natur getreulich kopierte und sein reges und feuriges Genie auf alles aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen Dienliches aufstoßen konnte: dahingegen Nachahmung und geringere Fähigkeiten kleine Skribenten verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der ängstlichen Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in beständigem Spiele und ununterbrochner Tätigkeit zu erhalten. Man könnte über diese ungeschickte Anstrengung ihres Witzes sagen, daß sie mit den Personen ihres Stücks nicht anders umgehen, als gewisse spaßhafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit ihren Höflichkeiten so zusetzen, daß sie ihren Anteil an der allgemeinen Unterhaltung gar nicht nehmen können, sondern nur immer, zum Vergnügen der Gesellschaft, Sprünge und Männerchen machen müssen." [1] Non hominem ex aere iecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8. [2] Beim B. Jonson sind zwei Komödien, die er vom Humor benennt hat; die eine "Every Man in his Humour" und die andere "Every Man out of his Humour". Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen und wurde auf die lächerlichste Weise gemißbraucht. Sowohl diesen Mißbrauch als den eigentlichen Sinn desselben bemerkt er in folgender Stelle selbst: As when some one peculiar quality Doth so possess a Man, that it doth draw All his affects, his spirits, and his powers, In their constructions, all to run one way. This may be truly said to be a humour. But that a rook by wearing a py'd feather, The cable hatband, or the three-pil'd ruff, A yard of shoe-tye, or the Switzer's knot On bis French garters, should affect a humour! O, it is more than most rediculous. [3] In der Geschichte des Humors sind beide Stücke des Jonson also sehr wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der Humor, den wir den Engländern itzt so vorzüglich zuschreiben, war damals bei ihnen großenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation lächerlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen, müßte auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand der Komödie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen, sich durch etwas Eigentümliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie wählt, sehr lächerlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber, wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende zur Natur gewordene Gewohnheit einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel zu speziell, als daß es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht des Drama vertragen könnte. Der überhäufte Humor in vielen englischen Stücken dürfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere derselben sein. Gewiß ist es, daß sich in dem Drama der Alten keine Spur von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wußten das Kunststück, ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren, ja die alten Dichter überhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann und wann Humor: wenn nämlich die historische Wahrheit oder die Aufklärung eines gewissen Fakti diese genaue Schilderung kaJ' ekaston erfodert. Ich habe Exempel davon fleißig gesammelt, die ich auch bloß darum in Ordnung bringen zu können wünschte, um gelegentlich einen Fehler wiedergutzumachen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir übersetzen nämlich itzt fast durchgängig Humor durch Laune; und ich glaube mir bewußt zu sein, daß ich der erste bin, der es so übersetzt hat. Ich habe sehr unrecht daran getan, und ich wünschte, daß man mir nicht gefolgt wäre. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu können, daß Humor und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade entgegengesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist, außer diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich hätte die Abstammung unsers deutschen Worts und den gewöhnlichen Gebrauch desselben besser untersuchen und genauer erwägen sollen. Ich schloß zu eilig, weil Laune das französische Humeur ausdrücke, daß es auch das englische Humour ausdrucken könnte; aber die Franzosen selbst können Humour nicht durch Humeur übersetzen.--Von den genannten zwei Stücken des Jonson hat das erste, "Jedermann in seinem Humor", den vom Hurd hier gerügten Fehler weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so individuell, noch so überladen, daß er mit der gewöhnlichen Natur nicht bestehen könnte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung so ziemlich verbunden. In dem zweiten hingegen, "Jedermann aus seinem Humor", ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der wunderlichsten Narren nacheinander auf, man weiß weder wie noch warum; und ihr Gespräch ist überall durch ein paar Freunde des Verfassers unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingeführt sind und Betrachtung über die Charaktere der Personen und über die Kunst des Dichters, sie zu behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an, daß alle die Personen in Umstände geraten, in welchen sie ihres Humors satt und überdrüssig werden. Vierundneunzigstes Stück Den 25. März 1768 Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere und den Grenzen dieser Allgemeinheit nach der Idee des Hurd!--Doch es wird nötig sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklärt zu haben versichert, inwieweit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur partikular wären, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluß überhaupt machen können, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Aristoteles übereinstimmen. "Wahrheit", sagt er, "heißt in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen ein solcher, als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdrucks in der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz[1] zwei Dinge: einmal, die Sokratische Philosophie fleißig zu studieren; zweitens, sich um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil es der eigentümliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius accedere;[2] dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere Ähnlichkeit erteilen zu können. Sich hiervon zu überzeugen, darf man nur erwägen, daß man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der Künstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu ängstlich befleißigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten, und so die allgemeine Idee der Gattung auszudrücken verfehlen. Oder er kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemüht, sie aus zu vielen Fällen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange, zusammensetzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich bloß in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der niederländischen Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und nicht, wie die italienische, von dem geistigen Ideale der Schönheit entlehnet. [3] Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man gleichfalls den niederländischen Meistern vorwirft und der dieser ist, daß sie lieber die besondere, seltsame und groteske als die allgemeine und reizende Natur sich zum Vorbilde wählen. Wir sehen also, daß der Dichter, indem er sich von der eigenen und besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegrübelt hatte und nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Nämlich, daß die poetische Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen könne. Denn, der poetische Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das Abbild von des Dichters eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge; und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem göttlichen Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild von dem Bilde eines Bildes und liefert uns ursprüngliche Wahrheit nur gleichsam aus der dritten Hand. [4] Aber alle diese Vernünftelei fällt weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehörig fasset und fleißig in Ausübung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet, überspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden besondern Gegenstände und erhebt sich, soviel möglich, zu dem göttlichen Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewöhnliche Lob, welches der große Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; daß sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere Studium sei: [Greek: philosophoteron kai spoudaioteron poiaesis historias estin]. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nun gleichfalls sehr begreiflich: [Greek: ae men gar poiaesis mallon ta katholou, ae d' historia ta kath' ekaston legei].[5] Ferner wird hieraus ein wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den zwei großen Nebenbuhlern der griechischen Bühne soll befunden haben. Wenn man dem Sophocles vorwarf, daß es seinen Charakteren an Wahrheit fehle, so pflegte er sich damit zu verantworten, daß er die Menschen so schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie wären: [Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschränkte enge Vorstellung, welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen vollständigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht hatte und von da aus das Leben übersehen wollte, hielt seinen Blick zu sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet, versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den vorhabenden Gegenständen nach, seine Charaktere zwar natürlich und wahr, aber auch dann und wann ohne die höhere allgemeine Ähnlichkeit, die zur Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7] Ein Einwurf stößt gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen müssen. Man könnte sagen, 'daß philosophische Spekulationen die Begriffe eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das Individuelle einschränken müßten. Das letztere sei ein Mangel, welcher aus der kleinen Anzahl von Gegenständen entspringe, die den Menschen zu betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch abzuhelfen, daß man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, daß man über die allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen Büchern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Bücher hätten ihren allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben können, ohne welche ihre Bücher sonst von keinem Werte sein würden.' Die Antwort hierauf, dünkt mich, ist diese. Durch Erwägung der allgemeinen Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein muß, die aus dem Übergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften entspringet: das ist, er lernet das Betragen überhaupt, welches der beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlässig zu wissen, wieweit und in welchem Grade von Stärke sich dieser oder jener Charakter, bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise äußern würde, das ist einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Daß Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis bei einem Dichter, wie Euripides war, sehr häufig sollten gewesen sein, läßt sich nicht wohl annehmen: auch werden, wo sich dergleichen in seinen übriggebliebenen Stücken etwa finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, daß sie auch einem gemeinen Leser in die Augen fallen müßten. Es können nur Feinheiten sein, die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermögend ist; und auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im Grunde eine Schönheit ist. Es würde also ein sehr gefährliches Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein geglaubt hatte. Aber gleichwohl will ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich sie auch schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine Meinung zu erläutern dienen kann." [1] De arte poet. v. 310. 317. 318. [2] De Orat. I. 51. [3] Nach Maßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. (Cic. Or. 2.) [4] Plato de Repl., L. X. [5] "Dichtkunst", Kap. 9. [6] "Dichtkunst", Kap. 25. [7] Diese Erklärung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Übersetzung scheinet Dacier zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisait ses Héros, comme ils devaient être et qu'Euripide les faisait comme ils étaient. Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd versteht unter dem Wie sie sein sollten die allgemeine abstrakte Idee des Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr als nach ihren individuellen Verschiedenheiten schildern müsse. Dacier aber denkt sich dabei eine höhere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu erreichen fähig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese, sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewöhnlicherweise beigelegt: Sophocle tâchait de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours bien plus ce qu'une belle Nature était capable de faire, que ce qu'elle faisait. Allein diese höhere moralische Vollkommenheit gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt, schildert gerade umgekehrt mehr in der Manier des Euripides als des Sophokles. Die weitere Ausführung hiervon verdienet mehr als eine Note. Fünfundneunzigstes Stück Den 29. März 1768 "Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte in dem Charakter dieser Prinzessin ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfülltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Härte, mit der man sich gegen sie selbst betrug, erbittert war und durch noch weit stärkere Bewegungsgründe angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu rächen. Eine solche heftige Gemütsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl schließen, muß immer sehr bereit sein, sich zu äußern. Elektra, kann er wohl einsehen, muß, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausführung ihres Vorhabens beschleunigen zu können wünschen. Aber zu welcher Höhe dieser Groll steigen darf? d.I. wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften im ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: Das ist unwahrscheinlich? Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein. Sogar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben ist hier nicht hinlänglich, uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das Äußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die Geschichte dürfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich; einzig und allein vermittelst der ausgebreitetsten Kenntnis, wieviel eine solche Erbitterung über dergleichen Charaktere unter dergleichen Umständen im wirklichen Leben gewöhnlicherweise vermag. So verschieden diese Kenntnis in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden. In der schönen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes vorfällt, von dem sie aber noch nicht weiß, daß er ihr Bruder ist, kömmt die Unterredung ganz natürlich auf die Unglücksfälle der Elektra und auf den Urheber derselben, die Klytämnestra, sowie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu werden. Das Gespräch, wie es hierauf weitergehet, ist dieses: Orestes. Und Orestes? Gesetzt, er käme nach Argos zurück-- Elektra. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals zurückkommen wird? Orestes. Aber gesetzt, er käme! Wie müßte er es anfangen, um den Tod seines Vaters zu rächen? Elektra. Sich eben des erkühnen, wessen die Feinde sich gegen seinen Vater erkühnten. Orestes. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen? Elektra. Sie mit dem nämlichen Eisen umbringen, mit welchem sie meinen Vater mordete! Orestes. Und darf ich das, als deinen festen Entschluß, deinem Bruder Elektra. 'Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!' Das Griechische ist noch stärker: [Greek: Thanoimi, maetros aim' episphaxas' emaes]. 'Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht Nun kann man nicht behaupten, daß diese letzte Rede schlechterdings unnatürlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug ereignet, wo unter ähnlichen Umständen die Rache sich ebenso heftig ausgedrückt hat. Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht für gut, ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umständen nur das: 'Jetzt sei dir die Ausführung überlassen! Wäre ich aber allein geblieben, so glaube mir nur: beides hätte mir gewiß nicht mißlingen sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!' Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, insofern sie aus einer ausgebreitetem Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen Natur überhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemäßer ist, als die Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen überlassen, die es zu beurteilen fähig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere sein, als die ich angenommen: daß nämlich Sophokles seine Charaktere so geschildert, als er, unzähligen von ihm beobachteten Beispielen der nämlichen Gattung zufolge, glaubte, daß sie sein sollten; Euripides aber so, als er in der engeren Sphäre seiner Beobachtungen erkannt hatte, daß sie wirklich wären‹--". Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten sie unstreitig so viel feine Bemerkungen, daß es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, daß er meine Absicht selbst darüber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu zeigen, daß auch Hurd, so wie Diderot, der Tragödie besondere, und nur der Komödie allgemeine Charaktere zuteile und demohngeachtet dem Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen, verlanget. Hurd erklärt sich nämlich so: der tragische Charakter müsse zwar partikulär oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er müsse die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber müsse das wenige, was man von ihm zu zeigen für gut finde, nach dem Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere.[1] Und nun wäre die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen wolle?--Warum nicht, wenn ihm daran gelegen wäre, sich nirgends in Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem daran gelegen ist, daß zwei denkende Köpfe von der nämlichen Sache nicht Ja und Nein sagen, könnte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen. Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort!--Mich dünkt, es ist eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort allgemein wird offenbar darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter verneinen, ist nicht die nämliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet. Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: aber wie, wenn die eine die andere schlechterdings ausschlösse? In der ersten Bedeutung heißt ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat, zusammennimmt; es heißt mit einem Worte, ein überladener Charakter; es ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heißt ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heißt mit einem Worte, ein gewöhnlicher Charakter, nicht zwar insofern der Charakter selbst, sondern nur insofern der Grad, das Maß desselben gewöhnlich ist. Hurd hat vollkommen recht, das [Greek: katholou] des Aristoteles von der Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklären. Aber wenn denn nun Aristoteles diese Allgemeinheit ebensowohl von den komischen als tragischen Charakteren erfodert: wie ist es möglich, daß der nämliche Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es möglich, daß er zugleich überladen und gewöhnlich sein kann? Und gesetzt auch, er wäre so überladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stücke des Jonson sind; gesetzt, er ließe sich noch gar wohl in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, daß er sich wirklich in mehrern Menschen ebenso stark, ebenso ununterbrochen geäußert habe: würde er demohngeachtet nicht auch noch viel ungewöhnlicher sein, als jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet? Das ist die Schwierigkeit!--Ich erinnere hier meine Leser, daß diese Blätter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen. [1] In calling the tragic character particular, I suppose it only less representative of the kind than the comic; not that the draught of so much character as it is concerned to represent should not be general. Sechsundneunzigstes Stück Den 1. April 1768 Den zweiundfunfzigsten Abend (dienstags, den 28. Julius) wurden des Herrn Romanus "Brüder" wiederholt. Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: "Die Brüder" des Herrn Romanus? Nach einer Anmerkung nämlich, welche Donatus bei Gelegenheit der "Brüder" des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta; quam de poetae nomine fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komödien zwar ohne seinen Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden. Noch itzt sind diejenigen Stücke, die sich auf unserer Bühne von ihm erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen Deutschlands genannt wird, wo er ohne sie wohl nie wäre gehöret worden. Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit seinen Arbeiten für das Theater so lange fortzufahren, bis die Stücke aufgehört hätten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafür die Stücke empfohlen hätte? Das meiste, was wir Deutsche noch in der schönen Literatur haben, sind Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, daß es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Männer, sagt man, haben ernsthaftere Studia oder wichtigere Geschäfte, zu welchen sie die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komödien heißen Spielwerke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen, mit welchen man sich höchstens bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr beschäftigen darf. Sobald wir uns dem männlichen Alter nähern, sollen wir fein alle unsere Kräfte einem nützlichen Amte widmen; und läßt uns dieses Amt einige Zeit, etwas zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der Gravität und dem bürgerlichen Range desselben bestehen kann; ein hübsches Kompendium aus den höhern Fakultäten, eine gute Chronike von der lieben Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen. Daher kömmt es denn auch, daß unsere schöne Literatur, ich will nicht bloß sagen gegen die schöne Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen aller neuern polierten Völker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geübt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner Erholung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen ekeln Zirkel seiner alltäglichen Beschäftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann wohl z.E. in unsern höchst trivialen Komödien finden? Wortspiele, Sprichwörter, Späßchen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hört: solches Zeug macht zwar das Parterre zu lachen, das sich vergnügt so gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschüttern will, wer zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal dagewesen und kömmt nicht wieder. Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie schildern. Das größte komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und leer; selbst von den ersten Stücken des Menanders sagt Plutarch,[1] daß sie mit seinen spätern und letztern Stücken gar nicht zu vergleichen gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, könne man schließen, was er noch würde geleistet haben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie jung meint man wohl, daß Menander starb? Wieviel Komödien meint man wohl, daß er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundertundfünfe; und nicht jünger als zweiundfunfzig. Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es sich noch der Mühe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Teil so viel Stücke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben das zu sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand?--Sie wage es aber nur, und spreche! Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hören. Wir haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren beste Kritik darin besteht,--alle Kritik verdächtig zu machen. "Genie! Genie!" schreien sie. "Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!" So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, damit wir sie auch für Genies halten sollen. Doch sie verraten zu sehr, daß sie nicht einen Funken davon in sich spüren, wenn sie in einem und ebendemselben Atem hinzusetzen: "Die Regeln unterdrücken das Genie!"--Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken ließe! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behält und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdrücken. Und diese seine in Worten ausgedrückte Empfindung sollte seine Tätigkeit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur, insofern es eure allgemeinen Sätze den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von diesem einzeln Falle bleibt Erinnerung in ihm zurück, die während der Arbeit auf seine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen glücklichen Erfahrung auf sie zu wirken imstande ist. Behaupten also, daß Regeln und Kritik das Genie unterdrücken können: heißt mit andern Worten behaupten, daß Beispiele und Übung eben dieses vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf sich selbst, heißt es sogar lediglich auf seinen ersten Versuch einschränken. Ebensowenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie über die nachteiligen Eindrücke, welche die Kritik auf das genießende Publikum mache, so lustig wimmern! Sie möchten uns lieber bereden, daß kein Mensch einen Schmetterling mehr bunt und schön findet, seitdem das böse Vergrößerungsglas erkennen lassen, daß die Farben desselben nur "Unser Theater", sagen sie, "ist noch in einem viel zu zarten Alter, als daß es den monarchischen Szepter der Kritik ertragen könne.--Es ist fast nötiger, die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind.--Die Bühne muß durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden.--Raisonnieren ist leichter als selbst erfinden." Heißt das, Gedanken in Worte kleiden: oder heißt es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen?--Und wer sind sie denn, die so viel von Beispielen und vom Selbsterfinden reden? Was für Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden? --Schlaue Köpfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so wünschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so möchten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen, daß sie falsch ist, beweisen sie, daß sie zu strenge ist; und glauben vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an, daß Erfinden schwerer ist als Raisonnieren; und glauben widerlegt Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muß raisonnieren können. Nur die glauben, daß sich das eine von dem andern trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind. Doch was halte ich mich mit diesen Schwätzern auf? Ich will meinen Gang gehen und mich unbekümmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel. Ihr Sommer ist so leicht abgewartet! Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei Gelegenheit der ersten Vorstellung der "Brüder" des Herrn Romanus[2] annoch über dieses Stück versprach!--Die vornehmsten derselben werden die Veränderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu müssen geglaubet, um sie unsern Sitten näher zu bringen. Was soll man überhaupt von der Notwendigkeit dieser Veränderungen sagen? Wenn wir so wenig Anstoß finden, römische oder griechische Sitten in der Tragödie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komödie? Woher die Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber in unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter aufbürden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine Handlung vorgehen läßt, so genau als möglich zu schildern; da wir in dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen? "Dieses", sagt Pope an einem Orte, "scheinet dem ersten Ansehen nach bloßer Eigensinn, bloße Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten Grund in der Natur. Das Hauptsächlichste, was wir in der Komödie suchen, ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber nicht so leicht versichert sein können, wenn wir es in fremde Moden und Gebräuche verkleidet finden. In der Tragödie hingegen ist es die Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen einheimischen Vorfall aber für die Bühne bequem zu machen, dazu muß man sich mit der Handlung größere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte Geschichte verstattet." [1] "Epit, [Greek: taes synkriseos] Arist. [Greek: kai Menan]", p. 1588. Ed. Henr. Stephani. [2] Dreiundsiebzigstes Stück. Siebenundneunzigstes Stück Den 5. April 1768 Diese Auflösung, genau betrachtet, dürfte wohl nicht in allen Stücken befriedigend sein. Denn zugegeben, daß fremde Sitten der Absicht der Komödie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der Tragödie ein besseres Verhältnis haben, als fremde? Diese Frage ist wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne allzumerkliche und anstößige Veränderungen für die Bühne bequem zu machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch einheimische Vorfälle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragödie am leichtesten und gewissesten ihren Zweck erreichte, so müßte es ja doch wohl besser sein, sich über alle Schwierigkeiten, welche sich bei Behandlung dieser finden, wegzusetzen als in Absicht des Wesentlichsten zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht alle einheimische Vorfälle so merklicher und anstößiger Veränderungen bedürfen; und die deren bedürfen, ist man ja nicht verbunden zu bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, daß es gar wohl Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so ereignet haben, als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat er auch schon entschieden, daß sich der Dichter um den wenigern Teil seiner Zuschauer, der von den wahren Umständen vielleicht unterrichtet ist, lieber nicht bekümmern, als seiner Pflicht minder Genüge leisten müsse. Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komödie haben, beruhet auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu nötigen Beschreibungen und Winke überhoben; er kann seine Personen sogleich nach ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit und befördern bei dem Zuschauer die Illusion. Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als möglich zu erleichtern, seine Kräfte nicht an Nebenzwecke zu verschwenden, sondern sie ganz für den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm kömmt auf die Illusion des Zuschauers alles an.--Man wird vielleicht hierauf antworten, daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe; daß sie ihrer ganz und gar entübriget sein könne. Aber sonach braucht sie auch keine fremde Sitten; und von dem wenigen, was sie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden. Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht bloß in der Komödie, sondern auch in der Tragödie, zum Grunde gelegt. Ja sie haben fremden Völkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten leihen, als die Wirkungen der Bühne durch unverständliche barbarische Sitten entkräften wollen. Auf das Kostüm, welches unsern tragischen Dichtern so ängstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon können vornehmlich die "Perser" des Aeschylus sein: und die Ursache, warum sie sich so wenig an das Kostüm binden zu dürfen glaubten, ist aus der Absicht der Tragödie leicht zu folgern. Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, daß einheimische Sitten auch in der Tragödie zuträglicher sein würden, als fremde: so setze ich schon als unstreitig voraus, daß sie es wenigstens in der Komödie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, daß sie es sind: so kann ich auch die Veränderungen, welche Herr Romanus in Absicht derselben mit dem Stücke des Terenz gemacht hat, überhaupt nicht anders als billigen. Er hatte recht, eine Fabel, in welche so besondere griechische und römische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhält seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewöhnlichsten ist. Alle Anwendung fällt weg, wo wir uns erst mit Mühe in fremde Umstände versetzen müssen. Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je vollkommener die Fabel ist, desto weniger läßt sich der geringste Teil verändern, ohne das Ganze zu zerrütten. Und schlimm! wenn man sich sodann nur mit Flicken begnügt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen. Das Stück heißt "Die Brüder", und dieses bei dem Terenz aus einem doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea, sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind Brüder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif' ich nicht, warum unserm Verfasser diese Adoption mißfallen. Ich weiß nicht anders, als daß die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebräuchlich und vollkommen auf dem nämlichen Fuß gebräuchlich ist, wie sie es bei den Römern war. Demohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten Brüder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art erziehet. Aber desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch die zwei Alten wirkliche Väter; und das Stück ist wirklich eine Schule der Väter, d.i. solcher, denen die Natur die väterliche Pflicht aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar übernommen, die sich ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen Gemächlichkeit bestehen kann. Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt! Sehr wohl! Nur schade, daß durch Auflösung dieses einzigen Knoten, welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine auseinander fällt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene entstehen, die bloß die Konvenienz des Dichters, und keineswegs ihre eigene Natur zusammenhält! Denn ist Aeschinus nicht bloß der angenommene, sondern der leibliche Sohn des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekümmern? Der Sohn eines Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, daß jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschähe es auch in der besten Absicht von der Welt, so habe ich recht, diesem gutherzigen Verführer mit aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als daß ich diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn öfters und ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhältnisse, in welchem er bei dem Terenz stehet, aber er läßt ihm die nämliche Ungestümheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhältnis berechtigen konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit ärger, als bei dem Terenz. Er will aus der Haut fahren, "daß er an seines Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben muß". Wenn ihm nun aber dieser antwortete: "Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du könntest an meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und bleibt, so wird, wie das Unglück, also auch der Schimpf nur meine sein. Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er beleidiget mich. Falls du mich nur immer so ärgern wil1st, so komm mir lieber nicht über die Schwelle! usw." Wenn Micio, sage ich, dieses antwortete: nicht wahr, so wäre die Komödie auf einmal aus? Oder könnte Micio etwa nicht so antworten? Ja, müßte er wohl eigentlich nicht so Wieviel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er ein so liederliches Leben zu führen glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet der römische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast mir, sagt er, deinen Sohn einmal überlassen; bekümmere dich um den, der dir noch übrig ist; --nam ambos curare; propemodum Reposcere illum est, quem dedisti-- Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurückzugeben, ist es auch, die ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, daß sie alle väterliche Empfindungen bei ihm unterdrücken soll. Es muß den Micio zwar verdrießen, daß Demea auch in der Folge nicht aufhört, ihm immer die nämlichen Vorwürfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gänzlich will verderben lassen. Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der für das Wohl dessen besorgt ist, für den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zänker, der sich aus Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf keine Weise an dem bloßen Bruder dulden müßte. Achtundneunzigstes Stück Den 8. April 1768 Ebenso schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten Brüderschaft, auch das Verhältnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke es dem deutschen Aeschinus, daß er[1] "vielmals an den Torheiten des Ktesipho Anteil nehmen zu müssen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der Gefahr und öffentlichen Schande zu entreißen". Was Vetter? Und schickt es sich wohl für den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: "Ich billige deine hierbei bezeugte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch inskünftige nicht?" Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das sollte er ihm verwehren. "Suche deinen Vetter", müßte er ihm höchstens sagen, "soviel möglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest, daß er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter Name muß dir wertet sein, als seiner." Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an leiblichen Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern rühmet: --Illius opera nunc vivo! Festivum caput, Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo: Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit. Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, daß unser Verfasser seinem Aeschinus die Torheit überhaupt zu ersparen gewußt hat, die der Aeschinus des Terenz für seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entführung hat er in eine kleine Schlägerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Jüngling weiter keinen Teil hat, als daß er sie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl läßt er diesen wohlgezognen Jüngling für einen ungezognen Vetter noch viel zuviel tun. Denn müßte es jener wohl auf irgendeine Weise gestatten, daß dieser ein Kreatürchen, wie Citalise ist, zu ihm in das Haus brächte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verführerische Damis, diese Pest für junge Leute,[2] dessentwegen der deutsche Aeschinus seinem liederlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die bloße Konvenienz des Dichters. Wie vortrefflich hängt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus nimmt einem Sklavenhändler ein Mädchen mit Gewalt aus dem Hause, in das sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung seines Bruders zu willfahren, als um einem größern Übel vorzubauen. Der Sklavenhändler will mit diesem Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen Markt: und der Bruder will dem Mädchen nach; will lieber sein Vaterland verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.[3] Noch erfährt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluß. Was soll er tun? Er bemächtiget sich in der Geschwindigkeit des Mädchens und bringt sie in das Haus seines Oheims, um diesem gütigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Mädchen ist zwar entführt, aber sie muß ihrem Eigentümer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand und freuet sich nicht sowohl über die Tat der jungen Leute, als über die brüderliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und über das Vertrauen, welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das Größte ist geschehen; warum sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen einen vollkommen vergnügten Tag zu machen? --Argentum adnumeravit illico: Dedit praeterea in sumptum dimidium minae. Hat er dem Ktesipho das Mädchen gekauft, warum soll er ihm nicht verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnügen? Da ist nach den alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit widerspräche. Aber nicht so in unsern "Brüdern"! Das Haus des gütigen Vaters wird auf das ungeziemendste gemißbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanständigere Person, als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt hätte, so würde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen haben. Er würde Citalisen die Türe gewiesen und mit dem Vater die kräftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so sträflich emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten. Überhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfang viel zu verderbt geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem Vetter über seinen Vater unterhält.[4] "Leander. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater schuldig bist? Lykast. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir Leander. Er sollte sie nicht verlangen? Lykast. Nein, gewiß nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb. Ich müßte es lügen, wenn ich es sagen wollte. Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen. Lykast. Hm! Ich weiß nun eben nicht, was da geschehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch so gar unrecht nicht tun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast täglich zu mir: 'Wenn ich dich nur los wäre! wenn du nur weg wärest!' Heißt das Liebe? Kannst du verlangen, daß ich ihn wieder lieben soll?" Auch die strengste Zucht müßte ein Kind zu so unnatürlichen Gesinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgendeiner Ursache, fähig ist, verdienst nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so müssen jenes Ausschweifungen kein grundböses Herz verraten; es müssen nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert. So streng ihn sein Vater hält, so entfährt ihm doch nie das geringste böse Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen könnte, macht er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er möchte seiner Liebe gern wenigstens ein paar Tage ruhig genießen; er freuet sich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist; und wünscht, daß er sich damit so abmatten,--so abmatten möge, daß er ganze drei Tage nicht aus dem Bette könne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze: --utinam quidem Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim, Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere. Quod cum salute ejus fiat! Nur müßte es ihm weiter nicht schaden!--So recht! so recht, liebenswürdiger Jüngling! Immer geh, wohin dich Freunde und Liebe rufen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu! Das Böse, das du begehst, wird nicht sehr böse sein! Du hast einen strengern Aufseher in dir, als selbst dein Vater ist!--Und so sind mehrere Züge in der Szene, aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein abgefeimter Bube, dem Lügen und Betrug sehr geläufig sind: der römische hingegen ist in der äußersten Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen könnte. Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die. Quid dicam? SY. Nil ne in mentem venit? CT. Nunquam quicquam. SY. Tanto nequior. Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis? CT. Sunt, quid postea? SY. Hisce opera ut data sit? CT. Quae non data sit? Non potest Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Jüngling sucht einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlägt ihm eine Lüge vor. Eine Lüge! Nein, das geht nicht: non potest fieri! [1] Aufz. I., Auftr. 3. S. 18. [2] Seite 30. [3] Act. II. Sc. 4. Ae. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier. Ct. Pudebat. Ae. Ah, stultitia est istaec; non pudor, tam ob parvulam Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant. 1. Erster Aufz., 6. Auftr. Neunundneunzigstes Stück Den 12. April 1768 Sonach hatte Terenz auch nicht nötig, uns seinen Ktesipho am Ende des Stücks beschämt, und durch die Beschämung auf dem Wege der Besserung, zu zeigen. Wohl aber mußte dieses unser Verfasser tun. Nur fürchte ich, daß der Zuschauer die kriechende Reue und die furchtsam Unterwerfung eines so leichtsinnigen Buben nicht für sehr aufrichtig halten kann. Ebensowenig als die Gemütsänderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in ihrem Charakter gegründet, daß man das Bedürfnis des Dichters, sein Stück schließen zu müssen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu schließen, ein wenig zu sehr darin empfindet.--Ich weiß überhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, daß der Böse notwendig am Ende des Stücks entweder bestraft werden oder sich bessern müsse. In der Tragödie möchte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versöhnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einförmig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann in etwas mehr, als in einer bloßen Kollision der Charaktere bestehen. Diese kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veränderung des einen Teiles dieser Charaktere geendet werden; und ein Stück, das wenig oder nichts mehr hat als sie, nähert sich nicht sowohl seinem Ziele, sondern schläft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision, die Handlung mag sich ihrem Ende nähern soviel als sie will, dennoch gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, daß das Ende ebenso lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hören, daß der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so können wir uns das übrige alles an den Fingern abzählen; denn es ist der fünfte Akt. Er wird anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besänftigen lassen, wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, daß er nie wieder zu einer solchen Komödie den Stoff geben kann: desgleichen wird der ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich sehen, der in dem fünften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters erraten kann! Die Intrige ist längst zu Ende, aber das fortwährende Spiel der Charaktere läßt es uns kaum bemerken, daß sie zu Ende ist. Keiner verändert sich; sondern jeder schleift nur dem andern ebensoviel ab, als nötig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der freigebige Micio wird durch das Manöver des geizigen Demea dahin gebracht, daß er selbst das Übermaß in seinem Bezeigen erkennst, Quod proluvium? quae istaec subita est largitas? So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manöver des nachsichtsvollen Micio endlich erkennet, daß es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco.-- Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenen Nachteile, von seinem Muster entfernt hat. Terenz sagt es selbst, daß er in die "Brüder" des Menanders eine Episode aus einem Stücke des Diphilus übertragen, und so seine "Brüder" zusammengesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entführung der Psaltria durch den Aeschinus: und das Stück des Diphilus hieß: "Die miteinander Sterbenden". Synapothnescontes Diphili comoedia est-- In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit Meretricem in prima fabula-- --eum hic locum sumpsit sibi In Adelphos-- Nach diesen beiden Umständen zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgeführet haben, die fest entschlossen waren, lieber miteinander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiß, was geschehen wäre, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geschlagen und das Mädchen für den Liebhaber mit Gewalt entführt hätte? Den Entschluß, miteinander zu sterben, hat Terenz in den bloßen Entschluß des Liebhabers, dem Mädchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdrücklich: Menander mori illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heißen? Ganz gewiß; wie Peter Nannius dieses schon angemerkt hat.[1] Denn der Dichter, wie wir gesehen, sagt es ja selbst, daß er diese ganze Episode von der Entführung nicht aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stück des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel. Indes muß freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten Entführung, in dem Stücke des Menanders eine andere Intrige gewesen sein, an der Aeschinus gleicherweise für den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende ihre Verbindung so glücklich beschleunigte. Worin diese eigentlich bestanden, dürfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben, worin sie will: so wird sie doch gewiß ebensowohl gleich vor dem Stücke vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafür gebrauchte Entführung. Denn auch sie muß es gewesen sein, wovon man noch überall sprach, als Demea in die Stadt kam; auch sie muß die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein, worüber Demea gleich anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in welchem sich beider Gemütsarten so vortrefflich entwickeln. --Nam illa, quae antehac facta sunt Omitto: modo quid designavit?-- Fores effregit, atque in aedes irruit Alienas-- --clamant omnes, indignissime Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio, Dixere? in ore est omni populo-- Nun habe ich schon gesagt, daß unser Verfasser diese gewaltsame Entführung in eine kleine Schlägerei verwandelt hat. Er mag auch seine guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlägerei selbst nicht so spät hätte geschehen lassen. Auch sie sollte und müßte das sein, was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe sie geschieht, und man weiß gar nicht worüber? Er tritt auf und zankt, ohne den geringsten Anlaß. Er sagt zwar: "Alle Leute reden von der schlechten Aufführung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuß in die Stadt setzen, so höre ich mein blaues Wunder." Aber was denn die Leute eben itzt reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt gehört und worüber er ausdrücklich mit seinem Bruder zu zanken kömmt, das hören wir nicht und können es auch aus dem Stücke nicht erraten. Kurz, unser Verfasser hätte den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar verändern können, aber er hätte ihn nicht versetzen müssen! Wenigstens, wenn er ihn versetzen wollen, hätte er den Demea im ersten Akte seine Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach müssen äußern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen.-- Möchten wenigstens nur diejenigen Stücke des Menanders auf uns gekommen sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenderes denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den lateinischen Kopien sein würde. Denn gewiß ist es, daß Terenz kein bloßer sklavischer Übersetzer gewesen. Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stückes völlig beibehalten, hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstärkung oder Schwächung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur schade, daß sich Donatus immer so kurz und öfters so dunkel darüber ausdrückt (weil zu seiner Zeit die Stücke des Menanders noch selbst in jedermanns Händen waren), daß es schwer wird, über den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Künsteleien etwas Zuverlässiges zu sagen. In den "Brüdern" findet sich hiervon ein sehr merkwürdiges Exempel. [1] Sylloge v. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est.--Ita cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex eo commoriendi cum puella studio [Greek: synapothnaeskontes] nomen fabulae inditum esse.-- Hundertstes Stück Den 15. April 1768 Demea, wie schon angemerkt, will im fünften Akte dem Micio eine Lektion nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er möchte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnügen zu haben, ihm am Ende sagen zu können: "Nun sieh, was du von deiner Gutherzigkeit hast!" Solange der ehrliche Micio nur von seinem Vermögen dabei zusetzt, lassen wir uns den hämischen Spaß ziemlich gefallen. Aber nun kömmt es dem Verräter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten verlebten Mütterchen zu verkoppeln. Der bloße Einfall macht uns anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, daß es Ernst damit wird, daß sich Micio wirklich die Schlinge über den Kopf werfen läßt, der er mit einer einzigen ernsthaften Wendung hätte ausweichen können: wahrlich, so wissen wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea, oder auf den Micio.[1] "Demea. Jawohl ist das mein Wille! Wir müssen von nun an mit diesen guten Leuten nur eine Familie machen; wir müssen ihnen auf alle Weise aufhelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden.-- Aeschinus. Das bitte ich, mein Vater. Micio. Ich bin gar nicht dagegen. Demea. Es schickt sich auch nicht anders für uns.--Denn erst ist sie seiner Frauen Mutter-- Micio. Nun dann? Demea. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar-- Micio. So höre ich. Demea. Bei Jahren ist sie auch. Micio. Jawohl. Demea. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist niemand, der sich um sie bekümmerte; sie ist ganz verlassen. Micio. Was will der damit? Demea. Die mußt du billig heiraten, Bruder. Und du (zum Aeschinus) mußt ja machen, daß er es tut. Micio. Ich? sie heiraten? Demea. Du! wie gesagt, du! Micio. Du bist nicht klug. Demea (zum Aeschinus). Nun zeige, was du kannst! Er muß! Aeschinus. Mein Vater-- Micio. Wie?--Und du, Geck, kannst ihm noch folgen? Demea. Du sträubest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders Micio. Du schwärmst. Aeschinus. Laß dich erbitten, mein Vater. Micio. Rasest du? Geh! Demea. Oh, so mach dem Sohne doch die Freude! Micio. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fünfundsechzigsten Jahre noch heiraten? Und ein altes, verlebtes Weib heiraten? Das könnet ihr mir zumuten? Aeschinus. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen. Micio. Versprochen gar?--Bürschchen, versprich für dich, was du versprechen wil1st! Demea. Frisch! Wenn es nun etwas Wichtigeres wäre, warum er dich Micio. Als ob etwas Wichtigeres sein könnte, wie das? Demea. So willfahre ihm doch nur! Aeschinus. Sei uns nicht zuwider! Demea. Fort, versprich! Micio. Wie lange soll das währen? Aeschinus. Bis du dich erbitten lassen. Micio. Aber das heißt Gewalt brauchen. Demea. Tu ein übriges, guter Micio. Micio. Nun dann;--ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft noch mit meiner Lebensart reimet:--weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!" "Nein", sagt die Kritik; "das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen könnte, wäre dieses, daß er die nachteiligen Folgen einer übermäßigen Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so liebenswürdig bewiesen, er hat so viel Verstand, so viele Kenntnis der Welt gezeigt, daß diese seine letzte Ausschweifung wider alle Wahrscheinlichkeit ist und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen muß. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide?--Der neue englische Übersetzer des Terenz, Colman, will den größern Teil des Tadels auf den Menander zurückschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des Donatus beweisen zu können, daß Terenz die Ungereimtheit seines Originals in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt nämlich: Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius euretikon. "Es ist sehr sonderbar", erklärt sich Colman, "daß diese Anmerkung des Donatus so gänzlich von allen Kunstrichtern übersehen worden, da sie, bei unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit verdienet. Unstreitig ist es, daß Terenz in dem letzten Akte dem Plane des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch vom Donatus, daß dieser Umstand ihm selber anstößig gewesen, und er sein Original dahin verbessert, daß er den Micio alle den Widerwillen gegen eine solche Verbindung äußern lassen, den er in dem Stücke des Menanders, wie es scheinet, nicht geäußert hatte." Es ist nicht unmöglich, daß ein römischer Dichter nicht einmal etwas besser könne gemacht haben, als ein griechischer. Aber der bloßen Möglichkeit wegen möchte ich es gern in keinem Falle glauben. Colman meinet also, die Worte des Donatus. Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur, hießen so viel als: beim Menander sträubet sich der Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hießen? Wenn sie vielmehr zu übersetzen wären: beim Menander fällt man dem Alten mit der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari würde zwar allerdings jenes heißen: aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja wohl das eigentliche Passivum und kann also meine Auslegung nicht allein leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie. Wäre aber dieses: wie stünde es dann um den Terenz? Er hätte sein Original so wenig verbessert, daß er es vielmehr verschlimmert hätte; er hätte die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden. Terentius euretikon! Aber nur, daß es mit den Erfindungen der Nachahmer nicht weit her ist! [1] Act. v. Sc. VIII. De. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus, Quam maxime unam facere nos hanc familiam; Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quaeso pater. Mi. Haud aliter censeo. De. Imo hercle ita nobis decet. Primum hujus uxoris est mater. Mi. Quid postea? De. Proba, et modesta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior. Mi. Scio. De. Parere jam diu haec per annos non potest: Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est. Mi. Quam hic rem De. Hanc te aequum est ducere: et te operam, ut fiat, dare. Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi. Ineptis. De. Si tu sis homo, Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, asine, auscultas. De. Nihil agis, Fieri aliter non potest. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi Mi. Insanis, aufer. De. Age, da veniam filio. Mi. Satin' sanus es? Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi? Aes. Fac; promisi ego illis. Mi. Promisti autem? de te largitor De. Age, quid, si quid te majus oret? Mi. Quasi non hoc sit maximum. De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non omittis? Aes. Non; nisi te exorem. Mi. Vis est haec quidem. De. Age prolixe Micio. Mi. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea Videtur: si vos tantopere istuc vultis. Fiat.-- Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück Den 19. April 1768 Hundert und erstes bis viertes?--Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieser Blätter nur aus hundert Stücken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig Wochen, und die Woche zwei Stück, geben zwar allerdings hundertundviere. Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen wöchentlichen Schriftsteller kein Feiertag zustatten kommen? Und in dem ganzen Jahre nur viere: ist ja so wenig! Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen, ausdrücklich hundert und vier Stück versprochen. Ich werde die guten Leute schon nicht zu Lügnern machen müssen. Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an?--Der Zeug ist schon verschnitten: ich werde einflicken oder recken müssen.--Aber das klingt so stümpermäßig. Mir fällt ein,--was mir gleich hätte einfallen sollen: die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will, und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu stehen.--So ein Nachspiel dann mag die Blätter nun füllen, die ich mir ganz ersparen wollte. Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel einen Prolog haben dürfen, der sich mit einem Poeta, cum primum animum ad scribendum appulit, anfinge? Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen Versuch zu machen, ob nicht für das deutsche Theater sich etwas mehr tun lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Prinzipals geschehen könne: so weiß ich nicht, wie man auf mich dabei fiel und sich träumen ließ, daß ich bei diesem Unternehmen wohl nützlich sein könnte?--Ich stand eben am Markte und war müßig; niemand wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wußte; bis gerade auf diese Freunde!--Noch sind mir in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgültig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten; aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte. Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters konkurrieren wolle? darauf war also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es könne? und wie ich es am besten könne? Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neuerern Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann. Doch freilich; wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde: so kostet es mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann, als ich. Was Goldoni für das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit dreizehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deutsche zu tun folglich bleiben lassen. Ja, das würde ich bleiben lassen, wenn ich es auch könnte. Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte:[1] so denke ich doch immer, daß die ersten Gedanken die ersten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine erste Gedanken sind gewiß kein Haar besser, als jedermanns erste Gedanken: und mit jedermanns Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause. --Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen, oder, wie es meinen rüstigem Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht, selbst das an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee zu diesem Blatte. Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d.I. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles von den Stücken der griechischen Bühne zu schreiben der Mühe wert gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal über den grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer Hochachtung für das Solide in den Wissenschaften, einbildete, daß es dem Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen Didaskalien zu tun gewesen.[2]--Wahrhaftig, es wäre auch eine ewige Schande für den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der Stücke, mehr um ihren Einfluß auf die Sitten, mehr um die Bildung des Geschmacks darin bekümmert hätte, als um die Olympiade, als um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst aufgeführet worden! Ich war schon willens, das Blatt selbst "Hamburgische Didaskalien" zu nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir sehr lieb, daß ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine Didaskalie aussehen müsse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz wäre, die eben dieser Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust, meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere itztlebende Casauboni würden die Köpfe trefflich geschüttelt haben, wenn sie gefunden hätten, wie selten ich irgendeines chronologischen Umstandes gedenke, der künftig einmal, wenn Millionen anderer Bücher verlorengegangen wären, auf irgendein historisches Faktum einiges Licht werfen könnte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der Prinzen vom Geblüte, oder nicht der Prinzen vom Geblüte, dieses oder jenes französische Meisterstück zuerst aufgeführet worden: das würden sie bei mir gesucht und zu ihrem großen Erstaunen nicht gefunden haben. Was sonst diese Blätter werden sollten, darüber habe ich mich in der Ankündigung erkläret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser wissen. Nicht völlig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas anderes; aber doch, denk' ich, nichts Schlechteres. "Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters als des Schauspielers hier tun würde." Die letztere Hälfte bin ich sehr bald überdrüssig geworden. Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muß ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätze darüber hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Präzision abgefaßte Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei. Daher kömmt es, daß alles Raisonnement über diese Materie immer so schwankend und vieldeutig scheinet, daß es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts als eine glückliche Routine hat, sich auf alle Weise dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zuviel glauben: ja öfters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Überhaupt hat man die Anmerkung schon längst gemacht, daß die Empfindlichkeit der Künstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem Verhältnisse steigt, in welchem die Gewißheit und Deutlichkeit und Menge der Grundsätze ihrer Künste abnimmt.--So viel zu meiner, und selbst zu deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen hätte. Aber die erstere Hälfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen,--und wie hätte es auch können? Die Schranken sind noch kaum geöffnet, und man wollte die Wettläufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem höhnischen Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum: und was hat denn das Publikum getan, damit etwas geschehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas Schlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht befördert: es hat ihm nicht einmal seinen natürlichen Lauf gelassen. --Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine kömmt, ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat.-- Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die nähere Anwendung desselben könnte leicht so bitter werden, daß ich lieber davon abbreche. Ich war also genötiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters hier wirklich könnte getan haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorläufig tun müßte, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und größern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen. Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen: ich glaube, die dramatische Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig, die sie ausüben. Auch habe ich sie so weit ausgeübet, als es nötig ist, um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich von niemanden gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde, als Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahieret hat. Ich habe von dem Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. Indes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!), daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt, als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu [1] An opinion John de la Casa, archbishop of Benevento, was afflicted with--which opinion was,--that whenever a Christian was writing a book (not for his private amusement, but) where his intent and purpose was bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were always the temptations of the evil one.--My father was hugely pleased with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the Shandy estate, to have been the broacher of it;--but as he could not have the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil etc. ("Life and Op. of Tristram Shandy", Vol. V. p. 74.) [2] ("Animadv. in Athenaeum Libr." VI. cap. 7.) Didaskalia accipitur pro eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula aliqua fuerit acta.--Quantum critici hac diligentia veteres chronologos adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem, cum Didaskalias suas componeret.-- Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten Muster der französischen Bühne ausführlich zu beurteilen. Denn diese Bühne soll ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man uns Deutsche bereden wollen, daß sie nur durch diese Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Bühnen aller neuern Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest geglaubt, daß bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten. Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen. Dieses ward, glücklicherweise, durch einige englische Stücke aus seinem Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, daß die Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem plötzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurück. Den englischen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die französischen so bekannt gemacht hatten. Was schloß man daraus? Dieses: daß sich auch ohne diese Regeln der Zweck der Tragödie erreichen lasse; ja, daß diese Regeln wohl gar schuld sein könnten, wenn man ihn weniger erreiche. Und das hätte noch hingehen mögen!--Aber mit diesen Regeln fing man an, alle Regeln zu vermengen und es überhaupt für Pedanterei zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun müsse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden solle. Ich wäre eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen, wenn ich glauben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gärung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen, als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Franzosen. Einige beiläufige Bemerkungen, die sie über die schicklichste äußere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles fanden, haben sie für das Wesentliche angenommen und das Wesentliche durch allerlei Einschränkungen und Deutungen dafür so entkräftet, daß notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit unter der höchsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln kalkuliert hatte. Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofür man will!--Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?-- Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man diese Äußerung für Prahlerei nehmen könne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlässig besser machen,--und doch lange kein Corneille sein,--und doch lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig besser machen;--und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann,--der so fest an den Aristoteles glaubet, wie ich. Eine Tonne, für unsere kritische Walfische! Ich freue mich im voraus, wie trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein für sie ausgeworfen; besonders für den kleinen Walfisch in dem Salzwasser Und mit diesem Übergange,--sinnreicher muß er nicht sein,--mag denn der Ton des ernsthaftem Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu ich diese letztern Blätter bestimmte. Wer hätte mich auch sonst erinnern können, daß es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Gemeimerat Klotz den Inhalt desselben bereits angekündiget hat?[1]-- Aber was bekömmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jäckchen, daß er so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, daß ich ihm etwas dafür versprochen hätte. Er mag wohl bloß zu seinem Vergnügen trommeln; und der Himmel weiß, wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf den Gassen, die ihm mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der ersten Hand von ihm zu erfahren bekommt. Er muß einen Wahrsagergeist haben, trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer hätte es ihm sonst sagen können, daß der Verfasser der Dramaturgie auch mit der Verleger derselben ist? Wer hätte ihm sonst die geheimen Ursachen entdecken können, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme beigelegt und das Probestück einer andern so erhoben habe? Ich war freilich damals in beide verliebt: aber ich hätte doch nimmermehr geglaubt, daß es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen können es ihm auch unmöglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern, wenn unsere hochgebietende Herren, die Journalisten und Zeitungsschreiber, mit solchen Kälbern pflügen wollen! Wenn sie zu ihren Beurteilungen, außer ihrer gewöhnlichen Gelehrsamkeit und Scharfsinnigkeit, sich aus noch solcher Stückchen aus der geheimsten Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen? "Ich würde", schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolds, "auch den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen können, wenn nicht die Abhandlung wider die Buchhändler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als daß er das Werk bald beschließen könnte." Man muß auch einen Kobold nicht zum Lügner machen wollen, wenn er es gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das böse Ding dem guten Stl. hier eingeblasen. Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich wollte meinen Lesern erzählen, warum dieses Werk so oft unterbrochen worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Mühe, so viel davon fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich über den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen, es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte über die nachteiligen Folgen des Nachdrucks überhaupt einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. Aber, das wäre ja sonach keine Abhandlung wider die Buchhändler geworden? Sondern vielmehr, für sie: wenigstens, der rechtschaffenen Männer unter ihnen; und es gibt deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolde also nicht immer so ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiß des bösen Feindes von der Zukunft noch etwa weiß, das weiß es nur halb.-- Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich nicht weise dünke. Denn eben dieser Mund sagt: Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist: antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, daß die Sache selbst darüber vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden würdest. Und so wende ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen ernstlich um Vergebung bitte. Es ist die lautere Wahrheit, daß der Nachdruck, durch den man diese Blätter gemeinnütziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich ihre Ausgabe bisher so verzögert hat, und warum sie nun gänzlich liegenbleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierüber sage, erlaube man mir, den Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts dabei, daß diese Hoffnung fehlschlägt. Auch bin ich gar nicht ungehalten darüber, daß ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge ebenso gern wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wünschen ohnedem, daß ich sie nie angelegt hätte; und es wird sich leicht einer unter ihnen finden, der das Tageregister einer mißlungenen Unternehmung bis zu Ende führet und mir zeiget, was für einen periodischen Nutzen ich einem solchen periodischen Blatte hätte erteilen können und sollen. Denn ich will und kann es nicht bergen, daß diese letzten Bogen fast ein Jahr später niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der süße Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gründen, ist schon wieder verschwunden: und soviel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, dürfte er auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spätesten in Erfüllung Aber auch das kann mir sehr gleichgültig sein!--Ich möchte überhaupt nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es für ein großes Unglück hielte, daß Bemühungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen. Sie können von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil daran genommen. Doch wie, wenn Bemühungen von weiterm Belange durch die nämlichen Undienste scheitern könnten, durch welche meine gescheitert sind? Die Welt verliert nichts, daß ich, anstatt fünf und sechs Bände Dramaturgie, nur zwei an das Licht der Welt bringen kann. Aber sie könnte verlieren, wenn einmal ein nützlicheres Werk eines bessern Schriftstellers ebenso ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gäbe, die einen ausdrücklichen Plan darnach machten, daß auch das nützlichste, unter ähnlichen Umständen unternommene Werk verunglücken sollte In diesem Betracht stehe ich nicht an und halte es für meine Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplott zu denunzieren. Eben diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und geschrieben, bei den Buchhändlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort Nachricht an die Herren Buchhändler Wir haben uns mit Beihilfe verschiedener Herren Buchhändler entschlossen, künftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise allezeit um die Hälfte zu verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhändler, welche wohl eingesehen, daß eine solche unbefugte Störung für alle Buchhändler zum größten Nachteil gereichen müsse, haben sich entschlossen, zu Unterstützung dieses Vorhabens eine Kasse aufzurichten, und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu unterstützen. Von den übrigen gutgesinnten Herren Buchhändlern erwarten wir demnach zur Vermehrung der Kasse desgleichen und ersuchen, auch unsern Verlag bestens zu rekommandieren. Was den Druck und die Schönheit des Papiers betrifft, so werden wir der ersten nichts nachgeben; übrigens aber uns bemühen, auf die unzählige Menge der Schleichhändler genau achtzugeben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu höcken und zu stören anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende Herren Mitkollegen, daß wir keinem rechtmäßigen Buchhändler ein Blatt nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, sobald jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufügen, sondern auch nicht weniger denenjenigen Buchhändlern, welche ihren Nachdruck zu verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren Buchhändler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhändler- Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich loszumachen oder zu erwarten, ihren besten Verlag für die Hälfte des Preises oder noch weit geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhändlern von unsre Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Vergütung widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, daß sich auch die übrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihilfe gutgesinnter Herren Buchhändler in kurzer Zeit legen werden. Wenn die Umstände erlauben, so kommen wir alle Ostermessen selbst nach Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen Mitkollegen, J. Dodsley und Compagnie. Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern Verbindung der Buchhändler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu steuern, so würde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen. Aber wie hat es vernünftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen können, diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein paar armen Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Straßenräuber werden? "Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt." Das möchte sein; wenn es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu rächen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein? Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmälern, aus seinem eigentümlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er möglicherweise daraus ziehen kann? "Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung." Was sind das für erforderliche Eigenschaften? Daß man fünf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine Innung? Welches sind seine ausschließenden Privilegien? Wer hat sie ihm erteilt? Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstümmeln, sondern auch das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Daß sie ihre Verteidigung beifügen--wenn anders eine Verteidigung für sie möglich ist--werde ich ihnen nicht verdenken. Sie mögen sie auch in einem Tone abfassen oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen: selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei Histörchen und Anekdötchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache. Nur erkläre ich im voraus die geringste Insinuation, daß es gekränkter Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, für eine Lüge. Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen und werde es schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, mehr als einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhändlern, dessen Vermittelung ich ein solches Geschäft gern überlasse. Aber keiner von ihnen muß mir es auch verübeln, daß ich meine Verachtung und meinen Haß gegen Leute bezeigen in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen coup de main für sich: Dodsley und Compagnie aber wollen bandenweise rauben. Das beste ist, daß ihre Einladung wohl von den wenigsten dürfte angenommen werden. Sonst wäre es Zeit, daß die Gelehrten mit Ernst darauf dächten, das bekannte Leibnizische Projekt auszuführen. Ende des zweiten Bandes [1] Neuntes Stück, S. 56. Verzeichnis der Theaterstücke geordnet nach Autorennamen John Banks: Der Graf von Essex Augustin David de Brueys: Der Advokat Patelin Giovanni Maria Cecchi: Die Mitgift Chevalier de Cérou: Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter Pierre Corneille: Rodogune Thomas Corneille: Der Graf von Essex Johann Friedrich Cronegk: Olint und Sophronia Philippe Néricault Destouches: Das Gespenst mit der Trommel Philippe Néricault Destouches: Das unvermutete Hindernis Philippe Néricault Destouches: Der poetische Dorfjunker Philippe Néricault Destouches: Der verborgene Schatz Philippe Néricault Destouches: Der verheiratete Philosoph Denis Diderot: Der Hausvater Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy: Zelmire Frederik Duim: Zaïre Charles Simon Favart: Soliman der Zweite Christian Fürchtegott Gellert: Die kranke Frau Luise Adelgunde Gottsched: Die Hausfranzösin Françoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny: Cenie Jean Baptiste Louis Gresset: Sidney Franz Heufeld: Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe Theodor Gottlieb von Hippel: Der Mann nach der Uhr Johann Christian Krüger: Herzog Michel Pierre Claude Nivelle de la Chaussée: Die Mütterschule Pierre Claude Nivelle de la Chaussée: Melanide Thomas l'Affichard: Ist er von Familie? Marc Antoine le Grand: Der sehende Blinde Marc Antoine le Grand: Der Triumph der vergangenen Zeit Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist Gotthold Ephraim Lessing: Der Schatz Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson Johann Friedrich Löwen: Die neue Agnese Johann Friedrich Löwen: Das Rätsel Francesco Scipione Maffei: Merope Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der Bauer mit der Erbschaft Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der unvermutete Ausgang Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Die falschen Vertraulichkeiten Molière: Die Frauenschule Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Schatz Philemon von Syrakus: Der Schatz Plautus: Trinummus Philippe Quinault: Die kokette Mutter Jean François Regnard: Demokrit Jean François Regnard: Der Spieler Jean François Regnard: Der Zerstreute Karl Franz Romanus: Die Brüder Germain François Poullain de Saint-Foix: Der Finanzpachter Johann Elias Schlegel: Der Triumph der guten Frauen Johann Elias Schlegel: Die stumme Schönheit Voltaire: Das Kaffeehaus Voltaire: Die Frau, die recht hat Voltaire: Merope Voltaire: Nanine Voltaire: Semiramis Voltaire: Zaïre Christian Felix Weiße: Amalia Christian Felix Weiße: Richard der Dritte Verzeichnis der Theaterstücke geordnet nach Titeln Amalia (Christian Felix Weiße) Cenie (Françoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny) Das Gespenst mit der Trommel (Philippe Néricault Destouches) Das Kaffeehaus (Voltaire) Das Rätsel (Johann Friedrich Löwen) Das unvermutete Hindernis (Philippe Néricault Destouches) Demokrit (Jean François Regnard) Der Advokat Patelin (Augustin David de Brueys) Der Bauer mit der Erbschaft (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Der Finanzpachter (Germain François Poullain de Saint-Foix) Der Freigeist (Gotthold Ephraim Lessing) Der Graf von Essex (John Banks) Der Graf von Essex (Thomas Corneille) Der Hausvater (Denis Diderot) Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter (Chevalier de Cérou) Der Mann nach der Uhr (Theodor Gottlieb von Hippel) Der poetische Dorfjunker (Philippe Néricault Destouches) Der Schatz (Gotthold Ephraim Lessing) Der Schatz (Gottlieb Konrad Pfeffel) Der Schatz (Philemon von Syrakus) Der sehende Blinde (Marc Antoine le Grand) Der Spieler (Jean François Regnard) Der Triumph der guten Frauen (Johann Elias Schlegel) Der Triumph der vergangenen Zeit (Marc Antoine le Grand) Der unvermutete Ausgang (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Der verborgene Schatz (Philippe Néricault Destouches) Der verheiratete Philosoph (Philippe Néricault Destouches) Der Zerstreute (Jean François Regnard) Die Brüder (Karl Franz Romanus) Die falschen Vertraulichkeiten (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Die Frau, die recht hat (Voltaire) Die Frauenschule (Molière) Die Hausfranzösin (Luise Adelgunde Gottsched) Die kokette Mutter (Philippe Quinault) Die kranke Frau (Christian Fürchtegott Gellert) Die Mitgift (Giovanni Maria Cecchi) Die Mütterschule (Pierre Claude Nivelle de la Chaussée) Die neue Agnese (Johann Friedrich Löwen) Die stumme Schönheit (Johann Elias Schlegel) Herzog Michel (Johann Christian Krüger) Ist er von Familie? (Thomas l'Affichard) Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe (Franz Heufeld) Melanide (Pierre Claude Nivelle de la Chaussée) Merope (Francesco Scipione Maffei) Merope (Voltaire) Miß Sara Sampson (Gotthold Ephraim Lessing) Nanine (Voltaire) Olint und Sophronia (Johann Friedrich Cronegk) Richard der Dritte (Christian Felix Weiße) Rodogune (Pierre Corneille) Semiramis (Voltaire) Sidney (Jean Baptiste Louis Gresset) Soliman der Zweite (Charles Simon Favart) Trinummus (Plautus) Zaïre (Frederik Duim) Zaïre (Voltaire) Zelmire (Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy) HAMBURGISCHE DRAMATURGIE von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING Ankuendigung Zweiter Band Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Autorennamen geordnet Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Titeln geordnet Ankuendigung Es wird sich leicht erraten lassen, dass die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwaertigen Blattes ist. Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Maennern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlaenglich darueber erklaert, und ihre Aeusserungen sind, sowohl hier, als auswaerts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Befoerderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern Zeiten sich versprechen darf. Freilich gibt es immer und ueberall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man koennte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goennen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr haemischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen bemueht ist: so muessen sie wissen, dass sie die verachtungswuerdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind. Gluecklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groessere Anzahl wohlgesinnter Buerger sie in den Schranken der Ehrerbietung haelt und nicht verstattet, dass das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoettischen Aberwitzes werden! So gluecklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so gluecklich zu sein! Als Schlegel, zur Aufnahme des daenischen Theaters,--(ein deutscher Dichter des daenischen Theaters!)--Vorschlaege tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, dass ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, "dass man den Schauspielern selbst die Sorge nicht ueberlassen muesse, fuer ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten".[1] Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlaessiger und eigennuetziger treiben laesst, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen. Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waere, als dass eine Gesellschaft von Freunden der Buehne Hand an das Werk gelegt und, nach einem gemeinnuetzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haette: so waere dennoch, bloss dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veraenderung koennen, auch bei einer nur maessigen Beguenstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf. An Fleiss und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen duerfte, muss die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und hoere, und pruefe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaetzig verhoeret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden! Nur dass sich nicht jeder kleine Kritikaster fuer das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getaeuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als sie nach ihrer Art gewaehren kann. Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist. Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret. Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist. Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht. Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat. Eine schoene Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdruecken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch groessten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaetzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noetig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfuellend! Er muss ueberall mit dem Dichter denken; er muss da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, fuer ihn denken. Man hat allen Grund, haeufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen.--Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoeher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet. Heute geschieht die Eroeffnung der Buehne. Sie wird viel entscheiden; sie muss aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es wuerde Muehe kosten, ein ruhiges Gehoer zu erlangen.--Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher als mit dem Anfange des kuenftigen Monats erscheinen. Hamburg, den 22. April 1767. ----Fussnote [1] "Werke", dritter Teil, S. 252." ----Fussnote Erstes Stueck Den 1. Mai 1767 Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und Sophronia" gluecklich eroeffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stueckes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl waere zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, dass man eine viel bessere haette treffen koennen. "Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuer unsere Buehne zu frueh; aber eigentlich gruendet sich sein Ruhm mehr auf das was er, nach dem Urteile seiner Freunde, fuer dieselbe noch haette leisten koennen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haette in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben koennen, ohne die Kritik ueber seine wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen? Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine ruehrende Erzaehlung in ein ruehrendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Muehe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhueten wissen, dass diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwaechen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzaehlers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen koennen; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu noetig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklaeren, tut, und was der bloss witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert. Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Staerke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Staerke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuetiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlasste: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiss, eine fromme Verbesserung--weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natuerlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, dass nichts darueber! Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertaetige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmoeglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraet sich in mehrern Stuecken, dass ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der groebste Fehler aber ist, dass er eine Religion ueberall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heisst ihm "ein Sitz der falschen Goetter", und den Priester selbst laesst er ausrufen: "So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe ruesten, Ihr Goetter? Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!" Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostuem, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muss solche Ungereimtheiten sagen! Beim Tasso koemmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne dass man eigentlich weiss, ob es von Menschenhaenden entwendet worden, oder ob eine hoehere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Taeter. Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr veraechtliche Seite. Man kann ihm unmoeglich wieder gut werden, dass er es wagen koennen, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Grossmut. Beim Tasso laesst ihn bloss die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloss um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den naemlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem naemlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloss das Glueck einer so suessen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wuenschet nichts, als dass diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein moege, dass er Brust gegen Brust druecken und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen duerfe. Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwaermerin und einem hitzigen, begierigen Juenglinge ist beim Cronegk voellig verloren. Sie sind beide von der kaeltesten Einfoermigkeit; beide haben nichts als das Maertertum im Kopfe; und nicht genug, dass er, dass sie fuer die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena haette nicht uebel Lust dazu. Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor grossen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel ueberhaupt. Wenn heldenmuetige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man oefters, was man an mehrern sieht, hoeret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem "Kodrus" sehr versuendiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode fuer dasselbe, haette den Kodrus allein auszeichnen sollen: er haette als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art dastehen muessen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles haelt gemartert werden und sterben fuer ein Glas Wasser trinken. Wir hoeren diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, dass sie alle Wirkung Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Maertyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner buergerlichen Obliegenheiten in den Tod stuerzet, den Titel eines Maertyrers sich anmassen duerfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen Maertyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und hoechstens koennen sie uns eine melancholische Traene ueber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit ueberhaupt in ihnen faehig erblicken. Doch diese Traene ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maertyrer zu seinem Helden waehlet: dass er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgruende gebe! dass er ihn ja in die unumgaengliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr blossstellet! dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht hoehnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon beruehret, dass es nur ein ebenso nichtswuerdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; dass es noch Laender gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben wuerde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig fuer jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boehmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloss schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese ruehren kann, wuerdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poebel herablaesst, laesst sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestaerken. Zweites Stueck Den 5. Mai 1767 Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail, ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater gehen duerfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Grossmut und Ermahnungen bestuermet und bis in das Innerste erschuettert worden, laesst er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Grosses sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht wuerde Voltaire auch diese Vermutung unterdrueckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas haette geschehen muessen. Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so duerfte die erste Tragoedie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stueck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist ein solches Stueck aber auch wohl moeglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveraenderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Zuege sind, mit dem ganzen Geschaefte der Tragoedie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glueckseligkeit nach diesem Leben der Uneigennuetzigkeit, mit welcher wir alle grosse und gute Handlungen auf der Buehne unternommen und vollzogen zu sehen wuenschen? Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu uebersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, waere also mein Rat:--man liesse alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgefuehret. Dieser Rat, welcher aus den Beduerfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmaessige Stuecke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwaechern Gemuetern zustatten koemmt, die, ich weiss nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Staette gefasst machen, im Theater zu hoeren bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoss geben; und ich wuenschte, dass es auch allem genommenen Anstosse vorbeugen koennte und wollte. Cronegk hatte sein Stueck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uebrige hat eine Feder in Wien dazugefueget; eine Feder --denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergaenzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod loeset alle Verwirrungen am besten; darum laesst er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennuetzigsten Grossmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"--"Woran? am fuenften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fuenfte Akt ist eine garstige boese Staupe, die manchen hinreisst, dem die ersten vier Akte ein weit laengeres Leben versprachen.-- Doch ich will mich in die Kritik des Stueckes nicht tiefer einlassen. So mittelmaessig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der aeusseren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuenste, deren Hilfe dazu noetig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die Kuenstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande. Man muss mit der Vorstellung eines Stueckes zufrieden sein, wenn unter vier, fuenf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaenger oder sonst ein Notnagel so sehr beleidiget, dass er ueber das Ganze die Nase ruempft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist. Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer fuer den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle uebrige Rollen von ihm sehen zu koennen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprueche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiss, dass das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Wuerde, das Frostigste Feuer und Leben erhaelt. Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem "Kodrus" und hier, so manche in einer so schoenen nachdruecklichen Kuerze ausgedrueckt, dass viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oefters gefaerbtes Glas fuer Ede1steine, und witzige Antithesen fuer gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine, "Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht." "Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boesewicht." Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrueckt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaenzlich ausbrechen laesst. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buehne koennte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates wuerde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoessig diese vermeinten Maximen waeren, und ich wuenschte sehr, dass die Missbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil moege gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Poebel das sittliche Gefuehl so fein, so zaertlich war, dass einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestuermet zu werden! Ich weiss wohl, die Gesinnungen muessen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie aeussert, entsprechen; sie koennen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muessen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen koennen. Aber auch diese poetische Wahrheit muss sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naehern, und der Dichter muss nie so unphilosophisch denken, dass er annimmt, ein Mensch koenne das Boese, um des Boesen wegen, wollen, er koenne nach lasterhaften Grundsaetzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so graesslich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden fuer die hoechste Schoenheit des Trauerspieles haelt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, dass von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, dass ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein muessen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Boesewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemissbraucht haetten. Wenn die Buehne so unbesonnene Urteile ueber die Priester ueberhaupt ertoenen laesst, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstrasse zur Hoelle ausschreien? Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stueckes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen. Drittes Stueck Den 8. Mai 1767 Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), dass wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hoeren? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso unterhaltend finden sollen? Alle Moral muss aus der Fuelle des Herzens kommen, von der der Mund uebergehet; man muss ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen. Es verstehst sich also von selbst, dass die moralischen Stellen vorzueglich wohl gelernet sein wollen. Sie muessen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoss, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gesprochen werden, dass sie keine muehsame Auskramungen des Gedaechtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwaertigen Lage der Sachen scheinen. Ebenso ausgemacht ist es, dass kein falscher Akzent uns muss argwoehnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muss uns durch den richtigsten, sichersten Ton ueberzeugen, dass er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe. Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefasst, die man sich einmal ins Gedaechtnis gepraeget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschaeftiget; aber alsdann ist keine Empfindung moeglich. Die Seele muss ganz gegenwaertig sein; sie muss ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann-- Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist ueberhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen aeussern Merkmalen urteilen koennen. Nun ist es moeglich, dass gewisse Dinge in dem Baue des Koerpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwaechen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faehigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwaertig aeussern und ausdruecken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegenteils kann ein anderer so gluecklich gebauet sein; er kann so entscheidende Zuege besitzen; alle seine Muskeln koennen ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfaeltige Abaenderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglueckt sein, dass er uns in denjenigen Rollen, die er nicht urspruenglich, sondern nach irgendeinem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische Nachaeffung ist. Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgueltigkeit und Kaelte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaeffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfaengt, und durch deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, dass eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veraenderungen des Koerpers hervorbringen, hinwiederum durch diese koerperliche Veraenderungen bewirket werden) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kraeftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veraenderungen des Koerpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefuehl zuverlaessig schliessen zu koennen glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die aeusserste Wut des Zornes ausdruecken; ich nehme an, dass er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, dass er die Gruende dieses Zornes weder hinlaenglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergroebsten Aeusserungen des Zornes einem Akteur von urspruenglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzumachen weiss--den hastigen Gang, den stampfenden Fuss, den rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zaehne usw.--wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefuehl von Zorn befallen, welches wiederum in den Koerper zurueckwirkt, und da auch diejenigen Veraenderungen hervorbringt, die nicht bloss von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird gluehen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es sein sollte. Nach diesen Grundsaetzen von der Empfindung ueberhaupt habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche aeusserliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so dass sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich duenkt folgendes. Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will also mit Gelassenheit und einer gewissen Kaelte gesagt sein. Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindruecken, welche individuelle Umstaende auf die handelnden Personen machen; er ist kein blosser symbolischer Schluss; er ist eine generalisierte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sein. Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kaelte?-- Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht. Ist die Situation ruhig, so muss sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muss ueber ihr Glueck oder ihre Pflichten bloss darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu geniessen, diese desto williger und mutiger zu beobachten. Ist die Situation hingegen heftig, so muss sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zurueckholen; sie muss ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stuermischen Ausbruechen den Schein vorbedaechtlicher Entschliessungen geben zu wollen scheinen. Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen gemaessigten und feierlichen. Denn dort muss das Raisonnement in Affekt entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskuehlen. Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stuermisch heraus, als das uebrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als das uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, dass sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und dass wir sie in jenen ebenso unnatuerlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie ueberlegten nie, dass die Stickerei von dem Grunde abstechen muss, und Gold auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist. Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabei machen sollen, noch was fuer welche. Sie machen gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende. Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen ueberlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie umgibt, zu werfen; so ist es natuerlich, dass sie allen Bewegungen des Koerpers, die von ihrem blossen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruecken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuss fest auf, die Arme sinken, der ganze Koerper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause--und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feierlichen Stille, als ob er sich nicht stoeren wollte, sich selbst zu hoeren. Die Reflexion ist aus,--wieder eine Pause--und so wie die Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu maessigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmaehlich das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, waehrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urploetzlich in unserer Gewalt, als Fuss und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdrueckenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande des ganzen uebrigen Koerpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaelte, mit welcher ich glaube, dass die Moral in heftigen Situationen gesprochen Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein; nur mit dem Unterschiede, dass der Teil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaeltere, und welcher dort der kaeltere war, hier der feurige sein muss. Naemlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen hoehern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glieder des Koerpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beitragen lassen; die Haende werden in voller Bewegung sein; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uebrige Koerper gern herausarbeiten moechte. Viertes Stueck Den 12. Mai 1767 Aber von was fuer Art sind die Bewegungen der Haende, mit welchen, in ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet? Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Haende vorgeschrieben hatten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, dass sie die Haendesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner darin zu leisten imstande sind, kaum die Moeglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermoegen, Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, dass sie nicht bloss eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes faehig werden. Ich bescheide mich gern, dass man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schauspieler vermengen muss. Die Haende des Schauspielers waren bei weitem so geschwaetzig nicht, als die Haende des Pantomimens. Bei diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natuerliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Haende nicht bloss natuerliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser musste sich der Schauspieler gaenzlich enthalten. Er gebrauchte sich also seiner Haende sparsamer, als der Pantomime, aber ebensowenig vergebens, als dieser. Er ruehrte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstaerken konnte. Er wusste nichts von den gleichgueltigen Bewegungen, durch deren bestaendigen einfoermigen Gebrauch ein so grosser Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand die Haelfte einer krieplichten Achte, abwaerts vom Koerper, beschreiben, oder mit beiden Haenden zugleich die Luft von sich wegrudern, heisst ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu tun geuebt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern Ich weiss wohl, dass selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand in schoenen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen moeglichen Abaenderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwunges, ihrer Groesse und Dauer, faehig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reizes gelaeufig zu machen; nicht aber in der Meinung, dass das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schoenen Linien, immer nach der naemlichen Direktion, bestehe. Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse; und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Spruechelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet. Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muss bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beispielen zu erlaeutern. Itzt wuerde mich dieses zu weit fuehren, und ich merke nur an, dass es unter den bedeutenden Gesten eine Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umstaenden der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermassen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwaertige von dem weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhoerer nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurueckzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein koennen, so muss sie der Schauspieler ja nicht zu machen versaeumen. Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es itzt beifaellt; der Schauspieler wird sich ohne Muehe auf noch weit einleuchtendere besinnen.--Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, dass er so grausam mit den Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrueglichkeit unsrer Hoffnungen zu Gemuete fuehren. "Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!" Sein Sohn ist ein feuriger Juengling, und in der Jugend ist man vorzueglich geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen. "Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft." Doch indem besinnt er sich, dass das Alter zu dem entgegengesetzten Fehler nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Juengling nicht ganz niederschlagen und faehret fort: "Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft." Diese Sentenzen mit einer gleichgueltigen Aktion, mit einer nichts als schoenen Bewegung des Armes begleiten, wuerde weit schlimmer sein, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die, welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschraenkt. "Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft" muss in dem Tone, mit dem Gestu der vaeterlichen Warnung, an und gegen den Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne leichtglaeubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung veranlasst. Die Zeile hingegen, "Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft" erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Haende muessen sich notwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, dass Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, dass er selbst der Alte sei, von dem er gelte. Es ist Zeit, dass ich von dieser Ausschweifung ueber den Vortrag der moralischen Stellen wieder zurueckkomme. Was man Lehrreiches darin findet, hat man lediglich den Beispielen des Herrn Ekhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Kuenstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloss gelingt, sondern der es macht! Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Akzent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiss den verworrensten, holprigsten, dunke1sten Vers mit einer Leichtigkeit, mit einer Praezision zu sagen, dass er durch ihre Stimme die deutlichste Erklaerung, den vol1staendigsten Kommentar erhaelt. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr gluecklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube die Liebeserklaerung, welche sie dem Olint tut, noch zu hoeren: "--Erkenne mich! Ich kann nicht laenger schweigen; Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen. Olint ist in Gefahr, und ich bin ausser mir-- Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute, War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. Dein Unglueck aber reisst die ganze Seele hin, Und itzt erkenn' ich erst, wie klein, wie schwach ich bin. Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen, Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen, Verbrechern gleichgestellt, ungluecklich und ein Christ, Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist: Itzt wag' ich's zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!" Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberstroemung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie ueberraschend brach sie auf einmal ab und veraenderte auf einmal Stimme und Blick und die ganze Haltung des Koerpers, da es nun darauf ankam, die duerren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich "Ich liebe dich, Olint,--" heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiss, ob die Liebe sich so erklaert, empfand, dass sie sich so erklaeren sollte. Sie entschloss sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein zaertliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewoehnt sonst in allem zu maennlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimuetigkeit wieder da. Sie fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekuemmerten Hitze des Affekts fort: "--Und stolz auf meine Liebe, Stolz, dass dir meine Macht dein Leben retten kann, Biet' ich dir Hand und Herz, und Kron' und Purpur an." Denn die Liebe aeussert sich nun als grossmuetige Freundschaft: und die Freundschaft spricht ebenso dreist, als schuechtern die Liebe. Fuenftes Stueck Den 15. Mai 1767 Es ist unstreitig, dass die Schauspielerin durch diese meisterhafte Absetzung der Worte "Ich liebe dich, Olint,--" der Stelle eine Schoenheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in dem naemlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen haette, in diesen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er haette sagen sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob koennte groesser sein, als so ein Vorwurf? Freilich muss sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses Lob verdienen zu koennen. Denn sonst moechte es mit den armen Dichtern uebel aussehen. Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes, widerwaertiges, haessliches Ding gemacht. Und demohngeachtet ist sie noch der einzige Charakter, der uns bei ihm interessierst. So sehr er die schoene Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die uebrigen Charaktere ganz ausser aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbruetenden Schwaermern sympathisieren. Nur gegen das Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton faellt, wird sie uns ebenso gleichgueltig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt sie von einem Aeussersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklaert, so fuegt sie hinzu: "Wirst du mein Herz verschmaehn? Du schweigst?--Entschliesse dich; Und wenn du zweifeln kannst--so zittre!-- So zittre? Olint soll zittern? er, den sie oft in dem Tumulte der Schlacht unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen? --O wenn es der Schauspielerin eingefallen waere, fuer diese ungezogene weibliche Gasconade "so zittre!" zu sagen: "ich zittre!" Sie konnte zittern, soviel sie wollte, ihre Liebe verschmaeht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das waere sehr natuerlich gewesen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fordern, das ist so unartig als laecherlich. Doch was haette es geholfen, den Dichter einen Augenblick laenger in den Schranken des Woh1standes und der Maessigung zu erhalten? Er faehrt fort, Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marketenderin rasen zu lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemaentelung mehr statt. Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun koennte, waere vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreissen liesse, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die aeusserste Wut nicht mit der aeussersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebaerden ausdrueckte. Wenn Shakespeare nicht ein ebenso grosser Schauspieler in der Ausuebung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens ebenso gut gewusst, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des andern gehoeret. Ja vielleicht hatte er ueber die Kunst des erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komoedianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel fuer alle Schauspieler, denen an einem vernuenftigen Beifalle gelegen ist. "Ich bitte euch", laesst er ihn unter andern zu den Komoedianten sagen, "sprecht die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muss nur eben darueber hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von unsern Schauspielern tun: seht, so waere mir es ebenso lieb gewesen, wenn der Stadtschreier meine Verse gesagt haette. Auch durchsaegt mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles huebsch artig; denn mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften, muesst ihr noch einen Grad von Maessigung beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt." Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben koenne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anfuehren, dass ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein koenne, als es die Umstaende erfodern: so haben die, welche es leugnen, recht zu sagen, dass in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Ueberhaupt koemmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl unstreitig, dass der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stuecke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so muessten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur aeussersten Illusion getrieben zu sehen wuenschen, wenn es moeglich waere, dass der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden koennte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein, dessen Maessigung Shakespeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muss bloss jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Maessigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stuecken maessigen muesse. Es gibt wenig Stimmen, die in ihrer aeussersten Anstrengung nicht widerwaertig wuerden; und allzu schnelle, allzu stuermische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Aeusserung der heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein koennte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen verlangt, wenn sie den hoechsten Eindruck machen und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen. Die Kunst des Schauspielers stehet hier zwischen den bildenden Kuensten und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muss zwar die Schoenheit ihr hoechstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muss sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini oefters erlauben; es hat bei ihr alle das Ausdrueckende, welches ihm eigentuemlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuensten durch den permanenten Stand erhaelt. Nur muss sie nicht allzu lang darin verweilen; nur muss sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmaehlich vorbereiten und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanstaendigen aufloesen; nur muss sie ihm nie alle die Staerke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verstaendlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen gibet, unverfaelscht ueberliefern soll. Es koennte leicht sein, dass sich unsere Schauspieler bei der Maessigung, zu der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in Ansehung des Beifalles nicht allzuwohl befinden duerften.--Aber welches Beifalles?--Die Galerie ist freilich ein grosser Liebhaber des Laermenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Haenden zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schlaefrigste rafft sich, gegen das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal die Stimme und ueberladet die Aktion, ohne zu ueberlegen, ob der Sinn seiner Rede diese hoehere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was tut das ihm? Genug, dass er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu sein, und wenn es die Guete haben will, ihm nachzuklatschen. Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug, teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, fuer die Tat. Ich getraue mich nicht, von der Aktion der uebrigen Schauspieler in diesem Stuecke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemueht sein muessen, Fehler zu bemaenteln, und das Mittelmaessige geltend zu machen: so kann auch der Beste nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruss, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten lassen, so sind wir doch nicht aufgeraeumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet. Den Beschluss des ersten Abends machte "Der Triumph der vergangenen Zeit", ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des Le Grand. Es ist eines von den drei kleinen Stuecken, welche Le Grand unter dem allgemeinen Titel "Der Triumph der Zeit" im Jahr 1724 auf die franzoesische Buehne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufschrift "Die laecherlichen Verliebten", behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind sehr laecherlich. Nur ist das Laecherliche von der Art, wie es sich mehr fuer eine satirische Erzaehlung, als auf die Buehne schickt. Der Sieg der Zeit ueber Schoenheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines sechzigjaehrigen Gecks und einer ebenso alten Naerrin, dass die Zeit nur ueber ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar laecherlich; aber diesen Geck und diese Naerrin selbst zu sehen, ist ekelhafter, als laecherlich. Sechstes Stueck Den 19. Mai 1767 Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem grossen Stuecke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefaellige Miene des Scherzes zu geben. Womit koennte ich diese Blaetter besser auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie. Sie beduerfen keines Kommentars. Ich wuensche nur, dass manches darin nicht in den Wind gesagt sei! Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der Wuerde, und die andere mit alle der Waerme und Feinheit und einschmeichelnden Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte. (Gesprochen von Madame Loewen) Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel: Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen, Wie schoen, wie edel ist die Lust, sich so zu quaelen; Wenn bald die suesse Traen', indem das Herz erweicht, In Zaertlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht, Bald die bestuermte Seel', in jeder Nerv' erschuettert, Im Leiden Wollust fuehlt und mit Vergnuegen zittert! O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt, Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners waelzt, Vergnuegend, wenn sie ruehrt, entzueckend, wenn sie schrecket, Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket, Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt, Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert? Die Fuersicht sendet sie mitleidig auf die Erde, Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde; Weiht sie, die Lehrerin der Koenige zu sein, Mit Wuerde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein; Heisst sie, mit ihrer Macht, durch Traenen zu ergoetzen, Das stumpfeste Gefuehl der Menschenliebe wetzen; Durch suesse Herzensangst, und angenehmes Graun Die Bosheit baendigen und an den Seelen baun; Wohltaetig fuer den Staat, den Wuetenden, den Wilden Zum Menschen, Buerger, Freund und Patrioten bilden. Gesetze staerken zwar der Staaten Sicherheit Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit; Doch deckt noch immer List den Boesen vor dem Richter, Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boesewichter. Wer raecht die Unschuld dann? Weh dem gedrueckten Staat, Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat! Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen, Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen, Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit Fuer eines Solons Geist den Geist der Drueckung leiht! Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen, Das Schwert der Majestaet aus ihren Haenden drehen: Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls Der Redlichkeit, den Fuss der Freiheit auf den Hals. Laesst den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten, Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten! Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann, Der schlaue Boesewicht, der blutige Tyrann, Wenn der die Unschuld drueckt, wer wagt es, sie zu decken? Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken. Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?-- Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geissel traegt, Die unerschrockne Kunst, die allen Missgestalten Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten; Die das Geweb' enthuellt, worin sich List verspinnt, Und den Tyrannen sagt, dass sie Tyrannen sind; Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erbloedet, Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fuersten redet; Gekroente Moerder schreckt, den Ehrgeiz nuechtern macht, Den Heuchler zuechtiget und Toren klueger lacht; Sie, die zum Unterricht die Toten laesst erscheinen, Die grosse Kunst, mit der wir lachen, oder weinen. Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier; In Rom, in Gallien, in Albion, und--hier. Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Traenen flossen, Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen; Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint: Wie sie gehasst, geliebt, gehoffet und gescheuet Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet. Lang hat sie sich umsonst nach Buehnen umgesehn: In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen! Hier, in dem Schoss der Ruh', im Schutze weiser Goenner, Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner; Hier reifet--ja ich wuensch', ich hoff', ich weissag' es!-- Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles, Der Graeciens Kothurn Germanien erneute: Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Goenner, wird der eure. O seid desselben wert! Bleibt eurer Guete gleich, Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch! (Gesprochen von Madame Hensel) Seht hier! so standhaft stirbt der ueberzeugte Christ! So lieblos hasset der, dem Irrtum nuetzlich ist, Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache, Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache. Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt, Wo Blindheit fuer Verdienst, und Furcht fuer Andacht galt. So konnt' er sein Gespinst von Luegen mit den Blitzen Der Majestaet, mit Gift, mit Meuchelmord beschuetzen. Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut: Die Wahrheit ueberfuehrt, der Irrtum fodert Blut. Verfolgen muss man die und mit dem Schwert bekehren, Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren. Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Moerder nach Und muss mit seinem Schwert den, welchen Traeumer hassen, Den Freund, den Maertyrer der Wahrheit wuergen lassen. Abscheulichs Meisterstueck der Herrschsucht und der List, Wofuer kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist! O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst missbrauchen, In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen, Dich, die ihr Blutpanier oft ueber Leichen trug, Dich, Greuel, zu verschmaehn, wer leiht mir einen Fluch! Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme Laut fuer die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme Ein schuldlos Opfer ward und fuer die Wahrheit sank: Habt Dank fuer dies Gefuehl, fuer jede Traene Dank! Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes: Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes! Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind, Zwar schwaechere vielleicht, doch immer Menschen sind. Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Traenen, Die sonst kein Vorwurf trifft, als dass sie anders waehnen! Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu, Nichts zur Verstellung zwingt, zu boeser Heuchelei; Der fuer die Wahrheit glueht und, nie durch Furcht gezuegelt, Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt. Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert: O wohl uns! haetten wir, was Cronegk schoen gelehrt, Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben, Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben! Des Dichters Leben war schoen, wie sein Nachruhm ist; Er war, und--o verzeiht die Traen'!--und starb, ein Christ. Liess sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten, Um sie--was kann man mehr?--noch tot zu unterrichten. Versaget, hat euch itzt Sophronia geruehrt, Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebuehrt, Den Seufzer, dass er starb, den Dank fuer seine Lehre, Und--ach! den traurigen Tribut von einer Zaehre. Uns aber, edle Freund', ermuntre Guetigkeit; Und haetten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht. Verzeihung mutiget zu edelerm Erkuehnen, Und feiner Tadel lehrt das hoechste Lob verdienen. Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt, In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind; Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen, Und--doch nur euch gebuehrt zu richten, uns zu schweigen. Siebentes Stueck Den 22. Mai 1767 Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner hoechsten Wuerde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten laesst. Es gibt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbetraechtlich und in sich selbst zu veraenderlich sind, als dass sie wert oder faehig waeren, unter der eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faellt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermesslich sind, dass sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz entgehen oder doch unmoeglich nach Verdienst geahndet werden koennen. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Laecherlichen, die Komoedie; und auf die andern, als auf ausserordentliche Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen und das Herz in Tumult setzen, die Tragoedie einzuschraenken. Das Genie lacht ueber alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, dass das Schauspiel ueberhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes waehlet und die eigentlichen Gegenstaende desselben nur insofern behandelt, als sie sich entweder in das Laecherliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unueberlegt, in einem Stuecke, dessen Stoff aus den ungluecklichen Zeiten der Kreuzzuege genommen ist, die Toleranz predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzuege selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Paepste waren, wurden in ihrer Ausfuehrung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, koemmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtglaeubige Europa entvoelkerte, um das unglaeubige Asien zu verwuesten? Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlass dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natuerlich und dringend finden sollte. Uebrigens stimme ich mit Vergnuegen dem ruehrenden Lobe bei, welches der Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich bereden lassen, dass er mit mir ueber den poetischen Wert des kritisierten Stueckes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, dass ich verschiedene von meinen Lesern durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht haette. Wenn ihnen bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, missfaellt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den ungekuenstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit schaetzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muss, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den Verfassern der "Bibliothek der schoenen Wissenschaften" gekroenet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stueck, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koemmt, doch noch ein Eine Stelle in dem Epilog ist einer Missdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt: "Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt, In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind." Quin, habe ich darwider erinnern hoeren, ist kein schlechter Schauspieler gewesen.--Nein, gewiss nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil fuer seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil fuer sich: man weiss, dass er in der Tragoedie mit vieler Wuerde gespielet; dass er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuege zu leisten gewusst; dass er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer groessten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Missverstaendnis liegt bloss darin, dass man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und ausserordentlichen Schauspieler einen schlechten, und fuer schlecht durchgaengig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier einen von der gewoehnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der ueberhaupt seine Sache so gut wegmacht, dass man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heissen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, fuer den das einstimmige Geruecht schon laengst den Garrick erklaeret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den Koenig im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoedie waren[1]; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick der groesste Akteur? Er schien ja nicht ueber das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das fuer eine Kunst, ueber ein Gespenst zu erschrecken? Gewiss und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen haetten, so wuerden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der andere hingegen, der Koenig, schien wohl auch etwas geruehrt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle moegliche Muehe, es zu verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!" Bei den Englaendern hat jedes neue Stueck seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoerer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindem Verstaendnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stueckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium fuer den Dichter, oder fuer den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl ueber ihn als ueber die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die voellige Aufloesung des Stuecks, die in dem fuenften Akte nicht Raum hatte, darin erzaehlen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen ueber die geschilderten Sitten und ueber die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aendern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts Ungewoehnliches, dass nach dem Blutigsten und Ruehrendsten die Satire ein so lautes Gelaechter aufschlaegt und der Witz so mutwillig wird, dass es scheinet, es sei die ausdrueckliche Absicht, mit allen Eindruecken des Guten ein Gespoette zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuenschte, dass auch bei uns neue Origina1stuecke nicht ganz ohne Einfuehrung und Empfehlung vor das Publikum gebracht wuerden, so versteht es sich von selbst, dass bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein muesste. Nach dem Lustspiele koennte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei den Englaendern Meisterstuecke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groessten Vergnuegen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil laengst vergessen sind. Hamburg haette einen deutschen Dryden in der Naehe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu wuerzen, so gut als der Englaender verstehen wuerde. ----Fussnote [1] Teil VI, S. 15. ----Fussnote Achtes Stueck Den 26. Mai 1767 Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt. Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgefuehret. Dieses Stueck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der ruehrenden Gattung, der man den spoettischen Beinamen der Weinerlichen gegeben. Wenn weinerlich heisst, was uns die Traenen nahe bringt, wobei wir nicht uebel Lust haetten zu weinen, so sind verschiedene Stuecke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Stroeme von Traenen; und der gemeine Prass franzoesischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefaehr so weit, dass uns wird, als ob wir haetten weinen koennen, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden haette. "Melanide" ist kein Meisterstueck von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnuegen. Es hat sich selbst auf dem franzoesischen Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muss ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wuenschte. Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muss es zum Troste des groessten Haufens unserer Uebersetzer anfuehren, dass ihre italienischen Mitbrueder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa uebersetzen, erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich moechte wohl sagen, etwas anders. Allzu puenktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmoeglich alles, was in der einen Sprache natuerlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich waessrig und schielend. Denn wo ist der glueckliche Versifikateur, den nie das Silbenmass, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas staerker oder schwaecher, frueher oder spaeter, sagen liesse, als er es, frei von diesem Zwange, wuerde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiss; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaenzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlaessigkeiten seines Originals ueberliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache fuer sie machen. Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen, doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stueck annehmen und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so muessen die Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laenge waeren und aus der naemlichen Anzahl von Silben des naemlichen Zeitmasses bestuenden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Ruecksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein koennen: so ist es der Natur gemaess, dass die Stimme die geringfuegigern schnell herausstoesst, fluechtig und nachlaessig darueber hinschlupft; auf den betraechtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaehlet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine kuenstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht bloss aus einem fertigen Gedaechtnisse fliesset. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaendig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abaenderungen des Tones, nicht bloss in Ansehung der Hoehe und Tiefe, der Staerke und Schwaeche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden: so entstehet jene natuerliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eroeffnet, weil es empfindet, dass sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleissiget, noch hinzufueget, bloss dadurch seiner Deklamation eine hoehere Vollkommenheit zu geben imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort. Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe", aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein. Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der "Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher gewesen sein. Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit uebertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie ueber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuecke nichts zu hoeren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uebrig, als, wie gesagt, das schwache verfuehrerische Maedchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat? Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich wuenschte, dass unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der grossen Welt aufmerksamer sein wollten.--St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angefuehrte Kunstrichter, "den Philosophen. Den Philosophen! Ich moechte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all- gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwuelstig, ausgelassen, und in seinem uebrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schuelerin oder von seinem Freunde an der Hand gefuehret zu werden."--Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux! ----Fussnote [1] Teil X, S. 255 u. f. ----Fussnote Neuntes Stueck Den 29. Mai 1767 In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklaerten Verstand zu zeigen und die taetige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoedie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht und sich sehr beleidiget findet, dass man seinem zaertlichen Herzchen nicht durchgaengig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit laeuft auf ein paar maechtige Torheiten heraus. Das Buerschchen will sich schlagen und erstechen. Der Verfasser hat es selbst empfunden, dass sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwaegen gibt: "dass ein Mensch seinesgleichen, in einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein Koenig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, grosse Handlungen verrichten koenne. Man muesse zum voraus annehmen, dass er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, dass Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafuer erkannt haetten." Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Misstrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben beimisst. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiss nicht; ob er sich schon sein Geschaeft dadurch sehr leicht machen koennte. Wir wollen es auf der Buehne sehen, wer die Menschen sind, und koennen es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloss auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmoeglich fuer sie interessieren; es laesst uns voellig gleichgueltig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine ueble Rueckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, dass wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund fuer den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklaeren, ihn auch dafuer zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Misstrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre guenstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel grosse Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn grosse? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaetzung, die groessten. Wie traf es sich denn indes, dass vierundzwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei aeussersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaenden nur immer einfallen koennen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koennte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moechten aber noch so natuerlich herbeigefuehret, noch so fein behandelt sein: so wuerden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre ueble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuermischen Scheinweisen nicht verlieren. Dass er schlecht handele, sehen wir: dass er gut handeln koenne, hoeren wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdruecken. Die Haerte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaehlet hatte, wird beim Rousseau nur kaum beruehrt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laesst den Vater die Tochter zu Boden stossen. Ich war um die Ausfuehrung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, dass ich mir gestehen musste, diesen Akteurs koenne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, dass, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, dass dieses unterlassen worden. Die Pantomime muss nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Faellen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muss es nicht wirklich sehen. Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stueckes. Sie gehoert dem Rousseau. Ich weiss selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fussfaellig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraenket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte uebertragen hat. Dem Rousseau muss man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu gross, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gruende bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, dass es sich durch die aeusserste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen wuerde: so konnte sie nur durch die ploetzliche Ueberraschung der unerwartetsten Begegnung erschuettert, und in einer Art von Betaeubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verfuehrerische Zaertlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veraenderung abzugewinnen, so musste er sich entschliessen, ihr sie abzunoetigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, dass sie den inbruenstigsten Liebhaber dem kaeltesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komoedie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: haette Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloss das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewoehnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatuerlichen in Sicherheit setzen wollte?--Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan haette, so wuerden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kraeftig ist; er wuerde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiss, wo es herkoemmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausfuehrte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor, waeren es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes, merklich wird. Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wussten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen muessen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhoerer muss keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stuecke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen waere, wuerde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst moechte ich es niemanden raten, sich dieser Besondernheit zu befleissigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewoehnet, als dass wir bei gaenzlicher Vermissung des reizendern nicht etwas Leeres empfinden sollten. Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das naemliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buehne gebracht. Sie haben beide grosse Stuecke von fuenf Aufzuegen daraus gemacht und sind daher genoetiget gewesen, den Plan des Roemers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heisst "Die Mitgift" und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches fuehrt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im Jahre 1745, auf der italienischen Buehne zu Paris, und auch dieses einzige Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgefuehret. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre spaeter, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so gluecklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurueckgefuehret worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stuecke; und meistenteils nahm er sie von dem aller- unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling fuer seine Muehe bekam. Zehntes Stueck Den 2. Juni 1767 Das Stueck des fuenften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches. Wenn wir die Annales des franzoesischen Theaters nachschlagen, so finden wir, dass die lustigsten Stuecke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwaertige, noch "Der verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgefuehret worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankuendiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, duenket man sich berechtiget, darueber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das naemliche findet. Destouches hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in seinem "Verschwender" Muster eines feinern, hoehern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuecken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentuemlichen Sphaere; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufaellige Wahl war, erklaerten sie fuer vorzueglichen Hang und herrschende Faehigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu koennen: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern aehnlicher, als dass sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren liessen, ehe sie ihr voreiliges Urteil aenderten? Ich will damit nicht sagen, dass das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Guete sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spueren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Haenden der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hoelzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie ueberladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als laecherlich. Aber demohngeachtet,--und nur dieses wollte ich sagen,--sind seine lustigen Stuecke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzaertelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern koennten. Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Sproede; aber insgeheim war sie die gefaellige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. "Wie gluecklich, o wie gluecklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst in der Entzueckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragte das liebe einfaeltige Maedchen: "Aber Mama, wer ist denn der Bernard, der die Leute gluecklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten, fasste sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kuerzlich gewaehlt habe; einer von den groessten im Paradiese." Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnuegen; Mama bekoemmt Verdacht; Mama beschleicht das glueckliche Paar; und da bekoemmt Mama von dem Toechterchen ebenso schoene Seufzer zu hoeren, als das Toechterchen juengst von Mama gehoert hatte. Die Mutter ergrimmt, ueberfaellt sie, tobt. "Nun, was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Maedchen. "Sie haben sich den h. Bernard gewaehlt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum nicht?"--Dieses ist eines von den lehrreichen Maerchen, mit welchen das weise Alter des goettlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muss. Er sahe nichts Anstoessiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstosse wusste er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhaengerin der Lehre des Gabalis; und der h. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen naeherzubringen gesucht; man hat sich aller Anstaendigkeit beflissen; das liebe Maedchen ist von der reizendsten, verehrungswuerdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfaelle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veraenderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht naeher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wuenschten, dass er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten haette.--Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles koemmt ihr hier zustatten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muss man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf. Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des Hrn. von Voltaire aufgefuehret. Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die franzoesische Buehne gebracht, erhielt grossen Beifall und macht in der Geschichte dieser Buehne gewissermassen Epoche.--Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und "Alzire", seinen "Brutus" und "Caesar" geliefert hatte, ward er in der Meinung bestaerkt, dass die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stuecken weit uebertraefen. "Von uns Franzosen", sagt er, "haetten die Griechen eine geschicktere Exposition und die grosse Kunst, die Auftritte untereinander so zu verbinden, dass die Szene niemals leer bleibt und keine Person weder ohne Ursache koemmt noch abgehet, lernen koennen. Von uns", sagt er, "haetten sie lernen koennen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der Dichter mit einer Menge erhabner, glaenzender Gedanken blenden und in Erstaunen setzen muesse. Von uns haetten sie lernen koennen"--O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da moechte zwar ein Auslaender, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demuetig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu duerfen. Er moechte vielleicht einwenden, dass alle diese Vorzuege der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen grossen Einfluss haetten; dass es Schoenheiten waeren, welche die einfaeltige Groesse der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermisste er bei seiner Buehne; dass die grossen Meisterstuecke derselben nicht mit der Pracht aufgefuehret wuerden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewuerdiget haetten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk draengt und stoesst, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Buehne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war ueberzeugt, dass bloss dieser Uebe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und praechtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haette. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine "Semiramis". Eine Koenigin, welche die Staende ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermaehlung zu eroeffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Moerder zu raechen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat fuer die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Laermen auf der Buehne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht fuer die franzoesische Buehne, so wie sie war, sondern so wie er sie wuenschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefaehr spielen liess. Bei der ersten Vorstellung sassen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich haette wohl ein altvaetrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel moegen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Buehne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so ausserordentlichen Stueckes, war, ist nach der Zeit die bestaendige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur fuer die Buehne in Paris; fuer die, wie gesagt, "Semiramis" in diesem Stuecke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haeufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu koennen. Eilftes Stueck Den 5. Junius 1767 Die Erscheinung eines Geistes war in einem franzoesischen Trauerspiele eine so kuehne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie mit so eignen Gruenden, dass es sich der Muehe lohnet, einen Augenblick dabei zu verweilen. "Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire, "dass man an Gespenster nicht mehr glaube und dass die Erscheinung der Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein koenne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum haette diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoennt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion haette dergleichen ausserordentliche Fuegungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte laecherlich sein, sie zu erneuern?" Diese Ausrufungen, duenkt mich, sind rhetorischer, als gruendlich. Vor allen Dingen wuenschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gruende, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu ueberzeugen. Die Religion, als Religion, muss hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und sonach haetten wir es auch hier nur mit dem Altertume zu tun. Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgefuehret finden, so waere es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozess zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter die naemliche Befugnis? Gewiss nicht.--Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtglaeubigere Zeiten zuruecklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzaehlt nicht, was man ehedem geglaubt, dass es geschehen, sondern er laesst es vor unsern Augen nochmals geschehen; und laesst es nochmals geschehen, nicht der blossen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und hoehern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taeuschen, und durch die Taeuschung ruehren. Wenn es also wahr ist, dass wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Taeuschung notwendig verhindern muesste; wenn ohne Taeuschung wir unmoeglich sympathisieren koennen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns demohngeachtet solche unglaubliche Maerchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren. Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Buehne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen fuer uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust waere fuer die Poesie zu gross; und hat sie nicht Beispiele fuer sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spoettisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuerchterlich zu machen weiss? Die Folge muss daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heisst das? Heisst es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmoeglichkeit davon erweisen koennen; gewisse unumstoessliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und bestaendig so gegenwaertig, dass ihm alles, was damit streitet, notwendig laecherlich und abgeschmackt vorkommen muss? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, ueber die sich fast ebensoviel dafuer als darwider sagen laesst, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwaertig herrschende Art zu denken den Gruenden darwider das Uebergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der groesste Haufe schweigt und verhaelt sich gleichgueltig und denkt bald so, bald anders, hoert beim hellen Tage mit Vergnuegen ueber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzaehlen. Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haeufigsten, fuer die er vornehmlich dichtet. Es koemmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gruenden fuer ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moegen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muessen wir glauben, was Er will. So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie moegen ein glaeubiges oder unglaeubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus--laecherlich. Shakespeares Gespenst koemmt wirklich aus jener Welt; so duenkt uns. Denn es koemmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duestern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der blosse verkleidete Komoediant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen koennte, er waere das, wofuer er sich ausgibt; alle Umstaende vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoeren den Betrug und verraten das Geschoepf eines kalten Dichters, der uns gern taeuschen und schrecken moechte, ohne dass er weiss, wie er es anfangen soll. Man ueberlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Staende des Reichs, von einem Donnerschlage angekuendiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoert, dass Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haette ihm nicht sagen koennen, dass die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und grosse Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch Voltaire wusste zuverlaessig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstaende zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, duenket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befoerdert, stoeret die Illusion. Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haette, so wuerde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer grossen Menge erscheinen zu lassen. Alle muessen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen aeussern; alle muessen es auf verschiedene Art aeussern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das gluecklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des naemlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muss. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so muessen wir sie nicht allein sehen koennen, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaesst; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehoert. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruetteten Gemuets wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerruettung in ihm verursacht, fuer eben das zu halten, wofuer er sie haelt. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns ueber, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der ausserordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken ueber seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht mehr Umstaende mit ihm, als man ohngefaehr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde machen wuerde, der auf einmal ins Zimmer tritt. Zwoelftes Stueck Den 9. Junius 1767 Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und franzoesischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns fuer sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid. Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern ueberhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natuerliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, duerfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen faehig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben koennen, in keine Betrachtung. Er wollte bloss damit lehren, dass die hoechste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache. Ich will nicht sagen, dass es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so einrichtet, dass sie zur Erlaeuterung oder Bestaetigung irgendeiner grossen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, dass diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; dass sehr lehrreiche vollkommene Stuecke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; dass man unrecht tut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so anzusehen, als ob das Ganze bloss um seinetwillen da waere. Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst haette, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, dass man naemlich daraus die hoechste Gerechtigkeit verehren lerne, die, ausserordentliche Lastertaten zu strafen, ausserordentliche Wege waehle: so wuerde "Semiramis" in meinen Augen nur ein sehr mittelmaessiges Stueck sein. Besonders da diese Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anstaendiger, wenn es dieser ausserordentlichen Wege nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Boesen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken. Doch ich will mich bei dem Stuecke nicht laenger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgefuehret worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Buehne ist geraeumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Szenen auftreten laesst. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als moeglich in einen. Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete Philosoph", vom Destouches, gespielet. Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die franzoesische Buehne und fand so allgemeinen Beifall, dass es in Jahr und Tag sechsunddreissigmal aufgefuehret ward. Die deutsche Uebersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin uebersetzten saemtlichen Werken des Destouches; sondern eine in Versen, an der mehrere Haende geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel glueckliche Verse, aber auch viel harte und unnatuerliche Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig franzoesische Stuecke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser ausgefallen waeren, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Loewen die launigte Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront unverbesserlich. Ich kann es ueberhoben sein, von dem Stuecke selbst zu reden. Es ist zu bekannt und gehoert unstreitig unter die Meisterstuecke der franzoesischen Buehne, die man auch unter uns immer mit Vergnuegen Das Stueck des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus, oder Die Schottlaenderin" des Hrn. von Voltaire. Es liesse sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Uebersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke" des Goldoni etwas Aehnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni das Urbild des Frelon gewesen zu sein. Was aber dort bloss ein boesartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frelon nannte, damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den Journalisten Freron, fallen moechten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Auslaender, die wir an den haemischen Neckereien der franzoesischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen ueber die Persoenlichkeiten dieses Stuecks weg und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und Englaender, nur dass sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Literatur ueberhaupt gleichgueltiger ist. Fiele das Treffende dieses Charakters aber auch gaenzlich in Deutschland weg, so hat das Stueck doch, noch ausser ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein koennte es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmuetigkeit, und die Englaender selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden. Denn nur seinetwegen haben sie erst kuerzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein ruehmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die "Schottlaenderin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", uebersetzt und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch haeufig dagegen verstossen; z.E. darin, dass er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen laesst. Colman mietet sie dafuer bei einer ehrlichen Frau ein, die moeblierte Zimmer haelt, und diese Frau ist weit anstaendiger die Freundin und Wohltaeterin der jungen verlassenen Schoene, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuer den englischen Geschmack kraeftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist nicht bloss eine eifersuechtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie, von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer Schutzgoettin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaere von Taetigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Franzoesischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem gluecklichen Ende bringet. Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere sehr wohl ausgefuehrt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans uebrige Stuecke weit vor, von welchen man "Die eifersuechtige Ehefrau" auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, ungefaehr urteilen koennen. "Der englische Kaufmann" hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug darin genaehret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernaechst hat er ihnen zuviel Aehnlichkeit mit andern Stuecken, und den besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, haette nicht den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden muessen; seine gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw. Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegruendet; indes sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, dass die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und ermuedet uns; wir lieben einen einfaeltigen Plan, der sich auf einmal uebersehen laesst. So wie die Englaender die franzoesischen Stuecke mit Episoden erst vollpfropfen muessen, wenn sie auf ihrer Buehne gefallen sollen; so muessten wir die englischen Stuecke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Buehne gluecklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley wuerden uns, ohne diesen Ausbau des allzu wolluestigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren Tragoedien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem so verworren nicht, als ihre Komoedien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veraenderung, bei uns Glueck gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komoedien zu sagen wuesste. Auch die Italiener haben eine Uebersetzung von der "Schottlaenderin", die in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frelon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener duenkte diese Entschuldigung nicht hinlaenglich, und er ergaenzte die Bestrafung des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind grosse Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit. Dreizehntes Stueck Den 12. Junius 1767 Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Haelfte der Schauspieler durch einen epidemischen Zufall ausserstand gesetzet, zu agieren; und man musste sich so gut zu helfen suchen, als moeglich. Man wiederholte "Die neue Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante". Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische Dorfjunker", vom Destouches, aufgefuehrt. Dieses Stueck hat im Franzoesischen drei Aufzuege, und in der Uebersetzung fuenfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche Schaubuehne" des weiland beruehmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Uebersetzerin, war eine viel zu brave Ehefrau, als dass sie sich nicht den kritischen Ausspruechen ihres Gemahls blindlings haette unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch fuer grosse Muehe, aus drei Aufzuegen fuenfe zu machen? Man laesst in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlaegt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"--Die Uebersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie ueberall ebenso gluecklich gewesen, wo sie den Einfaellen ihres Originals eine andere Wendung geben zu muessen geglaubt, wuerde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen hoeren. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, laesst Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen, Mademoiselle; ich habe Sie fuer eine Virtuosin gehalten." "O pfui!" erwidert Henriette; "wofuer haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Maedchen; dass Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", faellt ihr Masuren ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Maedchen und eine Virtuosin, sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, dass man das nicht zugleich sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte man, dass sie das tat. Sie fuehlte sich auch so etwas von einer Virtuosin zu sein, und ward ueber den vermeinten Stich boese. Aber sie haette nicht boese werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, haette die Frau Professorin immer, ohne Maulspitzen, nachsagen koennen. Doch vielleicht war ihr nur das fremde Wort Virtuosin anstoessig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern Schoenen fuenfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und verstaendlich uebersetzen; sie hatte sehr recht. Den Beschluss dieses Abends machte "Die stumme Schoenheit", von Schlegeln. Schlegel hatte dieses kleine Stueck fuer das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrieben, um auf demselben in einer daenischen Uebersetzung aufgefuehret zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich daenischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte ueberall eine ebenso fliessende als zierliche Versifikation, und es war ein Glueck fuer seine Nachfolger, dass er seine groessern Komoedien nicht auch in Versen schrieb. Er haette ihnen leicht das Publikum verwoehnen koennen, und so wuerden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komoedie sehr lebhaft angenommen; und je gluecklicher er die Schwierigkeiten derselben ueberstiegen haette, desto unwiderleglicher wuerden seine Gruende geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsaegliche Muehe es koste, nur einen Teil derselben zu uebersteigen, und wie wenig das Vergnuegen, welches aus diesen ueberstiegenen Schwierigkeiten entstehet, fuer die Menge kleiner Schoenheiten, die man ihnen aufopfern muesse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so ekel, dass man ihnen die prosaischen Stuecke des Moliere, nach seinem Tode, in Verse bringen musste; und noch itzt hoeren sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koenne. Den Englaender hingegen wuerde eine gereimte Komoedie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgueltiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was waere es auch, wenn sie itzt schon waehlen und ausmustern wollten? Die Rolle der stummen Schoene hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme Schoene, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schoenheit ist allerdings dumm zugleich; denn dass sie nichts spricht, koemmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei wuerde also dieses sein, dass man sie ueberall, wo sie, um artig zu scheinen, denken muesste, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten liesse, die bloss mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben koennte. Ihr Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht baeurisch zu sein; sie koennen so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muss Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen. Auch ihre Kleidung muss weder altvaetrisch, noch schlumpicht sein; denn Frau Praatgern sagt ausdruecklich: "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?--Lass doch sehn! Nun!--dreh dich um!--das ist ja gut, und sitzt galant. Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?" In dieser Musterung der Fr. Praatgern ueberhaupt hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Aeusserliche seiner stummen Schoene zu sein wuensche. Gleichfalls schoen, nur nicht reizend. "Lass sehn, wie traegst du dich?--Den Kopf nicht so zuruecke!" Dummheit ohne Erziehung haelt den Kopf mehr vorwaerts, als zurueck; ihn zurueckhalten, lehrt der Tanzmeister; man muss also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schoenheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schoenheit in ihrem besten Vorteile, nur dass sie ihr das Leben nehmen. "Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke." Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit grossen schoenen Augen zu dieser Rolle hat. Nur muessen sich diese schoene Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke muessen langsam und stier sein; sie muessen uns mit ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen. "Geh doch einmal herum!--Gut! hieher!--Neige dich! Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich." Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine baeurische Neige, einen dummen Knicks machen laesst. Ihre Verbeugung muss wohl gelernt sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praatgern muss sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Loewen bemerkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, dass die Praatgern sonst eine Rolle fuer sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswuerdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen. Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miss Sara Sampson" aufgefuehret. Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stueck ward ueberhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkuerzt es daher auf den meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkuerzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiss ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der uebermaessigen Laenge eines Stuecks durch das blosse Weglassen nur uebel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Szene verkuerzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu aendern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkuerzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Muehe wert duenket und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen. Madame Henseln starb ungemein anstaendig; in der malerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug ausserordentlich ueberrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, dass sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die gluecklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aeusserte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verloeschenden Lichts; der juengste Strahl einer untergehenden Sonne.--Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schoen findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal! Vierzehntes Stueck Den 16. Junius 1767 Das buergerliche Trauerspiel hat an dem franzoesischen Kunstrichter, welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,[1] einen sehr gruendlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben. Die Namen von Fuersten und Helden koennen einem Stuecke Pomp und Majestaet geben; aber zur Ruehrung tragen sie nichts bei. Das Unglueck derjenigen, deren Umstaende den unsrigen am naechsten kommen, muss natuerlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Koenigen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Koenigen. Macht ihr Stand schon oefters ihre Unfaelle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin moegen ganze Voelker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff fuer unsere Empfindungen. "Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man verkennst die Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel beduerfe, uns zu bewegen und zu ruehren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen ueberhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Ungluecklichen ist, den seine Gefaelligkeit gegen unwuerdige Freunde und das verfuehrerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darueber zugrunde gerichtet, und nun im Gefaengnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der aeussersten Beduerfnis und kann ihren Kindern, welche Brot verlangen, nichts als Traenen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine ruehrendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglueckliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfaehrt, dass der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fuerchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie gluecklich er habe leben koennen, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoedie wuerdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem ploetzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der suessesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aeussersten Ungluecke, in das eine blosse Schwachheit gestuerzet?" Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschaerft werden: es scheint doch nicht, dass das buergerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere aeusserliche Vorzuege zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glueckliches Genie vermag viel ueber sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Staerke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stuecke gemacht hat, welches er "Das Gemaelde der Duerftigkeit" nennet, hat schon grosse Schoenheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, haetten wir es fuer unser Theater adoptieren sollen. Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht ungluecklichen Muehe einer gaenzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer aehnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer alles ausfuehren, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, muesste man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut." Den zwoelften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom Regnard, aufgefuehret. Dieses Stueck ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buehne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, dass ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurueck, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlaessigkeit, dass einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so muessen wir es ihm wohl noch dazu danken, dass er sich ueberwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu missbrauchen; er bemaechtigte sich, bloss zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraussahe, dass sie verhunzt werden wuerden. Wir haetten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen waere. Doch haette er die Tat eingestehen und dem armen Du Freny einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen muessen. Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete Philosoph" wiederholst; und den Beschluss machte "Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter". Der Verfasser dieses kleinen artigen Stueckes heisst Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es faellt ungemein wohl aus. Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter", vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgefuehrt. Jene wird von den Kennern unter die besten Stuecke gerechnet, die sich auf dem franzoesischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Moliere nicht haette schaemen duerfen. Aber der fuenfte Akt und die ganze Aufloesung haette weit besser sein koennen; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, koemmt nicht zum Vorscheine; das Stueck schliesst mit einer kalten Erzaehlung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des franzoesischen Theaters deswegen mit merkwuerdig, weil der laecherliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault haette es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten Verliebten" koennen bewenden lassen. "Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet und nicht auf blossen Einfaellen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwaertig aufgefuehret wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz vortrefflich. Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist" vorgestellt. Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschaemten Freigeistes", weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift fuehret, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, dass derjenige beschaemt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der fuer Wahrheit und Irrtum gleichgueltige Lisidor, der spitzbuebische Johann sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stuecks erfuellen muessen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, dass die Vorstellung alles Beifalls wuerdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen ueber die Hartnaeckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen. Den Beschluss dieses Abends machte das Schaeferspiel des Hrn. Pfeffels: "Der Schatz". Dieser Dichter hat sich, ausser diesem kleinen Stuecke, noch durch ein anders, "Der Eremit", nicht unruehmlich bekannt gemacht. In den "Schatz" hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schaeferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt taendelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur oefters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoechst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele, auf ruehrende Stuecke koennte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaehnen ----Fussnote [1] "Journal Etranger", Decembre 1761. ----Fussnote Funfzehntes Stueck Den 19. Junius 1767 Den sechzehnten Abend (mittewochs, den 13. Mai) ward die "Zaire" des Herrn von Voltaire aufgefuehrt. "Den Liebhabern der gelehrten Geschichte", sagt der Hr. von Voltaire, "wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stueck entstanden. Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, dass in seinen Tragoedien nicht genug Liebe waere. Er antwortete ihnen, dass seiner Meinung nach die Tragoedie auch eben nicht der schicklichste Ort fuer die Liebe sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben muessten, so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stueck ward in achtzehn Tagen vollendet und fand grossen Beifall. Man nennt es zu Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des Polyeukts, vorgestellet worden." Den Damen haben wir also dieses Stueck zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblingsstueck der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwuerfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schoenheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien zugaenglichen Sitz einer unumschraenkten Gebieterin verwandelt; ein verlassenes Maedchen, zur hoechsten Staffel des Gluecks, durch nichts als ihre schoenen Augen, erhoehet; ein Herz, um das Zaertlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das gern fromm sein moechte, wenn es nur nicht aufhoeren sollte zu lieben; ein Eifersuechtiger, der sein Unrecht erkennet und es an sich selbst raechet; wenn diese schmeichelnde Ideen das schoene Geschlecht nicht bestechen, durch was liesse es sich denn bestechen? Die Liebe selbst hat Voltairen die Zaire diktiert: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger haette er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragoedie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist "Romeo und Juliet", vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire laesst seine verliebte Zaire ihre Empfindungen sehr fein, sehr anstaendig ausdruecken; aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaelde aller der kleinsten geheimsten Raenke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzeleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemessenste ausdruecken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bei der sproeden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiss von den Geheimnissen der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter geblieben. Von der Eifersucht laesst sich ohngefaehr eben das sagen. Der eifersuechtige Orosman spielt gegen den eifersuechtigen Othello des Shakespeare eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman gewesen. Cibber sagt,[1] Voltaire habe sich des Brandes bemaechtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich haette gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und waermet. Wir hoeren in dem Orosman einen Eifersuechtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines Eifersuechtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wussten. Othello hingegen ist das vollstaendigste Lehrbuch ueber diese traurige Raserei; da koennen wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden. Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen, immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das aergert uns; wir koennen ihn ja nicht lesen.--Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsaetzlich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Uebersetzung von Shakespeare. Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekuemmert sich schon mehr darum. Die Kunstrichter haben viel Boeses davon gesagt. Ich haette grosse Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Maennern zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin bemerkt haben: sondern weil ich glaube, dass man von diesen Fehlern kein solches Aufheben haette machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, wuerde in der Eil' noch oeftrer verstossen und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr ueberhuepft haben; aber was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schoenheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, dass wir notwendig eine bessere Uebersetzung haben muessten. Doch wieder zur "Zaire". Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die Pariser Buehne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische uebersetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Uebersetzer war Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines Stuecks an den Englaender Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden. Nur muss man nicht alles fuer vollkommen so wahr annehmen, als er es ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften ueberhaupt nicht mit dem skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben geschrieben hat! Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: "Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der sich selbst Addison[2] unterworfen; denn Gewohnheit ist so maechtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernuenftige Gewohnheit bestand darin, dass jeder Akt mit Versen beschlossen werden musste, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Uebrige des Stuecks; und notwendig mussten diese Verse eine Vergleichung enthalten. Phaedra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und Kleopatra mit Kindern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Uebersetzer der "Zaire" ist der erste, der es gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es empfunden, dass die Leidenschaft ihre wahre Sprache fuehren und der Poet sich ueberall verbergen muesse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen." Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist fuer den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, dass die Englaender, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch laenger her, die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzuege in ungereimten Versen mit ein paar gereimten Zeilen zu enden. Aber dass diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, dass sie notwendig Vergleichungen enthalten muessen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Englaender, von dem er doch glauben konnte, dass er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen koennen. Zweitens ist es nicht an dem, dass Hill in seiner Uebersetzung der "Zaire" von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar beinahe nicht glaublich, dass der Hr. von Voltaire die Uebersetzung seines Stuecks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich oder ein anderer. Gleichwohl muss es so sein. Denn so gewiss sie in reimfreien Versen ist, so gewiss schliesst sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zellen. Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare und Jonson und Dryden und Lee und Otway und Rowe, und wie sie alle heissen, ihre Aufzuege schliessen, sind sicherlich hundert gegen fuenfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Haette er aber auch wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so waere doch drittens das nicht wahr, dass sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire sein laesst. Noch bis diese Stunde erscheinen in England ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem einzigen Stuecke, deren er doch verschiedene, noch nach der Uebersetzung der "Zaire", gemacht, sich der alten Mode gaenzlich entaeussert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoeren oder keine? Wenn sie da sind, koennen sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen naemlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stuecke selbst abgenommen wuerde, als dass es die Pfeife oder der Schluessel gibt. ----Fussnote [1] From English Plays, Zara's French author fir'd, Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd, From rack'd Othello's rage, he rais'd his style And snatch'd the brand, that lights this tragic pile. [2] Le plus sage de vos ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie waere das wohl recht zu uebersetzen? Sage heisst: weise; aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer wuerde den Addison dafuer erkennen? Ich besinne mich, dass die Franzosen auch ein Maedchen sage nennen, dem man keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn duerfte vielleicht hier passen. Und nach diesem koennte man ja wohl geradezu uebersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nuechternen Franzosen am naechsten koemmt." ----Fussnote Sechzehntes Stueck Den 23. Junius 1767 Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatuerlich; besonders war ihr tragisches Spiel aeusserst wild und uebertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudruecken hatten, schrien und gebaerdeten sie sich als Besessene; und das uebrige toenten sie in einer steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den Komoedianten verriet. Als er daher seine Uebersetzung der "Zaire" auffuehren zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaire einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoedie gespielt hatte. Er urteilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefuehl und Stimme und Figur und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar Stunden ueberreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, dass nur eine sehr geuebte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genuege leisten koenne, wurden beschaemt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komoedianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstueck. Es ist merkwuerdig, dass auch die franzoesische Schauspielerin, welche die Zaire zuerst spielte, eine Anfaengerin war. Die junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch beruehmt, und selbst Voltaire ward so entzueckt ueber sie, dass er sein Alter recht klaeglich bedauerte. Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill uebernommen, der kein Komoediant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken, oeffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schaetzbar als irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem blossen Vergnuegen einmal mitspielen, nicht selten. "Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist dieses, dass es uns befremdet. Wir sollten ueberlegen, dass alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der franzoesische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts Besonders dabei gefunden, als dass diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Kuensten fuer ein Unterschied, als dass die eine ueber die andere ebensoweit erhaben ist, als es Talente, welche vorzuegliche Seelenkraefte erfodern, ueber bloss koerperliche Fertigkeiten sind?" Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaire" uebersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher Sprache koennen zaertliche Klagen ruehrender klingen, als in dieser? Mit der einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stuecks genommen, wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, laesst ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns ueber das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Tuerken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen.[1] Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er sich den toedlichen Stoss beigebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, dass der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkuerzung mit mehrern Stuecken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, dass sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schliessen soll? Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koemmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hoeren zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur voelligen Rundung des Stuecks noch so unentbehrliche Worte waeren? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir haetten kalt Blut genug, den Dichter bis ans Ende zu hoeren, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir wuerden recht gern die letzten Befehle des grossmuetigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiss ich kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es waere begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muss Kuenstlern kleine Eitelkeiten verzeihen. Bei keiner Nation hat die "Zaire" einen schaerfern Kunstrichter gefunden, als unter den Hollaendern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des beruehmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, dass er es fuer etwas Kleines hielt, eine bessere zu machen. Er machte auch wirklich eine--andere[2], in der die Bekehrung der Zaire das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, dass der Sultan ueber seine Liebe sieget und die christliche Zaire mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhoehung gemaess ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, dass er uns kalt laesst; er interessiere uns und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime koennen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses muessen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zurueck, von der misslungenen Verbesserung auf den Ungrund der Kritik geschlossen wissen moechte. Duims Tadel ist in vielen Stuecken ganz gegruendet; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er, "koemmt, Zairen in die Moschee abzuholen; Zaire weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzufuehren; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl seiner Wuerde gemaess? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zairen, sich deutlicher zu erklaeren? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"--Guter Duim! wenn sich Zaire deutlicher erklaeret haette: wo haetten denn die andern Akte sollen herkommen? Waere nicht die ganze Tragoedie darueber in die Pilze gegangen?--Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts ist ebenso abgeschmackt: Orosman koemmt wieder zu Zairen; Zaire geht abermals, ohne die geringste naehere Erklaerung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), troestet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewissheit musste doch bis zum fuenften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare haengt, so haengen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem staerkern. Die letzterwaehnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner zu empfinden faehig ist. Er muss aus einer Gemuetsbewegung in die andere uebergehen, und diesen Uebergang durch das stumme Spiel so natuerlich zu machen wissen, dass der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Grossmut, willig und geneigt, Zairen zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm laenger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zaertlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaire auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der aeusserste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zaertlichkeit, und von der Zaertlichkeit zur Erbitterung ueber. Alles was Remond de Sainte-Albine in seinem "Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf eine so vollkommene Art, dass man glauben sollte, er allein koenne das Vorbild des Kunstrichters gewesen sein. ----Fussnote Questo mortale orror che per le vene Tutte mi scorre, omai non e dolore, Che basti ad appagarti, anima bella. Feroce cor, cor dispietato, e misero, Paga la pena del delitto orrendo. Mani crudeli--oh Dio--Mani, che siete Tinte del sangue di si cara donna. Voi--voi--dov'e quel ferro? Un' altra volta In mezzo al petto--Oime, dov'e quel ferro? L'acuta punta-- Tenebre, e notte Si fanno intorno-- Perche non posso-- Non posso spargere Il sangue tutto? Si, si, lo spargo tutto, anima mia, Dove sei?--piu non posso--oh Dio! non posso-- Vorrei--vederti--io manco, io manco, oh Dio! [2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745. [3] "Le Comedien", Partie II, chap. X. p. 209. ----Fussnote Siebzehntes Stueck Den 26. Junius 1767 Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom Gresset, aufgefuehret. Dieses Stueck kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider den Selbstmord konnte in Paris kein grosses Glueck machen. Die Franzosen sagten: es waere ein Stueck fuer London. Ich weiss auch nicht; denn die Englaender duerften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue koennte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem franzoesischen Bedienten so angefuehrt zu sehen, moechte von manchen fuer eine Beschaemung gehalten werden, die des Haengens allein wuerdig waere. Doch so wie das Stueck ist, scheinet es fuer uns Deutsche recht gut zu sein. Wir moegen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemaenteln und finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zurueckhaelt und das Gestaendnis, falsch philosophiert zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein franzoesischer Prahler ist, so herzlich gut, dass uns die Etikette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaehrt, dass er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht naeher ist, als der gesundesten einer, so laesst ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich es glauben--Rosalla!--Hamilton!--und du, dessen gluecklicher Eifer usw." Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehoert das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler waere, hier wuerde ich es kuehnlich wagen, zu tun, was der Dichter haette tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten duerfte, so wuerde ich ihm wenigstens den ersten geruehrten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann wuerde ich mich gegen Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurueckkommen. Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart! Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich--Es ist ohnstreitig eine von seinen staerksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das Gefuehl der Fuehllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze Gemuetsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit groesserer Wahrheit ausdruecken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Koerper gibt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstaende verwandelt. Welcher fortreissende Ton der Ueberzeugung!-- Den Beschluss machte diesen Abend ein Stueck in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man erraet gleich, dass ein Narr oder eine Naerrin darin vorkommen muss, der es hauptsaechlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haengt von der Aufklaerung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur fuer den Pflegesohn eines gewissen buergerlichen Lisanders, aber es findet sich, dass Lisander sein wahrer Vater ist. Nun waere weiter an die Heirat nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfaelle zu dem buergerlichen Stande herablassen muessen. In der Tat ist er von ebenso guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche Ausschweifungen aus dem vaeterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusoehnen. Die Aussoehnung gelingt und macht das Stueck gegen das Ende sehr ruehrend. Da also der Hauptton desselben ruehrender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal haette ich ihn von dem einzigen laecherlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschoepfen; aber er sollte doch auch nicht irrefuehren. Und dieser tut es ein wenig. Was ist leichter zu aendern, als ein Titel? Die uebrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr zum Vorteile des Stuecks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem franzoesischen Theater entlehnten Stuecken mangelt. Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der Trommel" gespielt. Dieses Stueck schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragoedie und nur eine Komoedie gemacht. Die dramatische Poesie ueberhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiss sich ueberall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stuecke, wenn schon nicht die hoechsten Schoenheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schaetzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der franzoesischen Regelmaessigkeit mehr zu naehern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmaessigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Englaender werden. Begnuege sich damit, wer keine hoehere Schoenheiten kennet! Destouches, der in England persoenlichen Umgang mit Addison gehabt hatte, zog das Lustspiel desselben ueber einen noch franzoesischern Leisten. Wir spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natuerlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche Uebersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen und manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet. Den neunzehnten Abend (montags, den 18. Mai) ward "Der verheiratete Philosoph", vom Destouches, wiederholt. Des Regnard "Demokrit" war dasjenige Stueck, welches den zwanzigsten Abend (dienstags, den 19. Mai) gespielet wurde. Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefaellt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus dem Poebel. Was folgt hieraus? Dass die Schoenheiten, die es hat, wahre allgemeine Schoenheiten sein muessen, und die Fehler vielleicht nur willkuerliche Regeln betreffen, ueber die man sich leichter hinaussetzen kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Uebliche aus den Augen gesetzt: immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stuecke aehnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, so streiche man Demokrit und Athen aus und setze bloss erdichtete Namen dafuer. Regnard hat es gewiss so gut als ein anderer gewusst, dass um Athen keine Wueste und keine Tiger und Baere waren; dass es, zu der Zeit des Demokrits, keinen Koenig hatte usw. Aber er hat das alles itzt nicht wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen Dichters, und nicht die historische Wahrheit. Andere Fehler moechten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge muessiger Personen, das abgeschmackte Geschwaetz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt, weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern weil es Unsinn in jedes andern Munde sein wuerde, der Dichter moechte ihn genannt haben, wie er wolle. Aber was uebersieht man nicht bei der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiss nicht, was man aus ihm machen soll; er aendert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spoetter, bald ein plumper Spassmacher, bald ein zaertlicher Schulfuchs, bald ein unverschaemter Stutzer. Seine Erkennung mit der Kleanthis ist ungemein komisch, aber unnatuerlich. Die Art, mit der Mademoiselle Beauval und La Thorilliere diese Szenen zuerst spielten, hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortgepflanzt. Es sind die unanstaendigsten Grimassen, aber da sie durch die Ueberlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so koemmt es niemanden ein, etwas daran zu aendern, und ich will mich wohl hueten, zu sagen, dass man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden sollte. Der beste, drolligste und ausgefuehrteste Charakter ist der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weniger als episodisch, sondern zur Aufloesung des Knoten ebenso schicklich als unentbehrlich ist.[1] ----Fussnote [1] "Histoire du Theatre Francais", T. XIV. p. 164. ----Fussnote Achtzehntes Stueck Den 30. Junius 1767 Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgefuehrt. Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert fuer die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stueck ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele belaeuft sich auf einige dreissig, wovon mehr als zwei Dritteile den Harlekin haben, weil er sie fuer die italienische Buehne verfertigte. Unter diese gehoeren auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst, ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto groessern erhielten. Seine Stuecke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr aehnlich. In allen der naemliche schimmernde und oefters allzu gesuchte Witz; in allen die naemliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die naemliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner Kunst, weiss er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, dass wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zurueckgelegt zu haben glauben. Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin oeffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Buehnen, denen daran gelegen war, regelmaessig zu heissen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jaeckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stuecke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hiess bei ihr Haenschen, und war ganz weiss, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich, ein grosser Triumph fuer den guten Geschmack! Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der deutschen Uebersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich daechte, wir zoegen ihm das Jaeckchen wieder an.--Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein auslaendisches Geschoepf", sagt man. Was tut das? Ich wollte, dass alle Narren unter uns Auslaender waeren! "Er traegt sich, wie sich kein Mensch unter uns traegt":--so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das naemliche Individuum alle Tage in einem andern Stuecke erscheinen zu sehen." Man muss ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", uebermorgen in den "Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkoemmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend Varietaeten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzuege hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsere Vergnuegungen waehliger und gegen kahle Vernuenfteleien nachgebender sein, als--ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind--sondern, als selbst die Roemer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stuecke ueber dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mussten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stuecks schicken oder nicht? Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gruendlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moeser ueber das Groteske-Komische allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darin beilaeufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, dass er Einsicht genug besitze, dermaleins der Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Moeser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja nicht einmal gedacht zu haben erinnern. Ausser dem Harlekin koemmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige fuehret. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat ueberhaupt an den Herren Hensel und Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser verlangen kann. Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die "Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgefuehret. Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern franzoesischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der "Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stueck nicht verdiente, dass die Franzosen ein solches Laermen damit machten, so gereicht doch dieses Laermen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersuechtig ist; auf das die grossen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten ueberzeugt, jenen nicht zu seinen unnuetzen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenstaenden zaehlet, um die sich nur geschaeftige Muessiggaenger bekuemmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stuecke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersaenger ein sehr schaetzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgueltigkeit gegen Kuenste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Baerfellen und Bernstein handelt, der nuetzlichere Buerger waere? sicherlich fuer die Frage eines Narren gehalten haetten!--Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten liesse, dass sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben wuerde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuer franzoesische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit faehig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschaetzung alles dessen zu bestaerken, was nicht geradezu den Beutel fuellet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuenstler; man aeussere den Wunsch, dass eine reiche bluehende Stadt der anstaendigsten Erholung fuer Maenner, die in ihren Geschaeften des Tages Last und Hitze getragen, und der nuetzlichsten Zeitverkuerzung fuer andere, die gar keine Geschaefte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?) durch ihre blosse Teilnehmung aufhelfen moege:--und sehe und hoere um sich. "Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloss der Wucherer Albinus, "dass unsere Buerger wichtigere Dinge zu tun haben!" Rem poteris servare tuam!-- Wichtigere? Eintraeglichere; das gebe ich zu! Eintraeglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Kuensten in Verbindung stehet. Aber, --haec animos aerugo er cura peculi Cum semel imbuerit-- Doch ist vergesse mich. Wie gehoert das alles zur "Zelmire"? Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward Komoediant. Er spielte einige Zeit unter der franzoesischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stuecke, kam wieder in sein Vaterland und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so gluecklich und beruehmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haette machen koennen, wenn er auch ein Beaumont geworden waere. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei wuerden sein gewissestes Los sein! Das erste Trauerspiel des Du Belloy heisst "Titus"; und "Zelmire" war sein zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal gespielt. Aber "Zelmire" fand desto groessern; es ward vierzehnmal hintereinander aufgefuehrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung. Ein franzoesischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung ueberhaupt zu erklaeren: "Uns waere", sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbuecher der Welt sind an beruechtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragoedie ist ja ausdruecklich dazu, dass sie uns die grossen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, dass 'Zaire', 'Alzire', 'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung waeren. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzuege gegeben, in welchen sich Christen und Tuerken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, hassten und wuergten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die gluecklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europaeischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaermerei und der wahren Religion aeussern muessen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruegers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoenste philosophische Gemaelde, das jemals von diesem gefaehrlichen Ungeheuer gemacht worden." ----Fussnote [1] "Journal Encyclopedique", Juillet 1762. ----Fussnote Neunzehntes Stueck Den 3. Julius 1767 Es ist einem jeden vergoennt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist ruehmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gruenden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit haette, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muesste, heisst aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angefuehrte franzoesische Schriftsteller faengt mit einem bescheidenen "Uns waere lieber gewesen" an und geht zu so allgemein verbindenden Ausspruechen fort, dass man glauben sollte, dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert. Nun hat es Aristoteles laengst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekuemmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel aehnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie schwerlich zu seinem gegenwaertigen Zwecke besser erdichten koennte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefaehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuecher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Muehe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Moeglichkeit, dass etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gaenzlich erdichtete Fabel fuer eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehoert haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwuerdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Ueberlieferungen bestaetiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, dass es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken grosser Maenner zu erhalten; dafuer ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaenden tun werde. Die Absicht der Tragoedie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heisst sie von ihrer wahren Wuerde herabsetzen, wenn man sie zu einem blossen Panegyrikus beruehmter Maenner macht, oder sie gar den Nationa1stolz zu naehren missbraucht. Die zweite Erinnerung des naemlichen franzoesischen Kunstrichters gegen die "Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, dass sie fast nichts als ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufaelle sei, die in den engen Raum von vierundzwanzig Stunden zusammengepresst, aller Illusion unfaehig wuerden. Eine seltsam ausgesparte Situation ueber die andere! ein Theaterstreich ueber den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so draengen, koennen schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles ueberrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als ueberraschen. "Warum muss sich z.E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Faellt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemuetsaenderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrueckt. Welch geringfuegige Ursachen gibt hiernaechst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muss Polydor, wenn er aus der Schlacht koemmt und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Ruecken zukehren, und der Dichter muss uns sorgfaeltig diesen kleinen Umstand einschaerfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das Gesicht, anstatt den Ruecken zuwendete: so wuerde sie ihn erkennen, und die folgende Szene, wo diese zaertliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern ueberliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so grossen Eindruck machende Szene fiele weg. Waere es gleichwohl nicht weit natuerlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal fluechtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen Wink gegeben haette? Freilich waere es so natuerlicher gewesen, als dass die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er seinen Ruecken dahin oder dorthin kehret, gruenden muessen. Mit dem Billett des Azor hat es die naemliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten Akte gleich mit, so wie er es haette mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stueck hatte ein Ende." Die Uebersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine koernichte, wohlklingende Prosa hoeren wollen, als matte, geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Uebersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die ertraeglich sind. Und dass man mich ja nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich wuerde eher wissen, wo ich aufhoeren, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der groesste Versifikateur, sondern stuemperte und flickte; der Deutsche war es noch weniger, und indem er sich bemuehte, die gluecklichen und ungluecklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu uebersetzen, so ist es natuerlich, dass oefters, was dort nur Lueckenbuesserei oder Tautologie war, hier zu foermlichem Unsinne werden musste. Der Ausdruck ist dabei meistens so niedrig und die Konstruktion so verworfen, dass der Schauspieler allen seinen Adel noetig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden! Aber verlohnt es denn auch der Muehe, auf franzoesische Verse so viel Fleiss zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso waessrig korrekte, ebenso grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa uebertragen, so wird unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Uebersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kuehnsten Tropen und Figuren, ausser einer gebundenen kadensierten Wortfuegung, uns an Besoffene denken laesst, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich hoechstens ueber die alltaegliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation ueber den gewoehnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wuenschte ich unserm prosaischen Uebersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, dass das Silbenmass ueberhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier koemmt es bloss darauf an, unter zwei Uebeln das kleinste zu waehlen; entweder Verstand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstaerkung des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir koennen der griechischen ungleich naeher kommen, die durch den blossen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrueckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoesischen Verse haben nichts als den Wert der ueberstandenen Schwierigkeit fuer sich; und freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert. Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Boesewichte von grossem Verstande so natuerlich zu sein scheinen. Kein misslungener Anschlag wird ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Raenken unerschoepflich; er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner Bloesse darzustellen drohte, empfaengt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdrueckt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von seiten des Schauspielers das getreueste Gedaechtnis, die fertigste Stimme, die freieste, nachlaessigste Aktion unumgaenglich noetig. Hr. Borchers hat ueberhaupt sehr viele Talente, und schon das muss ein guenstiges Vorurteil fuer ihn erwecken, dass er sich in alten Rollen ebenso gern uebet, als in jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Buehne glaenzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswuerdigen Rollen begaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehmster, auch wohl oefters ihr einziger Beruf zum Theater ist. Zwanzigstes Stueck Den 7. Julius 1767 Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward "Cenie" aufgefuehret. Dieses vortreffliche Stueck der Graffigny musste der Gottschedin zum Uebersetzen in die Haende fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von sich selbst ablegt, "dass sie die Ehre, welche man durch Uebersetzung oder auch Verfertigung theatralischer Stuecke erwerben koenne, allezeit nur fuer sehr mittelmaessig gehalten habe", laesst sich leicht vermuten, dass sie, diese mittelmaessige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmaessige Muehe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie einige lustige Stuecke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu uebersetzen, als eine Empfindung! Das Laecherliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese verkennt und sie dafuer den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle die kalte Vollstaendigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. z.E. Dorimond hat dem Mericourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines Vermoegens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht; er verweigert sich dem grossmuetigen Anerbieten und will sich ihm aus Uneigennuetzigkeit verweigert zu haben scheinen. "Wozu das?" sagt er. "Warum wollen Sie sich Ihres Vermoegens berauben? Geniessen Sie Ihrer Gueter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet." J'en jouirai, je vous rendrai tous heureux: laesst die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. "Ich will ihrer geniessen, ich will euch alle gluecklich machen." Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlaessige Kuerze, mit der ein Mann, dem Guete zur Natur geworden ist, von seiner Guete spricht, wenn er davon sprechen muss! Seines Glueckes geniessen, andere gluecklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloss eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiss auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das naemliche zweimal spraeche, als ob beide Saetze wahre tautologische Saetze, vollkommen identische Saetze waeren; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fuehlt, dem sie eine Partikel erst fuehlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, dass die Gottschedin jene acht Worte uebersetzt hat? "Alsdenn werde ich meiner Gueter erst recht geniessen, wenn ich euch beide dadurch werde gluecklich gemacht haben." Unertraeglich! Der Sinn ist vollkommen uebergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Ueberlegung geben und eine warme Empfindung in eine frostige Schlussrede verwandeln. Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, dass ungefaehr auf diesen Schlag das ganze Stueck uebersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgeloeset worden. Hierzu koemmt in vielen Stellen der haessliche Ton des Zeremoniells; verabredete Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der geruehrten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: "Frau Mutter! o welch ein suesser Name!" Der Name Mutter ist suess; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich oeffnende Herz wieder zusammen. Und in dem Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem "Gnaediger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!" ihm in die Arme. Mon pere! auf deutsch: Gnaediger Herr Vater. Was fuer ein respektuoeses Kind! Wenn ich Dorsainville waere, ich haette es ebenso gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede. Madame Loewen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Wuerde und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewusstsein ihres verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudruecken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen. Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort faellt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es koemmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wuesste nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswuerdiger Fehler. Die Aktrice ist fuer die Rolle zu gross. Mich duenkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich moechte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen koennte. Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stuecks vom Mericourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, dass er in der grossen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das fuer ein Land ist, dieses Vaterland des Mericourt? Ein gefaehrliches, ein boeses Land! Tot linguae, quot membra viro! Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des Herrn Weisse aufgefuehret. "Amalia" wird von Kennern fuer das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgefuehrtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine uebrige komische Stuecke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden wuerden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen ueberhaupt geben einem dramatischen Stuecke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafuer kann es aber auch nicht fehlen, dass sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fuenfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kuehn kroquierte Pinselstriche zu lindern und mit dem uebrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl raten moechte. Ich weiss nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen koenne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brueskieren. Ich will die Vermutung ungeaeussert lassen, dass es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; dass ein wahrer Manley die Sache wohl haette feiner anfangen koennen; dass man ueber einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen muesse; dass--Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeaeussert lassen; denn es koennte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem naemlich die Gegenstaende sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, dass diejenige Frau, bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen uebrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloss bekennen, dass ich fuer mein Teil nicht Herz genug gehabt haette, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich wuerde mich, vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefuerchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonschen Faehigkeit bewusst gewesen waere, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiss ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen waere. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst oeffnet. Manley, oder Amalia, wusste ja, dass Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmaessig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gaenzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um fluechtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen wuerden dadurch, ich will nicht sagen unstraeflich, aber doch unstraeflicher geworden sein; er wuerde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen koennen; die Probe waere ungleich verfuehrerischer und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender fuer ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man wuerde zugleich einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt dass man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun koennen, wenn sie ungluecklicherweise in ihrer Verfuehrung gluecklich gewesen waere. Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der Finanzpachter". Es besteht ungefaehr aus ein Dutzend Szenen von der aeussersten Lebhaftigkeit. Es duerfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswuerdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewusst, als er. Den fuenfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire" des Du Belloy wiederholt. Einundzwanzigstes Stueck Den 10. Julius 1767 Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die Muetterschule" des Nivelle de la Chaussee aufgefuehret. Es ist die Geschichte einer Mutter, die fuer ihre parteiische Zaertlichkeit gegen einen nichtswuerdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kraenkung erhaelt. Marivaux hat auch ein Stueck unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes, gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung laesst: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Maedchen hat ein empfindliches Herz; sie weiss keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem Himmel danken, dass es noch so gut ablaeuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es muesste fuer Kenner ein Vergnuegen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander besuchen zu koennen. Sie haben hierzu auch alle aeusserliche Schicklichkeit; das erste Stueck ist von fuenf Akten, das andere von einem. Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine" des Herrn von Voltaire gespielt. Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das fuer ein Titel? Was denkt man dabei?--Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muss kein Kuechenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verraet, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komoedien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter gehoeret des Plautus "Miles gloriosus". Wie koemmt es, dass man noch nicht angemerket, dass dieser Titel dem Plautus nur zur Haelfte gehoeren kann. Plautus nannte sein Stueck bloss Gloriosus; so wie er ein anderes "Truculentus" ueberschrieb. Miles muss der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloss auf seinen Stand und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso grosssprecherisch; er ruehmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schoenste und liebenswuerdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufuegt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschraenkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero[1] verfuehrt; aber hier haette ihm Plautus selbst mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt: ALAZON Graece huic nomen est Comoediae Id nos latine GLORIOSUM dicimus-- und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, dass eben das Stueck des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines grosssprecherischen Soldaten kam in mehrern Stuecken vor. Cicero kann ebensowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben.--Doch dieses beilaeufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komoedien ueberhaupt schon einmal geaeussert zu haben. Es koennte sein, dass die Sache so unbedeutend nicht waere. Mancher Stuemper hat zu einem schoenen Titel eine schlechte Komoedie gemacht; und bloss des schoenen Titels wegen. Ich moechte doch lieber eine gute Komoedie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuer Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stueck genannt haetten. Der ist laengst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser wuerde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das koemmt aus den schoenen Titeln. Was fuer ein Eigentumsrecht erhaelt ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, dass er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht haette, so wuerde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen duerfen, und niemand wuerde mich darueber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Moliereschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heissen. Genug, dass Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, dass er funfzig Jahr spaeter lebet; und dass die Sprache fuer die unendlichen Varietaeten des menschlichen Gemuets nicht auch unendliche Benennungen hat. Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: "Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stueck nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der naemlichen Ausgabe seiner Werke heisst er auf einem Blatte "Das besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, dass zu einer vernuenftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar Stuecke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein grosses Glueck gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stuecke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen. "Nanine" gehoert unter die ruehrenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel laecherliche Szenen, und nur insofern, als die laecherlichen Szenen mit den ruehrenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komoedie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komoedie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laechelt, wo man nur immer weinen moechte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Uebergang von dem Ruehrenden zum Laecherlichen und von dem Laecherlichen zum Ruehrenden sehr natuerlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine bestaendige Kette solcher Uebergaenge, und die Komoedie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewoehnlicher", sagt er, "als dass in dem naemlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich ueber beide aufhaelt und jeder Anverwandte bei der naemlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan aeusserst bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben Viertelstunde ueber ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwuerdige Matrone sass bei einer von ihren Toechtern, die gefaehrlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Traenen zerfliessen, sie rang die Haende und rief: 'O Gott, lass mir, lass mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafuer nehmen!' Hier trat ein Mann, der eine von ihren uebrigen Toechtern geheiratet hatte, naeher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Aermel und fragte: 'Madame, auch die Schwiegersoehne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betruebte Dame, dass sie in vollem Gelaechter herauslaufen musste; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hoerte, waere vor Lachen fast "Homer", sagt er an einem andern Orte, "laesst sogar die Goetter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, ueber den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht ueber die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heissesten Traenen vergiesst. Es trifft sich wohl, dass mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhaengnisses, ein Einfall, eine ungefaehre Posse, trotz aller Beaengstigung, trotz alles Mitleids das unbaendigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem Regimente, dass es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmoeglich dienen!' Diese Naivetaet ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoedie das Lachen auf ruehrende Empfindungen folgen koennen? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen." Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komoedie fuer eine ebenso fehlerhafte als langweilige Gattung erklaeret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein "Hausvater" vorhanden; und vieles muss das Genie erst wirklich machen, wenn wir es fuer moeglich erkennen sollen. ----Fussnote [1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33. ----Fussnote Zweiundzwanzigstes Stueck Den 14. Julius 1767 Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert beschlossen. Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stuecke das meiste urspruenglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemaelde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muehmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, dass es an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und dass nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir ueber viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere Virtuosen an eine allzu flache Manier gewoehnet. Sie machen sie aehnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewusst, so mangelt dem Bilde die Rundung, das Koerperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Aussenlinien uns gleich an die Taeuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uebrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wann sie belustigen sollen, muss ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muss sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachlaessigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfaehlen herumtraeumen. Sie muessen nichts von der engen Sphaere kuemmerlicher Umstaende verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten will. Er muss sie aufputzen; er muss ihnen Witz und Verstand leihen, das Armselige ihrer Torheiten bemaenteln zu koennen; er muss ihnen den Ehrgeiz geben, damit glaenzen zu wollen. "Ich weiss gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das fuer ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muss seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstaende machen! Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar grosses Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muss ja wohl." "Ganz gewiss!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Muetter. Eine Andrienne! Welche Schneidersfrau traegt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, dass die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"--(ich habe die andern Namen vergessen, ich wuerde sie auch nicht zu schreiben wissen)--"dafuer sagen! Mich in einer Andrienne zu denken; das allein koennte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muss es auch die neueste Tracht sein. Wie koennen wir es sonst wahrscheinlich finden, dass sie darueber krank geworden?" "Und ich", sagte eine dritte (es war die gelehrteste), "finde es sehr unanstaendig, dass die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser--wie soll ich es nennen?--Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid musste fertig sein; die Stephan sollte es noch anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt"--Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen. Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der "Melanide" des de la Chaussee "Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann" gespielet. Der Verfasser dieses Stuecks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfaellen; nur schade, dass ein jeder, sobald er den Titel hoert, alle diese Einfaelle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provinzial. Und dieses koennte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fuerchte, dass jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, fuer die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes halten duerfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort gruenen Kohl isst? Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, dass jeder etwas anders sagen muss. Hier ist das nicht; "Der Mann nach der Uhr", oder "Der ordentliche Mann" sagen ziemlich das naemliche; ausser dass das erste ohngefaehr die Karikatur von dem andern ist. Den dreissigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der "Graf von Essex", vom Thomas Corneille, auf gefuehrt. Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der betraechtlichen Anzahl der Stuecke des juengern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Buehnen noch oefterer wiederholt, als auf den franzoesischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die naemliche Geschichte bearbeitet hatte. "Es ist gewiss", schreibt Corneille, "dass der Graf von Essex bei der Koenigin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verstaendnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwaehlet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, dass ich sie in einem wichtigen Stuecke verfaelscht haette, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Koenigin dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muss mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, dass dieser Ring eine Erfindung des Calprenede ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das geringste davon gelesen." Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, dass er ihn fuer eine poetische Erfindung erklaerte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast ausser Zweifel gesetzt worden; und die bedaechtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre Werke aufgenommen. Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: "Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste war diese, dass dieses Uebel aus einer betruebten Reue wegen des Grafen von Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz ausserordentliche Achtung fuer das Andenken dieses ungluecklichen Herrn; und wiewohl sie oft ueber seine Hartnaeckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Traenen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zaertlichkeit belebte und ihre Betruebnis noch mehr vergaellte. Die Graefin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wuenschte die Koenigin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig wuerde sterben lassen. Wie die Koenigin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Graefin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen worden, gewuenscht, die Koenigin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestaet ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr naemlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, dass, wenn er ihr denselben, bei einem etwanigen Ungluecke, als ein Zeichen senden wuerde, er sich ihrer voelligen Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person, durch welche er ihn habe uebersenden wollen; durch ein Versehen aber sei er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Haende geraten. Sie habe ihrem Gemahl die Sache erzaehlt (er war einer von den unversoehnlichsten Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Koenigin zu geben noch dem Grafen zurueckzusenden. Wie die Graefin der Koenigin ihr Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, dass sie ihn im Verdacht eines unbaendigen Eigensinnes gehabt, antwortete: 'Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr!' Sie verliess das Zimmer in grosser Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gaenzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Naechte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkraeftet, den Geist aufgab." Dreiundzwanzigstes Stueck Den 17. Julius 1767 Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich moechte nicht gegen ihn behaupten, dass "Essex" ein vorzueglich gutes Stueck sei; aber das ist leicht zu erweisen, dass viele von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden, teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den richtigsten und wuerdigsten Begriff von der Tragoedie voraussetzen. Es gehoert mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, dass er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem "Essex" auf dieses sein Streitross und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, dass alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt. Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewusst; und zum Gluecke fuer den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender. "Itzt", sagt er, "kennen wir die Koenigin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt wuerden einem Dichter dergleichen grobe Verstossungen wider die historische Wahrheit schaerfer aufgemutzet werden". Und welches sind denn diese Verstossungen? Voltaire hat ausgerechnet, dass die Koenigin damals, als sie dem Grafen den Prozess machen liess, achtundsechzig Jahr alt war. "Es waere also laecherlich", sagt er, "wenn man sich einbilden wollte, dass die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit koenne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Laecherliches in der Welt? Sich etwas Laecherliches als geschehen denken, ist das so laecherlich? "Nachdem das Urteil ueber den Essex abgegeben war", sagt Hume, "fand sich die Koenigin in der aeussersten Unruhe und in der grausamsten Ungewissheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuer ihre eigene Sicherheit und Bekuemmernis um das Leben ihres Lieblings stritten unaufhoerlich in ihr: und vielleicht, dass sie in diesem quaelenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal ueber das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu ueberliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zaertlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen liessen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, dass er selbst den Tod wuensche, dass er selbst erklaeret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben wuerde. Wahrscheinlicherweise tat diese Aeusserung von Reue und Achtung fuer die Sicherheit der Koenigin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange fuer den ungluecklichen Gefangnen genaehret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaertete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruss, dass er nicht erfolgen wollte, liess sie dem Rechte endlich seinen Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem achtundsechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben liess? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schoenheit ruehmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muss in diesem Stuecke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Hoeflinge stellten sich daher alle in sie verliebt und bedienten sich gegen Ihro Majestaet, mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der laecherlichsten Galanterie. Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Koenigin eine Venus, eine Diane, und ich weiss nicht was, war. Gleichwohl war diese Goettin damals schon sechzig Jahr alt. Fuenf Jahr darauf fuehrte Heinrich Union, ihr Abgesandter in Frankreich, die naemliche Sprache mit ihr. Kurz, Corneille ist hinlaenglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zaertliche Weib mit der stolzen Koenigin in einen so interessanten Streit bringet. Ebensowenig hat er den Charakter des Essex verstellet oder verfaelschet. "Essex", sagt Voltaire, "war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas Merkwuerdiges getan." Aber wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar kein Teil laesst, hielt er so sehr fuer sein Werk, dass er es durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmasste. Er erbot sich, es mit dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Nottingham, unter dem er kommandiert hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten zu beweisen, dass sie ihm allein zugehoere. Corneille laesst den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr veraechtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gutheissen. "Es ist nicht erlaubt", sagt er, "eine so neue Geschichte so groeblich zu verfaelschen, und Maenner von so vornehmer Geburt, von so grossen Verdiensten, so unwuerdig zu misshandeln. "Aber hier koemmt es ja gar nicht darauf an, was diese Maenner waren, sondern wofuer sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuraeumen. Wenn Corneille den Essex sagen laesst, dass es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so laesst er ihn freilich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire haette darum doch nicht ausrufen muessen. "Wie? Essex auf dem Throne? mit was fuer Recht? unter was fuer Vorwande? wie waere das moeglich gewesen?" Denn Voltaire haette sich erinnern sollen, dass Essex von muetterlicher Seite aus dem koeniglichen Hause abstammte, und dass es wirklich Anhaenger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zaehlen, die Ansprueche auf die Krone machen koennten. Als er daher mit dem Koenige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, liess er es das erste sein, ihn zu versichern, dass er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger, als was ihn Corneille voraussetzen laesst. Indem also Voltaire durch das ganze Stueck nichts als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Ueber eine hat sich Walpole[1] schon lustig gemacht. Wenn naemlich Voltaire die erstern Lieblinge der Koenigin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wusste nicht, dass beide nur eine Person waren, und dass man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Voltaire zu zwei verschiedenen Personen machen koennte. Ebenso unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohrfeige verfaellt, die die Koenigin dem Essex gab. Es ist falsch, dass er sie nach seiner ungluecklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, dass er damals den Zorn der Koenigin durch die geringste Erniedrigung zu besaenftigen gesucht, dass er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art muendlich und schriftlich seine Empfindlichkeit darueber ausliess. Er tat zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Koenigin musste ihn tun. Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von Voltaire an? Ebensowenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille haette angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen. Die ganze Tragoedie des Corneille sei ein Roman: wenn er ruehrend ist, wird er dadurch weniger ruehrend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat? Weswegen waehlt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewoehnlichen Praxi der Dichter uebereinstimmender auszudruecken: sind es die blossen Fakta, die Umstaende der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit waehlet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen koenne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, soweit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstaerken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veraenderung wuerde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen fuehren; und nichts ist anstoessiger, als wovon wir uns keine Ursache geben koennen. ----Fussnote [1] "Le Chateau d'Otrante", Pref. p. XIV. ----Fussnote Vierundzwanzigstes Stueck Den 21. Julius 1767 Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Koenigin dieses Namens beilegt; wenn wir in ihr die Unentschluessigkeit, die Widersprueche, die Beaengstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zaertliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei diesen und jenen Umstaenden wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu koennen vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte fuehren, um ihn da jedes Datum, jede beilaeufige Erwaehnung, auch wohl solcher Personen, ueber welche die Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heisst ihn und seinen Beruf verkennen, heisst von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren. Zwar bei dem Herrn von Voltaire koennte es leicht weder Verkennung noch Schikane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit groesserer, als der juengere Corneille. Es waere denn, dass man ein Meister in einer Kunst sein und doch falsche Begriffe von der Kunst haben koennte. Und was die Schikane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiss, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da aehnlich sieht, ist nichts als Laune; aus blosser Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen und in der Philosophie den witzigen Kopf. Sollte er umsonst wissen, dass Elisabeth achtundsechzig Jahr alt war, als sie den Grafen koepfen liess? Im achtundsechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersuechtig! Die grosse Nase der Elisabeth dazu genommen, was fuer lustige Einfaelle muss das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfaelle in dem Kommentare ueber eine Tragoedie; also da, wo sie nicht hingehoeren. Der Dichter haette recht zu seinem Kommentator zu sagen: "Mein Herr Notenmacher, diese Schwaenke gehoeren in Eure allgemeine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, dass meine Elisabeth achtundsechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stuecke, das Euch hinderte, sie nicht ungefaehr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, dass die Erinnerung bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen ueberzeugen ihn, dass es nicht Eure achtundsechzigjaehrige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?"-- So ungefaehr koennte sich auch der Dichter ueber die Rolle des Essex erklaeren. "Euer Essex im Rapin de Thoyras", koennte er sagen, "ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu sein duenkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter gluecklichem Umstaenden, fuer die Koenigin vielleicht getan haette, hat meiner getan. Ihr hoert ja, dass es ihm die Koenigin selbst zugesteht; wollt Ihr meiner Koenigin nicht ebensoviel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und grosser, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so gross, noch so unbiegsam: desto schlimmer fuer ihn. Genug fuer mich, dass er doch immer noch gross und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen." Kurz: die Tragoedie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist fuer die Tragoedie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Umstaende zur Ausschmueckung und Individualisierung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur dass man ihm hieraus ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache! Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das uebrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. "Essex" ist ein mittelmaessiges Stueck, sowohl in Ansehung der Intrige als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, dass er der ihrige nicht sein kann, als aus edelmuetigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten herabzulassen, auf das Schafott zu fuehren: das war der ungluecklichste Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben musste. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Uebersetzung ist er oft kriechend geworden. Aber ueberhaupt ist das Stueck nicht ohne Interesse und hat hier und da glueckliche Verse, die aber im Franzoesischen gluecklicher sind als im Deutschen. "Die Schauspieler", setzt der Herr von Voltaire hinzu, "besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie und mit einem grossen blauen Bande ueber die Schulter darin erscheinen koennen. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das macht Eindruck. Uebrigens ist die Zahl der guten Tragoedien bei allen Nationen in der Welt so klein, dass die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur aufgestutzet werden." Er bestaetiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die ebenso richtig als scharfsinnig sind und deren man sich vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnuegen erinnern duerfte. Ich teile die vorzueglichsten also hier mit; in der festen Ueberzeugung, dass die Kritik dem Genusse nicht schadet und dass diejenigen, welche ein Stueck am schaerfesten zu beurteilen gelernt haben, immer diejenigen sind, welche das Theater am fleissigsten besuchen. "Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muss man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat. Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernuenftige, tugendhafte Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser Charakter wuerde sehr schoen sein, wenn er mehr Leben haette, und wenn er zur Verwickelung etwas beitruege; aber hier vertritt sie bloss die Stelle eines Freundes. Das ist fuer das Theater nicht hinlaenglich. Mich duenket, dass alles, was die Personen in dieser Tragoedie sagen und tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmt ist. Die Handlung muss deutlich, der Knoten verstaendlich und jede Gesinnung plan und natuerlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen? Ist er schuldig, oder ist er faelschlich angeklagt? Wenn ihn die Koenigin fuer unschuldig haelt, so muss sie sich seiner annehmen. Ist er aber schuldig: so ist es sehr unvernuenftig, die Vertraute sagen zu lassen, dass er nimmermehr um Gnade bitten werde, dass er viel zu stolz dazu sei. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl fuer einen tugendhaften unschuldigen Helden, aber fuer keinen Mann, der des Hochverrats ueberwiesen ist. Er soll sich unterwerfen: sagt die Koenigin. Ist das wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muss, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich selbst: sagt die Koenigin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen Sie doch die Beschuldigungen Ihres Gebliebten selbst und verstatten nicht, dass ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdruecken, wie es durch das ganze Stueck, obwohl ganz ohne Grund, heisst. Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn fuer schuldig oder fuer unschuldig haelt. Er stellt der Koenigin vor, dass der Anschein oefters betriege, dass man alles von der Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Koenigin. Was hatte er dieses noetig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was soll der Zuschauer glauben? Der weiss ebensowenig, woran er mit der Verschwoerung des Grafen, als woran er mit der Zaertlichkeit der Koenigin gegen ihn ist. Salisbury sagt der Koenigin, dass man die Unterschrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Koenigin laesst sich im geringsten nicht einfallen, einen so wichtigen Umstand naeher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Koenigin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht einmal auf diese Eroeffnung, die sie doch begierig haette ergreifen muessen. Sie erwidert bloss mit andern Worten, dass der Graf allzu stolz sei, und dass sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten." Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht Fuenfundzwanzigstes Stueck Den 24. Julius 1767 "Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben, als die Koenigin davon ueberzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht. Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemaess? Soll er aus Liebe zur Irton so widersinnig handeln: so haette ihn der Dichter durch das ganze Stueck von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen muessen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser Heftigkeit sehen wir ihn nicht. Der Stolz der Koenigin streitet unaufhoerlich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln laesst, so ist er bei der Elisabeth sowohl als bei dem Grafen, blosser Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um Gnade bitten; das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muss vergessen, dass Elisabeth entweder sehr abgeschmackt oder sehr ungerecht ist, wenn sie verlangt, dass der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muss es vergessen, und er vergisst es wirklich, um sich bloss mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschaeftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist. Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die fuer sich selbst ruehrend ist.--Ein grosser Mann, den man auf das Schafott fuehret, wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Hilfe der Poesie, Eindruck; ungefaehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen wuerde." So viel liegt fuer den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein koennen die schwaechsten, verwirrtesten Stuecke eine Art von Glueck machen; und ich weiss nicht, wie es koemmt, dass es immer solche Stuecke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstueck so meisterhaft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mittelmaessige faehrt mit ihnen immer besser. Vielleicht, weil sie in dem Mittelmaessigen mehr von dem ihrigen hinzutun koennen; vielleicht, weil uns das Mittelmaessige mehr Zeit und Ruhe laesst, auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmaessigen alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt dass in einem vollkommenem Stuecke oefters eine jede Person ein Hauptakteur sein muesste, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die uebrigen verderben hilft. Beim "Essex" koennen alle diese und mehrere Ursachen zusammenkommen. Weder der Graf noch die Koenigin sind von dem Dichter mit der Staerke geschildert, dass sie durch die Aktion nicht noch weit staerker werden koennten. Essex spricht so stolz nicht, dass ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebaerde, in jeder Miene noch stolzer zeigen koennte. Es ist sogar dem Stolze wesentlich, dass er sich weniger durch Worte, als durch das uebrige Betragen aeussert. Seine Worte sind oefters bescheiden, und es laesst sich nur sehen, nicht hoeren, dass es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese Rolle muss also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht voellig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz verungluecken. Elisabeth ist so zaertlich als stolz; ich glaube ganz gern, dass ein weibliches Herz beides zugleich sein kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen koenne, das begreife ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zaertlichkeit, und einer zaertlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich gelaeufig sind; hat sie aber nur die einen vorzueglich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrueckt, zwar empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, dass sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen als die Natur? Ist sie von einem majestaetischen Wuchse, toent ihre Stimme voller und maennlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie steht es mit den zaertlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr Anstand und Wuerde, als Kraft und Geist: so wird sie den zaertlichen Stellen die voelligste Genuege leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiss nicht; sie wird sie noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zuernende Liebhaberin in ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich taeuschend zu zeigen vermoegend waeren, duerften noch seltner sein, als die Elisabeths selber; und wir koennen und muessen uns begnuegen, wenn eine Haelfte nur recht gut gespielt und die andere nicht ganz verwahrloset wird. Madame Loewen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zaertliche Frau, als die stolze Monarchin sehen und hoeren lassen. Ihre Bildung, ihre Stimme, ihre bescheidene Aktion liessen es nicht anders erwarten; und mich duenkt, unser Vergnuegen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als dass nicht die Koenigin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist es zutraeglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Koenigin, als von der Liebhaberin und der Zaertlichkeit verloren geht. Es ist nicht bloss eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein wuerde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen waere. Ich weiss einem Kuenstler, er sei von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu machen; und diese besteht darin, dass ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm ueber alles, er hoere gern frei und laut ueber sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht wert, dass wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, dass wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, dass wir auch Augen und Gefuehl fuer seine Schwaeche haben. Er spottet bei sich ueber jede uneingeschraenkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiss, dass er auch das Herz hat, ihn zu tadeln. Ich wollte sagen, dass sich Gruende anfuehren lassen, warum es besser ist, wenn die Aktrice mehr die zaertliche als die stolze Elisabeth ausdrueckt. Stolz muss sie sein, das ist ausgemacht: und dass sie es ist, das hoeren wir. Die Frage ist nur, ob sie zaertlicher als stolz, oder stolzer als zaertlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu waehlen haette, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte Koenigin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der raecherischen Majestaet, auszudruecken vermoechte, oder die, welche die eifersuechtige Liebhaberin, mit allen kraenkenden Empfindungen der verschmaehten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller Beaengstigung ueber seine Hartnaeckigkeit, mit allem Jammer ueber seinen Verlust, angemessener waere? Und ich sage: diese. Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des naemlichen Charakters vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so muss sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die Zaertlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muss bei der Koenigin die Zaertlichkeit den Stolz ueberwiegen. Wenn der Graf sich eine hoehere Miene gibt, als ihm zukommt, so muss die Koenigin etwas weniger zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist, herabblicken lassen, wuerde die ekelste Einfoermigkeit sein. Man muss nicht glauben koennen, dass Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle waere, ebenso wie Essex handeln wuerde. Der Ausgang weiset es, dass sie nachgebender ist als er; sie muss also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren als er. Wer sich durch aeussere Macht emporzuhalten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muss. Wir wissen darum doch, dass Elisabeth die Koenigin ist, wenn sie gleich Essex das koeniglichere Ansehen gibt. Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, dass die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als dass sie fallen. Es ist schicklicher, dass ein zaertlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als dass ein stolzer von der Zaertlichkeit sich fortreissen laesst. Jener scheint sich zu erheben; dieser zu sinken. Eine ernsthafte Koenigin, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen koennte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird und nach den kleinen Beduerfnissen ihrer Leidenschaft seufzet, ist fast, fast laecherlich. Eine Geliebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, dass sie Koenigin ist, erhebt sich ueber sich selbst, und ihre Schwachheit wird fuerchterlich. Sechsundzwanzigstes Stueck Den 28. Julius 1767 Den einunddreissigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, "Die Hausfranzoesin, oder die Mamsell" aufgefuehret. Dieses Stueck ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fuenften Bande der "Schaubuehne" beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es noch erhalten wuerde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen. "Das Testament", von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber "Die Hausfranzoesin" ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch obendarein schmutzig, ekel, und im hoechsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben koennen. Ich will hoffen, dass man mir den Beweis von diesem allen schenken wird.-- Den zweiunddreissigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die "Semiramis" des Herrn von Voltaire wiederholt. Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermassen die Stelle der alten Choere vertritt, so haben Kenner schon laengst gewuenscht, dass die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stuecke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr uebereinstimmen moechte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld fuer die Kunst bemerkte. Da er einsahe, dass, wenn die Ruehrung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwaecht und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er nicht allein bereits 1738 mit dem "Polyeukt" und "Mithridat" den Versuch, besondere diesen Stuecken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und anderwaerts aufgefuehret wurden; sondern liess sich auch in einem besondern Blatte seines "Kritischen Musikus"[1] umstaendlich darueber aus, was ueberhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle. "Alle Symphonien," sagt er, "die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es gehoeren also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragoedien und Komoedien unter sich selbst sind, so verschieden muss auch die dazugehoerige Musik sein. Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abteilung gehoert, zu sehen. Daher muss die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stueckes beziehen; die Symphonien aber, die zwischen den Aufzuegen vorkommen, muessen teils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges uebereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemaess sein muss." "Alle Symphonien zu Trauerspielen muessen praechtig, feurig und geistreich gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragoedien, da bald diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den 'Polyeukt' gegen den 'Brutus', oder auch die 'Alzire' gegen den 'Mithridat': so wird man gleich sehen, dass sich keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufaellen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermassen das Praechtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Grossmut, die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Ungluecksfaellen im Trauerspiele herrschen: so muss auch die Musik weit feuriger und lebhafter sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele 'Cato', 'Brutus', 'Mithridat'. 'Alzire' aber und 'Zaire' erfordern hingegen schon eine etwas veraenderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen Stuecken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veraenderung der Affekten zeigen." "Ebenso muessen die Komoediensymphonien ueberhaupt frei, fliessend und zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem eigentuemlichen Inhalte einer jeden Komoedie richten. So wie die Komoedie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muss auch die Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komoedien 'Der Falke' und 'Die beiderseitige Unbestaendigkeit' wuerden ganz andere Symphonien erfordern als 'Der verlorne Sohn'. So wuerden sich auch nicht die Symphonien, die sich zum 'Geizigen' oder zum 'Kranken in der Einbildung' sehr wohl schicken moechten, zum 'Unentschluessigen' oder zum 'Zerstreuten' schicken. Jene muessen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber verdriesslicher und ernsthafter." "Die Anfangssymphonie muss sich auf das ganze Stueck beziehen; zugleich aber muss sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem ersten Auftritte uebereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Saetzen bestehen, so wie es der Komponist fuer gut findet.--Die Symphonien zwischen den Aufzuegen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natuerlichsten zwei Saetze haben koennen. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein noetig, wenn die Affekten einander allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehoerige Laenge erhaelt, damit die Beduerfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden koennen.--Die Schlusssymphonie endlich muss mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste uebereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto nachdruecklicher zu machen. Was ist laecherlicher, als wenn der Held auf eine unglueckliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komoedie auf eine froehliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Symphonie darauf?"-- "Da uebrigens die Musik zu den Schauspielen bloss allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veraenderung derselben sehr noetig, damit die Zuhoerer desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht verlieren moechten, wenn sie immer einerlei Instrumente hoeren sollten. Es ist aber beinahe eine Notwendigkeit, dass die Anfangssymphonie sehr stark und vollstaendig ist, und also desto nachdruecklicher ins Gehoer falle. Die Veraenderung der Instrumenten muss also vornehmlich in den Zwischensymphonien erscheinen. Man muss aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdruecken kann, was man ausdruecken soll. Es muss also auch hier eine vernuenftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veraenderung der Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Uebelstand vermeidet." Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkuenstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmassen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, dass sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten imstande sei. Die mehresten muessen es von ihren Kunstverwandten erst hoeren, dass die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wenden. Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankoemmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkuenstler gibt und gegeben, die bis zur Bewunderung darin gluecklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsaetze aus ihren Beispielen hergeleitet haette. Aber je haeufiger diese Beispiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto eher koennen wir sie uns versprechen; und ich muesste mich sehr irren, wenn nicht ein grosser Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkuenstler in dergleichen dramatischen Symphonien geschehen koennte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwaechste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstaerkt: in der Instrumentalmusik hingegen faellt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Kuenstler wird also hier seine aeusserste Staerke anwenden muessen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Toenen, die eine Empfindung ausdruecken koennen, nur immer diejenigen waehlen, die sie am deutlichsten ausdruecken; wir werden diese oefterer hoeren, wir werden sie miteinander oefterer vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie bestaendig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen. Welchen Zuwachs unser Vergnuegen im Theater dadurch erhalten wuerde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters hat man sich daher nicht nur ueberhaupt bemueht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch wuerdige Maenner bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser Art von Komposition zu machen, die ueber alle Erwartung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks "Olint und Sophronia" hatte Herr Hertel eigne Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Auffuehrung der "Semiramis" wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgefuehrt. ----Fussnote [1] Stueck 67. ----Fussnote Siebenundzwanzigstes Stueck Den 31. Julius 1767 Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen;--denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Vergnuegen ist, desto weniger laesst es sich mit Worten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprueche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und diese sind ebenso ununterrichtend fuer den Liebhaber, als ekelhaft fuer den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet;--sondern bloss nach den Absichten, die ihr Meister damit gehabt, und nach den Mitteln ueberhaupt, deren er sich, zur Erreichung derselben, bedienen wollen. Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Saetzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Floeten; der Grundbass ist durch Fagotte verstaerkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stuermisch; der Zuhoerer soll vermuten, dass er ein Schauspiel ungefaehr dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zaertlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung nehmen ihr Teil daran; und der zweite Satz, ein Andante mit gedaempften Violinen und konzertierenden Fagotten, beschaeftigst sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Buehne eroeffnet sich mit mehr als gewoehnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spueren muss, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in dem ersten, ausser dass die Hoboen, Floeten und Fagotte miteinander einige besondere kleinere Saetze haben. Die Musik zwischen den Akten hat durchgaengig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der sich auf das Folgende bezoege, scheinet Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich wuerde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das Unerwartete, das Ueberraschende mehr als ein anderer; er laesst seinen Gang nicht gern voraus verraten; und die Musik wuerde ihn verraten, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muss auch sie nur den allgemeinen Ton des Stuecks angeben, und nicht staerker, nicht bestimmter, als ihn ungefaehr der Titel angibt. Man darf dem Zuhoerer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuehren will, aber die verschiedenen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, muessen ihm gaenzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten ist aus dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestaerkt. Denn gesetzt, dass die Leidenschaften, welche in zwei aufeinanderfolgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen waeren, so wuerden notwendig auch die beiden Saetze von ebenso widriger Beschaffenheit sein muessen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem voelligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? Es sei, dass er es in einem Stuecke, von der erforderlichen Laenge, ebensowohl tun koenne; aber in zwei besondern, voneinander gaenzlich abgesetzten Stuecken muss der Sprung, z.E. aus dem Ruhigen in das Stuermische, aus dem Zaertlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploetzliche Uebergang aus einem Aeussersten in das andere, aus der Finsternis in das Licht, aus der Kaelte in die Hitze zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, fuer den unsere Seele ganz mitleidiges Gefuehl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie laesst uns in Ungewissheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend als ergoetzend. Die Poesie hingegen laesst uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die ploetzlichsten Uebergaenge nicht allein ertraeglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der ploetzlichen Uebergaenge einer der groessten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergroesste. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschraenken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewaehren koennen, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Uebereinstimmung des Mannigfaltigen bemerke. Nun aber wuerde, bei dem doppelten Satze zwischen den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hintennach kommen; wir wuerden es erst hintennach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegengesetzte ueberspringen muessen: und das ist fuer die Musik so gut, als erfuehren wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine ueble Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, dass er uns nicht haette beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, dass sonach alle Symphonien verwerflich sein muessten, weil alle aus mehrern Saetzen bestehen, die voneinander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders ausdrueckt als der andere. Sie druecken etwas anders aus, aber nicht etwas Verschiednes; oder vielmehr, sie druecken das naemliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Saetzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrueckt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muss nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muss ebendieselbe Leidenschaft, bloss mit verschiednen Abaenderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Staerke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertoenen lassen und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser Beschaffenheit; das Ungestueme des ersten Satzes zerfliesst in das Klagende des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen Wuerde erhebet. Ein Tonkuenstler, der sich in seinen Symphonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren laesst, um sich in einen dritten ebenso verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann ueberraschen, kann betaeuben, kann kitzeln, nur ruehren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muss ebensowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes faehig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Kuenstlers verewigen kann. Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der "Semiramis" zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat; Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante mesto, bloss mit gedaempften Violinen und Bratsche. In dem zweiten Akt spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als dass er nicht den Ausdruck der darauffolgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro assai aus dem G-dur mit Waldhoernern, durch Floeten und Hoboen, auch den Grundbass mitspielende Fagotte verstaerkt, drueckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz dieses treulosen und herrschsuechtigen Ministers aus. In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen laesst. Aber der Tonkuenstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E-moll, mit der naemlichen Instrumentenbesetzung des Vorhergehenden, nur dass E-Hoerner mit G-Hoernern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und traeges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestuerzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muss. Die Beaengstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir bedauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen. Bedauern und Mitleid laesst also auch die Musik ertoenen; in einem Larghetto aus dem A-moll, mit gedaempften Violinen und Bratsche und einer konzertierenden Hoboe. Endlich folget auch auf den fuenften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E-dur, naechst den Violinen und der Bratsche, mit Hoernern, mit verstaerkenden Hoboen und Floeten und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene und ins Erhabene gezogene Betruebnis, mit einiger Ruecksicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Grossen der Erde ebenso wuerdig als maechtig erhebt. Die Absichten eines Tonkuenstlers merken, heisst ihm zugestehen, dass er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Raetsel sein, dessen Deutung ebenso muehsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob waechst mit seiner Verstaendlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter jenes.--Es ist kein Ruhm fuer mich, dass ich recht gehoert habe; aber fuer den Hrn. Agricola ist es ein so viel groesserer, dass in dieser seiner Komposition niemand etwas anders gehoert hat als ich. Achtundzwanzigstes Stueck Den 4. August 1767 Den dreiunddreissigsten Abend (freitags, den 12. Junius) ward die "Nanine" wiederholt, und den Beschluss machte "Der Bauer mit der Erbschaft", aus dem Franzoesischen des Marivaux. Dieses kleine Stueck ist hier Ware fuer den Platz und macht daher allezeit viel Vergnuegen. Juerge koemmt aus der Stadt zurueck, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hunderttausend Mark geerbt. Glueck aendert Stand und Sitten; nun will er leben, wie vornehme Leute leben, erhebt seine Liese zur Madame, findet geschwind fuer seinen Hans und fuer seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bote koemmt nach. Der Makler, bei dem die hunderttausend Mark gestanden, hat Bankerott gemacht, Juerge ist wieder nichts wie Juerge, Hans bekommt den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluss wuerde traurig genug sein, wenn das Glueck mehr nehmen koennte, als es gegeben hat; gesund und vergnuegt waren sie, gesund und vergnuegt bleiben sie. Diese Fabel haette jeder erfinden koennen; aber wenige wuerden sie so unterhaltend zu machen gewusst haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine ganz eigene Wuerze. Die Uebersetzung ist von Kruegern, der das franzoesische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu uebertragen gewusst hat. Es ist nur schade, dass verschiedene Stellen hoechst fehlerhaft und verstuemmelt abgedruckt werden. Einige muessten notwendig in der Vorstellung berichtiget und ergaenzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene. "Juerge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dahlers. Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken? Juerge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die. Lise. Woto denn, Hans Narr? Juerge. Foer duessen Jungen, de mie mienen Buendel op dee Reise bed in unse Doerp dragen hed, un ik buen ganss licht und sacht hergahn. Lise. Buest du to Foote hergahn? Juerge. Ja. Wielt't veel kummoder is. Lise. Da hest du een Maark. Juerge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat. Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig. Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak Juerge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven. Valentin. Sollen die fuenf Schilling fuer mich, Herr Juerge? Juerge. Ja, mien Fruend! Valentin. Fuenf Schilling? ein reicher Erbe! fuenf Schillinge? ein Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele? Juerge. O! et kumt mie even darop nich an, jy doerft't man seggen. Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so." Wie ist das? Juerge ist zu Fusse gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert fuenf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fuenf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hinschmeissen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja noch uebrig. Ohne das Franzoesische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Juerge war nicht zu Fusse gekommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein "Wielt't veel kummoder is". Aber die Kutsche ging vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, liess er sich bis zu seinem Hause das Buendel nachtragen. Dafuer gibt er dem Jungen die fuenf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das hat er fuer die Kutsche bezahlen muessen, und er erzaehlt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher darueber fertig geworden.[1] Den vierunddreissigsten Abend (montags, den 29. Junius) ward "Der Zerstreute" des Regnard aufgefuehrt. Ich glaube schwerlich, dass unsere Grossvaeter den deutschen Titel dieses Stuecks verstanden haetten. Noch Schlegel uebersetzte Distrait durch "Traeumer". Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Franzoesischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das Regnard brachte seinen "Zerstreuten" im Jahre 1679 aufs Theater; und er fand nicht den geringsten Beifall. Aber vierunddreissig Jahr darauf, als ihn die Komoedianten wieder versuchten, fand er einen so viel groessern. Welches Publikum hatte nun recht? Vielleicht hatten sie beide nicht unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stueck als eine gute foermliche Komoedie, wofuer es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm es fuer nichts mehr auf, als es ist; fuer eine Farce, fuer ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte und war dankbar. Jenes Publikum dachte: --non satis est risu diducere rictum Auditoris-- --et est quaedam tamen hic quoque virtus. Ausser der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlaessig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Muehe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyere voellig entworfen. Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Zuege teils in Handlung zu bringen, teils erzaehlen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufuegte, will nicht viel sagen. Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralitaet fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf fuer die Komoedie sein. Warum nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglueck; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden, als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komoedie muesse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei, der lasse sich durch Spoettereien ebensowenig bessern als ein Hinkender. Aber ist es denn wahr, dass die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemuehungen nicht abhelfen koennen? Sollte sie wirklich mehr natuerliche Verwahrlosung als ueble Angewohnheit sein? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Eindruecken zufolge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betaeubt, nicht ausser Taetigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwaerts taetig. Aber so gut sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natuerlicher Beruf, bei den sinnlichen Veraenderungen ihres Koerpers gegenwaertig zu sein; es kostet Muehe, sie dieses Berufs zu entwoehnen, und es sollte unmoeglich sein, ihr ihn wieder gelaeufig zu machen? Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben, dass wir in der Komoedie nur ueber moralische Fehler, nur ueber verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realitaet ist laecherlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit auseinander. Wir koennen ueber einen Menschen lachen, bei Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komoedie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehoerig in Erwaegung gezogen. "Moliere", sagt er z.E., "macht uns ueber den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stuecks; Moliere beweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften veraechtlich macht." Nicht doch; der Misanthrop wird nicht veraechtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen ueber ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schaetzen seine uebrige guten Eigenschaften, wie wir sie schaetzen sollen; ja ohne sie wuerden wir nicht einmal ueber seine Zerstreuung lachen koennen. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswuerdigen Manne, und sehe, ob sie noch laecherlich sein wird? Widrig, ekel, haesslich wird sie sein; nicht laecherlich. ----Fussnote Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons que de grosses pieces. Claudine (le contrefaisant). Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire? Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, te dis-je. Claudine. Pourquoi donc, Nicodeme? Blaise. Pour ce garcon qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu'a cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et a mon Claudine. T'es venu dans la voiture? Blaise. Oui, parce que cela est plus commode. Claudine. T'a baille un ecu? Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un ecu, ce m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ca. Claudine. Et tu depenses cinq sols en porteurs de paquets? Blaise. Oui, par maniere de recreation. Arlequin. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise? Blaise. Oui, mon ami. etc. ----Fussnote Neunundzwanzigstes Stueck Den 7. August 1767 Die Komoedie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, ueber die sie zu lachen macht, noch weniger bloss und allein die, an welchen sich diese laecherlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Uebung unserer Faehigkeit, das Laecherliche zu bemerken; es unter allen Bemaentelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, dass der "Geizige" des Moliere nie einen Geizigen, der "Spieler" des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; eingeraeumt, dass das Lachen diese Toren gar nicht bessern koenne: desto schlimmer fuer sie, aber nicht fuer die Komoedie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben andere, mit welchen sie leben muessen; es ist erspriesslich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; erspriesslich, sich wider alle Eindruecke des Beispiels zu verwahren. Ein Praeservativ ist auch eine schaetzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kraeftigers, wirksamers, als das Laecherliche.-- "Das Raetsel oder Was den Damen am meisten gefaellt", ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Loewen, machte diesen Abend den Beschluss. Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzaehlungen und Maerchen geschrieben haetten, so wuerde das franzoesische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren muessen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen Quellen bereichert. Des letztern "Ce qui plait aux dames" gab den Stoff zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzuegen, welches unter dem Titel "La fee Urgele", von den italienischen Komoedianten zu Paris, im Dezember 1765 aufgefuehret ward. Herr Loewen scheinet nicht sowohl dieses Stueck, als die Erzaehlung des Voltaire selbst vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsaeule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, dass dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Loewen wegen der Einrichtung seines Stuecks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmaerchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Loewen selbst gibt sein Raetsel fuer nichts anders, als fuer eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es waere blosser Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duenkt mich, dass ein Waffentraeger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gruendet und ritterliche Abenteuer als ruehmliche Handlungen eines vernuenftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien muss man nicht zergliedern wollen. Den fuenfunddreissigsten Abend (mittewochs, den 1. Julius) ward, in Gegenwart Sr. Koenigl. Majestaet von Daenemark, die "Rodogune" des Peter Corneille aufgefuehrt. Corneille bekannte, dass er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, dass er es weit ueber seinen "Cinna" und "Cid" setze, dass seine uebrige Stuecke wenig Vorzuege haetten, die in diesem nicht vereint anzutreffen waeren; ein gluecklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gruendliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse.-- Es ist billig, dass wir uns bei dem Meisterstuecke dieses grossen Mannes Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzaehlt Appianus Alexandrinus gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. "Demetrius, mit dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Koeniges Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermaehlte. Inzwischen bemaechtigte sich Diodotus, der den vorigen Koenigen gedienet hatte, des syrischen Thrones und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Namen er als Vormund anfangs die Regierung fuehrte. Bald aber schaffte er den jungen Koenig aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf und gab sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Koenigs, das Schicksal desselben und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hoerte, kam er nach Syrien zurueck, ueberwand mit vieler Muehe den Tryphon und liess ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates und foderte die Befreiung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichtsdestoweniger kam es zwischen ihm und Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kuerzern zog und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlin Kleopatra aus Hass gegen die Rodogune umgebracht; obschon Kleopatra selbst, aus Verdruss ueber diese Heirat, sich mit dem naemlichen Antiochus, seinem Bruder, vermaehlet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwei Soehne, wovon sie den aeltesten, mit Namen Seleukus, der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhaendig mit einem Pfeile erschoss; es sei nun, weil sie besorgte, er moechte den Tod seines Vaters an ihr raechen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemuetsart dazu veranlasste. Der juengste Sohn hiess Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung und zwang seine abscheuliche Mutter, dass sie den Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken musste." In dieser Erzaehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es wuerde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen "Tryphon", einen "Antiochus", einen "Demetrius", einen "Seleukus" daraus zu machen, als es ihm, eine "Rodogune" daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzueglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug raechen zu koennen glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, dass sonach sein Stueck nicht "Rodogune", sondern "Kleopatra" heissen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, dass die Zuhoerer diese Koenigin von Syrien mit jener beruehmten letzten Koenigin von Aegypten gleichen Namens verwechseln duerften, wollte er lieber von der zweiten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. "Ich glaubte mich", sagt er, "dieser Freiheit um so eher bedienen zu koennen, da ich angemerkt hatte, dass die Alten selbst es nicht fuer notwendig gehalten, ein Stueck eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger teil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z.E. Sophokles eines seiner Trauerspiele 'Die Trachinerinnen' genannt, welches man itziger Zeit schwerlich anders, als den 'sterbenden Herkules' nennen wuerde." Diese Bemerkung ist an und fuer sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel fuer ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, dass er den Inhalt angeben muesse; genug, wenn dadurch ein Stueck von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlaenglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, dass Sophokles das Stueck, welches er "Die Trachinerinnen" ueberschrieb, wuerde haben "Dejanira" nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verfuehrerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen moechte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des Corneille ging hiernaechst zu weit; wer die aegyptische Kleopatra kennet, weiss auch, dass Syrien nicht Aegypten ist, weiss, dass mehr Koenige und Koeniginnen einerlei Namen gefuehrt haben: wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens haette Corneille in dem Stueck selbst den Namen Kleopatra nicht so sorgfaeltig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Uebersetzer tat daher sehr wohl, dass er sich ueber diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muss seine Leser oder Zuhoerer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, das moegen sie fragen! Dreissigstes Stueck Den 11. August 1767 Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschiesst den einen von ihren Soehnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens laesst es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die einzige Eifersucht ein wuetendes Eheweib zu einer ebenso wuetenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muss nicht leben, weil er fuer Kleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl faellt; aber in ihm faellt auch ein Vater, der raechende Soehne hinterlaesst. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Soehne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Eltern waehlen muesste, ohnfehlbar sich fuer den zuerst beleidigten Teil erklaeren wuerde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward Koenig, und der Koenig sahe in der Kleopatra nicht die Mutter, sondern die Koenigsmoerderin. Sie hatte alles von ihm zu fuerchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Soehnen uebrig; sie fing an, alles zu hassen, was sie erinnern musste, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung staerkte diesen Hass; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, dass sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, dass sie eigentlich nicht morde, dass sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des aeltere Sohnes waere auch das Schicksal des juengern geworden; aber dieser war rascher, oder war gluecklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen raechet das andere; und es koemmt bloss auf die Umstaende an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen. Dieser dreifache Mord wuerde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der naemlichen Leidenschaft der naemlichen Person haette. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragoedie? Fuer das Genie fehlt ihr nichts: fuer den Stuemper alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natuerlichen Gang. Dieser natuerliche Gang reizet das Genie; und den Stuemper schrecket er ab. Das Genie koennen nur Begebenheiten beschaeftigen, die ineinander gegruendet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurueckzufuehren, jene gegen diese abzuwaegen, ueberall das Ungefaehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen koennen: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnuetzen Schaetze des Gedaechtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegruendete, sondern nur auf das Aehnliche oder Unaehnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, haelt sich bei Begebenheiten auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als dass sie zugleich geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu flechten und zu verwirren, dass wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestuerzt werden; das kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestaendigen Durchkreuzung solcher Faeden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, gruen oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz fuer Kinder. Nun urteile man, ob der grosse Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung. Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte Corneille: das waere ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Kleopatra muss eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern verloren haette, aber durchaus nicht den Thron; dass ihr Mann Rodogunen liebt, muss sie nicht so sehr schmerzen, als dass Rodogune Koenigin sein soll, wie sie; das ist weit erhabner.-- Ganz recht; weit erhabner und--weit unnatuerlicher. Denn einmal ist der Stolz ueberhaupt ein unnatuerlicheres, ein gekuenstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatuerlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur ruestete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zaertlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es maechtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es geniessen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloss des Herrschens wegen, gefaellt, bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere Glueckseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuss ganzen Voelkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das minder Natuerliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswuerdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zaertlichen, eifersuechtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus ueberlegtem Ehrgeize Freveltaten veruebet, empoert sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesaettiget haben, so danken wir dem Himmel, dass sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und aergern uns ueber den Dichter, der uns dergleichen Missgeschoepfe fuer Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns erspriesslich sein koennte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maenner vom Throne gestuerzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen koennte, dass nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus blossem Regierungsneide, aus blossem Stolze das Zepter selbst zu fuehren, welches ein liebreicher Ehemann fuehrte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem maennlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, muerrischen, treulosen Gatten alles, was die Unterwuerfigkeit Kraenkendes hat, zu sehr erfahren, als dass ihnen nachher ihre mit der aeussersten Gefahr erlangte Unabhaengigkeit nicht um so viel schaetzbarer haette sein sollen. Aber sicherlich hat keine das bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von sich sagen laesst; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der groesste Boesewicht weiss sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst zu ueberreden, dass das Laster, welches er begeht, kein so grosses Laster sei, oder dass ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, dass er sich des Lasters, als Lasters, ruehmet; und der Dichter ist aeusserst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glaenzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen laesst, als ob seine Grundneigungen auf das Boese, als auf das Boese, gehen koennten. Dergleichen missgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden, sind indes bei keinem Dichter haeufiger, als bei Corneillen, und es koennte leicht sein, dass sich zum Teil sein Beiname des Grossen mit darauf gruende. Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines faehig sein sollte, und wirklich auch keines faehig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen haette man ihn nennen sollen; aber nicht den Grossen. Denn nichts ist gross, was nicht wahr ist. Einunddreissigstes Stueck Den 14. August 1767 In der Geschichte raechet sich Kleopatra bloss an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht raechen. Bei dem Dichter ist jene Rache laengst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloss erzaehlt, und alle Handlung des Stuecks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muss sich noch gar nicht geraechet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen raechet. Einer Eifersuechtigen ist es allerdings natuerlich, dass sie gegen ihre Nebenbuhlerin noch unversoehnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersuechtig; sie ist bloss ehrgeizig; und die Rache einer Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersuechtigen aehnlich sein. Beide Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als dass ihre Wirkungen die naemlichen sein koennten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut, und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als dass die Rache des Ehrgeizigen ohne Mass und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kaelter und ueberlegender zu werden anfaengt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergisst er es auch wohl, dass er ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fuerchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gaenzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versoehnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhoeret, die naemliche Beleidigung zu sein, und immer waechset, je laenger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erloeschen, die sie spat oder frueh, immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Kleopatra beim Corneille; und die Misshelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als aeusserst beleidigend sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbaendiger Trieb nach Ehre und Unabhaengigkeit, lassen sie uns als eine grosse, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tueckischer Groll; ihre haemische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu befuerchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem geringsten Funken von Edelmute, vergeben muesste; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so klein, dass wir sie nicht genug verachten zu koennen glauben. Endlich muss diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in der ganzen Kleopatra nichts uebrig, als ein haessliches, abscheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet. Aber nicht genug, dass Kleopatra sich an Rodogunen raechet: der Dichter will, dass sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie faengt er dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist das Ding viel zu natuerlich: denn was ist natuerlicher, als seine Feindin hinzurichten? Ginge es nicht an, dass zugleich eine Liebhaberin in ihr hingerichtet wuerde? Und dass sie von ihrem Liebhaber hingerichtet wuerde? Warum nicht? Lasst uns erdichten, dass Rodogune mit dem Demetrius noch nicht voellig vermaehlet gewesen; lasst uns erdichten, dass nach seinem Tode sich die beiden Soehne in die Braut des Vaters verliebt haben; lasst uns erdichten, dass die beiden Soehne Zwillinge sind, dass dem aeltesten der Thron gehoeret, dass die Mutter es aber bestaendig verborgen gehalten, welcher von ihnen der aelteste sei; lasst uns erdichten, dass sich endlich die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen fuer den aeltesten zu erklaeren und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; lasst uns erdichten, dass diese Bedingung der Tod der Rodogune sei. Nun haetten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren. Schoen; aber koennten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koennten wir die guten Prinzen nicht noch in groessere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Lasst uns also weiter erdichten, dass Rodogune den Anschlag der Kleopatra erfaehrt; lasst uns weiter erdichten, dass sie zwar einen von den Prinzen vorzueglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, dass sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen duerfte, zu ihrem Gemahle zu waehlen, dass sie allein den waehlen wolle, welcher sich ihr am wuerdigsten erzeigen werde; Rodogune muss geraechet sein wollen; muss an der Mutter der Prinzen geraechet sein wollen; Rodogune muss ihnen erklaeren: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter! Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine Mutter! Es versteht sich, dass es sehr tugendhafte Prinzen sein muessen, die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt fuer den Teufel von Mama, und ebensoviel Zaertlichkeit fuer eine liebaeugelnde Furie von Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, dass es gar nicht moeglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und schlaegt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder der andere geht hin und schlaegt die Mutter tot, um die Prinzessin zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das Maedchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere totschlagen; so stehen sie beide huebsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schoenheit davon. Freilich wird das Stueck dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen, dass die Weiber darin aerger als rasende Maenner, und die Maenner weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stueckes mehr; denn das Gegenteil ist so gewoehnlich, so abgedroschen!-- Doch im Ernste: ich weiss nicht, ob es viel Muehe kostet, dergleichen Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich moechte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiss ich, dass es einem sehr sauer wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen. Nicht zwar, weil es blosse Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit haette sich Corneille immer ersparen koennen. "Vielleicht", sagt er, "duerfte man zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, dass sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzaehlung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fuenften, nicht das geringste vorkoemmt, welches einigen historischen Grund haette. Doch", faehrt er fort, "Mich duenkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beibehalten, so sind alle vorlaeufige Umstaende, alle Einleitungen zu diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wuesste ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuebung der Alten ist voellig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein haben, als das blosse Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigentuemliche Mittel gelanget, so dass wenigstens eine davon notwendig ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muss. Oder man werfe nur die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster einer vollkommenen Tragoedie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, dass sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloss auf das Vorgeben gruendet, dass Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entrueckt und ein Reh an ihrer Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten als die Aufloesung, gaenzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben." Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umstaenden nach Gutduenken verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, dass Rodogune so jung nicht koenne gewesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens zwanzig Jahre haben muessten, noch in ihrer Kindheit gewesen waeren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel aelter, als sich die Soehne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafuer verifizieren wollte! Zweiunddreissigstes Stueck Den 18. August 1767 Mit den Beispielen der Alten haette Corneille noch weiter zurueckgehen koennen. Viele stellen sich vor, dass die Tragoedie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des Andenkens grosser und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; dass ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fusstapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis liess sich um die historische Richtigkeit ganz unbekuemmert.[1] Es ist wahr, er zog sich darueber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, dass Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so laesst sich den Folgerungen, die man aus seiner Missbilligung ziehen koennte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuerdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, liess die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte: aber er wusste seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermutung von dem Nuetzlichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu fuehren, leicht von uebeln Folgen sein koennte. Ich fuerchte sehr, Solon duerfte auch die Erdichtungen des grossen Corneille nichts als leidige Luegen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschichte, die er damit ueberladet, das Geringste wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal fuer sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdichtungskraft; und er haette doch wohl wissen sollen, dass nicht das blosse Erdichten, sondern das zweckmaessige Erdichten, einen schoepfrischen Geist Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Soehne mordet; eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragoedie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das blosse Faktum, und dieses ist ebenso graesslich als ausserordentlich. Es gibt hoechstens drei Szenen, und da es von allen naehern Umstaenden entbloesst ist, drei unwahrscheinliche Szenen.--Was tut also der Poet? So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kuerze der groessere Mangel seines Stueckes scheinen. Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen muessen. Unzufrieden, ihre Moeglichkeit bloss auf die historische Glaubwuerdigkeit zu gruenden, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen; wird er suchen, die Vorfaelle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leidenschaften durch so allmaehliche Stufen durchzufuehren: dass wir ueberall nichts als den natuerlichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; dass wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun laesst, bekennen muessen, wir wuerden ihn, in dem naemlichen Grade der Leidenschaft, bei der naemlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; dass uns nichts dabei befremdet, als die unmerkliche Annaeherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zurueckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreisst, und voll Schrecken ueber das Bewusstsein befinden, auch uns koenne ein aehnlicher Strom dahinreissen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Gebluete noch so weit von uns entfernt zu sein glauben.--Und schlaegt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, dass er darauf nicht schimpflich ermatten werde: so ist mit eins auch jene magere Kuerze seiner Fabel verschwunden; es bekuemmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfaellen fuenf Akte fuellen wolle; ihm ist nur bange, dass fuenf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergroessert, wenn er einmal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet. Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstoessig sein, dass er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern duerfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiss so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und dieses Mitleid bestehet, dass er, um jenes hervorzubringen, nicht sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug haeufen zu koennen glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den ausserordentlichsten, graesslichsten Ungluecksfaellen und Freveltaten nehmen zu muessen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra, eine Moerderin ihres Gemahls und ihrer Soehne, aufgesagt, so sieht er, um eine Tragoedie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die Luecken zwischen beiden Verbrechen auszufuellen, und sie mit Dingen auszufuellen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien, knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer Haecksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen, laesst erzaehlen und erzaehlen, laesst rasen und reimen,--und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankoemmt, ist das Wunder fertig; es heisst ein Trauerspiel, --wird gedruckt und aufgefuehrt,--gelesen und angesehen,--bewundert oder ausgepfiffen,--beibehalten oder vergessen,--so wie es das liebe Glueck will. Denn et habent sua fata libelli. Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den grossen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen?--Nach dem geheimnisvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine "Rodogune", nun laenger als hundert Jahr, als das groesste Meisterstueck des groessten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjaehrige Bewunderung wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen? O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte sass einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die franzoesischen Poeten; diesem Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechzehnten Saeculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlassnen Enkelin dieses grossen Dichters an, liess sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie huebsche Verse machen, sammelte Almosen fuer sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen grossen eintraeglichen Kommentar ueber die Werke ihres Grossvaters usw.) aber gleichwohl erklaerte er die "Rodogune" fuer ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so grosser Mann, als der grosse Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben koennen.--Bei einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Auslaendern ueber die Fehler eines Franzosen die Augen eroeffnet. Diesem ganz gewiss betet er nach;--oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen,--wo nicht gar dem Huronen. Von einem muss er es doch haben. Denn dass ein Deutscher selbst daechte, von selbst die Kuehnheit haette, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das Ich rede von diesen meinen Vorgaengern mehr bei der naechsten Wiederholung der "Rodogune". Meine Leser wuenschen aus der Stelle zu kommen; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung, nach welcher dieses Stueck aufgefuehret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuettelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schaemen, und ist voller starken, gluecklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiss ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack, als dass er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu uebersetzen, muss man bessere Verse machen koennen, als er ----Fussnote [1] Diogenes Laertius, Lib. I. Sec. 59. ----Fussnote Dreiunddreissigstes Stueck Den 21. August 1767 Den sechsunddreissigsten Abend (freitags, den 3. Julius) ward das Lustspiel des Herrn Favart, "Soliman der Zweite", ebenfalls in Gegenwart Sr. Koenigl. Majestaet von Daenemark, aufgefuehret. Ich mag nicht untersuchen, wieweit es die Geschichte bestaetiget, dass Soliman II. sich in eine europaeische Sklavin verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewusst, dass er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich foermlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserin erklaeren muessen. Genug, dass Marmontel hierauf eine von seinen moralischen Erzaehlungen gegruendet, in der er aber jene Sklavin, die eine Italienerin soll gewesen sein, zu einer Franzoesin macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, dass irgendeine andere Schoene, als eine franzoesische, einen so seltnen Sieg ueber einen Grosstuerken erhalten koennen. Ich weiss nicht, was ich eigentlich zu der Erzaehlung des Marmontel sagen soll; nicht, dass sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der grossen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laecherlichen, ausgefuehret und mit der Eleganz und Anmut geschrieben waere, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzaehlung sein, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schluepfrig, so anstoessig, als eine Erzaehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist? Ein Sultan, der in dem Schosse der Wollueste gaehnet, dem sie der alltaegliche und durch nichts erschwerte Genuss unschmackhaft und ekel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinierteste Zaertlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschoepft: dieser kranke Wolluestling ist der leidende Held in der Erzaehlung. Ich sage der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Suessigkeiten den Magen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfaellt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken wuerde, auf faule Eier, auf Rattenschwaenze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die edelste, bescheidenste Schoenheit, mit dem schmachtendsten Auge, gross und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan,--bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestaetischer in ihrer Form, blendender von Kolorit, bluehende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Toene, eine wahre Muse, nur verfuehrerischer, wird--genossen und vergessen. Endlich erscheinet ein weibliches Ding, fluechtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur Unverschaemtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie, wenig Schoenheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sultan erblickt, faellt mit der plumpesten Schmeichelei, wie mit der Tuere ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine! --(Eine Schmeichelei, die nicht bloss dieser Sultan, auch mancher deutscher Fuerst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hoeren bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich enthaelt, zu fuehlen.) Und so wie dieses Eingangskompliment, so das uebrige --Vous etes beaucoup mieux, qu'il n'appartient a un Turc: vous avez meme quelque chose d'un Francais--En verite ces Turcs sont plaisants--Je me charge d'apprendre a vivre a ce Turc--Je ne desespere pas d'en faire quelque jour un Francais.--Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebaeugelt und mault, bis der Sultan, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Seraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abaendern und Geistlichkeit und Poebel wider sich aufzubringen Gefahr laufen muss, wenn er anders mit ihr ebenso gluecklich sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Muehe! Marmontel faengt seine Erzaehlung mit der Betrachtung an, dass grosse Staatsveraenderungen oft durch sehr geringfuegige Kleinigkeiten veranlasst worden, und laesst den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst schliessen: Wie ist es moeglich, dass eine kleine aufgestuelpte Nase die Gesetze eines Reiches umstossen koennen? Man sollte also fast glauben, dass er bloss diese Bemerkung, dieses anscheinende Missverhaeltnis zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erlaeutern wollen. Doch diese Lehre waere unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, dass er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt. "Ich nahm mir vor", sagt er, "die Torheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefaelligkeit bringen wollen; ich waehlte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als die zwei Extrema der Herrschaft und Abhaengigkeit." Allein Marmontel muss sicherlich auch diesen seinen Vorsatz waehrend der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten Versuch einiger Gewaltsamkeit von seiten des Sultans; er ist gleich bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Franzoesin sagt, der zurueckhaltendste, nachgebendste, gefaelligste, folgsamste, untertaenigste Mann, la meilleure pate de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein wuerde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzaehlung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Kaefer, wenn er alle Blumen durchschwaermt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen. Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laesst oder nicht; und also war die Erzaehlung des Marmontel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat Favart, und sehr gluecklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus aehnlichen Erzaehlungen bereichern wollen, die Favartsche Ausfuehrung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammenzuhalten. Wenn sie die Gabe zu abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veraenderungen, die dieser gelitten und zum Teil leiden muessen, lehrreich sein, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer blossen Spekulation wohl unentdeckt geblieben waere, den noch kein Kritikus zur Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der oefters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stueck bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Dramas machen moechten. Ich will nur bei einer von diesen Veraenderungen stehenbleiben. Aber ich muss vorher das Urteil anfuehren, welches Franzosen selbst ueber das Stueck gefaellt haben.[1] Anfangs aeussern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den groessten Fuersten seines Jahrhunderts; die Tuerken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen teurer waere als dieses Solimans; seine Siege, seine Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswuerdig, ueber die er siegte: aber welche kleine, jaemmerliche Rolle laesst ihn Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuehnsten, schwaerzesten Streiche faehig war, die den Sultan durch ihre Raenke und falsche Zaertlichkeit so weit zu bringen wusste, dass er wider sein eigenes Blut wuetete, dass er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine naerrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als boese. Sind dergleichen Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein Erzaehler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn er Fakta nach seinem Gutduenken veraendern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?" Das heisst einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich moechte die Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht uebernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geaeussert,[2] dass die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein muessen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen koennen; da hingegen allerlei Faktum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten laesst. Zweitens, weil das Lehrreiche nicht in den blossen Faktis, sondern in der Erkenntnis bestehet, dass diese Charaktere unter diesen Umstaenden solche Fakta hervorzubringen pflegen und hervorbringen muessen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Dass es einmal in dem Seraglio eine europaeische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmaessigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewusst: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden koennen, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er waehlen will; ob die, welche die Historie bestaetiget, oder eine andere, sowie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzaehlung verbindet, das eine oder das andere gemaesser ist. Nur sollte er sich, im Fall dass er andere Charaktere als die historischen, oder wohl gar diesen voellig entgegengesetzte waehlet, auch der historischen Namen enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Fakta betrachten wir als etwas Zufaelliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigentuemliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, solange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht veraendern; die geringste Veraenderung scheinet uns die Individualitaet aufzuheben und andere Personen unterzuschieben, betruegerische Personen, die fremde Namen usurpieren und sich fuer etwas ausgeben, was sie nicht sind. ----Fussnote [1] "Journal Encyclop.", Janvier 1762. [2] Oben im 23. Stueck. ----Fussnote Vierunddreissigstes Stueck Den 25. August 1767 Aber dennoch duenkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewaehlten Charakteren selbst, es sei von seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu verstossen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergoennt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiss; nicht der erworbene Vorrat seines Gedaechtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefuehl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;[1] was es gehoert oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstoesst also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so groeblich, dass wir andern guten Leute uns nicht genug darueber verwundern koennen; wir stehen und staunen und schlagen die Haende zusammen und rufen: "Aber, wie hat ein so grosser Mann nicht wissen koennen!--Wie ist es moeglich, dass ihm nicht beifiel!--Ueberlegte er denn nicht?" Oh, lasst uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demuetigen, und wir machen uns in seinen Augen laecherlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloss, dass wir fleissiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider noetig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoepfe bleiben wollten. Marmontels Soliman haette daher meinetwegen immer ein ganz anderer Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein moegen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haette, dass, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehoeren koennten; zu einer Welt, deren Zufaelligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den Schoepfer ohne Namen durch sein edelstes Geschoepf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das hoechste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwaertigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, dass man ihm auch jenes nicht fuer genossen ausgehen laesst. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muss uns nicht vorsaetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt. Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet oder sich schaffet, Uebereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet Uebereinstimmung:--Nichts muss sich in den Charakteren widersprechen; sie muessen immer einfoermig, immer sich selbst aehnlich bleiben; sie duerfen sich itzt staerker, itzt schwaecher aeussern, nachdem die Umstaende auf sie wirken; aber keine von diesen Umstaenden muessen maechtig genug sein koennen, sie von Schwarz auf Weiss zu aendern. Ein Tuerk und Despot muss, auch wenn er verliebt ist, noch Tuerk und Despot sein. Dem Tuerken, der nur die sinnliche Liebe kennt, muessen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwoehnte europaeische Einbildungskraft damit verbindet. "Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts Anzuegliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu ueberwinden haben und, wenn ich sie ueberwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein": so kann ein Koenig von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so koemmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entaeussert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu geniessen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: "Soliman war ein zu grosser Mann, als dass er die kleinen Angelegenheiten seines Seraglio auf den Fuss wichtiger Staatsgeschaefte haette treiben sollen." Sehr wohl; aber so haette er auch am Ende wichtige Staatsgeschaefte nicht auf den Fuss der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben muessen. Denn zu einem grossen Manne gehoert beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen laesst, freie Herzen, die sich aus blosser Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen liessen; er haette ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiss er, was er will? Die zaertliche Elmire wird von einer wolluestigen Delia verdraengt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick ueber die Hoerner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muss, ehe er die zweideutige Gunst geniesset, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muss lachen ueber den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzueckte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, fuer ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Kroenung, noch der Muehe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fuerchte sehr, dass er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestuelpte Nase. Mich duenkt, ich hoere ihn ausrufen: "Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!" Ich leugne nicht, dass bei alle den Widerspruechen, die uns diesen Soliman so armselig und veraechtlich machen, er nicht wirklich sein koennte. Es gibt Menschen genug, die noch klaeglichere Widersprueche in sich vereinigen. Aber diese koennen auch, eben darum, keine Gegenstaende der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es waere denn, dass man ihre Widersprueche selbst, das Laecherliche oder die ungluecklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. --Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen ueber geringere Geschoepfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Kuenstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnuegen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, dass auch wir uns mit dem ebenso geringen Vergnuegen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen faengt das Genie an, zu lernen; es sind seine Voruebungen; auch braucht es sie in groessern Werken zu Fuellungen, zu Ruhepunkten unserer waermern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und groessere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Boesen, des Anstaendigen und Laecherlichen bekannt zu machen; die Absicht, uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schoen und als gluecklich selbst im Ungluecke, dieses hingegen als haesslich und ungluecklich selbst im Gluecke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwuerfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung fuer uns statthat, wenigstens unsere Begehrungs-und Verabscheuungskraefte mit solchen Gegenstaenden zu beschaeftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstaende jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verfuehrt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren. Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen muesste, ein stumpfer Wolluestling, eine abgefeimte Buhlerin werden uns mit so verfuehrerischen Zuegen, mit so lachenden Farben geschildert, dass es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schoenen als gefaelligen Gattin ueberdruessig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist. Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angefuehrten franzoesischen Kunstrichter recht, dass sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesuendiget zu haben, als jener. "Die Wahrscheinlichkeit", sagen sie, "auf die es vielleicht in einer Erzaehlung so sehr nicht ankoemmt, ist in einem dramatischen Stuecke unumgaenglich noetig; und diese ist in dem gegenwaertigen auf das aeusserste verletzet. Der grosse Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschraenkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muss. Man haette diese Gewalt wohl lindern koennen; nur ganz vertilgen haette man sie nicht muessen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Ueberlegung darueber koemmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Buerger; sie tadelt alle seine Gebraeuche; sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar haette sie das alles sagen koennen; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdruecken gesagt haette. Aber wer kann es aushalten, den grossen Soliman von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hoeren? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmaehten Schnupftuche ist hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unertraeglich." ----Fussnote [1] Pindarus, "Olymp." II. str. 5. v. 10. ----Fussnote Fuenfunddreissigstes Stueck Den 28. August 1767 Der letztere Zug, muss man wissen, gehoert dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu goennen, als sich selbst; sie scheinet es zu verschmaehen: das ist Beleidigung. Beim Marmontel hingegen laesst sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen willens ist, und das mit der uneigennuetzigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich ueber nichts beschweren, als dass sie seine Gesinnungen so schlecht erraet oder nicht besser erraten will. Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Ueberladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, dass seine Roxelane noch unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewusst, als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das? Eben auf diese Veraenderung wollte ich oben kommen; und mich duenkt, sie ist so gluecklich und vorteilhaft, dass sie von den Franzosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient haette. Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines naerrisches, vermessenes Ding, dessen Glueck es ist, dass der Sultan Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwaeche gemissbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahingebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, dass seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt und ihm eine Erklaerung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ein Licht auf ihre vorige Auffuehrung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesoehnet werden. "Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, grosse Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzueckt mich! Aber lerne nun auch mich kennen. Ich liebe dich, Soliman; ich muss dich wohl lieben! Nimm all deine Rechte, nimm meine Freiheit zurueck; sei mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich wuerde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen muessen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget. Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erroeten darf; sieh hier in Roxelanen --nichts, als deine untertaenige Sklavin."[1] So sagt sie, und uns wird auf einmal ganz anders; die Kokette verschwindet, und ein liebes, ebenso vernuenftiges als drollichtes Maedchen steht vor uns; Soliman hoeret auf, uns veraechtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe wuerdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fuerchten, er moechte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er moechte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber moechte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt, eine kalte Danksagung, dass sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zurueckhalten wollen, moechte anstatt einer feurigen Bestaetigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind moechte durch ihre Grossmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige Vermessenheiten so muehsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stueck schliesst sich zu unserer voelligen Zufriedenheit. Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veraenderung? Ist sie bloss willkuerlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Erzaehlung diesen vergnuegendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem, was dort eine Schoenheit ist, hier ein Fehler? Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der Aesopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzaehlung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollstaendige Handlung, die fuer sich ein wohlgeruendetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausfuehren laesst, ist er unbekuemmert, er hat uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses mag befriediget werden oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fliessende Lehre keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Gluecksveraenderungen seiner Fabel anzufachen und zu unterhalten vermoegend sind, oder auf das Vergnuegen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewaehret; und beides erfordert eine gewisse Vollstaendigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der moralischen Erzaehlung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt. Wenn es also wahr ist, dass Marmontel durch seine Erzaehlung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie muesse durch Nachsicht und Gefaelligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er recht, so aufzuhoeren, wie er aufhoert. Die unbaendige Roxelane wird durch nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgueltig, moegen wir sie doch immer fuer eine Naerrin und ihn fuer nichts Bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich sein, dass den Sultan seine blinde Gefaelligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefaelligkeit ueber das Frauenzimmer ueberhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekuemmert, ob es eine solche Gefaelligkeit wert sei Allein, als Favart diese Erzaehlung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, dass durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes groesstenteils verloren gehe und dass, wenn sie auch vollkommen erhalten werden koenne, das daraus erwachsende Vergnuegen doch nicht so gross und lebhaft sei, dass man dabei ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren koenne. Ich meine das Vergnuegen, welches uns ebenso rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaehren. Nichts beleidiget uns aber, von seiten dieser, mehr als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, dass sich dieser entweder selbst damit betrogen hat oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer Weisheit gibt und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der grossen Welt ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfaehrt unsere Ueberlegung; das haessliche Gesicht, das wir so schoen geschminkt sehen, wird fuer noch einmal so haesslich erklaert, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu waehlen, ob er von uns lieber fuer einen Giftmischer oder fuer einen Bloedsinnigen will gehalten sein. So waere es dem Favart, so waere es seinen Charakteren des Solimans und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang aendern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterres zu sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun uebrig, als was er tat. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnuegt zu haben, was wir nicht auch hochachten koennten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit staerker ist, als einer blossen Erzaehlung, so interessieren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnuegen uns nicht, ihr Schicksal bloss fuer den gegenwaertigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufriedengestellet wissen. ----Fussnote Sultan, j'ai penetre ton ame; J'en ai demele les ressorts. Elle est grande, elle est fiere, et la gloire l'enflamme, Tant de vertus excitent mes transports. A ton tour, tu vas me connaitre: Je t'aime, Soliman; mais tu l'as merite. Reprends tes droits, reprends ma liberte; Sois mon Sultan, mon Heros et mon Maitre. Tu me soupconnerais d'injuste vanite. Va, ne fais rien que ta loi n'autorise; Il est des prejuges qu'on ne doit point trahir, Et je veux un Amant, qui n'ait point a rougir: Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise. ----Fussnote Sechsunddreissigstes Stueck Den 1. September 1767 So unstreitig wir aber, ohne die glueckliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Kroenung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den laecherlichen Triumph einer "Serva Padrona" wuerden betrachtet haben; so gewiss, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein klaeglicher Pimpinello, und die neue Kaiserin nichts als eine haessliche, verschmitzte Serbinette gewesen waere, von der wir vorausgesehen haetten, dass sie nun bald dem armen Sultan Pimpinello dem Zweiten noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natuerlich duenkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir muessen uns wundern, dass sie, demohngeachtet, so manchem Dichter nicht beigefallen und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische Erzaehlung in der dramatischen Form darueber verungluecken muessen. Zum Exempel, "Die Matrone von Ephesus". Man kennt dieses beissende Maerchen, und es ist unstreitig die bitterste Satire, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nacherzaehlt; und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte man, dass es ein ebenso gluecklicher Stoff auch fuer das Theater sein muesse. Houdar de la Motte und andere machten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefuehl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzaehlung ein nicht unangenehmes hoehnisches Laecheln ueber die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem Drama ekel und haesslich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich ernst ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwaeche duenkt uns die Schwaeche des ganzen Geschlechts zu sein; wir fassen also keinen besondern Hass gegen sie; was sie tut, glauben wir, wuerde ungefaehr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu muessen; oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermutung, dass er wohl auch nur ein blosser Zusatz des haemischen Erzaehlers sei, der sein Maerchen gern mit einer recht giftigen Spitze schliessen wollte. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht statt; was wir dort nur hoeren, dass es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln koennen, davon ueberzeugt uns unser eigener Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der blossen Moeglichkeit ergoetzte uns das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloss ihre Schwaerze; der Einfall vergnuegte unsern Witz, aber die Ausfuehrung des Einfalls empoert unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buehne den Ruecken und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus imperator fuisset, debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verfuehrung angewendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib ueberhaupt, sondern ein vorzueglich leichtsinniges, luederliches Weibsstueck insbesondere.--Kurz, die Petronische Fabel gluecklich auf das Theater zu bringen, muesste sie den naemlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; muesste die Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen.--Die Erklaerung hierueber anderwaerts! Den siebenunddreissigsten Abend (sonnabends, den 4. Julius) wurden "Nanine" und der "Advokat Patelin" wiederholt. Den achtunddreissigsten Abend (dienstags, den 7. Julius) ward die "Merope" des Herrn von Voltaire aufgefuehrt. Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der "Merope" des Maffei; vermutlich im Jahr 1737 und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania, der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit und als Verfasser des Theatre des Grecs am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafuer einzufloessen und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemaess zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern musste er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lieben Sohn Voltaire ueber ein Trauerspiel, ueber eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden, ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darueber zurueckschrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, jederzeit dem Stuecke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin fuer eines von den vollkommensten Trauerspielen, fuer ein wahres Muster erklaert, und wir koennen uns nunmehr ganz zufrieden geben, dass das Stueck des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses ist nun nicht laenger verloren, Voltaire hat es uns wiederhergestellt. So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein musste, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht uebereilen zu wollen, welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoss von seiner staatsklugen Verzoegerung auch alle die Fruechte, die er sich nur immer davon versprechen konnte. "Merope" fand den ausserordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte dem Dichter eine Ehre, von der man noch zurzeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem grossen Corneille sehr vorzueglich; sein Stuhl auf dem Theater ward bestaendig freigelassen, wenn der Zulauf auch noch so gross war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Gebluete gewuerdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als dass ihm die Gaeste ihre Hoeflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch ganz etwas anders; das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen und rufte und schrie und laermte, bis der Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen musste. Ich weiss nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haette, ob die kindische Neugierde des Publikums oder die eitele Gefaelligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, dass ein Dichter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muss der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstueck, duenkt mich, erfuellet uns so ganz mit sich selbst, dass wir des Urhebers darueber vergessen; dass wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es waere Suende in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so gross, so ueberschwenglich, dass es dem rohern Menschen zu verzeihen, dass es sehr natuerlich war, wenn er sich keine groessere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, dass er an den Schoepfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlaessiges von der Person und den Lebensumstaenden des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, dass Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzuecket. Er bringt uns unter Goetter und Helden; wir muessten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Tuersteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Taeuschung muss sehr schwach sein, man muss wenig Natur, aber desto mehr Kuenstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Kuenstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde fuer einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, sein muesste (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten, dem besten Murmeltiere voraus, welches der Poebel gesehen zu haben ebenso begierig ist?), so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der franzoesischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Karessen werden koenne, so machte es sich dieses Vergnuegen oeftrer, und selten ward nachher ein neues Stueck aufgefuehrt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormusste, und auch ganz gern hervorkam. Von Voltairen bis zu Marmontel und von Marmontel bis tief herab zu Cordier haben fast alle an diesem Pranger gestanden. Wie manches Armesuendergesichte muss daruntergewesen sein! Der Posse ging endlich so weit, dass sich die Ernsthaftern von der Nation selbst darueber aergerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kuehn genug, das Parterre vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stueck war mittelmaessig, aber dieses sein Betragen desto braver und ruehmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Uebe1stand lieber abgeschafft, als durch zehn "Meropen" ihn veranlasst haben. Siebenunddreissigstes Stueck Den 4. September 1767 Ich habe gesagt, dass Voltairens "Merope" durch die "Merope" des Maffei veranlasset worden ist. Aber veranlasset sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel, Plan und Sitten gehoeren dem Maffei; Voltaire wuerde ohne ihn gar keine oder doch sicherlich eine ganz andere "Merope" geschrieben haben. Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, muessen wir zuvoerderst das Original des Italieners kennenlernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehoerig zu schaetzen, muessen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Fakta werfen, auf die er seine Fabel gegruendet hat. Maffei selbst fasset diese Fakta in der Zueignungsschrift seines Stueckes folgendergestalt zusammen. "Dass, einige Zeit nach der Eroberung von Troja, als die Herakliden, d.I. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das messenische Gebiete durch das Los zugefallen; dass die Gemahlin dieses Kresphonts Merope geheissen; dass Kresphont, weil er dem Volke sich allzuguenstig erwiesen, von den Maechtigern des Staats, mitsamt seinen Soehnen, umgebracht worden, den juengsten ausgenommen, welcher auswaerts bei einem Anverwandten seiner Mutter erzogen ward; dass dieser juengste Sohn, Namens Aepytus, als er erwachsen, durch Hilfe der Arkader und Dorier, sich des vaeterlichen Reiches wieder bemaechtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Moerdern geraechet habe: dieses erzaehlet Pausanias. Dass, nachdem Kresphont mit seinen zwei Soehnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; dass dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; dass der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Dass Merope selbst den gefluechteten Sohn unbekannterweise toeten wollen; dass sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, dass der, den sie fuer den Moerder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; dass der nun erkannte Sohn bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldete Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes fuehret." Es waere zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Glueckswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis waere genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Moerder ihres Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf ebendieses Stueck,[1] wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, dass der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen koenne. Aristoteles erwaehnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber bei dem Cicero und mehrern Alten einen "Kresphont" des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes als das Werk dieses Dichters gemeiner haben. Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: "Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques). Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, dass, so oft der 'Kresphont' des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstuecke so gewoehnte Volk ganz ausserordentlich sei betroffen, geruehrt und entzueckt worden." --Huebsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber ueber dieses verlohnet es der Muehe, ein paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles ebenso unrecht verstanden haben. Die Sache verhaelt sich wie folget. Aristoteles untersucht in dem vierzehnten Kapitel seiner "Dichtkunst", durch was eigentlich fuer Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, muessen entweder unter Freunden oder unter Feinden oder unter gleichgueltigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind toetet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausfuehrung der Tat sonst weiter einiges Mitleid als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen ueberhaupt verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgueltigen Personen. Folglich muessen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden ereignen; ein Bruder muss den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toeten oder toeten wollen oder sonst auf eine empfindliche Weise misshandeln oder misshandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollfuehrt oder nicht vollfuehrt werden muss, so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit voelliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird und der Taeter die Person, an der er sie vollzogen, zu spaet kennenlernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug, und da er die Handlung der "Merope" in dem "Kresphont" davon zum Beispiele anfuehret: so haben Tournemine und andere dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels ueberhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erklaere. Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, dass eine gute tragische Fabel sich nicht gluecklich, sondern ungluecklich enden muesse. Wie kann dieses beides beieinander bestehen? Sie soll sich ungluecklich enden, und gleichwohl laeuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, gluecklich ab. Widerspricht sich nicht also der grosse Kunstrichter offenbar? Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel ueberhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln koenne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu veraendern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z.E. die Ermordung der Klytaemnestra durch den Orest der Inhalt des Stueckes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, naemlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter muesse nun ueberlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen muesse, und durch den Orest geschehen muesse. Nach der zweiten darum nicht: weil sie zu graesslich sei. Nach der vierten darum nicht: weil Klytaemnestra dadurch abermals gerettet wuerde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts als die dritte Klasse uebrig. Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloss in einzeln Faellen, nach Massgebung der Umstaende, sondern ueberhaupt. Der ehrliche Dacier macht es oeftrer so: Aristoteles behaelt bei ihm recht, nicht weil er recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Bloesse von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine ebenso schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener in diese zu stossen: so ist es ja doch um die Untrueglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Uebereinstimmung der Geschichte ankoemmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr zwar lindern, aber nie gaenzlich veraendern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden muessen? Die Ermordung der Klytaemnestra muesste eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsaetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten waehlen, weil dieser tragischer ist und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z.E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen, als den zweiten? Denn sie muss sie umbringen, und sie muss sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was fuer eine Rangordnung kann also unter diesen Planen stattfinden? Der in einem Falle der vorzueglichste ist, koemmt in einem andern gar nicht in Betracht. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung nicht auf historische, sondern auf bloss erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytaemnestra waere von dieser letztern Art, und es haette dem Dichter freigestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne voellige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan haette er dann waehlen muessen, um eine so viel als moeglich vollkommene Tragoedie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten, denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschaehe es bloss aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich gluecklich schliesst? Aber die besten Tragoedien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich ungluecklich schliessen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestaetiget hat er ihn vielmehr. ----Fussnote [1] Dieses vorausgesetzt (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann, weil es bei den alten Dichtern nicht gebraeuchlich und auch nicht erlaubt war, einander solche eigene Situationen abzustehlen), wuerde sich an der angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Josua Barnes nicht mitgenommen haette und ein neuer Herausgeber des Dichters nutzen koennte. ----Fussnote Achtunddreissigstes Stueck Den 8. September 1767 Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genuege leistet. Unsern deutschen Uebersetzer der Aristotelischen Dichtkunst[1] hat sie ebensowenig befriediget. Er traegt seine Gruende dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug duenken, um seinen Autor lieber gaenzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. "Ich ueberlasse", schliesst er, "einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklaerung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, dass unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewoehnlichen Vorsicht durchgedacht habe." Ich bekenne, dass mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das groessere Misstrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich ueberlese die Stelle zehnmal und glaube nicht eher, dass er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koennen, was ihm diesen Widerspruch gewissermassen unvermeidlich machen muessen, so bin ich ueberzeugt, dass er nur anscheinend ist. Denn sonst wuerde er dem Verfasser, der seine Materie so oft ueberdenken muessen, gewiss am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeuebterm Leser, der ich ihn zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zurueck, ponderiere ein jedes Wort und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber dass er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der naechsten Seite gerade das Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's Doch ohne weitere Umstaende; hier ist die Erklaerung, an welcher Herr Curtius verzweifelt.--Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer groessern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnuegen. Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklaert aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, [Greek: praxeos]; und eine Handlung ist ihm eine Verknuepfung von Begebenheiten, [Greek: synthesin pragmaton]. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie die Guete eines jeden Ganzen auf der Guete seiner einzeln Teile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede fuer sich und alle zusammen, den Absichten der Tragoedie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der tragischen Handlung statthaben koennen, unter drei Hauptstuecke: des Glueckswechsels, [Greek: peripeteias]; der Erkennung, [Greek: anagnorismou]; und des Leidens, [Greek: pathous]. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber fasst er alles zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der Glueckswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, [Greek: mythos peplegmenos], von der einfachen, [Greek: aplo], unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stuecke der Fabel; sie machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schoener und interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre voellige Einheit und Rundung und Groesse haben. Ohne das dritte hingegen laesst sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Leidens, [Greek: pathos], muss jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glueckswechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem hoehern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstuecke gebrachten Teile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, welches der beste Glueckswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern, dass derjenige Glueckswechsel der beste, das ist der faehigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befoerdern, sei, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, dass diejenige Behandlung des Leidens die beste in dem naemlichen Verstande sei, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so dass es dadurch unterbleibt. Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die Gedanken haben muss, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten muessen? Ist denn die moeglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Glueckswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmoeglich, dass ein Ganzes Teile von entgegengesetzten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, dass die beste Tragoedie nichts als die Vorstellung einer Veraenderung des Glueckes in Unglueck sei? Oder, wo sagt er, dass die beste Tragoedie auf nichts, als auf die Erkennung dessen hinauslaufen muesse, an dem eine grausam widernatuerliche Tat veruebet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragoedie ueberhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluss, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Glueckswechsel kann sich mitten in dem Stuecke ereignen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z.E. der Glueckswechsel im "Oedip", der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts aeussert, zu dem aber noch mancherlei Leiden ([Greek: pathos]) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stueck schliesset. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stuecke zur Vollziehung gelangen sollen, und in dem naemlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so dass durch diese Erkennung das Stueck nichts weniger als geendet ist; wie in der zweiten "Iphigenia" des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glueckswechsel mit der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben Fabel verbinden lasse, kann man an der "Merope" selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, dass sie nicht auch den ersteren haben koennte, wenn naemlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schuetzen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben befoerderte? Warum koennte sich dieses Stueck nicht ebensowohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem Dichter nicht freistellen koennen, um unser Mitleiden gegen eine so zaertliche Mutter auf das hoechste zu treiben, sie durch ihre Zaertlichkeit selbst ungluecklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Wuerde eine solche Merope, in beiden Faellen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem Kunstrichter so widersprechend findet? Ich merke wohl, was das Missverstaendnis veranlasset haben kann. Man hat sich einen Glueckswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne Glueckswechsel denken koennen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere sein; nicht zu erwaehnen, dass auch nicht beides eben die naemliche Person treffen muss, und wenn es die naemliche Person trifft, dass eben nicht beides sich zu der naemlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu ueberlegen, hat man nur an solche Faelle und Fabeln gedacht, in welchen beide Teile entweder zusammenfliessen, oder der eine den andern notwendig ausschliesst. Dass es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der moeglichsten Allgemeinheit abfasst, ohne sich um die Faelle zu bekuemmern, in welchen seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muss? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muss von dieser Beschaffenheit sein; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, dass jede Fabel diese Teile alle notwendig haben muesse? Genug fuer ihn, dass es Fabeln gibt, die sie alle haben koennen. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser gluecklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Glueckswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten ueberhaupt fahren wuerdet, und waehlet. Das ist es alles! ----Fussnote [1] Herrn Curtius, S. 214. ----Fussnote Neununddreissigstes Stueck Den 11. September 1767 Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der "Merope" ist weder in dem einen, noch in dem andern Falle so schlechterdings fuer eine vollkommene tragische Fabel zu erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er ebensowohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muss erst untersucht werden, wo er das groessere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklaerung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln Teile derselben. Vielleicht war der Missbrauch seines Ansehens bei dem Pater Tournemine auch nur ein blosser Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, dass eine so vollkommene Fabel, von einem so grossen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstueck werden muessen. Doch Tournemine und Tournemine--Ich fuerchte, meine Leser werden fragen: "Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine." Denn viele duerften ihn wirklich nicht kennen; und manche duerften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu[1]. Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns von dem verlornen Stuecke des Euripides die naemlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, dass Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, dass die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne sei. Auch er sagt, dass Aristoteles diesem coup de theatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, dass er dieses Stueck des Euripides fuer das ruehrendste von allen Stuecken desselben gehalten habe.[2] Dieses letztere ist nun gaenzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stuecke, aus welchem er die Situation der Merope anfuehrt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder, wie es heisst, noch wer der Verfasser desselben sei; geschweige, dass er es fuer das ruehrendste von allen Stuecken des Euripides Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, dass die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne sei! Welche Ausdruecke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buehne! Sollte man hieraus nicht schliessen: Aristoteles gehe mit Fleiss alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben koenne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, untereinander ab und tue endlich so dreist als sicher den Ausspruch fuer diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beispiele anfuehret; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand aehnliche Beispiele in der "Iphigenia", wo die Schwester den Bruder, und in der "Helle", wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermutet, auch die "Helle" ein Werk dieses Dichters gewesen: so waere es doch sonderbar, dass Aristoteles alle drei Beispiele von einer solchen gluecklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter gefunden haette, der sich der ungluecklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, dass die eine die andere nicht ausschliesst; und obschon in der "Iphigenia" die glueckliche Erkennung auf die unglueckliche Peripetie folgt, und das Stueck ueberhaupt also gluecklich sich endet: wer weiss, ob nicht in den beiden andern eine unglueckliche Peripetie auf die glueckliche Erkennung folgte, und sie also voellig in der Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern verdiente? Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art moeglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, laesst sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem "Kresphontes" uebrig sind, nicht schliessen. Sie enthalten nichts als Sittensprueche und moralische Gesinnungen, von spaetern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und werfen nicht das geringste Licht auf die Oekonomie des Stueckes.[3] Aus dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Goettin des Friedens ist, scheinet zu erhellen, dass zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem messenischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein paar andern sollte man fast schliessen, dass die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei aeltern Soehne entweder einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe oder doch nur kurz vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des juengern Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brueder zu raechen kam, nicht wohl zusammenreimet. Die groesste Schwierigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des juengern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen. Wie konnte das Stueck "Kresphontes" heissen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber hiess nach einigen Aepytus und nach andern Telephontes; vielleicht, dass jenes der rechte und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde fuehrte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muss laengst tot sein, wenn sich der Sohn des vaeterlichen Reiches wieder bemaechtiget. Hat man jemals gehoert, dass ein Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin vorkommt? Corneille und Dacier haben sich geschwind ueber diese Schwierigkeit hinwegzusetzen gewusst, indem sie angenommen, dass der Sohn gleichfalls Kresphont geheissen;[4] aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? aus welchem Grunde? Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so koennen wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn naemlich bei dem Hyginus, in der hundertundvierundachtzigsten Fabel, gefunden zu haben.[5] Denn er haelt die Fabeln des Hyginus ueberhaupt groesstenteils fuer nichts, als fuer die Argumente alter Tragoedien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius gewesen war, und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rat ist nicht uebel und zu befolgen. Auch hat ihn mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, dass er ihn gegeben. Herr Weisse hat den Stoff zu seinem "Thyest" aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verstaendiges Auge. Nur moechte es nicht der groesste, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragoedien zusammengesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragoedienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation gemacht, scheinet selbst die Tragoedien als abgeleitete verdorbene Baeche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwuerdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdruecklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzaehlt er z.E. die Fabel von der Ino und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser und darauf in einem besondern Abschnitte nach der Behandlung des ----Fussnote [1] "Lettres familieres". [2] Aristote, dans sa Poetique immortelle, ne balance pas a dire que la reconnaissance de Merope et de son fils etait le moment le plus interessant de toute la scene Grecque. Il donnait a ce coup de Theatre la preference sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arreter le bras de Merope, n'arrivat pas asseztot. Cette piece, qu'on jouait de son temps, et dont il nous reste tres peu de fragments, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragedies d'Euripide etc. Lettre a [3] Dasjenige, welches Dacier anfuehret ("Poetique d'Aristote", Chap. XV. Rem. 23.), ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem Plutarch in der Abhandlung: "Wie man seine Feinde nuetzen solle". [4] Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d'Arist. Une Mere, qui va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte etc. [5] Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184 d'Igino, la quale a mio credere altro non e, che l'Argomento di quella Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch'io feci gia in quell' Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le piu di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di cio col confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi e stato caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera e pero questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fantasia: io la scopriro loro di buona voglia, perche rendano col loro ingegno alla nostra eta cio, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto piu di considerazione quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non e stato creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori delle favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate, secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso convertendole, le avean ridotte. ----Fussnote Vierzigstes Stueck Den 15. September 1767 Damit will ich jedoch nicht sagen, dass, weil ueber derhundertundvierund- Achtzigsten Fabel Der Name Des Euripides Nicht Stehe, Sie Auch Nicht Aus Dem "Kresphont" Desselben Koenne Gezogen Sein. Vielmehr Bekenne Ich, Dass Sie Wirklich Den Gang Und Die Verwickelung Eines Trauerspieles Hat; So Dass, Wenn Sie Keines Gewesen Ist, Sie Doch Leicht Eines Werden Koennte, Und Zwar Eines, Dessen Plan Der Alten Simplizitaet Weit Naeher Kaeme, Als Alle Neuere Meropen. Man Urteile Selbst: Die Erzaehlung Des Hyginus, Die Ich Oben Nur Verkuerzt Angefuehrt, Ist Nach Allen Ihren Umstaenden Folgende. Kresphontes war Koenig von Messenien und hatte mit seiner Gemahlin Merope drei Soehne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem er, nebst seinen beiden aeltesten Soehnen, das Leben verlor. Polyphontes bemaechtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche waehrend dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewaertigen und versprach also demjenigen eine grosse Belohnung, der ihn aus dem Wege raeumen wuerde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr faehig fuehlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, dass er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuer ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen koenne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Muedigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen und meldete ihr, dass Telephontes aus Aetolien weg sei, ohne dass man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde ruehme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer und haette ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt und die Mutter an der Freveltat verhindert haette. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versoehnt. Polyphontes duenkte sich aller seiner Wuensche gewaehret und wollte den Goettern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, fuehrte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier faellen zu wollen sich stellte, auf den Koenig; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines vaeterlichen Auch hatten, schon in dem sechzehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Pomponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, "Kresphont" und "Merope", aus dieser Fabel des Hyginus genommen und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fusstapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Ueberzeugung ohngeachtet wollte Maffei selbst sein Werk so wenig zu einer blossen Divination ueber den Euripides machen und den verlornen "Kresphont" in seiner "Merope" wieder aufleben lassen, dass er vielmehr mit Fleiss von verschiednen Hauptzuegen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin geruehrt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte. Die Mutter naemlich, die ihren Sohn so feurig liebte, dass sie sich an dem Moerder desselben mit eigner Hand raechen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die muetterliche Zaertlichkeit ueberhaupt zu schildern und mit Ausschliessung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stueck zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward veraendert; welches besonders die Umstaende von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswaertiger Erziehung treffen musste. Merope musste nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes ueberlassen zu haben, in dem sie den Moerder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche naehere Ansprueche auf den Thron haben koennten, zu befreien. Der Sohn musste nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines vaeterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemaechlichkeit, in der voelligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die muetterliche Liebe erkaltet natuerlicherweise, wenn sie nicht durch die bestaendigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er musste nicht in der ausdruecklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu raechen; er muss nicht von Meropen fuer den Moerder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafuer ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufaellen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten muendlichen Erklaerung aus, und ihr ruehrender Kummer, ihre zaertliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel Und diesen Veraenderungen zufolge kann man sich den Maffeischen Plan ungefaehr vorstellen. Polyphontes regieret bereits fuenfzehn Jahre, und doch fuehlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Koeniges zugetan und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Missvergnuegten zu beruhigen, faellt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er traegt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht verhelfen koennen. Eben dringt er am schaerfsten in sie, als ein Juengling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstrasse ueber einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Juengling, hatte nichts getan, als sein eignes Leben gegen einen Raeuber verteidiget; sein Ansehen verraet so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, dass Merope, die noch ausserdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koenig fuer ihn zu bitten; und der Koenig begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermisst Merope ihren juengsten Sohn, den sie einem alten Diener, namens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuer seinen Vater haelt, heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstrasse ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen waere? So denkt sie und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene Umstaende, durch die Bereitwilligkeit des Koenigs, den Moerder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestaerket, den man bei dem Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, dass ihn Aegisth dem Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhaendigen, wenn er erwachsen, und es Zeit sein wuerde, ihm seinen Stand zu entdecken. Sogleich laesst sie den Juengling, fuer den sie vorher selbst gebeten, an eine Saeule binden und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstossen. Der Juengling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Eltern; ihm entfaehrt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfaeltig zu vermeiden; Merope verlangt hierueber Erklaerung: indem koemmt der Koenig dazu, und der Juengling wird befreiet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfaellt sie wiederum darein zurueck, als sie siehet, wie hoehnisch der Koenig ueber ihre Verzweiflung triumphiert. Nun ist Aegisth unfehlbar der Moerder ihres Sohnes, und nichts soll ihn vor ihrer Rache schuetzen. Sie erfaehrt mit einbrechender Nacht, dass er in dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und koemmt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme faellt. Aegisth erwacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Moerder ihres Sohnes. Sie will ihm nach und wuerde ihn leicht durch ihre stuermische Zaertlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurueckgehalten haette. Mit fruehem Morgen soll ihre Vermaehlung mit dem Koenige vollzogen werden; sie muss zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, draenget sich durch das Volk, und--das uebrige wie bei dem Hyginus. ----Fussnote [1] In der 184. Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzaehlung genommen, sind offenbar Begebenheiten ineinander geflossen, die nicht die geringste Verbindung unter sich haben. Sie faengt an mit dem Schicksale des Pentheus und der Agave und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen koennen; es waere denn, dass sie sich bloss in derjenigen Ausgabe, welche ich vor mir habe (Johannis Schefferi, Hamburgi 1674), befaende. Diese Untersuchung ueberlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat. Genug, dass hier, bei mir, die 184. Fabel mit den Worten: quam Licoterses excepit, aus sein muss. Das uebrige macht entweder eine besondere Fabel, von der die Anfangsworte verloren gegangen, oder gehoeret, welches mir das Wahrscheinlichste ist, zu der 137., so dass, beides miteinander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137. oder zu der 184. machen wollen, folgendermassen zusammenlegen wurde. Es versteht sich, dass in der letztern die Worte: cum qua Polyphontes, occiso Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnoetige Wiederholung, mitsamt dem darauffolgenden ejus, welches auch so schon ueberfluessig ist, wegfallen muesste. Merope. [2] Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat, aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem. Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit, occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso simulavit se hostiam percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus est. ----Fussnote Einundvierzigstes Stueck Den 18. September 1767 Je schlechter es zu Anfange dieses Jahrhunderts mit dem italienischen Theater ueberhaupt aussahe, desto groesser war der Beifall und das Zujauchzen, womit die "Merope" des Maffei aufgenommen wurde. Cedite Romani scriptores, cedite Graii, Nescio quid majus nascitur Oedipode: schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stueck gespielt als "Merope"; die ganze Welt wollte die neue Tragoedie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbuehnen fanden sich darueber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechzehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreissig Ausgaben, in und ausser Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Franzoesische, ins Englische, ins Deutsche uebersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Franzoesische war sie bereits zweimal uebersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals daruebermachen wollte, um sie auch wirklich auf die franzoesische Buehne zu bringen. Doch er fand bald, dass dieses durch eine eigentliche Uebersetzung nicht geschehen koennte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen "Merope" vorsetzte, umstaendlich angibt. Der Ton, sagt er, sei in der italienischen "Merope" viel zu naiv und buergerlich, und der Geschmack des franzoesischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzaertelt, als dass ihm die blosse simple Natur gefallen koenne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zuegen der Kunst sehen; und diese Zuege muessten zu Paris weit anders als zu Verona sein. Das ganze Schreiben ist mit der aeussersten Politesse abgefasst; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlaessigkeiten und Maengel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schoenheiten, aber leider nur Schoenheiten fuer Italien. Gewiss, man kann nicht hoeflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Hoeflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Hoeflichkeit macht, dass wir liebenswuerdig scheinen, aber nicht gross; und der Franzose will ebenso gross, als liebenswuerdig scheinen. Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei ebensoviel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist schade, dass eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat und uebrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich Lindelle: wer einen franzoesischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise laechelt und hinten die haemischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich moechte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Hoeflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener haette freimuetiger, und dieser gerechter sein muessen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, dass der naemliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe. Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, dass er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragoedie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrige auf der Liebe einer Mutter beruhe und das zaertlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, dass die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natuerlichsten Mitteln, welche die Umstaende zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr unrecht, wenn es seit dem koeniglichen Ringe, ueber den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoeren will;[1] wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr unrecht, wenn es nicht will, dass ein junger Mensch, der sich fuer den Sohn gemeiner Eltern haelt und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord veruebt, demohngeachtet nicht soll fuer einen Raeuber gehalten werden duerfen, weil es voraussieht, dass er der Held des Stueckes werden muesse, [2] wenn es beleidiget wird, dass man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Faehndrich in des Koenigs Armee sei, der nicht de belles nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und aehnlichen Faellen unrecht; aber warum muss Voltaire auch in andern Faellen, wo es gewiss nicht unrecht hat, dennoch lieber ihm als dem Maffei unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die franzoesische Hoeflichkeit gegen Auslaender darin besteht, dass man ihnen auch in solchen Stuecken recht gibt, wo sie sich schaemen muessten, recht zu haben, so weiss ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanstaendiger sein kann, als diese franzoesische Hoeflichkeit. Das Geschwaetz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von praechtigen Kroenungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs hoechste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschaeftiget ist: dieses nestorische, aber am unrechten Orte nestorische Geschwaetz kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Voelkern entschuldiget werden; hier muss der Geschmack ueberall der naemliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht ebensowohl dabei gaehnet und darueber unwillig wird, als der Franzose. "Sie haben", sagt Voltaire zu dem Marquis, "in Ihrer Tragoedie jene schoene und ruehrende Vergleichung des Virgils: Qualis populea moerens Philomela sub umbra Amissos queritur foetus-- uebersetzen und anbringen duerfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so wuerde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen muessen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, dass in der Tragoedie ueberall der Held und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, dass bei kritischen Vorfaellen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr kein Koenig, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn dieses Publikum etwas Unrechtes, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum ebendieses verlangen? ebendieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muss Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publico machen wollen, weil er nicht Freimuetigkeit genug hat, dem Dichter geradeheraus zu sagen, dass er hier und an mehrern Stellen luxuriere und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, dass ausfuehrliche Gleichnisse ueberhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden koennen, haette er anmerken sollen, dass jenes Virgilische von dem Maffei aeusserst gemissbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der ueber das Unglueck, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und muesste nach der Gesinnung des Polyphonts mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere und auf das Ganze noch groessern Einfluss habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener ueberhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen zur Last zu legen, und duenkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit troestet, dass es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; dass seine Fehler die Fehler seiner Nation waeren; dass aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler waeren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuer sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafuer wolle gelten lassen. "Wie haette ich es wagen duerfen", faehrt er mit einem tiefen Buecklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, "blosse Nebenpersonen so oft miteinander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen, die interessanten Szenen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugaenge zu einem schoenen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir muessen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstuecken sattgesehen hat und also aeusserst verwoehnt ist." Was heisst dieses anders, als: "Mein Herr Marquis, Ihr Stueck hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnuetze Szenen. Aber es sei fern von mir, dass ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behuete der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiss zu leben; ich werde niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnuetzen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleisse gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wuenschte, dass ich auch so wohlfeil davonkommen koennte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, dass ich noch viel weiter sein muss, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr uebersieht"--Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; Desinit in piscem mulier formosa superne: aus der Hoeflichkeit wird Persiflage (ich brauche dieses franzoesische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen), und aus der Persiflage dummer Stolz. ----Fussnote [1] Je n'ai pu me servir, comme Mr. Maffei, d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre. [2] Je n'oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circonstance ou il se trouve autorise cette meprise. ----Fussnote Zweiundvierzigstes Stueck Den 22. September 1767 Es ist nicht zu leugnen, dass ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire als Eigentuemlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgaenger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen Nation ueberhaupt zur Last zu legen, dass, sage ich, diese, und noch mehrere, und noch groessere, sich in der "Merope" des Maffei befinden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der beruehmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen fuer das eigentliche Genie, welches zur Tragoedie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Altertuemer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung fuer das tragische Genie sind. Er war unter Kirchenvaeter und Diplomen vergraben und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche Veranlassung, seine "Merope" vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwei Monaten zustande brachte. Wenn dieser Mann unter solchen Beschaeftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstueck gemacht haette, so muesste er der ausserordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragoedie ueberhaupt ist ein sehr geringfuegiges Ding. Was indes ein Gelehrter von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr fuer eine Erholung als fuer eine Arbeit ansieht, die seiner wuerdig waere, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als gluecklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Buechern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefuehl; der Literator und der Versifikateur laesst sich ueberall spueren, aber nur selten das Genie und der Dichter. Als Versifikateur laeuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaelde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden koennten, aber in dem Munde seiner Personen unertraeglich sind und in die laecherlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es z.E. zwar sehr schicklich, dass Aegisth seinen Kampf mit dem Raeuber, den er umgebracht, umstaendlich beschreibet, denn auf diesen Umstaenden beruhet seine Verteidigung; dass er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluss geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten Phaenomena malet, die den Fall eines schweren Koerpers ins Wasser begleiten, wie er hineinschiesst, mit welchem Geraeusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie sich die Flut wieder ueber ihn zuschliesst:[1] das wuerde man auch nicht einmal einem kalten geschwaetzigen Advokaten, der fuer ihn spraeche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet und sein Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als dass er in seiner Erzaehlung so kindisch genau sein koennte. Als Literator hat er zu viel Achtung fuer die Simplizitaet der alten griechischen Sitten und fuer das Kostuem bezeugt, mit welchem wir sie bei dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostueme naeher gebracht werden muss, wenn es der Ruehrung im Trauerspiele nicht mehr schaedlich als zutraeglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schoene Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was fuer einer Art von Werken er sie entlehnt und in was fuer eine Art von Werken er sie uebertraegt. Nestor ist in der Epopee ein gespraechiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoedie ein alter ekler Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haette folgen wollen: so wuerde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er haette es sodann fuer seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes uebrig sind, zu nutzen und seinem Werke getreulich einzuflechten.[2] Wo er also geglaubt haette, dass sie sich hinpassten, haette er sie als Pfaehle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen muessen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprueche, womit man seine Luecken fuellet, so sind es andere. Demohngeachtet moechten sich wiederum Stellen finden, wo man wuenschen duerfte, dass sich der Literator weniger vergessen haette. Z.E. Nachdem die Erkennung vorgegangen und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so laesst er die Ismene voller Erstaunen ausrufen: "Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Buehne erdichtet worden!" Con cosi strani avvenimenti uom' forse Non vide mai favoleggiar le scene. Maffei hat sich nicht erinnert, dass die Geschichte seines Stuecks in eine Zeit faellt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich wuerde diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu muessen glaubte, dass er den Namen Messene zu einer Zeit brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwaehne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will; nur verlangt man, dass er sich immer gleichbleibet und dass er sich nicht einmal ueber etwas Bedenken macht, worueber er ein andermal kuehnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, dass er den Anstoss vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Ueberhaupt wuerden mir die angefuehrten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch bestaerken wollen, indem er das Theater ausdruecklich ausser dem Theater annehmen laesst; doch die blossen Worte "Buehne" und "erdichten" sind der Sache schon nachteilig und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegenzusetzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Taeuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert. Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnuegt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Wuerde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins, zu dulden waere; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. "Mit einem Worte", schliesst er, "das Werk des Maffei enthaelt einen schoenen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stueck. Alle Welt koemmt in Paris darin ueberein, dass man die Vorstellung desselben nicht wuerde haben aushalten koennen; und in Italien selbst wird von verstaendigen Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragoedie zu uebersetzen; er konnte leichter einen Uebersetzer bezahlen, als sein Stueck verbessern." So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Luegen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stuecken wider den Maffei recht, und moechte er doch hoeflich oder grob sein, wenn er sich begnuegte, ihn bloss zu tadeln. Aber er will ihn unter die Fuesse treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schaemt sich nicht, offenbare Luegen zu sagen, augenscheinliche Verfaelschungen zu begehen, um nur ein recht haemisches Gelaechter aufschlagen zu koennen. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum Teil gefuehlt zu haben und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an Lindellen den Maffei in allen Stuecken zu verteidigen, in welchen er sich zugleich mitverteidigen zu muessen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit sich selbst, duenkt mich, fehlt das interessanteste Stueck; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire haette mitteilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum die Eigentuemlichkeiten des franzoesischen Geschmacks ins Licht zu stellen, ihm zu zeigen, warum die franzoesische "Merope" ebensowenig in Italien, als die italienische in Frankreich gefallen koenne?-- ----Fussnote ------In core Pero mi venne di lanciar nel fiume Il morto, o semivivio; e con fatica (Ch' inutil' era per riuscire, e vana) L' alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di sangue: a mezzo il ponte Portailo in fretta, di vermiglia striscia Sempre rigando il suol; quinci cadere Col capo in giu il lasciai; piombo, e gran tonfo S' udi nel profondarsi: in alto salse Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse. [2] Non essende dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que' sentimenti di essa, che son rimasti qua e la; avendone tradotti cinque versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso ----Fussnote Dreiundvierzigstes Stueck Den 25. September 1767 So etwas laesst sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben koennten. Lindern, vors erste, liesse sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z.E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: "O mein alter Vater!" und die Koenigin werde durch dieses Wort "alter Vater" so geruehret, dass sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth koenne wohl ihr Sohn sein. "Ist das nicht", setzt er hoehnisch hinzu, "eine sehr gegruendete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, dass ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei", faehrt er fort, "hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stueckes begangen hatte. Aegisth rief da: 'Ach, Polydor, mein Vater!' Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor haette die Koenigin gar nicht mehr zweifeln muessen, dass Aegisth ihr Sohn sei; und das Stueck waere ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit groeberer eingenommen." Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Koenigin stutzt bloss bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuss in das messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloss naehere Erklaerung, und ehe sie diese erhalten kann, koemmt der Koenig dazu. Der Koenig laesst den Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und ruehmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht, so muss wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurueckfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluss muss notwendig bei ihr mehr gelten, als ein blosser Name. Sie bereuet es nunmehr auch, dass sie eines blossen Namens wegen, den ja wohl mehrere fuehren koennen, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe: Che dubitar? misera, ed io da un nome Trattener mi lasciai, quasi un tal nome Altri aver non potesse-- und die folgenden Aeusserungen des Tyrannen koennen sie nicht anders als in der Meinung vollends bestaerken, dass er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlaessigste, gewisseste Nachricht haben muesse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muss ich gestehen, dass ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal fuer sehr noetig halte. Lasst es den Aegisth immerhin sagen, dass sein Vater Polydor heisse! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hiesse und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, dass Merope, ohne alle Widerrede, das fuer wahrscheinlicher halten muss, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiss, dass er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der blossen Uebereinstimmung eines Namens schliessen koennte. Freilich, wenn sie wuesste, dass sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Moerder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gruende, so waere es etwas anders. Aber dieses weiss sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund, zu glauben, dass er seiner Sache werde gewiss sein.--Es versteht sich, dass ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht fuer schoen ausgebe; der Poet haette unstreitig seine Anlage viel feiner machen koennen. Sondern ich will nur sagen, dass auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und dass es gar wohl moeglich und wahrscheinlich ist, dass Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen koennen. Worueber ich mich also beleidiget finden moechte, waere nicht dieses, dass sie zum zweitenmale ihren Sohn als den Moerder ihres Sohnes zu ermorden koemmt, sondern dieses, dass sie zum zweitenmale durch einen gluecklichen ungefaehren Zufall daran verhindert wird. Ich wuerde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gruenden der groessern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen liesse; denn die Leidenschaft, in der sie ist, koennte auch den Gruenden der schwaechern das Uebergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, dass er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Dass der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraschung gefaellt. Aber dass er zum zweiten Male die naemliche Uebereilung auf die naemliche Weise verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht aehnlich; ebendieselbe Ueberraschung wiederholt, hoert auf, Ueberraschung zu sein; ihre Einfoermigkeit beleidiget, und wir aergern uns ueber den Dichter, der zwar ebenso abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiss, als Von den augenscheinlichen und vorsaetzlichen Verfaelschungen des Lindelle will ich nur zwei anfuehren.--"Der vierte Akt", sagt er, "faengt mit einer kalten und unnoetigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiss selbst nicht wie, dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen waere, ihn die Koenigin mit aller Gemaechlichkeit umbringen koenne. Er schlaeft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schoen! und die Koenigin koemmt zum zweiten Male, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdruecklich deswegen schlaeft. Diese naemliche Situation, zweimal wiederholt verraet die aeusserste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so laecherlich, dass in der Welt nichts laecherlicher sein kann." Aber ist es denn auch wahr, dass ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das luegt Lindelle.[1] Aegisth trifft die Vertraute an und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Koenigin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschaefte rufe sie itzt woanders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Koenigin in die Haende zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schlaeft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schlaeft, weil er muede ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen koennen als hier.[2]--Die zweite Luege des Lindelle ist von eben dem Schlage. "Merope", sagt er, "nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was fuer eine Belohnung er dafuer verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjuengen." Bittet sie, ihn zu verjuengen? "Die Belohnung meines Dienstes", antwortet der Alte, "ist dieser Dienst selbst; ist dieses, dass ich dich vergnuegt sehe. Was koenntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines moechte ich mir wuenschen, aber das stehet weder in deiner; noch in irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewaehren; dass mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wuerde usw."[3] Heisst das: Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Staerke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, dass eine solche Klage ueber die Ungemaechlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit Wahnwitz? Und mussten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anluegt?--Anluegt! Luegen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte?--Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu luegen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, dass er gelogen hat?-- ----Fussnote [1] Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout a son aise, sondern auch der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Merope engage le jeune Egiste a dormir sur la scene, afin de donner le temps a la reine de venir l'y assassiner. Was aus dieser Uebereinstimmung zu schliessen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Luegner mit sich selbst ueberein; und wenn zwei Luegner miteinander uebereinstimmen, so ist es gewiss abgeredete Karte. Egi. Ma di tanto furor, di tanto affanno Qual' ebbe mai cagion?-- Ism. Il tutto Scoprirti io non ricuso; ma egli e d'uopo Che qui t'arresti per brev' ora: urgente Cura or mi chiama altrove. Egi. Io volontieri T'attendo quanto vuoi. Ism. Ma non partire E non far si, ch' io qua ritorni indarno. Egi. Mia fe do in pegno; e dove gir dovrei?-- Mer. Ma quale, o mio fedel, qual potro io Darti gia mai merce, che i merti agguagli? Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora M'e, il vederti contenta, ampia mercede. Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro Sol mi saria cio, ch' altri dar non puote; Che scemato mi fosse il grave incarco De gli anni, che mi sta su'l capo, e a terra Il curva, e prime si, che parmi un monte.-- ----Fussnote Vierundvierzigstes Stueck Den 29. September 1767 Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war. Ich uebergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fuehlte, dass der Wurf auf ihn zurueckpralle.--Lindelle hatte gesagt, dass es sehr schwache und unedle Merkmale waeren, aus welchen Merope bei Maffei schliesse, dass Aegisth der Moerder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet: "Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, das Maffei es viel kuenstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, dass ihr Sohn der Moerder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem koeniglichen Ringe, ueber den Boileau in seinen Satiren spottet, wuerde das auf unserm Theater sehr klein scheinen." Aber musste denn Voltaire eben eine alte Ruestung anstatt des Ringes waehlen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Ruestung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen waere, sich keine neue Ruestung kaufen duerfe und sich mit der alten seines Vaters behelfen koenne? Der vorsichtige Alte! Liess er sich nicht auch ein paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Ruestung erkannt werden koenne? So eine Ruestung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienruestung, die Vulkan selbst dem Grossgrossvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Ruestung? Oder wenigstens mit schoenen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so musste sie der Alte freilich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, dass er unter den blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht haette, auch zugleich an eine so nuetzliche Moebel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so musste er doch nicht auch die Ruestung seines Vaters verlieren, in der er jenes wiedererobern konnte. --Zweitens hatte sich Lindelle ueber den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: "Weder Maffei noch ich haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, dass ich einen solchen Fehler fuer sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, betraechtlich ist." Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff veraendert. Was brauchte Voltaire diese Veraenderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe?-- Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine aehnliche Ruecksicht auf sich selbst haette nehmen koennen: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, dass er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich waere dieser Fremde! Lindelle wirft dem Maffei vor, dass er seine Szenen oft nicht verbinde, dass er das Theater oft leer lasse, dass seine Personen oft ohne Ursache auftreten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heutzutage auch dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe.--Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der franzoesischen Kunstrichter ueberhaupt; die muss ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein moegen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, dass sie bei den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der groessten Regelmaessigkeit ruehmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdehnung geben, dass es sich kaum mehr der Muehe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobachten, dass es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen, als gar nicht.[1] Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, dass er alle Freiheit behaelt, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer und macht so aengstliche Verdrehungen, dass man meinen sollte, jedes Glied von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern noch so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern als aus diesem zu betrachten; da es der ist, aus welchem die Bewunderer des franzoesischen Theaters das lauteste Geschrei erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit 1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsaetzen und Beispielen der Alten, ein Hedelin verlangen zu koennen glaubte. Die Szene muss kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und ebendemselben Standorte zu uebersehen faehig ist. Ob sie ein ganzer Palast oder eine ganze Stadt oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdrueckliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung und wollte, dass eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei. Wenn er seine besten Stuecke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so musste er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das muss Voltairen recht sein. Ich sage also nichts dagegen, dass eigentlich die Szene bald in dem Zimmer der Koenigin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser, bald nach einer andern Aussicht muss gedacht werden. Nur haette er bei diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie muessen nicht in dem naemlichen Akte, am wenigsten in der naemlichen Szene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muss durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in ebenderselben Szene abaendern oder auch nur erweitern oder verengern, ist die aeusserste Ungereimtheit von der Welt.--Der dritte Akt der "Merope" mag auf einem freien Platze, unter einem Saeulengange oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmal des Kresphontes zu sehen, an welchem die Koenigin den Aegisth mit eigener Hand hinrichten will: Was kann man sich armseliger vorstellen, als dass, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth wegfuehret, diese Vertiefung hinter sich zuschliessen muss? Wie schliesst er sie zu? Faellt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaengen ueberhaupt sagt, gepasst hat, so ist es auf diesen;[2] besonders wenn man zugleich die Ursache erwaegt, warum Aegisth so ploetzlich abgefuehrt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muss, von der ich hernach reden will.--Ebenso ein Vorhang wird in dem fuenften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der siebenten erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen toten Koerper in einem blutigen Rocke sehen zu koennen. Durch welches Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen, die Tueren dieses Tempels oeffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Koeniglichen Majestaet Schlosskapelle, die gerade an den Saal stiess und mit ihm Kommunikation hatte, damit Allerhoechstdieselben jederzeit trocknes Fusses zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat und ja den kuerzesten Weg nehmen muss, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat schon vollbracht haben soll. ----Fussnote [1] Dieses war zum Teil schon das Urteil unsers Schlegels. "Die Wahrheit zu gestehen", sagt er in seinen Gedanken zur Aufnahme des daenischen Theaters, "beobachten die Englaender, die sich keiner Einheit des Ortes ruehmen, dieselbe grossenteils viel besser als die Franzosen, die sich damit viel wissen, dass sie die Regeln des Aristoteles so genau beobachten. Darauf koemmt gerade am allerwenigsten an, dass das Gemaelde der Szenen nicht veraendert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers auffuehrt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause waere, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne dass dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die Schaubuehne zu treten: so wuerde der Verfasser des Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte 'der Schauplatz ist ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: 'der Schauplatz ist auf dem Theater'. Oder, im Ernste zu reden, es wuerde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche der Englaender die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern verlegt und also den Zuschauer seinem Helden nachgefuehret haette, als dass er seinem Helden die Muehe macht, den Zuschauern zu Gefallen an einen Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat." [2] On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les Acteurs paraissent ei disparaissent selon la necessite du Sujet--ces rideaux ne sont bons qu'a faire des couvertures pour berner ceux qui les ont inventes, et ceux qui les approuvent. Pratique du Theatre. Liv. II. chap. 6. ----Fussnote Fuenfundvierzigstes Stueck Den 2. Oktober 1767 2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner "Merope" vorgehen laesst, an einem Tage geschehen, und sage, wieviel Ungereimtheiten man sich dabei denken muss. Man nehme immer einen voelligen, natuerlichen Tag; man gebe ihm immer die dreissig Stunden, auf die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem Zeitraume nicht haetten geschehen koennen; aber desto mehr moralische. Es ist freilich nicht unmoeglich, dass man innerhalb zwoelf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch soll uns, was bloss physikalischer Weise moeglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen Koenig waehlen; Polyphont und der abwesende Aegisth koennen allein dabei in Betrachtung kommen; um die Ansprueche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heiraten; an ebendemselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich und faellt fuer ihn aus; Polyphont ist also Koenig, und man sollte glauben, Aegisth moege nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwaehlte Koenig koenne es vors erste mit ihm ansehen. Nichts weniger; er bestehet auf der Heirat, und bestehet darauf, dass sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum ersten Male seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Koenige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik. Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so zu misshandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht Koenig war, als sie glauben musste, dass ihn ihre Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen sollte; aber nun ist er Koenig und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gruenden; er wiederhole seinen Antrag, und vielleicht gibt sie es naeher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewoehnen, ihn als ihresgleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu noetig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhaengern unbekannt bleiben, dass sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu muessen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben sich fuer verbunden achten? Vergebens, dass das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedaechtig zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Haende liefert und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Ansprueche zu besitzen, anbietet, das weit kuerzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muss geheiratet sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue Koenig will bei der alten Koenigin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas Komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn dass es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen koenne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, dass die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraeugung ungefaehr nicht viel mehr Zeit brauchen wuerden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und dass diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muss, noch lange keinen voelligen Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat er erfuellt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage tun laesst, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernuenftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muss auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt dass die Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmoeglichkeit involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstoessig ist, weil diese Unmoeglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z.E. in einem Stuecke von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen koennen es an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vorteil und opfert das Wesentlichere dem Zufaelligen auf.--Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Hilfe; und die Vermaehlung, die Polyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie uebereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem Koenige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfaengt. 3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde oefters die Szenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heutzutage auch den geringsten Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung der Szenen", sagt Corneille, "ist eine grosse Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie ist aber doch nur eine Zierde und keine Regel; denn die Alten haben sich ihr nicht immer unterworfen usw." Wie? ist die Tragoedie bei den Franzosen seit ihrem grossen Corneille so viel vollkommener geworden, dass das, was dieser bloss fuer eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der Tragoedie noch mehr verkennen gelernt, dass sie auf Dinge einen so grossen Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Corneille immer wenigstens ebenso glaubwuerdig sein, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire aufgehen, nach welchem er das Theater oefters laenger voll laesst, als es bleiben sollte. Wenn z.E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Koenigin koemmt, und die Koenigin mit der dritten Szene abgeht, mit was fuer Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Koenigin verweilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das Beduerfnis des Dichters verraet sich in der vierten Szene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen muessen, nur dass wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haetten. 4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar nicht:--und Voltaire motiviert es ebensooft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, dass eine Person sagt, warum sie koemmt, man muss auch aus der Verbindung einsehen, dass sie darum kommen muessen. Es ist nicht genug, dass sie sagt, warum sie abgeht, man muss auch in dem Folgenden sehen, dass sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein blosser Vorwand und keine Ursache. Wenn z.E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Koenigin zu versammeln, so muesste man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hoeren. Da wir aber nichts davon zu hoeren bekommen, so ist sein Vorgeben ein schuelerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Luegen, die dem Knaben einfaellt. Er geht nicht ab, um das zu tun, was er sagt, sondern um, ein paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu koennen, die der Poet durch keinen andern erteilen zu lassen wusste. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, dass der Altar ihrer erwarte, dass zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Kulisse hinein, worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfaengt, und nicht etwa seinen Unwillen aeussert, dass ihm die Koenigin nicht in den Tempel gefolgt ist (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit), sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, ueber die er nicht hier, ueber die er zu Hause in seinem Gemache mit ihm haette schwatzen sollen. Nun schliesst auch der vierte Akt, und schliesst vollkommen wie der dritte. Polyphont zitiert die Koenigin nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreiet, Courons tous vers le temple ou m'attend mon outrage; und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie, Vous venez a l'autel entrainer la victime. Folglich werden sie doch gewiss zu Anfange des fuenften Akts in dem Tempel sein, wo sie nicht schon gar wieder zurueck sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und koemmt noch einmal wieder, und schickt auch die Koenigin noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fuenften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen sollte, sondern es geschieht auch, platterdings, gar nichts, und der dritte und vierte Akt schliessen bloss, damit der vierte und fuenfte wieder anfangen koennen. Sechsundvierzigstes Stueck Den 6. Oktober 1767 Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben. Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben wuerden, als es jene notwendig erfordert haette, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen waere. Da naemlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mussten und diese Menge immer die naemliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch laenger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewoehnlichermassen der blossen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und ebendenselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und ebendenselben Tag einschraenken. Dieser Einschraenkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, dass sie, unter neun Malen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie liessen sich diesen Zwang einen Anlass sein, die Handlung selbst so zu simplifizieren, alles Ueberfluessige so sorgfaeltig von ihr abzusondern, dass sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am gluecklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umstaenden der Zeit und des Ortes verlangte. Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intrigen der spanischen Stuecke schon verwoehnt waren, ehe sie die griechische Simplizitaet kennenlernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts nicht als Folgen jener Einheit, sondern als fuer sich zur Vorstellung einer Handlung unumgaengliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen muessten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern koennte, dem sie doch gaenzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmoeglich oefters dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren voelligen Gehorsam aufzukuendigen nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes fuehrten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen einbilden koenne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit auseinanderlaegen und keiner eine besondere Verzierung beduerfe, sondern die naemliche Verzierung ungefaehr dem einen so gut als dem andern zukommen koenne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hoerte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht oefterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin ereignen, liessen sie fuer einen Tag gelten. Niemand wuerde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stuecke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am duennsten ist.--Aber ich muss meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muss ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen und schreien. da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren!--Gleichwohl schreien die franzoesischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stuecke der Englaender kommen. Was fuer ein Aufhebens machen sie von der Regelmaessigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben!--Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen laenger aufzuhalten. Moechten meinetwegen Voltairens und Maffeis "Merope" acht Tage dauern und an sieben Orten in Griechenland spielen! Moechten sie aber auch nur die Schoenheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen! Die strengste Regelmaessigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei oefters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat recht, ueber die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu raeumen; das Volk in alle die Wollueste zu versenken, die es entkraeften und weibisch machen koennen; die groessten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen usw., wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlaegt, wird er sich dessen auch ruehmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schuluebung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen.[1]--Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig laesst Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mitunter laesst er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiss kein Mann von dieser Art ueber die Zunge bringt. Z.E. --Des Dieux quelquefois la longue patience Fait sur nous a pas lents descendre la vengeance-- Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert: Eh bien, encor ce crime!-- Wie unbesonnen und in den Tag hinein er gegen Meropen handelt, habe ich schon beruehrt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem ebenso verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger aehnlich. Aegisth haette bei dem Opfer gerade nicht erscheinen muessen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwoeren? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?[2] Er hat sich fuer seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkuehnen Aegisth laesst er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand faellt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht und haelt ihn fuer seinen Freund. Warum haette Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht naehern duerfen? Niemand gab auf seine Bewegungen acht; der Streich war geschehen und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu raechen. "Merope", sagt Lindelle, "wenn sie bei dem Maffei erfaehrt, dass ihr Sohn ermordet sei, will dem Moerder das Herz aus dem Leibe reissen und es mit ihren Zaehnen zerfleischen.[3] Das heisst, sich wie eine Kannibalin und nicht wie eine betruebte Mutter ausdruecken; das Anstaendige muss ueberall beobachtet werden." Ganz recht; aber obgleich die franzoesische Merope delikater ist, als dass sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beissen sollte: so duenkt mich doch, ist sie im Grunde ebensogut Kannibalin, als die italienische.-- ----Fussnote [1] Atto III. Sc. I. ----Quando Saran da poi sopiti alquanto, e queti Gli animi, l'arte del regnar mi giovi. Per mute oblique vie n'andranno a Stige L'alme piu audaci, e generose. A i vizi I'er cui vigor si abbatte, ardir si toglie Il freno allarghero. Lunga clemenza Con pompa di pieta faro, che splenda Su i delinquenti; a i gran delitti invito, Onde restino i buoni esposti, e paghi Renda gl' iniqui la licenza; ed onde Poi fra se distruggendosi, in crudeli Gare private il lor furor si stempri. Udrai sovente risonar gli editti. E raddopiar le leggi, che al sovrano Giovan servate, e transgredite. Udrai Correr minaccia ognor di guerra esterna; Ond' io n'andro su l'atterrita plebe Sempre crescendo i pesi, e peregrine Milizie introdurro.-- Si ce fils, tant pleure, dans Messene est produit, De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit. Crois-moi, ces prejuges de sang et de naissance Revivront dans les coeurs, y prendront sa defense. Le souvenir du pere, et cent rois pour aieux, Cet honneur pretendu d'etre issu de nos Dieux; Les cris, le desespoir d'une mere eploree. Detruiront ma puissance encor mal assuree. Quel scelerato in mio poter vorrei Per trarne prima, s'ebbe parte in questo Assassinio il tiranno; io voglio poi Con una scure spalancargli il petto, Voglio strappargli il cor, vogho co' denti Lacerarlo, e sbranarlo-- ----Fussnote Siebenundvierzigstes Stueck Den 9. Oktober 1767 Und wie das?--Wenn es unstreitig ist, dass man den Menschen mehr nach seinen Taten, als nach seinen Reden richten muss; dass ein rasches Wort, in der Hitze der Leidenschaft ausgestossen, fuer seinen moralischen Charakter wenig, eine ueberlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl recht haben. Merope, die sich in der Ungewissheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer ueberlaesst, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie ungluecklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid ueber alle Unglueckliche erstrecket: ist das schoene Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zaertlichkeit erfaehrt, von ihrem Schmerze betaeubt dahinsinkt, und ploetzlich, sobald sie den Moerder in ihrer Gewalt hoeret, wieder aufspringt und tobet und wuetet und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und wirklich vollziehen wuerde, wenn er sich eben unter ihren Haenden befaende: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schoenheit und Ruehrung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die Henkerin sein, nicht toeten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Baerin ist.--Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, dass sie ihm gefaellt, wenn ich ihn nicht ebensosehr verachten, als verabscheuen soll. Vielleicht duerfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht duerfte er sagen, Merope muesse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze coup de theatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser ehedem so sehr entzueckt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire wuerde sich wiederum irren und die willkuerlichen Abweichungen des Maffei abermals fuer den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, dass Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, dass sie es mit aller Ueberlegung tun muss. Und so scheinet sie es auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuer den Auszug seines Stuecks annehmen duerfen. Der Alte koemmt und sagt der Koenigin weinend, dass ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie gehoert, dass ein Fremder angelangt sei, der sich ruehme, ihn umgebracht zu haben, und dass dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Haende faellt, eilet voller Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natuerlich, sehr ruehrend und menschlich! Die Athenienser zitterten fuer den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu duerfen. Sie zitterten fuer Meropen selbst, die durch die gutartigste Uebereilung Gefahr lief, die Moerderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich bloss fuer den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, dass ich es ihr fast goennen moechte, sie vollfuehrte den Streich. Moechte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so haette sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutduerstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Moerder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwuenschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Ruestung bei ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Moerder Ihres Sohnes, an dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hilfe zu nehmen--O pfui, Madame! Ich muesste mich sehr irren, oder Sie waeren in Athen ausgepfiffen worden. Dass die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, ebensowenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon beruehrt. Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheiratet; und es ist sehr glaublich, dass selbst Euripides diesen Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gruende, mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,[1] haetten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermoegen koennen. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, dass sie ihren Abscheu gegen die Moerder ihrer Maenner ueberwanden und sie zu ihren zweiten Maennern annahmen, wenn sie sahen, dass den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen koenne. Ich erinnere mich etwas Aehnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen traegt, auf eine sehr ruehrende Art darueber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angefuehrt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand. Genug, dass das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen waere, die Auffuehrung seiner "Merope" zu rechtfertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingefuehret haette. Die kalten Szenen einer politischen Liebe waeren dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter und die Situationen noch weit intriganter haetten werden Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, dass es einen bessern geben koenne, dass dieser bessere eben der sei, der schon vor Alters befahren worden, so begnuegte er sich, auf jenem ein paar Sandsteine aus dem Gleise zu raeumen, ueber die er meinet, dass sein Vorgaenger fast umgeschmissen haette. Wuerde er wohl sonst auch dieses von ihm beibehalten haben, dass Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefaehr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige Merkmale in den Verdacht kommen muss, dass er der Moerder seiner selbst sei? Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdruecklichen Vorsatze, sich zu raechen, nach Messene und gab sich selbst fuer den Moerder des Aegisth aus: nur dass er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei aus Vorsicht, oder aus Misstrauen, oder aus was sonst fuer Ursache, an der es ihm der Dichter gewiss nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben dem Maffei einige Gruende zu allen den Veraenderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gruende fuer wichtig und die Veraenderungen fuer gluecklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, dass jeder Tritt, den er aus den Fusstapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden. Dass sich Aegisth nicht kennet, dass er von ungefaehr nach Messene kommt und per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrueckt) fuer den Moerder des Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwaecht auch das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wusste es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, dass er Aegisth sei, und je gewisser er es wusste, dass Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto groesser musste notwendig das Schrecken sein, das ihn darueber befiel, desto quaelender das Mitleid, welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuerde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen vermuten wir es nur, dass der vermeinte Moerder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein koenne, und unser groesstes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhoeret. Das Schlimmste dabei ist noch dieses, dass die Gruende, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gruende sind, aus welchen es Merope selbst vermuten sollte, und dass wir ihn, besonders bei Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stuecke naeher und zuverlaessiger kennen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gruenden entweder ebensoviel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen ebensoviel, so halten wir den Juengling mit ihr fuer einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr ruehren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, dass sie nicht besser darauf merket und sich von weit seichtern Gruenden hinreissen laesst. Beides aber taugt nicht. ----Fussnote [1] Acte II. Sc. 1. --Mer. Non, mon fils ne le souffrirait pas. L'exil ou son enfance a langui condamnee Lui serait moins affreux que ce lache hymenee. Eur. Il le condamnerait, si, paisible en son rang, Il n'en croyait ici que les droits de son sang; Mais si par les malheurs son ame etait instruite, Sur ses vrais interets s'il reglait sa conduite, De ses tristes amis s'il consultait la voix, Et la necessite souveraine des loix, Il verrait que jamais sa malheureuse mere Ne lui donna d'amour une marque plus chere. Mer. Ah que me dites-vous? Eur. De dures verites Que m'arrachent mon zele et vos calamites. Mer. Quoi! Vous me demandez que l'interet surmonte Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte! Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs! Eur. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs; Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui resiste; Il est sans heritier, et vous aimez Egiste.--. ----Fussnote Achtundvierzigstes Stueck Den 13. Oktober 1767 Es ist wahr, unsere Ueberraschung ist groesser, wenn wir es nicht eher mit voelliger Gewissheit erfahren, dass Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfaehrt. Aber das armselige Vergnuegen einer Ueberraschung! Und was braucht der Dichter uns zu ueberraschen? Er ueberrasche seine Personen, soviel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muss, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und staerker sein, je laenger und zuverlaessiger wir es vorausgesehen haben. Ich will, ueber diesen Punkt, den besten franzoesischen Kunstrichter fuer mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stuecken", sagt Diderot,[1] "ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stuecken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muss sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiss. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muss. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schuerzen, ohne dass sie es wissen; fuer diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne dass sie es merken, der Aufloesung immer naeher und naeher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zuschauer den naemlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden muessen.--Weit gefehlt, dass ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man muesse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich daechte vielmehr, es sollte meine Kraefte nicht uebersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen versetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Szene verraten wuerde und aus diesem Umstande selbst das allerstaerkeste Interesse entspraenge.--Fuer den Zuschauer muss alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiss alles, was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers tun kann, als dass man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll. --O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie uebertreten kann, sooft es ihm beliebt!--Meine Gedanken moegen so paradox scheinen, als sie wollen: soviel weiss ich gewiss, dass fuer eine Gelegenheit, wo es nuetzlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich ereignet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das Gegenteil erfodert.--Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis eine kurze Ueberraschung; und in welche anhaltende Unruhe haette er uns stuerzen koennen, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht haette!--Wer in einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur einen Augenblick bedauern. Aber, wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, dass sich das Ungewitter ueber meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darueber verweilet?--Meinetwegen moegen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.--Ja, ich wollte fast behaupten, dass der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; dass der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie haette entuebrigen koennen. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlass geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschaeftigen muessen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen.--Warum haben gewisse Monologen eine so grosse Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschlaege einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfuellet.--Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer fuer die Handlung nicht staerker interessieren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich fuer den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fuehlet, dass Handlung und Reden ganz anders sein wuerden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten koennen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann." Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, fuer welchen von beiden Planen sich Diderot erklaeren wuerde: ob fuer den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth ebensogut kennen, als er sich selbst; oder fuer den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Raetsel ist und dadurch das ganze Stueck "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorbringen. Diderot hat auch nicht ganz unrecht, seine Gedanken ueber die Entbehrlichkeit und Geringfuegigkeit aller ungewissen Erwartungen und ploetzlichen Ueberraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, fuer ebenso neu als gegruendet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt, in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, dass seine Vorgaenger nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgaenger gehoert weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Praedilektion fuer dieses Gegenteil haette bestaerken koennen, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stuecken der Alten abgesehen hatten. Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiss, dass er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie fuehren wollte. Ja, ich waere sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Verteidigung seiner Prologen zu uebernehmen, die den neuern Kriticis so sehr missfallen. "Nicht genug", sagt Hedelin, "dass er meistenteils alles, was vor der Handlung des Stuecks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhoerern geradezu erzaehlen laesst, um ihnen auf diese Weise das Folgende verstaendlich zu machen: er nimmt auch wohl oefters einen Gott dazu, von dem wir annehmen muessen, dass er alles weiss, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kundmacht. Wir erfahren sonach gleich anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe und sehen jeden Zufall schon von weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewissheit und Erwartung, die auf dem Theater bestaendig herrschen sollen, gaenzlich zuwider ist und alle Annehmlichkeiten des Stueckes vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Ueberraschung beruhen."[2] Nein. der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschaetzig von seiner Kunst nicht; er wusste, dass sie einer weit hoehern Vollkommenheit faehig waere, und dass die Ergoetzung einer kindischen Neugierde das Geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er liess seine Zuhoerer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich die Ruehrung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich muesste den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstoessig sein, als nur dieses, dass er uns die noetige Kenntnis des Vergangnen und des Zukuenftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht; dass er ein hoeheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Anteil nimmt, dazu gebrauchet und dass er dieses hoehere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzaehlenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloss hierauf einschraenkten, was waere denn ihr Tadel? Ist uns das Nuetzliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns verstohlnerweise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, dass wir sie durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen ueberhaupt? In den Lehrbuechern sondre man sie so genau voneinander ab, als moeglich: aber wenn ein Genie, hoeherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und ebendemselben Werke zusammenfliessen laesst, so vergesse man das Lehrbuch und untersuche bloss, ob es diese hoehere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stueck des Euripides weder ganz Erzaehlung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, dass mich dieser Zwitter mehr vergnuegt, mehr erbauet, als die gesetzmaessigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heissen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?-- ----Fussnote [1] In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater, S. 327 die [2] "Pratique du Theatre", Liv. III. chap. 1. ----Fussnote Neunundvierzigstes Stueck Den 16. Oktober 1767 Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermoegen, oder aus Gemaechlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als moeglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde ebenso regelmaessig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stuecken eine Schoenheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben. Denn es ist klar, dass alle die Stuecke, deren Prologe ihnen so viel Aergernis machen, auch ohne diese Prologe vollkommen ganz, und vollkommen verstaendlich sind. Streichet z.E. vor dem "Ion" den Prolog des Merkurs, vor der "Hekuba" den Prolog des Polydors weg; lasst jenen sogleich mit der Morgenandacht des Ion und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstuemmelt? Woher wuerdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da waere? Behaelt nicht alles den naemlichen Gang, den naemlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, dass die Stuecke, nach eurer Art zu denken, desto schoener sein wuerden, wenn wir aus den Prologen nicht wuessten, dass der Ion, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; dass die Kreusa, welche Ion von dem Altar zu einem schmaehlichen Tode reissen will, die Mutter dieses Ion ist; wenn wir nicht wuessten, dass an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muss, die alte unglueckliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses wuerde die trefflichsten Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen wuerden noch dazu vorbereitet genug sein: ohne dass ihr sagen koenntet, sie braechen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entstaenden; man wolle euch nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wolluestigen Schoessling schneidet der Gaertner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen,--es ist wahr, es heisst sehr viel annehmen--dass Euripides vielleicht ebensoviel Einsicht, ebensoviel Geschmack koenne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um soviel mehr, wie er bei dieser grossen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen koennen: so tretet zu mir her und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, dass z.E. sein "Ion" ohne den Prolog bestehen koenne; dass er, ohne denselben, ein Stueck sei, welches die Ungewissheit und Erwartung des Zuschauers bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewissheit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fuenften Akte, dass Ion der Sohn der Kreusa sei: so ist es fuer ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege raeumen will; so ist es fuer ihn nicht die Mutter des Ion, an welcher sich Ion in dem vierten Akte raechen will, sondern bloss die Meuchelmoerderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? Die blosse Vermutung, die sich etwa aus uebereintreffenden Umstaenden haette ziehen lassen, dass Ion und Kreusa einander wohl naeher angehen koennten, als sie meinen, wuerde dazu nicht hinreichend gewesen sein. Diese Vermutung musste zur Gewissheit werden; und wenn der Zuhoerer diese Gewissheit nur von aussen erhalten konnte, wenn es nicht moeglich war, dass er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, dass der Dichter sie ihm auf die einzige moegliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragoedie ist dadurch, was eine Tragoedie sein soll; und wenn ihr noch unwillig seid, dass er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuecken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads "Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und ich werde euch nie beneiden! Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht bloss darauf, dass die meisten seiner Stuecke eine unglueckliche Katastrophe haben; ob ich schon weiss, dass viele den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststueck waere ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stuemper, der brav wuergen und morden und keine von seinen Personen gesund oder lebendig von der Buehne kommen liesse, wuerde sich ebenso tragisch duenken duerfen, als Euripides. Aristoteles hatte unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen Charakter erteilte; und ohne Zweifel, dass die eben beruehrte mit dazu gehoerte, vermoege der er naemlich den Zuschauern alle das Unglueck, welches seine Personen ueberraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitleiden fuer die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. --Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher duerfte der Meinung sein, dass der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schoenen Sittenspruechen, den er so verschwendrisch in seinen Stuecken ausstreuet. Ich denke, dass er ihr weit mehr schuldig war; er haette, ohne sie, ebenso spruchreich sein koennen; aber vielleicht wuerde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden sein. Schoene Sentenzen und Moralen sind ueberhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hoeren; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein; in allen die ebensten und kuerzesten Wege der Natur ausforschen und lieben; jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Gluecklich der Dichter, der so einen Freund hat--und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!-- Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, dass es gut sein wuerde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, dass der liebenswuerdige unglueckliche Juengling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Moerder ihres Aegisth hinrichten will, der naemliche Aegisth sei, sofort koenne aussetzen lassen. Aber der Juengling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn koennten kennen lernen. Was tut also der Dichter? Wie faengt er es an, dass wir es gewiss wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft?--Oh, das faengt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen!--Er laesst, sobald der unbekannte Juengling auftritt, ueber das erste, was er sagt, mit grossen, schoenen, leserlichen Buchstaben den ganzen, vollen Namen "Aegisth" setzen; und so weiter ueber jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan haette, so duerften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht es lang und breit! Freilich ist es ein wenig laecherlich, wenn die Person, ueber deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen "Aegisth" gelesen haben, auf die Frage: --Narbas vous est connu? Le nom d'Egiste au moins jusqu'a vous est venu? Quel etait votre etat, votre rang, votre pere? Mon pere est un vieillard accable de misere; Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas, Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas. Freilich ist es sehr sonderbar, dass wir von diesem Aegisth, der nicht Aegisth heisst, auch keinen andern Namen hoeren; dass, da er der Koenigin antwortet, sein Vater heisse Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heisse so und so. Denn einen Namen muss er doch haben; und den haette der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden koennen, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragoedie nicht recht gut verstehen, koennen leicht darueber irre werden. Sie lesen, dass hier ein Bursche gebracht wird, der auf der Landstrasse einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heisst Aegisth, aber er sagt, er heisse nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heisse: oh, mit dem Burschen, schliessen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgefeimter Strassenraeuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, dass es fuer die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich anfangs, zu erfahren, wie der unbekannte Juengling ist, als gar nicht. Nur dass man mir nicht sage, dass diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten kuenstlicher und feiner sei, als ein Prolog im Geschmacke des Euripides!-- Funfzigstes Stueck Den 20. Oktober 1767 Bei dem Maffei hat der Juengling seine zwei Namen, wie es sich gehoert; Aegisth heisst er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur unter jenem eingefuehrt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stuecks als kein geringes Verdienst an, dass dieses Verzeichnis den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrate.[1] Das ist, die Italiener sind von den Ueberraschungen noch groessere Liebhaber, als die Franzosen.-- Aber noch immer "Merope"!--Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stuecke, in kleine lustige oder ruehrende Romane gebracht; anstatt beilaeufiger Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, naerrischer Geschoepfe, wie die doch wohl sein muessen, die sich mit Komoedienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandaloeser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Saechelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken ueber alte bekannte Stuecke; schwerfaellige Untersuchungen ueber das, was in einer Tragoedie sein sollte und nicht sein sollte; mitunter wohl gar Erklaerungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angefuehrt!--Doch im Vertrauen: besser, dass sie es sind, als ich. Und ich wuerde es sehr sein, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen muesste. Nicht dass ihre Erwartungen sehr schwer zu erfuellen waeren; wirklich nicht; ich wuerde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten. Ueber die "Merope" indes muss ich freilich einmal wegzukommen suchen.--Ich wollte eigentlich nur erweisen, dass die "Merope" des Voltaire im Grunde nichts als die "Merope" des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Aufloesung machen, dass zwei oder mehrere Stuecke fuer ebendieselben Stuecke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier fuer weiter nichts, als fuer den Uebersetzer und Nachahmer desselben zu erklaeren. Maffei hat die "Merope" des Euripides nicht bloss wieder hergestellet; er hat eine eigene "Merope" gemacht: denn er ging voellig von dem Plane des Euripides ab; und in dem Vorsatze, ein Stueck ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse bloss aus der muetterlichen Zaertlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut oder uebel, das ist hier die Frage nicht; genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, dass Merope mit dem Polyphont nicht vermaehlt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermaehlung dringen zu muessen glaubet; er entlehnte von ihm, dass der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeintlichen Vater entkoemmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Moerder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Missdeutung, durch die er fuer den Moerder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der muetterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Haenden sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Aufloesung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und vielleicht, dass er, bloss darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen liess, um dieses Opfer desto natuerlicher anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach. Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umstaenden, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. z.E. Anstatt dass, beim Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, laesst er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt dass, beim Maffei, Aegisth von einem Raeuber auf der Strasse angefallen wird, laesst er ihn in einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten ueberfallen werden, die es ihm uebel nehmen, dass er den Herkules fuer die Herakliden, den Gott des Tempels fuer die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt dass beim Maffei Aegisth durch einen Ring in Verdacht geraet, laesst Voltaire diesen Verdacht durch eine Ruestung entstehen usw. Aber alle diese Veraenderungen betreffen die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle ausser dem Stuecke sind und auf die Oekonomie des Stueckes selbst keinen Einfluss haben. Und doch wollte ich sie Voltairen noch gern als Aeusserungen seines schoepferischen Genies anrechnen, wenn ich nur faende, dass er das, was er aendern zu muessen vermeinte, in allen seinen Folgen zu aendern verstanden haette. Ich will mich an dem mitte1sten von den angefuehrten Beispielen erklaeren. Maffei laesst seinen Aegisth von einem Raeuber angefallen werden, der den Augenblick abpasst, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern einer Bruecke ueber die Pamise; Aegisth erlegt den Raeuber und wirft den Koerper in den Fluss, aus Furcht, wenn der Koerper auf der Strasse gefunden wuerde, dass man den Moerder verfolgen und ihn dafuer erkennen duerfte. Ein Raeuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist fuer mein feines, edles Parterr ein viel zu niedriges Bild; besser, aus diesem Raeuber einen Missvergnuegten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhaenger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto groesser, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem aeltrern gemacht wird, kann hernach fuer den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Missvergnuegten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er traegt den toten Koerper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstrasse in den nahen Fluss; das ist ganz begreiflich: aber aus dem Tempel in den Fluss, dieses auch? War denn ausser ihnen niemand in diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die groesste Ungereimtheit noch nicht. Das Wie liesse sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis Aegisth traegt den Koerper in den Fluss, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fuerchtet; weil er glaubt, wenn der Koerper beiseite geschafft sei, dass sodann nichts seine Tat verraten koenne; dass diese sodann, mitsamt dem Koerper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite haette nicht entkommen muessen. Wird sich dieser begnuegen, sein Leben davongetragen zu haben? Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Moerder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Muehe haette er sparen und dafuer eilen sollen, je eher je lieber ueber die Grenze zu kommen. Freilich musste der Koerper, des Folgenden wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen ebenso noetig als dem Maffei, dass Merope nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden konnte; nur dass, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er bei jenem bloss dem Dichter zu Gefallen tun muss. Denn Voltaire korrigierte die Ursache weg, ohne zu ueberlegen, dass er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Beduerfnis abhaengt. Eine einzige Veraenderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die naemlich, durch welche er den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Moerder ihres Sohnes zu raechen, unterdrueckt und dafuer die Erkennung von seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen laesst. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz vortrefflich. Ich wuenschte nur, dass die Erkennung ueberhaupt, die in der vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muessen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst haette geteilet werden koennen. Denn dass Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuehret wird und die Vertiefung sich hinter ihm schliesst, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die uebereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem Maffei rettet, und ueber die Voltaire seinen Lindelle so spotten laesst. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natuerlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht gaenzlich die ersten ruehrenden Ausbrueche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegeneinander vorenthalten haette. Vielleicht wuerde Voltaire die Erkennung ueberhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht haette dehnen muessen, um fuenf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal ueber cette longue carriere de cinq actes qui est prodigieusement difficile a remplir sans episodes--Und nun fuer diesesmal genug von der "Merope"! ----Fussnote [1] Fin ne i nomi de' Personaggi si e levato quell' errore, comunissimo alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto. ----Fussnote Einundfunfzigstes Stueck Den 23. Oktober 1767 Den neununddreissigsten Abend (mittewochs, den 8. Julius) wurden "Der verheiratete Philosoph" und "Die neue Agnese" wiederholt.[1] Chevrier sagt,[2] dass Destouches sein Stueck aus einem Lustspiele des Campistron geschoepft habe, und dass, wenn dieser nicht seinen "Jaloux desabuse" geschrieben haette, wir wohl schwerlich einen "Verheirateten Philosophen" haben wuerden. Die Komoedie des Campistron ist unter uns wenig bekannt; ich wuesste nicht, dass sie auf irgendeinem deutschen Theater waere gespielt worden; auch ist keine Uebersetzung davon vorhanden. Man duerfte also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sei. Die Fabel des Campistronschen Stuecks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Vermoegen seiner Schwester in Haenden, und um dieses nicht herausgeben zu duerfen, moechte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermoegen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersuechtig zu machen, indem sie verschiedne junge Mannspersonen sehr guetig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwaegerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersuechtig; und williget endlich, um seiner Frau den vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu Gefallen sie die Rolle der Kokette gespielt hatte. Der Mann sieht sich berueckt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem Ungrunde seiner Eifersucht ueberzeugt wird. Was hat diese Fabel mit der Fabel des "Verheirateten Philosophen" Aehnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweiten Akte des Campistronschen Stuecks, zwischen Dorante, so heisst der Eifersuechtige, und Dubois, seinem Sekretaer. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeiner hat. "Dubois. Und was fehlt Ihnen denn? Dorante. Ich bin verdruesslich, aergerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhoeren wird, mich zu martern, zu peinigen-- Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker? Dorante. Meine Frau. Dubois. Ihre Frau, mein Herr? Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau.--Sie bringt mich zur Verzweiflung. Dubois. Hassen Sie sie denn? Dorante. Wollte Gott! So waere ich ruhig.--Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr--Verwuenschte Qual! Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersuechtig? Dorante. Bis zur Raserei. Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersuechtig? Sie, der Sie von jeher ueber alles, was Eifersucht heisst,-- Dorante. Gelacht und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der grossen Welt so hinreissen zu lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich ueber die Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte nicht bloss ein; es waehrte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was fuer albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, bestaendige Liebe, pfui, wie schmeckt das nach dem kleinstaedtischen Buerger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen laesst, ist ein Baer! Der es ihr uebel nimmt, wenn sie auch andern gefaellt und zu gefallen sucht, gehoert ins Tollhaus. So sprach ich, und mich haette man da sollen ins Tollhaus schicken.-- Dubois. Aber warum sprachen Sie so? Dorante. Hoerst du nicht? Weil ich ein Geck war und glaubte, es liesse noch so galant und weise.--Inzwischen wollte mich meine Familie verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Maedchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel aendern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgueltiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward taeglich schoener, taeglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie-- Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden! Dorante. Denn ich bin so eifersuechtig!--Dass ich mich schaeme, es auch nur dir zu bekennen.--Alle meine Freunde sind mir zuwider--und verdaechtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Muessiggaenger? Wozu alle die Schmeicheleien, die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr gefaelliges Wesen bis in den Himmel. Den entzuecken ihre himmlischen Augen, und den ihre schoenen Zaehne. Alle finden sie hoechst reizend, hoechst anbetungswuerdig; und immer schliesst sich ihr verdammtes Geschwaetze mit der verwuenschten Betrachtung, was fuer ein gluecklicher, was fuer ein beneidenswuerdiger Mann ich bin. Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu. Dorante. Oh, sie treiben ihre unverschaemte Kuehnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hoeren! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spoetterei die andere, ein kitzelndes Histoerchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit Liebaeugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich erwidert, dass--dass mich der Schlag oft ruehren moechte! Kannst du glauben, Dubois? ich muss es wohl mit ansehen, dass sie ihr die Hand Dubois. Das ist arg! Dorante. Gleichwohl darf ich nicht mucksen. Denn was wuerde die Welt dazu sagen? Wie laecherlich wuerde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruss auslassen wollte? Die Kinder auf der Strasse wuerden mit Fingern auf mich weisen. Alle Tage wuerde ein Epigramm, ein Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen usw." Diese Situation muss es sein, in welcher Chevrier das Aehnliche mit dem "Verheirateten Philosophen" gefunden hat. So wie der Eifersuechtige des Campistron sich schaemet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich ehedem ueber diese Schwachheit allzu lustig gemacht hat: so schaemt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil er ehedem ueber alle ernsthafte Liebe gespottet und den ehelosen Stand fuer den einzigen erklaert hatte, der einem freien und weisen Manne anstaendig sei. Es kann auch nicht fehlen, dass diese aehnliche Scham sie nicht beide in mancherlei aehnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z.E., die, in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die ueberlaestigen Besucher vom Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, dass das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen muesse, fast die naemliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, dass er sich auf Meliten keine Rechnung machen koenne. Auch leidet dort der Eifersuechtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart ueber die Eifersuechtigen spotten und er selbst sein Wort dazu geben muss, ungefaehr auf gleiche Weise, als hier der Philosoph, wenn er sich muss sagen lassen, dass er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sei, als dass er sich zu so einer Torheit, wie das Heiraten, sollte haben verleiten lassen. Demohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stuecke notwendig das Stueck des Campistron vor Augen gehabt haben muesste; und mir ist es ganz begreiflich, dass wir jenes haben koennten, wenn dieses auch nicht vorhanden waere. Die verschiedensten Charaktere koennen in aehnliche Situationen geraten; und da in der Komoedie die Charaktere das Hauptwerk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich aeussern zu lassen und ins Spiel zu setzen: so muss man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stueck Original oder Kopie genannt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragoedie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind und Schrecken und Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Aehnliche Situationen geben also aehnliche Tragoedien, aber nicht aehnliche Komoedien. Hingegen geben aehnliche Charaktere aehnliche Komoedien, anstatt dass sie in den Tragoedien fast gar nicht in Erwaegung kommen. Der Sohn unsers Dichters, welcher die praechtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbaenden aus der Koeniglichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere, dieses Stueck betreffende Anekdote. Der Dichter naemlich habe sich in England verheiratet und aus gewissen Ursachen seine Verbindung geheim halten muessen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis frueher ausgeplaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem "Verheirateten Philosophen" gegeben. Wenn dieses wahr ist,--und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben?--so duerfte die vermeinte Nachahmung des Campistron um so eher wegfallen. ----Fussnote [1] S. den 5. und 7. Abend [2] "L'Observateur des Spectacles.", T. II. p. 135. ----Fussnote Zweiundfunfzigstes Stueck Den 27. Oktober 1767 Den vierzigsten Abend (donnerstags, den 9. Julius) ward Schlegels "Triumph der guten Frauen" aufgefuehret. Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, soviel ich weiss, das letzte komische Werk des Dichters, das seine fruehern Geschwister unendlich uebertrifft und von der Reife seines Urhebers zeuget. "Der geschaeftige Muessiggaenger" war der erste jugendliche Versuch und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen und raeche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin gefunden haben! Er enthaelt das kalteste, langweiligste Alltagsgewaesche, das nur immer in dem Hause eines meissnischen Pelzhaendlers vorfallen kann. Ich wuesste nicht, dass er jemals waere aufgefuehrt worden, und ich zweifle, dass seine Vorstellung duerfte auszuhalten sein. "Der Geheimnisvolle" ist um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist, den Moliere in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlass zu diesem Stuecke wollte genommen haben.[1] Molieres Geheimnisvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Woelfen nicht gefressen zu werden. Daher koemmt es auch, dass er so viel Aehnliches mit dem Charakter des Misstrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Buehne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des naemlichen Charakters, koennen nichts anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und haesslichen Seele sich finden, dass ihre Vorstellungen notwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken muessen, als Lachen. "Der Geheimnisvolle" ist wohl sonst hier aufgefuehret worden; man versichert mich aber auch durchgaengig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, dass man ihn laeppischer gefunden habe, als lustig. "Der Triumph der guten Frauen" hingegen hat, wo er noch aufgefuehret worden, und sooft er noch aufgefuehret worden, ueberall und jederzeit einen sehr vorzueglichen Beifall erhalten; und dass sich dieser Beifall auf wahre Schoenheiten gruenden muesse, dass er nicht das Werk einer ueberraschenden blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stuecks, zurueckgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefaellt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen gesehen, dem gefaellt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunstrichter ebensosehr seinen uebrigen Lustspielen, als diese ueberhaupt dem gewoehnlichen Prasse deutscher Komoedien vorgezogen. "Ich las", sagt einer von ihnen,[2] "den 'Geschaeftigen Muessiggaenger': die Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Muessiggaenger, solche in ihre Kinder vernarrte Muetter, solche schalwitzige Besuche und solche dumme Pelzhaendler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gaehnte vor Langeweile.--Ich las darauf den 'Triumph der guten Frauen'. Welcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, echten Witz in ihren Gespraechen und den Ton einer feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgange." Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, dass die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider muss man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an fremde, und besonders an franzoesische Sitten gewoehnt, als dass er eine besonders ueble Wirkung auf uns haben koennte. "Nikander", heisst es, "ist ein franzoesischer Abenteurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stuerzen, aller Frauen Verfuehrer und aller Maenner Schrecken zu werden sucht, und der bei allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten und Grundsaetze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! dass ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muss.--Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit verlassen und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, koemmt auf den Einfall, ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Haeuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flatterhafter und unverschaemter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen, aber doch artigen Wesen sich sehen laesst, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet und gluecklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petitmaitre ist gewiss kein Deutscher." "Was mir", faehrt er fort, "sonst an diesem Lustspiele missfaellt, ist der Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu haesslichen Seite. Er tyrannisierst seine unschuldige Christiane auf das unwuerdigste und hat recht seine Lust, sie zu quaelen. Graemlich, sooft er sich sehen laesst, spoettisch bei den Traenen seiner gekraenkten Frau, argwoehnisch bei ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersuechtig, hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden koennen, in seiner Frauen Kammermaedchen verliebt.--Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als dass wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen koennten. Der Dichter gibt ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswuerdigen Herzens nicht genug entwickeln koennen. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Ebensowenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehoerig vorzubereiten und zu veranstalten. Er musste sich begnuegen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine, dieses edelmuetige Kammermaedchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: 'Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten!' Wenigstens solange dieses Maedchen im Hause ist, moechte ich nicht fuer die Aufrichtigkeit stehen." Ich freue mich, dass die beste deutsche Komoedie dem richtigsten deutschen Beurteiler in die Haende gefallen ist. Und doch war es vielleicht die erste Komoedie, die dieser Mann beurteilte. ----Fussnote [1] "Misanthrope", Acte II, Sc. 4. C'est de la tete aux pieds un homme tout mystere, Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil egare, Et sans aucune affaire est toujours affaire. Tous ce qu'il vous debite en grimaces abonde. A force de facons il assomme le monde. Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien, Un secret a vous dire, et ce secret n'est rien. De la moindre vetille il fait une merveille, Et, jusqu' au bon jour, il dit tout a l'oreille. [2] "Briefe, die neueste Literatur betreffend", T. XXI. S. 133. ----Fussnote Ende des ersten Bandes Zweyter Band Dreiundfunfzigstes Stueck Den 3. November 1767 Den einundvierzigsten Abend (freitags, den 10. Julius) wurden "Cenie" und "Der Mann nach der Uhr" wiederholt.[1] "Cenie", sagt Chevrier gerade heraus,[2] "fuehret den Namen der Frau von Graffigny, ist aber ein Werk des Abts von Voisenon. Es war anfangs in Versen; weil aber die Frau von Graffigny, der es erst in ihrem vierundfunfzigsten Jahre einfiel, die Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so ward 'Cenie' in Prosa gebracht. Mais l'auteur, fuegt er hinzu, y a laisse 81 vers qui y existent dans leur entier." Das ist, ohne Zweifel, von einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim verloren, aber die Silbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier keinen andern Beweis hatte, dass das Stueck in Versen gewesen: so ist es sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die franzoesischen Verse kommen ueberhaupt der Prosa so nahe, dass es Muehe kosten soll, nur in einem etwas gesuchteren Stile zu schreiben, ohne dass sich nicht von selbst ganze Verse zusammenfinden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade denjenigen, die gar keine Verse machen, koennen dergleichen Verse am ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr fuer das Metrum haben und es also ebensowenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen. Was hat "Cenie" sonst fuer Merkmale, dass sie nicht aus der Feder eines Frauenzimmers koenne geflossen sein? "Das Frauenzimmer ueberhaupt", sagt Rousseau,[3] "liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf keine einzige, und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken gluecklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack, nichts als Anmut, hoechstens Gruendlichkeit und Philosophie verlangen. Es kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich durch Muehe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer, welches die Seele erhitzet und entflammt, jenes um sich greifende verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwuenge, die ihr Entzueckendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen." Also fehlen sie wohl auch der "Cenie"? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen, so muss "Cenie" notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst wuerde so nicht schliessen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer ueberhaupt absprechen zu muessen glaube, wolle er darum keiner Frau insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas a une femme, mais aux femmes que je refuse les talents des hommes.[4]) Und dieses sagt er eben auf Veranlassung der "Cenie"; ebenda, wo er die Graffigny als die Verfasserin derselben anfuehrt. Dabei merke man wohl, dass Graffigny seine Freundin nicht war, dass sie Uebels von ihm gesprochen hatte, dass er sich an eben der Stelle ueber sie beklagt. Demohngeachtet erklaert er sie lieber fuer eine Ausnahme seines Satzes, als dass er im geringsten auf das Vorgeben des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel, Freimuetigkeit genug gehabt haette, wenn er nicht von dem Gegenteile ueberzeugt gewesen waere. Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser Abt, wie Chevrier wissen will, hat fuer die Favart gearbeitet. Er hat die komische Oper "Annette und Lubin" gemacht; und nicht sie, die Aktrice, von der er sagt, dass sie kaum lesen koenne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer, der in Paris darueber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, dass die Gassenhauer in der franzoesischen Geschichte ueberhaupt unter die glaub- wuerdigsten Dokumente gehoeren. Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen in die Welt schicke, liesse sich endlich noch begreifen. Aber warum er sich zu einer "Cenie" nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten vorziehen moechte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr als ein Stueck auffuehren und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als den Verfasser kennet und die der "Cenie" bei weitem nicht gleichkommen. Wenn er einer Frau von vierundfunfzig Jahren eine Galanterie machen wollte, ist es wahrscheinlich, dass er es gerade mit seinem besten Werke wuerde getan haben?-- Den zweiundvierzigsten Abend (montags, den 13. Julius) ward "Die Frauenschule" von Moliere aufgefuehrt. Moliere hatte bereits seine "Maennerschule" gemacht, als er im Jahre 1662 diese "Frauenschule" darauf folgen liess. Wer beide Stuecke nicht kennet, wuerde sich sehr irren, wenn er glaubte, dass hier den Frauen, wie dort den Maennern, ihre Schuldigkeit geprediget wuerde. Es sind beides witzige Possenspiele, in welchen ein Paar junge Maedchen, wovon das eine in aller Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar alte Laffen hintergehen; und die beide "Die Maennerschule" heissen muessten, wenn Moliere weiter nichts darin haette lehren wollen, als dass das duemmste Maedchen noch immer Verstand genug habe, zu betruegen, und dass Zwang und Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit. Wirklich ist fuer das weibliche Geschlecht in der "Frauenschule" nicht viel zu lernen; es waere denn, dass Moliere mit diesem Titel auf die Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen haette, mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher laecherlich gemacht werden. "Die zwei gluecklichsten Stoffe zur Tragoedie und Komoedie", sagt Trublet, [5] "sind der 'Cid' und die 'Frauenschule'. Aber beide sind vom Corneille und Moliere bearbeitet worden, als diese Dichter ihre voellige Staerke noch nicht hatten. Diese Anmerkung", fuegt er hinzu, "habe ich von dem Hrn. von Fontenelle." Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt haette, wie er dieses meine. Oder falls es ihm so schon verstaendlich genug war, wenn er es doch auch seinen Lesern mit ein paar Worten haette verstaendlich machen wollen. Ich wenigstens bekenne, dass ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit diesem Raetsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder Trublet hat sich verhoert. Wenn indes, nach der Meinung dieser Maenner, der Stoff der "Frauenschule" so besonders gluecklich ist und Moliere in der Ausfuehrung desselben nur zu kurz gefallen: so haette sich dieser auf das ganze Stueck eben nicht viel einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern teils aus einer spanischen Erzaehlung, die man bei dem Scarron unter dem Titel "Die vergebliche Vorsicht" findet, teils aus den "Spasshaften Naechten" des Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, dass dieser Freund sein Nebenbuhler ist. "Die Frauenschule", sagt der Herr von Voltaire, "war ein Stueck von einer ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzaehlung, aber doch so kuenstliche Erzaehlung ist, dass alles Handlung zu sein scheinet." Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, dass man die neue Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger kuenstlich, Erzaehlung bleibt immer Erzaehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen sehen.--Aber ist es denn auch wahr, dass alles darin erzaehlt wird? dass alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire haette diesen alten Einwurf nicht wieder aufwaermen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob zu verkehren, haette er wenigstens die Antwort beifuegen sollen, die Moliere selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzaehlungen naemlich sind in diesem Stuecke, vermoege der innern Verfassung desselben, wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung erforderlich ist; und es ist blosse Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier streitig zu machen.[6] Denn es koemmt ja weit weniger auf die Vorfaelle an, welche erzaehlt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfaelle auf den betrognen Alten machen, wenn er sie erfaehrt. Das Laecherliche dieses Alten wollte Moliere vornehmlich schildern; ihn muessen wir also vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebaerdet; und dieses haetten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er erzaehlen laesst, vor unsern Augen haette vorgehen lassen, und das, was er vorgehen laesst, dafuer haette erzaehlen lassen. Der Verdruss, den Arnolph empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruss zu verbergen; der hoehnische Ton, den er annimmt, wenn er dem weitern Progresse des Horaz nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der wir ihn sehen, wenn er vernimmt, dass Horaz demohngeachtet sein Ziel gluecklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen, als alles, was ausser der Szene vorgeht. Selbst in der Erzaehlung der Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr Handlung, als wir finden wuerden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der Buehne wirklich machen saehen. Also, anstatt von der "Frauenschule" zu sagen, dass alles darin Handlung scheine, obgleich alles nur Erzaehlung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte sagen zu koennen, dass alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzaehlung zu sein scheine. ----Fussnote [1] S. den 23. und 29. Abend [2] "Observateur des Spectacles", Tome I. p. 211. [3] a d'Alembert, p. 133. [4] a d'Alembert, p. 78. [5] "Essais de Litt. et de Morale", T. IV. p. 295. [6] In der "Kritik der Frauenschule", in der Person des Dorante: Les recits eux-memes y sont des actions suivant la constitution du sujet. ----Fussnote Vierundfunfzigstes Stueck Den 6. November 1767 Den dreiundvierzigsten Abend (dienstags, den 14. Julius) ward "Die Muetterschule" des La Chaussee, und den vierundvierzigsten Abend (als den 15.) "Der Graf von Essex" wiederholt.[1] Da die Englaender von jeher so gern domestica facta auf ihre Buehne gebracht haben, so kann man leicht vermuten, dass es ihnen auch an Trauerspielen ueber diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das aelteste ist das von Joh. Banks, unter dem Titel "Der unglueckliche Liebling, oder Graf von Essex". Es kam 1682 aufs Theater und erhielt allgemeinen Beifall. Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calprenede von 1638; des Boyer von 1678, und des juengern Corneille von ebendiesem Jahre. Wollten indes die Englaender, dass ihnen die Franzosen auch hierin nicht moechten zuvorgekommen sein, so wuerden sie sich vielleicht auf Daniels "Philotas" beziehen koennen; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden Banks scheinet keinen von seinen franzoesischen Vorgaengern gekannt zu haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel "Geheime Geschichte der Koenigin Elisabeth und des Grafen von Essex" fuehret,[3] wo er den ganzen Stoff sich so in die Haende gearbeitet fand, dass er ihn bloss zu dialogieren, ihm bloss die aeussere dramatische Form zu erteilen brauchte. Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angefuehrten Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, dass es meinen Lesern nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stueck des Corneille halten zu koennen. "Um unser Mitleid gegen den ungluecklichen Grafen desto lebhafter zu machen und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Koenigin fuer ihn aeussert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter nichts, als dass er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt hat. Burleigh, der erste Minister der Koenigin, der auf ihre Ehre sehr eifersuechtig ist und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit welchen sie ihn ueberhaeuft, bemueht sich unablaessig, ihn verdaechtig zu machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Graefin von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte, nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten koennen, was sie nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestueme Gemuetsart des Grafen macht ihnen allzu gutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf folgende Weise. Die Koenigin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen gefaehrlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden Scharmuetzeln sahe sich der Graf genoetiget, mit dem Feinde in Unterhandlung zu treten, weil seine Truppen durch Strapazen und Krankheiten sehr abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anfuehrern muendlich betrieben ward und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Koenigin als ihrer Ehre hoechst nachteilig und als ein gar nicht zweideutiger Beweis vorgestellet, dass Essex mit den Rebellen in einem heimlichen Verstaendnisse stehen muesse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats anklagen zu duerfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist, dass sie sich vielmehr ueber ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation erwiesen, und erklaert, dass sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid seiner Anklaeger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er erhebt die Gerechtigkeit der Koenigin, einen solchen Mann nicht unterdruecken zu lassen; und seine Feinde muessen vor diesesmal schweigen. (Erster Akt.) Indes ist die Koenigin mit der Auffuehrung des Grafen nichts weniger als zufrieden, sondern laesst ihm befehlen, seine Fehler wieder gutzumachen, und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen voellig zu Paaren getrieben und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde bei ihr anzuschwaerzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu rechtfertigen, und koemmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der Waffen vermocht, des ausdruecklichen Verbots der Koenigin ungeachtet, nach England ueber. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden ebensoviel Vergnuegen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die Graefin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den Folgen. Am meisten aber betruebt sich die Koenigin, da sie sieht, dass ihr durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten, wenn sie nicht eine Zaertlichkeit verraten will, die sie gern vor der ganzen Welt verbergen moechte. Die Erwaegung ihrer Wuerde, zu welcher ihr natuerlicher Stolz koemmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm traegt, erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken oder den geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschliesst sie sich zu dem letztern, doch nicht ohne alle Einschraenkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn auf eine Art empfangen, dass er die Hoffnung wohl verlieren soll, fuer seine Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham sind bei dieser Zusammenkunft gegenwaertig. Die Koenigin ist auf die letztere gelehnet und scheinet tief im Gespraeche zu sein, ohne den Grafen nur ein einziges Mal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen, verlaesst sie auf einmal das Zimmer und gebietet allen, die es redlich mit ihr meinen, ihr zu folgen und den Verraeter allein zu lassen. Niemand darf es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab, koemmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Koenigin den Burleigh und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich aber, ihn in andere, als in der Koenigin eigene Haende, zurueckzuliefern, und beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr veraechtlich begegnet. (Zweiter Akt.) Die Koenigin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist aeusserst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkuehnt, noch die Lobsprueche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der Fuelle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als jene, weil sie daraus entdeckt, dass die Rutland ihn liebet. Zuletzt befiehlt sie, demohngeachtet, dass er vor sie gebracht werden soll. Er koemmt, und versucht es, seine Auffuehrung zu verteidigen. Doch die Gruende, die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als dass sie ihren Verstand von seiner Unschuld ueberzeugen sollten. Sie verzeihet ihm, um der geheimen Neigung, die sie fuer ihn hegt, ein Genuege zu tun; aber zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung dessen, was sie sich selbst, als Koenigin, schuldig zu sein glaubt. Und nun ist der Graf nicht laenger vermoegend, sich zu maessigen; seine Ungestuemheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Fuessen und bedient sich verschiedner Ausdruecke, die zu sehr wie Vorwuerfe klingen, als dass sie den Zorn der Koenigin nicht aufs hoechste treiben sollten. Auch antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natuerlich ist; ohne sich um Anstand und Wuerde, ohne sich um die Folgen zu bekuemmern: naemlich, anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem Degen; und nur der einzige Gedanke, dass es seine Koenigin, dass es nicht sein Koenig ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, dass es eine Frau ist, von der er die Ohrfeige hat, haelt ihn zurueck, sich taetlich an ihr zu vergehen. Southampton beschwoert ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals und wirft dem Burleigh und Raleigh ihren niedertraechtigen Neid, sowie der Koenigin ihre Ungerechtigkeit vor. Sie verlaesst ihn in der aeussersten Wut; und niemand als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.) Der Graf geraet ueber sein Unglueck in Verzweiflung; er laeuft wie unsinnig in der Stadt herum, schreiet ueber das ihm angetane Unrecht und schmaehet auf die Regierung. Alles das wird der Koenigin, mit vielen Uebertreibungen, wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern. Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangengenommen und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis dass ihnen der Prozess gemacht werden kann. Doch indes hat sich der Zorn der Koenigin gelegt und guenstigern Gedanken fuer den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn also, ehe er zum Verhoere geht, allem, was man ihr dawider sagt, ungeachtet, nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen moechten zu strafbar befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen wuerde, zu gewaehren. Fast aber bereuet sie es wieder, dass sie so guetig gegen ihn gewesen, als sie gleich darauf erfaehrt, dass er mit der Rutland vermaehlt ist; und es von der Rutland selbst erfaehrt, die fuer ihn um Gnade zu bitten koemmt. (Vierter Akt.) ----Fussnote [1] S. den 26. und 30. Abend. [2] "Cibber's Lives of the Engl. Poets", Vol. I. p. 147. [3] "The Companion to the Theatre", Vol. II. p. 99. ----Fussnote Fuenfundfunfzigstes Stueck Den 10. November 1767 Was die Koenigin gefuerchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund Southampton desgleichen. Nun weiss zwar Elisabeth, dass sie, als Koenigin, den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, dass eine solche freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwaeche verraten wuerde, die keiner Koenigin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den Ring senden und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes, dass es je eher je lieber geschehen moege, schickt sie die Nottingham zu ihm und laesst ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt sich, das zaertlichste Mitleid fuer ihn zu fuehlen; und er vertrauet ihr das kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demuetigsten Bitte an die Koenigin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wuenschet; nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu raechen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet sie ihn auf das boshafteste und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Aeusserste ankommen zu lassen, dass die Koenigin dem Berichte kaum glauben kann, nach wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen, nicht weil ihr das Unglueck desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie sich einbildet, dass Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so viel mehr empfinden werde, wenn er sieht, dass die Gnade, die man ihm verweigert, seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht raet sie der Koenigin auch, seiner Gemahlin, der Graefin von Rutland, zu erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Koenigin williget in beides, aber zum Ungluecke fuer die grausame Ratgeberin; denn der Graf gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Koenigin, die sich eben in dem Tower befindet und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgefuehret, erhaelt. Aus diesem Briefe ersieht sie, dass der Graf der Nottingham den Ring gegeben und sie durch diese Verraeterin um sein Leben bitten lassen. Sogleich schickt sie und laesst die Vollstreckung des Urteils untersagen; doch Burleigh und Raleigh, denen sie aufgetragen war, hatten so sehr damit geeilet, dass die Botschaft zu spaet koemmt. Der Graf ist bereits tot. Die Koenigin geraet vor Schmerz ausser sich, verbannt die abscheuliche Nottingham auf ewig aus ihren Augen und gibt allen, die sich als Feinde des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen." Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, dass der "Essex" des Banks ein Stueck von weit mehr Natur, Wahrheit und Uebereinstimmung ist, als sich in dem "Essex" des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die Geschichte gehalten, nur dass er verschiedne Begebenheiten naeher zusammen gerueckt, und ihnen einen unmittelbarem Einfluss auf das endliche Schicksal seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist ebensowenig erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon angemerkt, in der Historie, nur jener weit frueher und bei einer ganz andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist begreiflicher, dass die Koenigin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben, da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als dass sie ihm dieses Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer eben am meisten verlustig gemacht hatte und der Fall, sich dessen zu gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er ungluecklicherweise in ihren Augen etwa koennte verloren haben. Aber was braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen? Glaubt sie ihrer guenstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht maechtig zu sein, dass sie sich mit Fleiss auf eine solche Art fesseln will? Wenn sie ihm im Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den muendlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloss um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten, er mag wieder in ihre Haende kommen oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache seiner toedlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen? So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung. Mich duenkt, er wuerde eine weit bessere tun, wenn ihn die Koenigin ganz vergessen haette und er ihr ploetzlich, aber auch zu spaet, eingehaendiget wuerde, indem sie eben von der Unschuld oder wenigstens geringern Schuld des Grafen noch aus andern Gruenden ueberzeugt wuerde. Die Schenkung des Ringes haette vor der Handlung des Stuecks lange muessen vorhergegangen sein, und bloss der Graf haette darauf rechnen muessen, aber aus Edelmut nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, dass man auf seine Rechtfertigung nicht achte, dass die Koenigin zu sehr wider ihn eingenommen sei, als dass er sie zu ueberzeugen hoffen koenne, dass er sie also zu bewegen suchen muesse. Und indem sie so bewegt wuerde, muesste die Ueberzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, fuer unschuldig gelten zu lassen, muessten sie auf einmal ueberraschen, aber nicht eher ueberraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermoegen stehet, gerecht und erkenntlich zu sein. Viel gluecklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stueck eingeflochten.-- Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanstaendig! Ehe meine feinern Leser zu sehr darueber spotten, bitte ich sie, sich der Ohrfeige im "Cid" zu erinnere. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire darueber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwuerdig. "Heutzutage", sagt er, "duerfte man es nicht wagen, einem Helden eine Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gaeben. Nicht einmal in der Komoedie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das einzige Exempel, welches man auf der tragischen Buehne davon hat. Es ist glaublich, dass man unter andern mit deswegen den 'Cid' eine Tragikomoedie betitelte; und damals waren fast alle Stuecke des Scudery und des Boisrobert Tragikomoedien. Man war in Frankreich lange der Meinung gewesen, dass sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit gemeinen Zuegen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomoedie selbst ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen 'Amphitruo' damit zu bezeichnen, weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in allem Ernste betruebt ist."--Was der Herr von Voltaire nicht alles schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie sehr er meistenteils damit verunglueckt! Es ist nicht wahr, dass die Ohrfeige im "Cid" die einzige auf der tragischen Buehne ist. Voltaire hat den "Essex" des Banks entweder nicht gekannt, oder vorausgesetzt, dass die tragische Buehne seiner Nation allein diesen Namen verdiene. Unwissenheit verraet beides; und nur das letztere noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der Tragikomoedie hinzufuegt, ist ebenso unrichtig. Tragikomoedie hiess die Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen vergnuegten Ausgang hat; das ist der "Cid", und die Ohrfeige kam dabei gar nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille hernach sein Stueck eine Tragoedie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte, dass eine Tragoedie notwendig eine unglueckliche Katastrophe haben muesse. Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloss im Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen. Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch abgeborgt, bis es in dem sechzehnten Jahrhunderte den spanischen und italienischen Dichtem einfiel, gewisse von ihren dramatischen Missgeburten so zu nennen.[1] Wenn aber auch Plautus seinen "Amphitruo" im Ernste so genannt haette, so waere es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet. Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum haette Plautus sein Stueck lieber eine Tragikomoedie nennen wollen. Denn sein Stueck ist ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo ebensosehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische Handlung groesstenteils unter hoehern Personen vorgehet, als man in der Komoedie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklaert sich darueber deutlich genug: Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia: Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia Reges quo veniant et di, non par arbitror. Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet, Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam. ----Fussnote [1] Ich weiss zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht hat; aber das weiss ich gewiss, dass es Garnier nicht ist. Hedelin sagte: Je ne sais, si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter ce titre a sa "Bradamante", ce que depuis plusieurs ont imite. (Prat. du Th. Liv. II. ch. 10.) Und dabei haetten es die Geschichtschreiber des franzoesischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen die leichte Vermutung des Hedelins zur Gewissheit und gratulieren ihrem Landsmanne zu einer so schoenen Erfindung. Voici la premiere Tragi-Comedie, ou, pour mieux dire, le premier poeme du Theatre qui a porte ce titre--Garnier ne connaissait pas assez les finesses de l'art qu'il professait; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans les secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une idee, qui n'a pas ete inutile a beaucoup d'Auteurs du dernier siecle. Garniers "Bradamante" ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit fruehere spanische und italienische Stuecke, die diesen Titel fuehren. ----Fussnote Sechsundfunfzigstes Stueck Den 13. November 1767 Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen.--Einmal ist es doch nun so, dass eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seinesgleichen oder von einem Hoehern bekoemmt, fuer eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, dass alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafuer verschaffen koennen, vergebens ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem Beleidigten selbst geraechet, und auf eine ebenso eigenmaechtige Art geraechet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt, es ist nun einmal so. Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im Gange sind: warum nicht auch hier? "Die Schauspieler", sagt der Herr von Voltaire, "wissen nicht, wie sie sich dabei anstellen sollen." Sie wuessten es wohl; aber man will eine Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt sie in Feuer; die Person erhaelt ihn, aber sie fuehlen ihn; das Gefuehl hebt die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung aeussert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen, und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen. Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der Masken bedauern moechte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske mehr Kontenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch weniger gewahr. Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: Der dramatische Dichter arbeitet zwar fuer den Schauspieler, aber er muss sich darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist. Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen, dass er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn veraechtlich; es verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so weit noch nicht gebracht hat, dass ihn so etwas nicht verwirret; wenn er seine Kunst so sehr nicht liebet, dass er sich, ihr zum Besten, eine kleine Kraenkung will gefallen lassen: so suche er ueber die Stelle so gut wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand vor; nur verlange er nicht, dass sich der Dichter seinetwegen mehr Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die er ihn vorstellen laesst. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine Ohrfeige hinnehmen muss: was wollen ihre Repraesentanten dawider einzuwenden haben? Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder hoechstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, fuer den sie eine seinem Stande angemessene Zuechtigung ist? Einem Helden hingegen, einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanstaendig!--Und wenn sie das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanstaendigkeit die Quelle der gewaltsamsten Entschliessungen, der blutigsten Rache werden soll, und wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht haette haben koennen? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muss, soll dennoch aus der Tragoedie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komoedie, weil es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worueber wir einmal lachen, sollen wir ein andermal nicht erschrecken koennen? Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen moechte, so waere es aus der Komoedie. Denn was fuer Folgen kann sie da haben? Traurige? die sind ueber ihrer Sphaere. Laecherliche? die sind unter ihr und gehoeren dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Muehe, sie geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als poebelhafte Hitze, und wer sie bekoemmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also den beiden Extremis, der Tragoedie und dem Possenspiele; die mehrere dergleichen Dinge gemein haben, ueber die wir entweder spotten oder zittern wollen. Und ich frage jeden, der den "Cid" vorstellen sehen oder ihn mit einiger Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder ueberlaufen, wenn der grosssprecherische Gormas den alten wuerdigen Diego zu schlagen sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid fuer diesen, und den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung nach sich ziehen muesse, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung und Furcht erfuellet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung auf ihn hat, nicht tragisch sein? Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war und eben itzt eine von seinem Nachbar verdient haette. Wen aber die ungeschickte Art, mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu laecheln machte, der biss sich geschwind in die Lippe und eilte, sich wieder in die Taeuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt. Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige vertreten koennte? Fuer jede andere wuerde es in der Macht des Koenigs stehen, dem Beleidigten Genugtunung zu schaffen; fuer jede andere wuerde sich der Sohn weigern duerfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten aufzuopfern. Fuer diese einzige laesst das Pundonor weder Entschuldigung noch Abbitte gelten; und alle guetliche Wege, die selbst der Monarch dabei einleiten will, sind fruchtlos. Corneille liess nach dieser Denkungsart den Gormas, wenn ihm der Koenig andeuten laesst, den Diego zufriedenzustellen, sehr wohl antworten: Ces satisfactions n'apaisent point une ame: Qui les recoit n'a rien, qui les fait se diffame. Et de tous ces accords l'effet le plus commun, C'est de deshonorer deux hommes au lieu d'un. Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen, dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwiderliefen. Corneille erhielt also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergaenzte sie aus dem Gedaechtnisse und aus seiner Empfindung. In dem "Essex" wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, dass sie eine Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau und Koenigin; was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Ueber die handfertige wehrhafte Frau wuerde er spotten; denn eine Frau kann weder schimpfen noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souveraen, dessen Beschimpfungen unausloeschlich sind, da sie von seiner Wuerde eine Art von Gesetzmaessigkeit erhalten. Was kann also natuerlicher scheinen, als dass Essex sich wider diese Wuerde selbst auflehnet und gegen die Hoehe tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wuesste wenigstens nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich haette machen koennen. Die blosse Ungnade, die blosse Entsetzung seiner Ehrenstellen konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so knechtische Behandlung ausser sich gebracht, sehen wir ihn alles, was ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit Entschuldigung unternehmen. Die Koenigin selbst muss ihn aus diesem Gesichtspunkte ihrer Verzeihung wuerdig erkennen; und wir haben so ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekraenkten Ehre tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht. Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt, war ueber die Wahl eines Koenigs von Irland. Als er sahe, dass die Koenigin auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr veraechtlichen Gebaerde den Ruecken. In dem Augenblicke fuehlte er ihre Hand, und seine fuhr nach dem Degen. Er schwur, dass er diesen Schimpf weder leiden koenne noch wolle; dass er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht wuerde erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Den Brief, den er an den Kanzler Egerton ueber diesen Vorfall schrieb, ist mit dem wuerdigsten Stolze abgefasst, und er schien fest entschlossen, sich der Koenigin nie wieder zu naehern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer voelligen Gnade und in der voelligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings. Diese Versoehnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war. In diesem Falle war er wirklich ein Verraeter, der sich alles gefallen liess, bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht, den ihm die Koenigin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die Ohrfeige; und der Zorn ueber diese Verschmaelerung seiner Einkuenfte verblendete ihn so, dass er ohne alle Ueberlegung losbrach. So finden wir ihn in der Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht und ihm weiter keine treulosen Absichten gegen seine Koenigin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloss durch die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war. Siebenundfunfzigstes Stueck Den 17. November 1767 Banks hat die naemlichen Worte beibehalten, die Essex ueber die Ohrfeige ausstiess. Nur dass er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der Welt, mitsamt Alexandern, beifuegen laesst.[1] Sein Essex ist ueberhaupt zuviel Prahler; und es fehlet wenig, dass er nicht ein ebenso grosser Gasconier ist als der Essex des Gasconiers Calprenede. Dabei ertraegt er sein Unglueck viel zu kleinmuetig und ist bald gegen die Koenigin ebenso kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergisst, ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwuerdig. In der Geschichte kann man dergleichen Widersprueche mit sich selbst fuer Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste des Herzens kennenlernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden allzu vertraut, als dass wir nicht gleich wissen sollten, ob seine Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet haetten, uebereinstimmen oder nicht. Ja, sie moegen es, oder sie moegen es nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Faellen nicht recht nutzen. Ohne Verstellung faellt der Charakter weg; bei der Verstellung die Wuerde desselben. Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen koennen. Diese Frau bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige Maenner bleiben. Ihre Zaertlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem Essex hat er mit vieler Anstaendigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm gewissermassen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille, ueber Kaelte und Verachtung, ueber Glut und Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert nicht, dass ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch deutlich genug zu verstehen gegeben, dass er um sie allein seufzen solle, usw. Keine von diesen Armseligkeiten koemmt ueber ihre Lippen. Sie spricht nie als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hoert es nie, aber man sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken Eifersucht verraten sie; sonst wuerde man sie schlechterdings fuer nichts, als fuer seine Freundin halten koennen. Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion zu setzen gewusst, das koennen folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen. --Die Koenigin glaubt sich allein und ueberlegt den ungluecklichen Zwang ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr nachgekommen.-- "Die Koenigin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein. Nottingham. Verzeihe, Koenigin, dass ich so kuehn bin. Und doch befiehlt mir meine Pflicht, noch kuehner zu sein.--Dich bekuemmert etwas. Ich muss fragen,--aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung bitten, dass ich es frage--Was ist's, das Dich bekuemmert? Was ist es, das diese erhabene Seele so tief herabbeuget?--Oder ist Dir nicht Die Koenigin. Steh auf, ich bitte dich.--Mir ist ganz wohl.--Ich danke dir fuer deine Liebe.--Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich,--meines Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fuerchte, ihm nur zu lange. Es faengt an, meiner ueberdruessig zu werden.--Neue Kronen sind wie neue Kraenze; die frischesten sind die lieblichsten. Meine Sonne neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewaermet; man fuehlet sich zu heiss; man wuenscht, sie waere schon untergegangen.--Erzaehle mir doch, was sagt man von der Ueberkunft des Essex? Nottingham.--Von seiner Ueberkunft--sagt man--nicht das Beste. Aber von ihm--er ist fuer einen so tapfern Mann bekannt-- Die Koenigin. Wie? tapfer? da er mir so dienet?--Der Verraeter! Nottingham. Gewiss, es war nicht gut-- Die Koenigin. Nicht gut! nicht gut?--Weiter nichts? Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat. Die Koenigin. Nicht wahr, Nottingham?--Meinen Befehl so gering zu schaetzen! Er haette den Tod dafuer verdient.--Weit geringere Verbrechen haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet.-- Nottingham. Jawohl.--Und doch sollte Essex, bei soviel groesserer Schuld, mit geringerer Strafe davonkommen? Er sollte nicht sterben? Die Koenigin. Er soll!--Er soll sterben, und in den empfindlichsten Martern soll er sterben!--Seine Pein sei, wie seine Verraeterei, die groesste von allen!--Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder, nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Bruecken, auf den hoechsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der voruebergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen, undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner Koenigin trotzte!--Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente!--Was sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch?--du schweigst?--Warum schweigst du? Willst du ihn noch vertreten? Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Koenigin, so will ich Dir alles sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht.-- Die Koenigin. Tu das!--Lass hoeren: was sagt die Welt von ihm und mir? Nottingham. Von Dir, Koenigin?--Wer ist es, der von Dir nicht mit Entzuecken und Bewunderung spraeche? Der Nachruhm eines verstorbenen Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen ertoenen. Nur dieses einzige wuenschet man, und wuenschet es mit den heissesten Traenen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen, --dieses einzige, dass Du geruhen moechtest, ihren Beschwerden gegen diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verraeter nicht laenger zu schuetzen, ihn nicht laenger der Gerechtigkeit und der Schande vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu ueberliefern-- Die Koenigin. Wer hat mir vorzuschreiben? Nottingham. Dir vorzuschreiben!--Schreibet man dem Himmel vor, wenn man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet?--Und so flehet Dich alles wider den Mann an, dessen Gemuetsart so schlecht, so boshaft ist, dass er es auch nicht der Muehe wert achtet, den Heuchler zu spielen.--Wie stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, poebelhaft stolz; nicht anders als ein elender Lakai auf seinen bunten verbraemten Rock!--Dass er tapfer ist, raeumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der Baer ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit, welche eine edle Seele ueber Glueck und Unglueck erhebt, ist fern von ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset ueber ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; ueberall will er allein glaenzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und herrschsuechtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stuerzte-- Die Koenigin. Gemach, Nottingham, gemach!--Du eiferst dich ja ganz aus dem Atem.--Ich will nichts mehr hoeren--(beiseite) Gift und Blattern auf ihre Zunge!--Gewiss, Nottingham, du solltest dich schaemen, so etwas auch nur nachzusagen; dergleichen Niedertraechtigkeiten des boshaften Poebels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, dass der Poebel das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wuenscht, dass er es sagen moechte. Nottingham. Ich erstaune, Koenigin-- Die Koenigin. Worueber? Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden-- Die Koenigin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt haette, wie gewuenscht dir dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal gluehte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich, ueberzufliessen, und jedes Wort, jede Gebaerde hatte seinen laengst abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft. Nottingham. Verzeihe, Koenigin, wenn ich in dem Ausdrucke meine Schuldigkeit gefehlet habe. Ich mass ihn nach Deinem ab. Die Koenigin. Nach meinem?--Ich bin seine Koenigin. Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auch hat er sich der graesslichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich.--Womit koennte dich der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er uebertreten, keine Untertanen, die er bedruecken, keine Krone, nach der er streben koennte. Was findest du denn also fuer ein grausames Vergnuegen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen? Nottingham. Ich bin zu tadeln-- Die Koenigin. Genug davon!--Seine Koenigin, die Welt, das Schicksal selbst erklaert sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen?-- Nottingham. Ich bekenne es, Koenigin, Die Koenigin. Geh, es sei dir vergeben!--Rufe mir gleich die Rutland ----Fussnote [1] Act. III. --By all The Subtilty, and Woman in your Sex, I swear, that had you been a Man, you durst not, Nay, your bold Father Harry durst not this Have done--Why say I him? Not all the Harrys, Not Alexander self, were he alive, Should boast of such a deed on Essex done Without revenge.-- ----Fussnote Achtundfunfzigstes Stueck Den 20. November 1767 Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich, dass Rutland, ohne Wissen der Koenigin, mit dem Essex vermaehlt ist. "Die Koenigin. Koemmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt. --Wie ist's? Ich finde dich seit einiger Zeit so traurig. Woher diese truebe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen. Rutland. Grossmuetige Frau!--Ich verdiene es nicht, dass meine Koenigin so gnaedig auf mich herabsiehet. Die Koenigin. Wie kannst du so reden?--Ich liebe dich; jawohl liebe ich dich.--Du sol1st es daraus schon sehen!--Eben habe ich mit der Nottingham, der widerwaertigen!--einen Streit gehabt; und zwar--ueber Mylord Essex. Rutland. Ha! Die Koenigin. Sie hat mich recht sehr geaergert. Ich konnte sie nicht laenger vor Augen sehen. Rutland (beiseite). Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen! Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fuehl' es; ich werde blass--und wieder rot.-- Die Koenigin. Was ich dir sage, macht dich erroeten?-- Rutland. Dein so ueberraschendes, guetiges Vertrauen, Koenigin,-- Die Koenigin. Ich weiss, dass du mein Vertrauen verdienest.--Komm, Rutland, ich will dir alles sagen. Du sol1st mir raten.--Ohne Zweifel, liebe Rutland, wirst du es auch gehoert haben, wie sehr das Volk wider den armen, ungluecklichen Mann schreiet; was fuer Verbrechen es ihm zur Last leget. Aber das Schlimmste weisst du vielleicht noch nicht? Er ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdruecklichen Befehl; und hat die dortigen Angelegenheiten in der groessten Verwirrung Rutland. Darf ich Dir, Koenigin, wohl sagen, was ich denke?--Das Geschrei des Volkes ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Hass ist oefters so ungegruendet-- Die Koenigin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele.--Aber, liebe Rutland, er ist demohngeachtet zu tadeln.--Komm her, meine Liebe; lass mich an deinen Busen mich lehnen.--O gewiss, man legt mir es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen. Sie vergessen, dass ich ihre Koenigin bin.--Ah, Liebe; so ein Freund hat mir laengst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschuetten kann!-- Rutland. Siehe meine Traenen, Koenigin--Dich so leiden zu sehen, die ich so bewundere!--Oh, dass mein guter Engel Gedanken in meine Seele, und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu beschwoeren, und Balsam in Deine Wunden zu giessen! Die Koenigin. Oh, so waerest du mein guter Engel! mitleidige, beste Rutland!--Sage, ist es nicht schade, dass so ein braver Mann ein Verraeter sein soll? dass so ein Held, der wie ein Gott verehret ward, sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu Rutland. Das haette er gewollt? das koennte er wollen? Nein, Koenigin, gewiss nicht, gewiss nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hoeren! mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem Entzuecken habe ich ihn von Dir sprechen hoeren! Die Koenigin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hoeren? Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte Ueberlegung, aus dem ein inneres Gefuehl spricht, dessen er nicht maechtig ist. Sie ist, sagte er, die Goettin ihres Geschlechts, so weit ueber alle andere Frauen erhaben, dass das, was wir in diesen am meisten bewundern, Schoenheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein groesseres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem alles ueberstroemenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts uebersteigt ihre Guete; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glueckliche Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels gezogen und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet.--Oh, unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues Herz ausdrueckte, oh, dass sie nicht unsterblich sein kann! Ich wuensche ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit diesen Abglanz von sich zurueckruft und mit eins sich Nacht und Verwirrung ueber Britannien verbreiten. Die Koenigin. Sagte er das, Rutland? Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe, dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich ueberstroemte-- Die Koenigin. Oh, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du Rutland. Und kannst ihn noch fuer einen Verraeter halten? Die Koenigin. Nein;--aber doch hat er die Gesetze uebertreten.--Ich muss mich schaemen, ihn laenger zu schuetzen.--Ich darf es nicht einmal wagen, ihn zu sehen. Rutland. Ihn nicht zu sehen, Koenigin? nicht zu sehen?--Bei dem Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwoere ich Dich,--Du musst ihn sehen! Schaemen? wessen? dass Du mit einem Ungluecklichen Erbarmen hast?--Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte Koenige schimpfen?--Nein, Koenigin; sei auch hier Dir selbst gleich. Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen-- Die Koenigin. Ihn, der meinen ausdruecklichen Befehl so geringschaetzen koennen? Ihn, der sich so eigenmaechtig vor meine Augen draengen darf? Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl? Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der Gefahr, in der er sich sahe. Er hoerte, was hier vorging; wie sehr man ihn zu verkleinern, ihn Dir verdaechtig zu machen suche. Er kam also, zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich zu rechtfertigen und Dich nicht hintergehen zu lassen. Die Koenigin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich sehen.--Oh, meine Rutland, wie sehr wuensche ich es, ihn noch immer ebenso rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne! Rutland. Oh, naehre diese guenstige Gedanke! Deine koenigliche Seele kann keine gerechtere hegen.--Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiss finden. Ich wollte fuer ihn schwoeren; bei aller Deiner Herrlichkeit fuer ihn schwoeren, dass er es nie aufgehoeret zu sein. Seine Seele ist reiner als die Sonne, die Flecken hat und irdische Duenste an sich ziehet und Geschmeiss ausbruetet.--Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niedertraechtigkeit faehig. Bedenke, wie er die Rebellen gezuechtiget; wie furchtbar er Dich dem Spanier gemacht, der vergebens die Schaetze seiner Indien wider Dich verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Voelkern vorher, und ehe diese noch eintrafen, hatte oefters schon sein Name gesiegt. Die Koenigin (beiseite). Wie beredt sie ist!--Ha! dieses Feuer, diese Innigkeit,--das blosse Mitleid gehet so weit nicht.--Ich will es gleich hoeren!--(Zu ihr.) Und dann, Rutland, seine Gestalt-- Rutland. Recht, Koenigin; seine Gestalt.--Nie hat eine Gestalt den innern Vollkommenheiten mehr entsprochen!--Bekenn' es, Du, die Du selbst so schoen bist, dass man nie einen schoenern Mann gesehen! So wuerdig, so edel, so kuehn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied, in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das ganze von einem so sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus hundert Gegenstaenden zusammensuchen muss, was sie hier beieinander Die Koenigin (beiseite). Ich dacht' es!--Das ist nicht laenger auszuhalten.--(Zu ihr.) Wie ist dir, Rutland? Du geraetst ausser dir. Ein Wort, ein Bild ueberjagt das andere. Was spielt so den Meister ueber dich? Ist es bloss deine Koenigin, ist es Essex selbst, was diese wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket?--(Beiseite.) Sie schweigt; ganz gewiss, sie liebt ihn.--Was habe ich getan? Welchen neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt?" usw. Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Koenigin zu sagen, dass Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen. "Rutland", sagt die Koenigin, "wir sprechen einander schon weiter; geh nur.--Nottingham, tritt du naeher." Dieser Zug der Eifersucht ist vortrefflich. Essex koemmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige. Ich wuesste nicht, wie sie verstaendiger und gluecklicher vorbereitet sein koennte. Essex anfangs, scheinet sich voellig unterwerfen zu wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl haette alles das die Koenigin so weit nicht aufbringen koennen, wenn ihr Herz nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen waere. Es ist eigentlich die eifersuechtige Liebhaberin, welche schlaegt, und die sich nur der Hand der Koenigin bedienet. Eifersucht ueberhaupt schlaegt Ich, meinesteils, moechte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den ganzen "Essex" des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch, so voller Leben und Wahrheit, dass das Beste des Franzosen eine sehr armselige Figur dagegen macht. Neunundfunfzigstes Stueck Den 24. November 1767 Nur den Stil des Banks muss man aus meiner Uebersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gaenzlich abgehen muessen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, dass er zum Muster dieser Art von Misshelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als moeglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen. Ich habe mich mehr vor dem Schwuelstigen gehuetet, als vor dem Platten. Die mehresten haetten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwuelstig und tragisch halten viele so ziemlich fuer einerlei. Nicht nur viele der Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was waeren das fuer Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragoedie. "Wir haben es an nichts fehlen lassen", sagt Diderot,[1] (man merke, dass er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht), "das Drama aus dem Grunde zu verderben. Wir haben von den Alten die volle praechtige Versifikation beibehalten, die sich doch nur fuer Sprachen von sehr abgemessenen Quantitaeten und sehr merklichen Akzenten, nur fuer weitlaeufige Buehnen, nur fuer eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespraeche, und die Wahrheit ihrer Gemaelde haben wir fahren lassen." Diderot haette noch einen Grund hinzufuegen koennen, warum wir uns den Ausdruck der alten Tragoedien nicht durchgaengig zum Muster nehmen duerfen. Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien, oeffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie muessen also fast immer mit Zurueckhaltung und Ruecksicht auf ihre Wuerde sprechen; sie koennen sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den ersten den besten Worten entladen; sie muessen sie abmessen und waehlen. Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen groesstenteils zwischen ihren vier Waenden lassen: was koennen wir fuer Ursache haben, sie demohngeachtet immer eine so geziemende, so ausgesuchte, so rhetorische Sprache fuehren zu lassen? Sie hoert niemand, als dem sie es erlauben wollen, sie zu hoeren; mit ihnen spricht niemand als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also selbst im Affekte sind und weder Lust noch Musse haben, Ausdruecke zu kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er auch in das Stueck eingeflochten war, dennoch niemals misshandelte und stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den hoehern Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdruecken gelernt als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhoerlich, sich besser auszudruecken als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jede ihre eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut verstehet, als der Polierteste. Bei einer gesuchten, kostbaren, schwuelstigen Sprache kann niemals Empfindung sein. Sie zeugt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl vertraegt sie sich mit den simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten. Wie ich Banks' Elisabeth sprechen lasse, weiss ich wohl, hat noch keine Koenigin auf dem franzoesischen Theater gesprochen. Den niedrigen vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhaelt, wuerde man in Paris kaum einer guten adligen Landfrau angemessen finden. "Ist dir nicht wohl?--Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich.--Nur unruhig; ein wenig unruhig bin ich.--Erzaehle mir doch.--Nicht wahr, Nottingham? Tu das! Lass hoeren!--Gemach, gemach!--Du eiferst dich aus dem Atem.--Gift und Blattern auf ihre Zunge!--Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auf den Kopf schlagen.--Wie ist's? Sei munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.--Wie kannst du so reden?--Du sollst es schon sehen.--Sie hat mich recht sehr geaergert. Ich konnte sie nicht laenger vor Augen sehen.--Komm her, meine Liebe; lass mich an deinen Busen mich lehnen.--Ich dacht' es!--Das ist nicht laenger auszuhalten."--Jawohl ist es nicht auszuhalten! wuerden die feinen Kunstrichter sagen-- Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen.--Denn leider gibt es Deutsche, die noch weit franzoesischer sind, als die Franzosen. Ihnen zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlaessigkeiten, die ihr zaertliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu finden waren, die er mit so vieler Ueberlegung dahin und dorthin streuete, um den Dialog geschmeidig zu machen und den Reden einen wahrern Anschein der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig zusammen auf einen Faden und wollen sich krank darueber lachen. Endlich folgt ein mitleidiges Achselzucken: "Man hoert wohl, dass der gute Mann die grosse Welt nicht kennet; dass er nicht viele Koeniginnen reden gehoert; Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe." Demohngeachtet wuerde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer fuer die Koeniginnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen duerfen. Ich habe es lange schon geglaubt, dass der Hof der Ort eben nicht ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Koeniginnen moegen so gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Koeniginnen muessen natuerlich sprechen. Er hoere der Hekuba des Euripides nur fleissig zu; und troeste sich immer, wenn er schon sonst keine Koeniginnen gesprochen hat. Nichts ist zuechtiger und anstaendiger als die simple Natur. Grobheit und Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem Erhabnen. Das naemliche Gefuehl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt, wird sie auch hier bemerken. Der schwuelstige Dichter ist daher unfehlbar auch der poebelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine Gattung gibt mehrere Gelegenheit, in beide zu verfallen, als die Tragoedie. Gleichwohl scheinet die Englaender vornehmlich nur der eine in ihrem Banks beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die poebelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so glaenzende Personen fuehren lasse; und wuenschten lange, dass sein Stueck von einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe, moechte umgearbeitet werden.[2] Dieses geschah endlich auch. Fast zu gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darueber. Heinrich Jones, von Geburt ein Irlaender, war seiner Profession nach ein Maurer und vertauschte, wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen Mann von grossem Genie bekannt machten, brachte er seinen "Essex" 1753 aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook liess seinen erst einige Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, dass er, wie man ihm Schuld gibt, ebensowohl den "Essex" des Jones als den vom Banks, genutzt hat. Auch muss noch ein "Essex" von einem James Ralph vorhanden sein. Ich gestehe, dass ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten Tagebuechern kenne. Von dem "Essex" des Brook sagt ein franzoesischer Kunstrichter, dass er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der schoenen Poesie des Jones zu verbinden gewusst habe. Was er ueber die Rolle der Rutland und ueber derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres Gemahls hinzufuegt,[3] ist merkwuerdig; man lernt auch daraus das Pariser Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht. Aber einen spanischen "Essex" habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als dass ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte.-- ----Fussnote [1] Zweite Unterredung hinter dem "Natuerlichen Sohne". S.d. Uebers. 247. [2] ("Companion to the Theatre", Vol. II. p. 105.)--The Diction is every where very bad, and in some Places so low, that it even becomes unnatural.--And I think, there cannot be a greater Proof of the little Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters are perhaps the greatest the World ever produced. [3] ("Journal Encycl.", Mars 1761.) Il a aussi fait tomber en demence la Comtesse de Rutland au moment que cet illustre epoux est conduit a l'echafaud; ce moment ou cette Comtesse est un objet bien digne de pitie, a produit une tres grande sensation, et a ete trouve admirable a Londres: en France il eut paru ridicule, il aurait ete siffle et l'on aurait envoye la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons. ----Fussnote Sechzigstes Stueck Den 27. November 1767 Er ist von einem Ungenannten und fuehret den Titel: "Fuer seine Gebieterin sterben"[1]. Ich finde ihn in einer Sammlung von Komoedien, die Joseph Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vierundsiebzigste Stueck ist. Wenn er verfertiget worden, weiss ich nicht; ich sehe auch nichts, woraus es sich ungefaehr abnehmen liesse. Das ist klar, dass sein Verfasser weder die franzoesischen und englischen Dichter, welche die naemliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner Leser nicht vorgreifen. Essex kommt von seiner Expedition wider die Spanier zurueck und will der Koenigin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hoert er, dass sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen, namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche Zusammenkuenfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin und bedient sich des Schluessels, den er noch von der Gartentuere bewahret, durch die er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natuerlich, dass er sich seiner Geliebten eher zeigen will, als der Koenigin. Als er durch den Garten nach ihren Zimmern schleichet, wird er an dem schattichten Ufer eines durch denselben geleiteten Armes der Themse ein Frauenzimmer gewahr, (es ist ein schwueler Sommerabend), das mit den blossen Fuessen in dem Wasser sitzt und sich abkuehlet. Er bleibt voller Verwunderung ueber ihre Schoenheit stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um nicht erkannt zu werden. (Diese Schoenheit, wie billig, wird weitlaeuftig beschrieben, und besonders werden ueber die allerliebsten weissen Fuesse in dem klaren Wasser sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, dass der entzueckte Graf zwei kristallene Saeulen in einem fliessenden Kristalle stehen sieht; er weiss vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall ihrer Fuesse ist, welcher in Fluss geraten, oder ob ihre Fuesse der Kristall des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.[2]) Noch verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weissen Gesichte: er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so goettliches Monstrum gebildet und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so glaenzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr zur Verspottung?[3] Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet, als, unter der Ausrufung: Stirb, Tyrannin! ein Schuss auf sie geschieht, und gleich darauf zwei maskierte Maenner mit blossem Degen auf sie losgehen, weil der Schuss sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex besinnt sich nicht lange, ihr zu Hilfe zu eilen. Er greift die Moerder an, und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurueck und bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, dass er verwundet ist, knuepft ihre Schaerpe los und gibt sie ihm, sich die Wunde damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schaerpe dienen, mich Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muss ich mich entfernen, ehe ueber den Schuss mehr Laermen entsteht; ich moechte nicht gern, dass die Koenigin den Zufall erfuehre, und ich beschwoere Euch daher um Eure Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen ueber diese sonderbare Begebenheit, ueber die er mit seinem Bedienten, namens Cosme, allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des Stuecks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen, und hatte den Schuss zwar gehoert, aber ihm doch nicht zu Hilfe kommen duerfen. Die Furcht hielt an der Tuere Schildwache und versperrte ihm den Eingang. Furchtsam ist Cosme fuer viere;[4] und das sind die spanischen Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, dass er sich unfehlbar in die schoene Unbekannte verliebt haben wuerde, wenn Blanca nicht schon so voellig Besitz von seinem Herzen genommen haette, dass sie durchaus keiner andern Leidenschaft darin Raum lasse. "Aber", sagt er, "wer mag sie wohl gewesen sein? Was duenkt dich, Cosme?"--"Wer wird's gewesen sein", antwortet Cosme, "als des Gaertners Frau, die sich die Beine gewaschen?"[5] Aus diesem Zuge kann man leicht auf das uebrige schliessen. Sie gehen endlich beide wieder fort; es ist zu spaet geworden; das Haus koennte ueber den Schuss in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal. Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermaedchen. (Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der Koenig von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem juengsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist, unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese Verbindung zustande zu bringen. Es laesst sich alles, sowohl von seiten des Parlaments als der Koenigin, sehr wohl dazu an: aber indes erblickt er die Blanca und verliebt sich in sie. Itzt koemmt er und bittet Floren, ihm in seiner Liebe behilflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit, in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloss, Blanca suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne, dessen Stand so weit ueber den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung machen koenne, so duerfte sie schwerlich seiner Liebe Gehoer geben.--(Man erwartet, dass der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner Absichten beteuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier sind in diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora uebergeben soll. Er wuenscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief fuer Eindruck auf sie machen werde. Er schenkt Floren eine gueldne Kette, und Flora versteckt ihn in eine anstossende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt, welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet. Essex koemmt. Nach den zaertlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich wuerdig zu zeigen wuensche, muessen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben und ihn, unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentuemer ihrer Ehre gemacht. (Te hice dueno de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist nichts in Abrede und fuegt hinzu, dass, nach dem Tode ihres Vaters und Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen gekommen sei. Nun aber habe er diese gluecklich vollendet; nun wolle er unverzueglich die Koenigin um Erlaubnis zu ihrer Vermaehlung antreten.--"Und so kann ich dir denn", sagt Blanca, "als meinem Geliebten, als meinem Braeutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher anvertrauen."[6]-- ----Fussnote [1] "Dar la vida por su Dama o el Conde de Sex"; de un Ingenio de esta Las dos columnas bellas Metio dentro del rio, y como al verlas Vi un cristal en el rio desatado, Y vi cristal en ellas condensado, No supe si las aguas que se vian Eran sus pies, que liquidos corrian, O si sus dos columnas se formaban De las aguas, que alli se conjelaban. Diese Aehnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand geschoepft und nach dem Munde gefuehrt habe. Diese Hand, sagt er, war dem klaren Wasser so aehnlich, dass der Fluss selbst fuer Schrecken zusammenfuhr, weil er befuerchtete, sie moechte einen Teil ihrer eignen Hand mittrinken. Quiso probar a caso El agua, y fueron cristalino vaso Sus manos, acercolas a los labios, Y entonces el arroyo lloro agravios, Y como tanto, en fin, se parecia A sus manos aquello que bebia, Temi con sobresalto (y no fue en vano) Que se bebiera parte de la mano. Yo, que al principio vi, ciego, y turbado, A una parte nevado Y en otra negro el rostro, Juzgue, mirando tan divino monstruo, Que la naturaleza cuidadosa Desigualdad uniendo tau hermosa, Quiso hacer por asombro, o por ultraje, De azabache y marfil un maridaie. Ruido de armas en la Quinta, Y dentro el Conde? Que aguardo, Que no voy a socorrerle? Que aguardo? Lindo recado: Aguardo a que quiera el miedo Dejarme entrar:-- Cosme, que ha temido un miedo Que puede valer por cuatro. La mujer del hortelano, Que se lavaba las piernas. Bien podre seguramente Revelarte intentos mios, Como a galan, como a dueno, Como a esposo, y como a amigo. ----Fussnote Einundsechzigstes Stueck Den 1. Dezember 1767 Hierauf beginnt sie eine lange Erzaehlung von dem Schicksale der Maria von Schottland. Wir erfahren (denn Essex selbst muss alles das, ohne Zweifel, laengst wissen), dass ihr Vater und Bruder dieser ungluecklichen Koenigin sehr zugetan gewesen; dass sie sich geweigert, an der Unterdrueckung der Unschuld teilzunehmen; dass Elisabeth sie daher gefangensetzen und in dem Gefaengnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, dass Blanca die Elisabeth hasst; dass sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu raechen. Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen und sie ihres ganzen Vertrauens gewuerdiget. Aber Blanca ist unversoehnlich. Umsonst waehlte die Koenigin, nur kuerzlich, vor allen andern das Landgut der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu geniessen. --Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es moechte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen; und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Koenigin in dem Garten ermorden wollen. Nun weiss Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiss nicht, dass es Essex ist, welcher ihren Anschlag vereiteln muessen. Sie rechnet vielmehr auf die unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht bloss zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm voellig die gluecklichere Vollziehung ihrer Rache zu uebertragen. Er soll sogleich an ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben und gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin muesse sterben; ihr Name sei allgemein verhasst; ihr Tod sei eine Wohltat fuer das Vaterland, und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu verschaffen. Essex ist ueber diesen Antrag aeusserst betroffen. Blanca, seine teure Blanca, kann ihm eine solche Verraeterei zumuten? Wie sehr schaemt er sich in diesem Augenblicke seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr, wie es billig waere, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum weniger bei ihren schaendlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Koenigin die Sache hinterbringen? Das ist unmoeglich: Blanca, seine ihm noch immer teure Blanca, laeuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen, von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er muesste nicht wissen, was fuer ein rachsuechtiges Geschoepf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich durch Flehen erweichen und durch Gefahr abschrecken laesst. Wie leicht koennte sie seine Abratung, sein Zorn zur Verzweiflung bringen, dass sie sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht waere und ihr zuliebe alles unternaehme?[1]--Dieses in der Geschwindigkeit ueberlegt, fasst er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heisst der Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhaengern in die Falle zu locken. Blanca wird ungeduldig, dass ihr Essex nicht sogleich antwortet. "Graf", sagt sie, "wenn du erst lange mit dir zu Rate gehst, so liebst du mich nicht. Auch nur zweifeln ist Verbrechen. Undankbarer!"[2]--"Sei ruhig, Blanca!" erwidert Essex: "ich bin entschlossen."--"Und wozu?"--"Gleich will ich dir es schriftlich geben." Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der Herzog aus der Galerie naeher. Er ist neugierig, zu sehen, wer sich mit der Blanca so lange unterhaelt; und erstaunt, den Grafen von Essex zu erblicken. Aber noch mehr erstaunt er ueber das, was er gleich darauf zu hoeren bekoemmt. Essex hat an den Roberto geschrieben und sagt der Blanca den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen; Essex will ihn mit seinen Leuten unterstuetzen; Essex hat die Gunst des Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Koenigin zu bemaechtigen; sie ist schon so gut als tot.--"Erst muesst' ich sterben!" ruft auf einmal der Herzog und koemmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen ueber diese ploetzliche Erscheinung; und das Erstaunen des letztern ist nicht ohne Eifersucht. Er glaubt, dass Blanca den Herzog bei sich verborgen gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca und versichert, dass sie von seiner Anwesenheit nichts gewusst; er habe die Galerie offen gefunden und sei von selbst hereingegangen, die Gemaelde darin zu betrachten.[3] "Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern Leben der Koenigin, bei--Aber genug, dass ich es sage: Blanca ist unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklaerung zu danken. Auf Sie ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie Sie, machen Leute, wie ich-- Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?-- Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich kenne Sie nun. Ich hielt Sie fuer einen ganz andern Mann: und ich finde, Sie sind ein Verraeter. Der Graf. Wer darf das sagen? Der Herzog. Ich!--Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hoeren, Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein-- Der Herzog. Denn kurz: ich bin ueberzeugt, dass ein Verraeter kein Herz hat. Ich treffe Sie als einen Verraeter: ich muss Sie fuer einen Mann ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils ueber Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen verlustig sind. Waeren Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt, so wuerde ich Sie zu zuechtigen wissen. Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand begegnen duerfen, als der Bruder des Koenigs von Frankreich. Der Herzog. Wenn ich auch der nicht waere, der ich bin; wenn nur Sie der waeren, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl empfinden, mit wem Sie zu tun haetten.--Sie, der Graf von Essex? Wenn Sie dieser berufene Krieger sind: wie koennen Sie so viele grosse Taten durch eine so unwuerdige Tat vernichten wollen?--" ----Fussnote Ay tal traicion! vive el Cielo, Que de amarla estoy corrido. Blanca, que es mi dulce dueno, Blanca, a quien quiero, y estimo, Me propone tal traicion! Que hare, porque si ofendido, Respondiendo, como es justo, Contra su traicion me irrito, No por eso ha de evitar So resuelto desatino. Pues darle cuenta a la Reina Es imposible, pues quiso Mi suerte, que tenga parte Blanca en aqueste delito. Pues si procuro con ruegos Disuadirla, es desvario, Que es una mujer resuelta Animal tan vengativo, Que no se dobla a los riesgos: Antes con afecto impio, En el mismo rendimiento Suelen aguzar los filos; Y quiza desesperada De mi enojo, o mi desvio, Se declarara con otro Menos leal, menos fino, Que quiza por ella intente Lo que yo hacer no he querido. Si estas consultando, Conde, Alla dentro de ti mismo Lo que has de hacer, no me quieres, Ya el dudarlo fue delito. Vive Dios, que eres ingrato! Por vida del Rey mi hermano, Y por la que mas estimo, De la Reina mi senora, Y por--pero yo lo digo, Que en mi es el mayor empeno De la verdad del decirlo, Que no tiene Blanca parte De estar yo aqui-- Y estad muy agradecido A Blanca, de que yo os de, No satisfaccion, aviso De esta verdad, porque a vos, Hombres como yo--Cond. Imagino Que no me conoceis bien. Duq. No os habia conocido Hasta aqui; mas ya os conozco, Pues ya tan otro os he visto Que os reconozco traidor. Cond. Quien dijere--Duq. Yo lo digo No pronuncieis algo, Conde, Que ya no puedo sufriros. Cond. Cualquier cosa que yo intente-- Duq. Mirad que estoy persuadido Que hace la traicion cobardes; Y asi cuando os he cogido En un lance que me da De que sois cobarde indicios, No he de aprovecharme de esto, Y asi os perdona mi brio Ese rato que teneis El valor desminuido; Que a estar todo vos entero, Supiera daros castigo. Cond. Yo soy el Conde de Sex Y nadie se me ha atrevido Sino el hermano del Rey De Francia. Duq. Yo tengo brio Para que sin ser quien soy, Pueda mi valor invicto Castigar, no digo yo Solo a vos, mas a vos mismo, Siendo leal, que es lo mas Con que queda encarecido. Y pues sois tan gran Soldado, No echeis a perder, os pido Tantas heroicas hazanas Con un hecho tan indigno-- ----Fussnote Zweiundsechzigstes Stueck Den 4. Dezember 1767 Der Herzog faehrt hierauf fort, ihm sein Unrecht in einem etwas gelindern Tone vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines Bessern zu besinnen; er will es vergessen, was er gehoert habe; er ist versichert, dass Blanca mit dem Grafen nicht einstimmen und dass sie selbst ihm eben das wuerde gesagt haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen waere. Er schliesst endlich: "Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so schaendlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, dass Sie einen Kopf haben, und London einen Henker!"[1]--Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist in der aeussersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich fuer einen Verraeter gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen den Herzog zu rechtfertigen; er muss sich gedulden, bis es der Ausgang lehre, dass er da seiner Koenigin am getreuesten gewesen sei, als er es am wenigsten zu sein geschienen.[2] So spricht er mit sich selbst: zur Blanca aber sagt er, dass er den Brief sogleich an ihren Oheim senden wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern verwuenscht, sich aber noch damit getroestet, dass es kein Schlimmerer als der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse. Die Koenigin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, dass ihre Leibwache alle Zugaenge wohl besetzt; und morgen will sie nach London zurueckkehren. Der Kanzler ist der Meinung, die Meuchelmoerder aufsuchen zu lassen und durch ein oeffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche Belohnung zu verheissen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein. "Denn da es ihrer zwei waren", sagt er, "die den Anfall taten, so kann leicht einer davon ein ebenso treuloser Freund sein, als er ein treuloser Untertan ist."[3] Aber die Koenigin missbilliget diesen Rat; sie haelt es fuer besser, den ganzen Vorfall zu unterdruecken und es gar nicht bekannt werden zu lassen, dass es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat erkuehnen duerfen. "Man muss", sagt sie, "die Welt glauben machen, dass die Koenige so wohl bewacht werden, dass es der Verraeterei unmoeglich ist, an sie zu kommen. Ausserordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen, als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der Suende unzertrennlich; und dieses kann oft ebensosehr anreizen, als jenes abschrecken."[4] Indem wird Essex gemeldet und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem gluecklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Koenigin sagt ihm auf eine sehr verbindliche Weise: "Da ich Euch wieder erblicke, weiss ich von dem Ausgange des Krieges schon genug."[5] Sie will von keinen naehern Umstaenden hoeren, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Koenigin und Essex sind allein; das Gespraech wird vertraulicher; Essex hat die Schaerpe um; die Koenigin bemerkt sie, und Essex wuerde es aus dieser blossen Bemerkung schliessen, dass er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca nicht schon geschlossen haette. Die Koenigin hat den Grafen schon laengst heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.[6] Es kostet ihr alle Muehe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne Fragen, ihn auszulocken und zu hoeren, ob sein Herz schon eingenommen, und ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte gibt er ihr durch seine Antworten gewissermassen zu verstehen, und zugleich, dass er fuer ebendiese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken sich erkuehnen duerfe. Die Koenigin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen zu geben: doch siegt noch ihr Stolz ueber ihre Liebe. Ebensosehr hat der Graf mit seinem Stolze zu kaempfen: er kann sich des Gedankens nicht entwehren, dass ihn die Koenigin liebe, ob er schon die Vermessenheit dieses Gedankens erkennet. (Dass diese Szene groesstenteils aus Reden bestehen muesse, die jedes seitab fuehret, ist leicht zu erachten.) Sie heisst ihn gehen und heisst ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm das Patent bringe. Er bringt es; sie ueberreicht es ihm; er bedankt sich, und das Seitab faengt mit neuem Feuer an. "Die Koenigin. Toerichte Liebe!-- Essex. Eitler Wahnsinn!-- Die Koenigin. Wie blind!-- Essex. Wie verwegen!-- Die Koenigin. So tief willst du, dass ich mich herabsetze?-- Essex. So hoch willst Du, dass ich mich versteige?-- Die Koenigin. Bedenke, dass ich Koenigin bin! Essex. Bedenke, dass ich Untertan bin! Die Koenigin. Du stuerzest mich bis in den Abgrund,-- Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne,-- Die Koenigin. Ohne auf meine Hoheit zu achten. Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwaegen. Die Koenigin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert:-- Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemaechtiget:-- Die Koenigin. So stirb da, und komm' nie auf die Zunge! Essex. So stirb da, und komm' nie ueber die Lippen!"[7] (Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden miteinander und reden auch nicht miteinander. Der eine hoert, was der andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehoert hat. Sie nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele. Man sage jedoch nicht, dass man ein Spanier sein muss, um an solchen unnatuerlichen Kuensteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreissig Jahre fanden wir Deutsche ebensoviel Geschmack daran; denn unsere Staats-und Heldenaktionen wimmelten davon, die in allem nach den spanischen Mustern zugeschnitten waren.) Nachdem die Koenigin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab und machen dem ersten Aufzuge ein Ende.--Die Stuecke der Spanier, wie bekannt, haben deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre alleraeltesten Stuecke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von Komoedien. Virves war der erste, welcher die vier Aufzuege auf drei brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stuecke seiner Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte. Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern "Neuen Kunst, Komoedien zu machen"[8]; mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch finde[9], wo sich dieser den Ruhm anmasst, die spanische Komoedie von fuenf Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der spanische Literator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich dabei nicht aufhalten. ----Fussnote Miradlo mejor, dejad Un intento tan indigno, Corresponded a quien sois, Y sino bastan avisos, Mirad que hay Verdugo en Londres, Y en vos cabeza, harto os digo. No he de responder al Duque Hasta que el suceso mismo Muestre como fueron falsos De mi traicion los indicios, Y que soy mas leal, cuando Mas traidor he parecido. Y pues son dos los culpados Podra ser, que alguno de ellos Entregue al otro; que es llano, Que sera traidor amigo Quien fue desleal vasallo. Y es gran materia de estado Dar a entender, que los Reyes Estan en si tan guardados Que aunque la traicion los busque, Nunca ha de poder hallarlos; Y asi el secreto averiguee Enormes delitos, cuando Mas que el castigo, escarmientos De ejemplares el pecado. Que ya solo con miraros Se el suceso de la guerra. No bastaba, amor tirano, Una inclinacion tan fuerte, Sin que te hayas ayudado Del deberle yo la vida? Rein. Loco Amor--Cond. Necio imposible-- Rein. Que ciego--Cond. Que temerario-- Rein. Me abates a tal bajeza-- Cond. Me quieres subir tan alto-- Rein. Advierte, que soy la Reina-- Cond. Advierte, que soy vasallo-- Rein. Pues me humillas al abismo-- Cond. Pues me acercas a los rayos-- Rein. Sin reparar mi grandeza-- Cond. Sin mirar mi humilde estado-- Rein. Ya que te miro aca dentro-- Cond. Ya que en mi te vas entrando-- Rein. Muere entre el pecho, y la voz. Cond. Muere entre el alma, y los labios. "Arte nuevo de hazer Comedias", die sich hinter des Lope "Rimas" El Capitan Virues; insigne ingenio, Puso en tres actos la Comedia, que antes Andaba en cuatro, como pies de nino, Que eran entonces ninas las Comedias, Y yo las escribi de once, y doce anos, De a cuatro actos, y de a cuatro pliegos, Porque cada acto un pliego contenia. [9] In der Vorrede zu seinen Komoedien: Donde me atrevi a reducir las Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenian. ----Fussnote Dreiundsechzigstes Stueck Den 8. Dezember 1767 Die Koenigin ist von dem Landgute zurueckgekommen; und Essex gleichfalls. Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen Augenblick vermissen zu lassen. Er eroeffnet mit seinem Cosme den zweiten Akt, der in dem koeniglichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des Grafen, sich mit Pistolen versehen muessen; der Graf hat heimliche Feinde; er besorgt, wenn er des Nachts spaet vom Schlosse gehe, ueberfallen zu werden. Er heisst den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der Blanca zu tragen und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet er die Schaerpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist eifersuechtig; die Schaerpe koennte ihr Gedanken machen; sie koennte sie haben wollen; und er wuerde sie ihr abschlagen muessen. Indem er sie dem Cosme zur Verwahrung uebergibt, koemmt Blanca dazu. Cosme will sie geschwind verstecken: aber es kann so geschwind nicht geschehen, dass es Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Koenigin; und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schaerpe reinen Mund zu halten und sie niemanden zu zeigen. Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, dass er ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er fuerchtet ein Geschwaer im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, dass er sich dieser Gefahr bereits sechsunddreissig Stunden ausgesetzt habe.[1] Er gibt Floren die Pistolen und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte von der maskierten Dame und der Schaerpe zu erzaehlen. Doch eben besinnt er sich, dass es wohl eine wuerdigere Person sein muesse, der er sein Geheimnis zuerst mitteile. Es wuerde nicht lassen, wenn sich Flora ruehmen koennte, ihn dessen defloriert zu haben.[2] (Ich muss von allerlei Art des spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.) Cosme darf auf diese wuerdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von ihrer Neugierde viel zu sehr gequaelt, dass sie sich nicht, sobald als moeglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme vorhin so hastig vor ihr zu verbergen gesucht. Sie koemmt also sogleich zurueck, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr geantwortet, dass er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn; doch Cosme laesst nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schaerpe weiss; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines Geheimnisses entlediget, ist aeusserst ekel. Sein Magen will es nicht laenger bei sich behalten; es stoesst ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den Finger in den Hals; er gibt es von sich, und um einen bessern Geschmack wieder in den Mund zu bekommen, laeuft er geschwind ab, eine Quitte oder Olive darauf zu kauen.[3] Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwaetze zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, dass die Schaerpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden koennte, wenn er es nicht schon sei. "Denn er ist doch nur ein Mann", sagt sie. "Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste ist noch so schlimm! "[4]--Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie ihn je eher je lieber heiraten. Die Koenigin tritt herein und ist aeusserst niedergeschlagen. Blanca fragt, ob sie die uebrigen Hofdamen rufen soll: aber die Koenigin will lieber allein sein; nur Irene soll kommen und vor dem Zimmer singen. Blanca geht auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern koemmt der Graf. Essex liebt die Blanca: aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber der Koenigin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er bestraft sich deswegen; sein Herz gehoert der Blanca; eigennuetzige Absichten muessen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Konvenienz muss keinen echten Affekt besiegen.[5] Er will sich also lieber wieder entfernen, als er die Koenigin gewahr wird: und die Koenigin, als sie ihn erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem faengt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: "Sollten meine verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: oh, so lass das Mitleid, welches sie verdienen, den Unwillen ueberwaeltigen, den du darueber empfindest, dass ich es bin, der sie fuehret." Der Koenigin gefaellt das Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte Weise, seine Liebe zu erklaeren. Er sagt, er habe es glossieret[6] und bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu duerfen. In dieser Glosse beschreibt er sich als den zaertlichsten Liebhaber, dem es aber die Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die Koenigin lobt seine Poesie: aber sie missbilliget seine Art zu lieben. "Eine Liebe", sagt sie unter andern, "die man verschweigt, kann nicht gross sein; denn Liebe waechst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig." ----Fussnote --Yo no me acordaba De decirlo, y lo callaba. Y como me lo entrego, Ya por decirlo reviento, Que tengo tal propiedad, Que en un hora, o la mitad, Se me hace postema un cuento. Alla va Flora; mas no, Sera persona mas grave-- No es bien que Flora se alabe Que el cuento me desfloro. Ya se me viene a la boca La purga.-- O que regueeldos tan secos Me vienen! terrible aprieto.-- Mi estomago no lo lleva; Protesto que es gran trabajo, Meto los dedos.-- Y pues la purga he trocado, Y el secreto he vomitado Desde el principio hasta el fin, Y sin dejar cosa alguna, Tal asco me dio al decillo, Voy a probar de en membrillo, O a morder de una accituna.-- Es hombre al fin, y ay! de aquella Que a un hombre fio su honor, Siendo tan malo, el mejor. Abate, abate las alas No subas tanto, busquemos Mas proporcionada esfera A tan limitado vuelo. Blanca me quiere, y a Blanca Adoro yo ya en mi dueno; Pues como de amor tan noble Por una ambicion me alejo? No conveniencia bastarda Venza un legitimo afecto. [6] Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche sie Glosas nennen. Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte und erklaeren oder umschreiben diesen Text so, dass sie die Zeilen selbst in diese Erklaerung oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heissen sie Mote oder Letra, und die Auslegung insbesondere Glosa, welches denn aber auch der Name des Gedichts ueberhaupt ist. Hier laesst der Dichter den Essex das Lied der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile schliesst. Das Ganze sieht so aus: Si acaso mis desvarios Llegaren a tus umbrales, La lastima de ser males Quite el horror de ser mios. Glosa. Aunque el dolor me provoca Decir mis quejas no puedo, Que es mi osadia tan poca, Que entre el respeto, y el miedo Se me mueren en la boca; Y asi no llegan tan mios Mis males a tus orejas, Porque no han de ser oidos Si acaso digo mis quejas, Si acaso mis desvarios. El ser tan mal explicados Sea su mayor indicio, Que trocando en mis cuidados El silencio, y vos su oficio, Quedaran mas ponderados: Desde hoy por estas senales Sean de ti conocidos, Que sin duda son mis males Si algunos mal repetidos Llegaren a tus umbrales. Mas ay Dies! que mis cuidados De tu crueldad conocidos, Aunque mas acreditados, Seran menos adquiridos. Que con los otros mezclados: Porque no sabiendo a cuales Mas tu ingratitud se deba Viendolos todos iguales Fuerza es que en comun te mueva La lastima de ser males. En mi este afecto violento Tu hermoso desden le causa; Tuyo, y mio es mi tormento; Tuyo, porque eres la causa; Y mio, porque yo le siento: Sepan, Laura, tus desvios Que mis males son tan suyos, Y en mis cuerdos desvarios Esto que tienen de tuyos Quite el horror de ser mios. Es muessen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein als diese. Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote schliesst, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschraenken und diese mehr als einmal wiederholen. uebrigens gehoeren diese Glossen unter die aelteren Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen. ----Fussnote Vierundsechzigstes Stueck Den 11. Dezember 1767 Der Graf versetzt, dass die vollkommenste Liebe die sei, welche keine Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen selbst mache sein Glueck: denn solange er seine Liebe verschweige, sei sie noch unverworfen, koenne er sich noch von der suessen Vorstellung taeuschen lassen, dass sie vielleicht duerfe genehmiget werden. Der Unglueckliche sei gluecklich, solange er noch nicht wisse, wie ungluecklich er sei.[1] Die Koenigin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran gelegen ist, dass Essex nicht laenger darnach handle: und Essex, durch diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen, von welchem die Koenigin behauptet, dass es ein Liebhaber auf alle Weise wagen muesse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schaerpe um, die sie dem Cosme abgenommen, welches zwar die Koenigin, aber nicht Essex gewahr wird.[2] "Essex. So sei es gewagt!--Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hilfsmittel sterben kann? Was fuerchte ich noch?--Koenigin, wann denn also,-- Blanca. Der Herzog, Ihre Majestaet,-- Essex. Blanca koennte nicht ungelegener kommen. Blanca. Wartet in dem Vorzimmer,-- Die Koenigin. Ah! Himmel! Blanca. Auf Erlaubnis,-- Die Koenigin. Was erblicke ich? Blanca. Hereintreten zu duerfen. Die Koenigin. Sag ihm--Was seh' ich!--Sag ihm, er soll warten.--Ich komme von Sinnen!--Geh, sag ihm das. Blanca. Ich gehorche. Die Koenigin. Bleib! Komm her! naeher! Blanca. Was befehlen Ihro Majestaet?-- Die Koenigin. Oh, ganz gewiss!--Sage ihm--Es ist kein Zweifel mehr!-- Geh, unterhalte ihn einen Augenblick,--Weh, mir!--Bis ich selbst zu ihm herauskomme. Geh, lass mich! Blanca. Was ist das?--Ich gehe. Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren,-- Die Koenigin. Ha, Eifersucht! Essex. Mich zu erklaeren.--Was ich wage, wage ich auf ihre eigene Ueberredung. Die Koenigin. Mein Geschenk in fremden Haenden! Bei Gott!--Aber ich muss mich schaemen, dass eine Leidenschaft so viel ueber mich vermag! Essex. Wenn denn also,--wie Ihre Majestaet gesagt, und wie ich einraeumen muss,--das Glueck, welches man durch Furcht erkauft,--sehr teuer zu stehen koemmt; wenn man viel edler stirbt:--so will auch Die Koenigin. Warum sagen Sie das, Graf? Essex. Weil ich hoffe, dass, wann ich--Warum fuerchte ich mich noch?-- wann ich Ihre Majestaet meine Leidenschaft bekannte,--dass einige Die Koenigin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie? Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin? Und wer Sie sind? Ich muss glauben, dass Sie den Verstand verloren.--" Und so fahren Ihre Majestaet fort, den armen Grafen auszufenstern, dass es eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel ueber alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, dass der Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurueckbrausen muesse? Ob er nicht wisse, dass die Duenste, welche sich zur Sonne erhueben, von ihren Strahlen zerstreuet wuerden?--Wer vom Himmel gefallen zu sein glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschaemt zurueck und bittet um Verzeihung. Die Koenigin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder zu betreten und sich gluecklich zu schaetzen, dass sie ihm den Kopf lasse, in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen koennen.[3] Er entfernt sich; und die Koenigin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie wenig ihr Herz mit ihren Reden uebereinstimme. Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Buehne zu fuellen. Blanca hat dem Herzog es frei gestanden, auf welchem Fusse sie mit dem Grafen stehe; dass er notwendig ihr Gemahl werden muesse, oder ihre Ehre sei verloren. Der Herzog fasst den Entschluss, den er wohl fassen muss; er will sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht er sogar, sich bei der Koenigin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle. Die Koenigin kommt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurueck. Sie ist mit sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er scheine. Vielleicht, dass es eine andere Schaerpe war, die der ihrigen nur so aehnlich ist.--Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde sich naeher darueber erklaeren; er wolle sie zusammen allein lassen: und so laesst er sie. Die Koenigin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschliesst sich Blanca, zu reden. Sie will nicht laenger von dem veraenderlichen Willen eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht laenger anheimstellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau, nicht die Koenigin. Denn da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen muesse: so suche sie in ihr nicht die Koenigin, sondern nur die Frau.[4] ----Fussnote --El mas verdadero amor Es el que en si mismo quieto Descansa, sin atender A mas paga, o mas intento: La correspondencia es paga, Y tener por blanco el precio Es querer per granjeria.-- Dentro esta del silencio, y del respeto Mi amor, y asi mi dicha esta segura, Presumiendo tal vez (dulce locura!) Que es admitido del mayor suieto. Dejandome enganar de este concepto, Dura mi bien, porque mi engano dura; Necia sera la lengua, si aventura Un bien que esta seguro en el secreto.-- Que es feliz quien no siendo venturoso Nunca llega a saber, que es desdichado. Por no morir de mal, cuando Puedo morir de remedio, Digo pues, ea, osadia, Ella me alento, que temo?-- Que sera bien que a tu Alteza-- (Sale Blanca con la banda puesta.) Bl. Senora, el duque--Cond. A mal tiempo Viene Blanca. Bl. Esta aguardando En la antecamara--Rein. Ay, cielo! Bl. Para entrar--Rein. Que es lo que miro! Bl. Licencia. Rein. Decid;--que veo!-- Decid que espere;--estoy loca! Decid, andad. Bl. Ya obedezco. Rein. Venid aca, volved. Bl. Que manda Vuestra Alteza? Rein. Ei dano es cierto. Decidle--no hay que dudar-- Entretenedle un momento-- Ay de mi!--mientras yo salgo-- Y dejadme. Bl. Que es aquesto? Y voy. Cond. Ya Blanca se fue, Quiero pues volver--Rein. Ha celos! Cond. A declararme atrevido, Pues si me atrevo, me atrevo En fe de sus pretensiones. Rein. Mi prenda en poder ajeno? Vive Dios, pero es vergueenza Que pueda tanto un afecto En mi. Cond. Segun lo que dijo Vuestra Alteza aqui, y supuesto, Que cuesta cara la dicha, Que se compra con el miedo, Quiero morir noblemente. Rein. Porque lo decis? Cond. Que espero Si a vuestra Alteza (que dudo!) Le declarase mi afecto, Algun amor--Rein. Que decis? A mi? como, loco, necio, Conoceisme? Quien soy yo? Decid, quien soy? que sospecho, Que se os huyo la memoria.-- --No me veais, Y agradeced el que os dejo Cabeza, en que se engendraron Tan livianos pensamientos. --Ya estoy resuelta; No a la voluntad mudable De un hombre este yo sujeta, Que aunque no se que me olvide, Es necedad, que yo quiera Dejar a su cortesia Lo que puede hacer la fuerza. Gran Isabela, escuchadme, Y al escucharme tu Alteza, Ponga aun mas que la atencion, La piedad con las orejas. Isabela os he llamado En esta ocasion, no Reina, Que cuando vengo a deciros Del honor una flaqueza Que he hecho como mujer, Porque mejor os parezca, No Reina, mujer os busco. Solo mujer os quisiera.-- ----Fussnote Fuenfundsechzigstes Stueck Den 15. Dezember 1767 Du? mir eine Schwachheit? fragt die Koenigin. "Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Traenen, sind vermoegend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer koemmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf-- Die Koenigin. Der Graf? Was fuer ein Graf?-- Blanca. Von Essex. Die Koenigin. Was hoere ich? Blanca. Seine verfuehrerische Zaertlichkeit-- Die Koenigin. Der Graf von Essex? Blanca. Er selbst, Koenigin.-- Die Koenigin (beiseite). Ich bin des Todes!--Nun? weiter! Blanca. Ich zittere.--Nein, ich darf es nicht wagen--" Die Koenigin macht ihr Mut und lockt ihr nach und nach mehr ab, als Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hoeren wuenscht. Sie hoeret, wo und wie der Graf gluecklich gewesen;[1] und als sie endlich auch hoeret, dass er ihr die Ehe versprochen, und dass Blanca auf die Erfuellung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange zurueckgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhoehnet das leichtglaeubige Maedchen auf das empfindlichste und verbietet ihr schlechterdings, an den Grafen weiter zu denken. Blanca erraet ohne Muehe, dass dieser Eifer der Koenigin Eifersucht sein muesse: und gibt es ihr zu verstehen. "Die Koenigin. Eifersucht?--Nein; bloss deine Auffuehrung entruestet mich. --Und gesetzt,--ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich,--ich ihn liebte, und eine andere waere so vermessen, so toericht, ihn neben mir zu lieben,--was sage ich, zu lieben?--ihn nur anzusehen,--was sage ich, anzusehen?--sich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten?--Du siehest, wie sehr mich eine bloss vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun wuerde. Itzt stelle ich mich nur eifersuechtig. Huete dich, mich es wirklich zu Mit dieser Drohung geht die Koenigin ab und laesst die Blanca in der aeussersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, ueber die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Koenigin hat ihr Vater und Bruder und Vermoegen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen nehmen. Die Rache war schon beschlossen: aber warum soll Blanca noch erst warten, bis sie ein anderer fuer sie vollzieht? Sie will sie selbst bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Koenigin muss sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr an Gelegenheit nicht fehlen.--Sie sieht die Koenigin mit dem Kanzler wiederkommen und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefasst zu machen. Der Kanzler haelt verschiedne Briefschaften, die ihm die Koenigin nur auf einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch durchsehen. Der Kanzler erhebt die ausserordentliche Wachsamkeit, mit der sie ihren Reichsgeschaeften obliege; die Koenigin erkennt es fuer ihre Pflicht und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein und setzt sich zu den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und anstaendigern Sorgen ueberlassen. Aber das erste Papier, was sie in die Haende nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muss es denn eben", sagt sie, "von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkoemmt!" Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine Liebe zu Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem Bruder des Todes Linderung suchen: und so faellt sie in Schlaf. Indem tritt Blanca herein und hat eine von den Pistolen des Grafen, die sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Koenigin allein und entschlafen: was fuer einen bequemem Augenblick koennte sie sich wuenschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht und sie in ihrem Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel erraet man, was nun geschieht. Er koemmt also, sie hier zu suchen; und koemmt eben noch zurecht, der Blanca in den moerderischen Arm zu fallen und ihr die Pistole, die sie auf die Koenigin schon gespannt hat, zu entreissen. Indem er aber mit ihr ringt, geht der Schuss los: die Koenigin erwacht, und alles koemmt aus dem Schlosse herzugelaufen. "Die Koenigin (im Erwachen). Ha! Was ist das? Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das fuer ein Knall in dem Zimmer der Koenigin? Was geschieht hier? Essex (mit der Pistole in der Hand). Grausamer Zufall! Die Koenigin. Was ist das, Graf? Essex. Was soll ich tun? Die Koenigin. Blanca, was ist das? Blanca. Mein Tod ist gewiss! Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich! Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verraeter? Essex (beiseite). Wozu soll ich mich entschliessen? Schweige ich: so faellt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich der nichtswuerdige Verklaeger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner teuersten Blanca. Die Koenigin. Sind Sie der Verraeter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer von euch war mein Retter? wer mein Moerder? Mich duenkt, ich hoerte im Schlafe euch beide rufen: Verraeterin! Verraeter! Und doch kann nur eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig, Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt?--Wohl, schweigt nur! Ich will in dieser Ungewissheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht duerfte es mich ebensosehr schmerzen, meinen Beschuetzer zu erfahren, als meinen Feind. Ich will der Blanca gern ihre Verraeterei vergeben, ich will sie ihr verdanken: wenn dafuer der Graf nur unschuldig war."[3] Aber der Kanzler sagt: wenn es die Koenigin schon hierbei wolle bewenden lassen, so duerfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu gross; sein Amt erfodere, es zu ergruenden; besonders da aller Anschein sich wider den Grafen erklaere. "Die Koenigin. Der Kanzler hat recht; man muss es untersuchen.--Graf,-- Essex. Koenigin!-- Die Koenigin. Bekennen Sie die Wahrheit.--(Beiseite.) Aber wie sehr fuerchtet meine Liebe, sie zu hoeren! War es Blanca? Essex. Ich Ungluecklicher! Die Koenigin. War es Blanca, die meinen Tod wollte? Essex. Nein, Koenigin; Blanca war es nicht. Die Koenigin. Sie waren es also? Essex. Schreckliches Schicksal!--Ich weiss nicht. Die Koenigin. Sie wissen es nicht?--Und wie koemmt dieses moerderische Werkzeug in Ihre Hand?--" Der Graf schweigt, und die Koenigin befiehlt, ihn nach dem Tower zu bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer bewacht werden. Sie werden abgefuehrt, und der zweite Aufzug schliesst. ----Fussnote bl. le llame una noche obscura-- rein. y vino a verte? bl. pluguiera a dios, que no fuera tanta mi desdicha, y su fineza. vino mas galan que nunca, y yo que dos veces ciega, por mi mal, estaba entonces del amor, y las tinieblas-- rein. este es celo, blanca. bl. celos, anadiendole una letra. rein. que decis? bl. senora, que si acaso posible fuera, a no ser vos la que dice esas palabras, dijera, que eran celos. rein. que son celos? no son celos, es ofensa que me estais haciendo vos. supongamos, que quisiera al conde en esta ocasion; pues si yo al conde quisiera y alguna atrevida, loca presumida, descompuesta le quisiera, que es querer? que le mirara, o le viera; que es verle? no se que diga. no hay cosa que menos sea-- no la quitara la vida? la sangre no le bebiera?-- los celos, aunque fingidos, me arrebataron la lengua, y dispararon mi enojo-- mirad que no me deis celos, que si fingidos se altera tanto mi enojo, ved vos, si fuera verdad, que hiciera-- escarmentad en las burlas, no me deis celos de veras. conde, vos traidor? vos, blanca? el juicio esta indiferente, cual me libra, cual me mata. conde, bianca, respondedme! tu a la reina? tu a la reina? oid, aunque confusamente: ha, traidora, dijo el conde. blanca, dijo: traidor eres. estas razones de entrambos a entrambas cosas convienen: uno de los dos me libra, otro de los me ofende. conde, cual me daba vida? blanca, cual me daba muerte? decidme!--no lo digais, que neutral mi valor quiere, per no saber el traidor, no saber el inocente. mejor es quedar confusa, en duda mi juicio quede, porque cuando mire a alguno, y de la traicion me acuerde, a pensar, que es el traidor, que es el leal tambien piense. yo le agradeciera a blanca, que ella la traidora fuese, solo a trueque de que el conde fuera el, que estaba inocente.-- ----Fussnote Sechsundsechzigstes Stueck Den 18. Dezember 1767 Der dritte Aufzug faengt sich mit einer langen Monologe der Koenigin an, die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu finden. Die Vielleicht werden nicht gesparet, um ihn weder als ihren Moerder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu duerfen. Besonders geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit; sie denkt ueber diesen Punkt ueberhaupt lange so zaertlich und sittsam nicht, als wir es wohl wuenschen moechten, und als sie auf unsern Theatern denken muesste.[1] Es kommen der Herzog und der Kanzler: jener, ihr seine Freude ueber die glueckliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen Beweis, der sich wider den Essex aeussert, vorzulegen. Auf der Pistole, die man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehoert ihm; und wem sie gehoert, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen. Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewussten Briefe nach Schottland abgehen wollen und ist angehalten worden. Seine Reise sieht einer Flucht sehr aehnlich, und solche Flucht laesst vermuten, dass er an dem Verbrechen seines Herrn Anteil koenne gehabt haben. Er wird also vor den Kanzler gebracht, und die Koenigin befiehlt, ihn in ihrer Gegenwart zu verhoeren. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann man leicht erraten. Er weiss von nichts; und als er sagen soll, wo er hingewollt, laesst er sich um die Wahrheit nicht lange noetigen. Er zeigt den Brief, den ihm sein Graf an einen andern Grafen nach Schottland zu ueberbringen befohlen: und man weiss, was dieser Brief enthaelt. Er wird gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hoert, wohin es damit abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er ueber den Schluss desselben, worin der Ueberbringer ein Vertrauter heisst, durch den Roberto seine Antwort sicher bestellen koenne. "Was hoere ich?" ruft Cosme. "Ich ein Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein.--Habe ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich moechte doch wissen, was mein Herr an mir gefunden haette, um mich dafuer zu nehmen. Ich, ein Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiss zum Exempel, dass Blanca und mein Herr einander lieben, und dass sie heimlich miteinander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdruecken wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie huebsch sehen, meine Herren, was fuer ein Vertrauter ich bin. Schade, dass es nicht etwas viel Wichtigeres ist: ich wuerde es ebensowohl sagen."[2] Diese Nachricht schmerzt die Koenigin nicht weniger, als die Ueberzeugung, zu der sie durch den ungluecklichen Brief von der Verraeterei des Grafen gelangt. Der Herzog glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu muessen und der Koenigin nicht laenger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufaelligerweise angehoert habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verraeters, und sobald die Koenigin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestaet, als gekraenkte Liebe, des Grafen Tod zu beschliessen. Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm in das Gefaengnis. Der Kanzler koemmt und eroeffnet dem Grafen, dass ihn das Parlament fuer schuldig erkannt und zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld. "Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber so viele Beweise wider Sie!--Haben Sie den Brief an den Roberto nicht geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhaendiger Name? Essex. Allerdings ist er es. Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca, nicht ausdruecklich den Tod der Koenigin beschliessen hoeren? Essex. Was er gehoert hat, hat er freilich gehoert. Der Kanzler. Sahe die Koenigin, als sie erwachte, nicht die Pistole in Ihrer Hand? Gehoert die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht Essex. Ich kann es nicht leugnen. Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig. Essex. Das leugne ich. Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, dass Sie den Brief an den Roberto schrieben? Essex. Ich weiss nicht. Der Kanzler. Wie kam es denn, dass der Herzog den verraeterischen Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen musste? Essex. Weil es der Himmel so wollte. Der Kanzler. Wie kam es denn, dass sich das moerderische Werkzeug in Ihren Haenden fand? Essex. Weil ich viel Unglueck habe. Der Kanzler. Wenn alles das Unglueck, und nicht Schuld ist: wahrlich, Freund, so spielst Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen muessen. Essex. Schlimm genug."[3] "Wissen Ihre Gnaden nicht", fragt Cosme, der dabei ist, "ob sie mich etwa mit haengen werden?" Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr hinlaenglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu verstatten, dass er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen duerfe. Der Kanzler bedauert, dass er, als Richter, ihm diese Bitte versagen muesse; weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich, als moeglich, geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er vielleicht sowohl unter den Grossen, als unter dem Poebel in Menge haben moechte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf wuenschte bloss deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht muendlich tun duerfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein Leben fuer sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf der Zunge fuehren, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er sie beschwoeren, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca einzuhaendigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen. ----Fussnote No pudo ser que mintiera Blanca en lo que me conto De gozarla el Conde? No, Que Blanca no lo fingiera: No pudo haberla gozado, Sin estar enamorado, Y cuando tierno y rendido, Entonces la haya querido, No puede haberla olvidado? No le vieron mis antoios Entre acogimientos sabios, Muy callando con los labios, Muy bachiller con los ojos, Cuando al decir sus enojos Yo su despecho reni? Que escucho? Senores mios, Dos mil demonios me lleven, Si yo confidente soy, Si lo he sido, o si lo fuere, Ni tengo intencion de serlo. --Tengo yo Cara de ser confidente? Yo no se que ha visto en mi Mi amo para tenerme En esta opinion; y a fe, Que me holgara de que fuese Cosa de mas importancia Un secretillo muy leve, Que rabio ya per decirlo, Que es que el Conde a Blanca quiere, Que estan casados los dos En secreto-- Con. Solo el descargo que tengo Es el estar inocente. Senescal. Aunque yo quiera creerlo No me dejan los indicios, Y advertid, que ya no es tiempo De dilacion, que manana Habeis de morir. Con. Yo muero Inocente. Sen. Pues decid: No escribisteis a Roberto Esta carta? Aquesta firma No es la vuestra? Con. No lo niego. Sen. El gran duque de Alanzon No os oyo en el aposento De Blanca trazar la muerte De la Reina? Con. Aqueso es cierto. Sen. Cuando desperto la Reina No os hallo, Conde, a vos mesmo Con la pistola en la mano? Y la pistola que vemos Vuestro nombre alli gravado No es vuestro? Con. Os lo concedo. Sen. Luego vos estais culpado. Con. Eso solamente niego. Sen. Pues como escribisteis, Conde, La carta al traidor Roberto? Con. No lo se. Sen. Pues como el Duque, Que escucho vuestros intentos, Os convence en la traicion? Con. Porque asi lo quiso el cielo. Sen. Como hallado en vuestra mano Os culpa el vil instrumento? Con. Porque tengo poca dicha.-- Sen. Pues sabed, que si es desdicha Y no culpa, en tanto aprieto Os pone vuestra fortuna, Conde amigo, que supuesto Que no dais otro descargo, En fe de indicios tan ciertos, Manana vuestra cabeza Ha de pagar-- ----Fussnote Siebenundsechzigstes Stueck Den 22. Dezember 1767 Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet haette. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefaengnis hereintritt. Es ist die Koenigin. "Der Graf", sagt sie vor sich im Hereintreten, "hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafuer verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genuege geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!"[1] Indem sie naeher kommt, wird sie gewahr, dass der Graf schreibt. "Ohne Zweifel", sagt sie, "an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennuetzigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht!--Graf!" --Der Graf hoert sich rufen, sieht hinter sich und springt voller Erstaunen auf. "Was seh' ich!"--"Keinen Traum", faehrt die Koenigin fort, "sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu ueberzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren.--Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich hoere, dass Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben fuer Leben zu geben. Ich habe den Schluessel des Gefaengnisses zu bekommen gewusst. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park oeffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist."-- "Essex. Teuer? Ihnen, Madame? Die Koenigin. Wuerde ich sonst soviel gewagt haben, als ich wage? Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glueck selbst ungluecklich zu machen. Ich scheine gluecklich, weil die mich zu befreien koemmt, die meinen Tod will: aber ich bin um so viel ungluecklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet."[2]-- Die Koenigin verstehet hieraus genugsam, dass sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gaenzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen. "Die Koenigin. Und mit welcher? Essex. Mit der, Madame, von der ich weiss, dass sie in Ihrem Vermoegen steht,--mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Koenigin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich fuer Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwoere ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu Die Koenigin (vor sich). Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, dass er sich rechtfertiget! Das wuensche ich ja nur. Essex. Verzoegern Sie mein Glueck nicht, Madame. Die Koenigin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schluessel; von ihm haengt Ihr Leben ab. Was ich itzt fuer Sie tun darf, koennte ich hernach vielleicht nicht duerfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.[3] Essex (indem er den Schluessel nimmt). Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank.--Und nun, Madame,--ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Koenigin, oder dem Ihrigen zu lesen. Die Koenigin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehoert doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken, (indem sie die Maske abnimmt) ist der Koenigin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr. Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des koeniglichen Antlitzes, dass es jeden Schuldigen begnadigen muss, der es erblickt; und auch mir muesste diese Wohltat des Gesetzes zustatten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Koenigin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet--.[4] Die Koenigin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr Verbrechen, Graf, ist groesser als Ihre Dienste. Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Koenigin zu versprechen? Die Koenigin. Nichts. Essex. Wenn die Koenigin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl guetiger mit mir Die Koenigin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat Ihnen den Weg geoeffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen. Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir ihr Leben schuldig ist? Die Koenigin. Sie haben schon gehoert, dass ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt, ich waere es: gebe ich Ihnen nicht ebensoviel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe? Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, dass Sie mir den Schluessel Die Koenigin. Dadurch allerdings. Essex. Der Weg, den mir dieser Schluessel eroeffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muss nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Koenigin, mich mit diesem Schluessel fuer die Reiche, die ich ihr erfochten, fuer das Blut, das ich um sie vergossen, fuer das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schluessel fuer alles das abzulohnen?[5] Ich will mein Leben einem anstaendigem Mittel zu danken haben, oder sterben (indem er nach dem Fenster geht). Die Koenigin. Wo gehen Sie hin? Essex. Nichtwuerdiges Werkzeug meines Lebens und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! (Er eroeffnet das Fenster und wirft den Schluessel durch das Gitter in den Kanal.) Durch die Flucht waere mein Leben viel zu teuer erkauft.[6] Die Koenigin. Was haben Sie getan, Graf?--Sie haben sehr uebel getan. Essex. Wenn ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, dass ich eine undankbare Koenigin hinterlasse.--Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanstaendigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr, sie zu belohnen oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen. Die Koenigin. Ich muss das letztere Gefahr laufen.--Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Wuerde, fuer Sie nicht tun. Essex. So muss ich denn sterben? Die Koenigin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Koenigin muss dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen muessen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Koenige, dass sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln koennen, als andere. --Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!--" ----Fussnote el conde me dio la vida y asi obligada me veo; el conde me daba muerte, y asi ofendida me quejo. pues ya que con la sentencia esta parte he satisfecho, pues compli con la justicia, con el amor cumplir quiero.-- ingeniosa mi fortuna hallo en la dicha mas nuevo modo de hacerme infeliz, pues cuando dichoso veo, que me libra quien me mata, tambien desdichado advierto, que me mata quien me libra. pues si esto ha de ser, primero tomad, conde, aquesta llave, que si ha de ser instrumento de vuestra vida, quiza tan otra, quitando el velo, sere, que no pueda entonces hacer lo que ahora puedo, y como a daros la vida me empene por lo que os debo, por si no puedo despues, de esta suerte me prevengo. morire yo consolado. aunque si por privilegio en viendo la cara al rey queda perdonado el reo; yo de este indulto, senora vida por ley me prometo: esto es en comun, que es lo que a todos da el derecho; pero si en particular merecer el perdon quiero, oid, vereis que me ayuda mayor indulto en mis hechos. mis hazanas-- luego esta, que asi camino abrira a mi vida, abriendo, tambien lo abrira a mi infamia; luego esta, que instrumento de mi libertad, tambien lo habra de ser de mi miedo. esta, que solo me sirve de huir, es el desempeno de reinos, que os he ganado, de servicios, que os he hecho. y en fin, de esa vida, de esa, que teneis hoy por mi esfuerzo? en esta se cifra tanto?-- vil instrumento de mi vida, y de mi infamia, por esta reja cayendo del parque, que bate el rio, entre sus cristales quiero, si sois mi esperanza, hundiros; caed al humido centro, donde el tamasis sepulte mi esperanza, y mi remedio. ----Fussnote Achtundsechzigstes Stueck Den 25. Dezember 1767 Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der Stille: und beide, der Graf und die Koenigin, gehen ab; jedes von einer besondern Seite. Im Herausgehen, muss man sich einbilden, hat Essex Cosmen den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick darauf koemmt dieser damit herein und sagt, dass man seinen Herrn zum Tode fuehre; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es versprochen, uebergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine Neugierde. "Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung? die kaeme ein wenig zu spaet. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch wohl nicht. Nun was denn?" Er wird immer begieriger; zugleich faellt ihm ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet haette, dass er nicht gewusst, was in dem Briefe seines Herrn stuende. "Waere ich nicht", sagt er, "bei einem Haare zum Vertrauten darueber geworden? Hol' der Geier die Vertrautschaft! Nein, das muss mir nicht wieder begegnen!" Kurz, Cosme beschliesst den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natuerlich, dass ihn der Inhalt aeusserst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige und gefaehrliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu koennen; er zittert ueber den blossen Gedanken, dass man es in seinen Haenden finden koenne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der Koenigin zu bringen. Eben koemmt die Koenigin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler nur erst abfertigen lassen; und tritt beiseite. Die Koenigin erteilt dem Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon erfahren, bis der gekoepfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und Gehorsam zurufe.[1] Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen und, nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die Grossen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern und ihnen einzuschaerfen, dass ihre Koenigin ebenso strenge zu sein wisse, als sie gnaedig sein zu koennen wuensche: und das alles, wie sie der Dichter sagen laesst, nach Gebrauch und Sitte des Landes.[2] Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Koenigin an. "Diesen Brief", sagt er, "hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode der Blanca einzuhaendigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiss selbst nicht warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestaet wissen muessen, und die dem Grafen vielleicht noch zustatten kommen koennen: so bringe ich ihn Ihro Majestaet, und nicht der Blanca." Die Koenigin nimmt den Brief und lieset: "Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir nicht vergoennen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verraeter gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der bewussten Sache behilflich zu sein, bloss um der Koenigin desto nachdrueck- licher zu dienen und den Roberto, nebst seinen Anhaengern, nach London zu locken. Urteile, wie gross meine Liebe ist, da ich demohngeachtet eher selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung: stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich nun nicht mehr; und es moechte sich nicht alle Tage einer finden, der dich so sehr liebte, dass er den Tod des Verraeters fuer dich sterben wollte. "[3]-- "Mensch!" ruft die bestuerzte Koenigin, "was hast du mir da gebracht?" "Nun?" sagt Cosme, "bin ich noch ein Vertrauter?"--"Eile, fliehe, deinen Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten!--Holla, Wache! bringt ihn augenblicklich vor mich,--den Grafen,--geschwind!"--Und eben wird er gebracht: sein Leichnam naemlich. So gross die Freude war, welche die Koenigin auf einmal ueberstroemte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so gross sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und Blanca mag zittern!-- So schliesst sich dieses Stueck, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wuesste kein einziges, welches man uns uebersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilet haette. Denn die "Virginia" des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch geschrieben; aber kein spanisches Stueck. ein blosser Versuch in der korrekten Manier der Franzosen, regelmaessig, aber frostig. Ich bekenne sehr gern, dass ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich wohl ehedem muss gedacht haben.[4] Wenn das zweite Stueck des naemlichen Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation, welche ebendiesen Weg betreten wollen, ihn nicht gluecklicher betreten haben: so moegen sie mir es nicht uebelnehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen. Die echten spanischen Stuecke sind vollkommen nach der Art dieses "Essex". In allen einerlei Fehler, und einerlei Schoenheiten: mehr oder weniger; das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den Schoenheiten duerfte man mich fragen.--Eine ganze eigne Fabel; eine sehr sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Wuerde und Staerke im Ausdrucke.-- Das sind allerdings Schoenheiten: ich sage nicht, dass es die hoechsten sind; ich leugne nicht, dass sie zum Teil sehr leicht bis in das Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatuerliche koennen getrieben werden, dass sie bei den Spaniern von dieser Uebertreibung selten frei sind. Aber man nehme den meisten franzoesischen Stuecken ihre mechanische Regelmaessigkeit: und sage mir, ob ihnen andere, als Schoenheiten solcher Art, uebrig bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung und Theaterstreiche und Situationen? Anstaendigkeit: wird man sagen.--Nun ja; Anstaendigkeit. Alle ihre Verwicklungen sind anstaendiger, und einfoermiger; alle ihre Theaterstreiche anstaendiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen anstaendiger, und gezwungner. Das koemmt von der Anstaendigkeit! Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der poebelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so beruechtiget ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloss mit der Anstaendigkeit stritte,--man versteht schon, welche Anstaendigkeit ich meine;--wenn sie weiter keinen Fehler haette, als dass sie die Ehrfurcht beleidigte, welche die Grossen verlangen, dass sie der Lebensart, der Etikette, dem Zeremoniell und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die man den groessern Teil der Menschen bereden will, dass es einen kleinern gaebe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so wuerde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Gross, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiss, willkommner sein, als die kalte Einfoermigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heissen, unfehlbar einschlaefert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier in Betrachtung. ----Fussnote Hasta que el tronco cadaver Le sirva de muda lengua. Y asi al salon de palacio Hareis que llamados vengan Los Grandes y los Milordes, Y para que alli le vean, Debajo de una cortina Hareis poner la cabeza Con el sangriento cuchillo, Que amenaza junto a ella, Por simbolo de justicia, Costumbre de Inglaterra: Y en estando todos juntos, Monstrandome justiciera, Exhortandolos primero Con amor a la obediencia, Les mostrare luego al Conde, Para que todos atiendan, Que en mi hay rigor que los rinda, Si hay piedad que los atreva. Blanca, en el ultimo trance, Porque hablarte no me dejan, He de escribirte un consejo, Y tambien una advertencia; La advertencia es, que yo nunca Fui traidor, que la promesa De ayudar en lo que sabes, Fue por servir a la Reina, Cogiendo a Roberto en Londres, Y a los que seguirle intentan; Para aquesto fue la carta: Esto he querido que sepas, Porque adviertas el prodigio De mi amor, que asi se deja Morir, por guardar tu vida. Esta ha sido la advertencia: (Valgame dios!) el consejo Es, que desistas la empresa A que Roberto te incita. Mira que sin mi te quedas Y no ha de haber cada dia Quien, por mucho que te quiera, Por conservarte la vida Por traidor la suya pierda.-- [4] "Theatralische Bibliothek", erstes Stueck, S. 117. ----Fussnote Neunundsechzigstes Stueck Den 29. Dezember 1767 Lope de Vega, ob er schon als der Schoepfer des spanischen Theaters betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einfuehrte. Das Volk war bereits so daran gewoehnt, dass er ihn wider Willen mit anstimmen musste. In seinem Lehrgedichte ueber "die Kunst, neue Komoedien zu machen", dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darueber. Da er sahe, dass es nicht moeglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten fuer seine Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so muesse er doch seine Grundsaetze haben; und es sei besser, auch nur nach diesen mit einer bestaendigen Gleichfoermigkeit zu handeln, als nach gar keinen. Stuecke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, koennen doch noch immer Regeln beobachten und muessen dergleichen beobachten, wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem blossen Nationalgeschmacke hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des Ernsthaften und Laecherlichen die erste. "Auch Koenige", sagt er, "koennet ihr in euern Komoedien auftreten lassen. Ich hoere zwar, dass unser weiser Monarch (Philipp der Zweite) dieses nicht gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, dass es wider die Regeln laufe, oder weil er es der Wuerde eines Koeniges zuwider glaubte, so mit unter den Poebel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, dass dieses wieder zur aeltesten Komoedie zurueckkehren heisst, die selbst Goetter einfuehrte; wie unter andern in dem "Amphitruo" des Plautus zu sehen: und ich weiss gar wohl, dass Plutarch, wenn er von Menandern redet, die aelteste Komoedie nicht sehr lobt. Es faellt mir also freilich schwer, unsere Mode zu billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst entfernen: so muessen die Gelehrten schon auch hierueber schweigen. Es ist wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefaellt nun einmal; man will nun einmal keine andere Stuecke sehen, als die halb ernsthaft und halb lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der sie einen Teil ihrer Schoenheit entlehnet."[1] Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anfuehre. Ist es wahr, dass uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloss die Fehler seiner Buehne beschoeniget; er hat eigentlich erwiesen, dass wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist. "Man tadelt", sagt einer von unsern neuesten Skribenten, "an Shakespeare --demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Koenige bis zum Bettler, und von Julius Caesar bis zu Jack Fa1staff am besten gekannt und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat--dass seine Stuecke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmaessigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; dass Komisches und Tragisches darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist und oft ebendieselbe Person, die uns durch die ruehrende Sprache der Natur Traenen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgendeinen seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkuehlt, dass es ihm hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben moechte.--Man tadelt das und denkt nicht daran, dass seine Stuecke eben darin natuerliche Abbildungen des menschlichen Lebens sind." "Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen duerfen) der Lebenslauf der grossen Staatskoerper selbst, insofern wir sie als ebensoviel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und Staatsaktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, dass man beinahe auf die Gedanken kommen moechte, die Erfinder dieser Letztern waeren klueger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und haetten, wofern sie nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben laecherlich zu machen, wenigstens die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein liessen, sie zu verschoenern. Um itzt nichts von der zufaelligen Aehnlichkeit zu sagen, dass in diesen Stuecken, sowie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten Akteurs gespielt werden,--was kann aehnlicher sein, als es beide Arten der Haupt-und Staatsaktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen? Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft ueberraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten, ohne dass sich begreifen laesst, warum sie kamen, oder warum sie wieder verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall ueberlassen? Wie oft sehen wir die groessesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit laecherlicher Gravitaet behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so klaeglich verworren und durcheinander geschlungen ist, dass man an der Moeglichkeit der Entwicklung zu verzweifeln anfaengt: wie gluecklich sehen wir durch irgendeinen unter Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgeloeset, aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, dass auf die eine oder die andere Art das Stueck ein Ende hat und die Zuschauer klatschen oder zischen koennen, wie sie wollen oder--duerfen. Uebrigens weiss man, was fuer eine wichtige Person in den komischen Tragoedien, wovon wir reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt des deutschen Reiches, erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, dass er seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wieviel grosse Aufzuege auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit Hanswurst--oder, welches noch ein wenig aerger ist, durch Hanswurst --auffuehren gesehen? Wie oft haben die groessesten Maenner, dazu geboren, die schuetzenden Genii eines Throns, die Wohltaeter ganzer Voelker und Zeitalter zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von Hanswurst oder solchen Leuten vereitelt sehen muessen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen, doch gewiss seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragikomoedien die Verwicklung selbst lediglich daher, dass Hanswurst durch irgendein dummes und schelmisches Stueckchen von seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh' sie sich's versehen koennen, ihr Spiel verderbt?"-- Wenn in dieser Vergleichung des grossen und kleinen, des urspruenglichen und nachgebildeten heroischen Possenspiels--(die ich mit Vergnuegen aus einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten unsers Jahrhunderts gehoert, aber fuer das deutsche Publikum noch viel zu frueh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England wuerde es das aeusserste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers wuerde auf aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere Grossen lernen vors erste an den kauen; und freilich ist der Saft aus einem franzoesischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiss schaerfer und ihr Magen staerker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal ueber den "Agathon"[2]. Dieses ist das Werk, von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich es bewundere: da ich mit der aeussersten Befremdung wahrnehme, welches tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darueber beobachten, oder in welchem kalten und gleichgueltigen Tone sie davon sprechen. Es ist der erste und einzige Roman fuer den denkenden Kopf, von klassischem Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, dass es einige Leser mehr dadurch bekoemmt. Die wenigen, die es darueber verlieren moechte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.) ----Fussnote Eligese el sujeto, y no se mire, (Perdonen los preceptos) si es de Reyes, Aunque por esto entiendo, que el prudente, Filipo Rey de Espana, y Senor nuestro, En viendo un Rey en ellos se enfadaba, O fuese el ver, que al arte contradice, O que la autoridad real no debe Andar fingida entre la humilde plebe, Esto es volver a la Comedia antigua, Donde vemos que Plauto puso Dioses, Como en su Anfitrion lo muestra Jupiter. Sabe Dios, que me pesa de aprobarlo, Porque Plutarco hablando de Menandro, No siente bien de la Comedia antigua, Mas pues del arte vamos tan remotos, Y en Espana le hacemos mil agravios, Cierren los Doctos esta vez los labios. Lo Tragico, y lo Comico mezclado, Y Terencio con Seneca, aunque sea, Como otro Minotauro de Pasife, Haran grave una parte, otra ridicula, Que aquesta variedad deleita mucho, Buen ejemplo nos da naturaleza, Que por tal variedad tiene belleza. [2] Zweiter Teil (S. 192). ----Fussnote Siebzigstes Stueck Den 1. Januar 1768 Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satirische Laune nicht zu sehr vorstaeche: so wuerde man sie fuer die beste Schutzschrift des komisch- tragischen, oder tragisch-komischen Drama (Mischspiel habe ich es einmal auf irgendeinem Titel genannt gefunden), fuer die geflissentlichste Ausfuehrung des Gedankens beim Lope halten duerfen. Aber zugleich wuerde sie auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie wuerde zeigen, dass eben das Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, ebensogut jedes dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschen- verstand hat, rechtfertigen koenne. Die Nachahmung der Natur muesste folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, wuerde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhoeren; wenigstens keine hoehere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, dass er nicht natuerlich scheinen koennte; bloss und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmass und Verhaeltnis, zu viel von dem zeiget, was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der kuenstlichste in diesem Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste. Als Kritikus duerfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so sinnreich aufstuetzen zu wollen scheinet, wuerde er ohne Zweifel als eine Missgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die ersten Versuche der unter ungeschlachteten Voelkern wieder auflebenden Kunst vorstellen, an deren Form irgendein Zusammenfluss gewisser aeusserlichen Ursachen oder das Ohngefaehr den meisten, Vernunft und Ueberlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte. Er wuerde schwerlich sagen, dass die ersten Erfinder des Mischspiels (da das Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) "die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie zu verschoenern". Die Worte getreu und verschoenert, von der Nachahmung und der Natur, als dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Missdeutungen unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche man zu getreu nachahmen koenne; selbst was uns in der Natur missfalle, gefalle in der getreuen Nachahmung, vermoege der Nachahmung. Es gibt andere, welche die Verschoenerung der Natur fuer eine Grille halten; eine Natur, die schoener sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur. Beide erklaeren sich fuer Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also muesste notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Muehe haben wuerden, an den Meisterstuecken der Alten Geschmack zu finden. Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so grosse Bewunderer sie auch von der gemeinsten und alltaeglichsten Natur sind, sich dennoch wider die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklaerten? Wann diese, so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schoener sein will als die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten Anstoss von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen Widerspruch erklaeren? Wir wuerden notwendig zurueckkommen und das, was wir von beiden Gattungen erst behauptet, widerrufen muessen. Aber wie muessten wir widerrufen, ohne uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen Haupt-und Staatsaktion, ueber deren Guete wir streiten, mit dem menschlichen Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig! Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gruendlich genug sind, doch gruendlichere veranlassen koennen.--Der Hauptgedanke ist dieser: Es ist wahr, und auch nicht wahr, dass die komische Tragoedie, gotischer Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Haelfte getreu nach und vernachlaessiget die andere Haelfte gaenzlich; sie ahmet die Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer Empfindungen und Seelenkraefte dabei zu achten. In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles veraendert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel fuer einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mussten diese das Vermoegen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermoegen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutduenken lenken zu koennen. Dieses Vermoegen ueben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe wuerde es fuer uns gar kein Leben geben; wir wuerden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir wuerden ein bestaendiger Raub des gegenwaertigen Eindruckes sein; wir wuerden traeumen, ohne zu wissen, was wir traeumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schoenen dieser Absonderung zu ueberheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschiedener Gegenstaende, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu koennen wuenschen, sondert sie wirklich ab und gewaehrt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstaende, so lauter und buendig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet. Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und ruehrenden Begebenheit sind, und eine andere von nichtigem Belange laeuft quer ein: so suchen wir der Zerstreuung, die diese uns drohet, moeglichst auszuweichen. Wir abstrahieren von ihr; und es muss uns notwendig ekeln, in der Kunst das wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwuenschten. Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen des Interesse annimmt, und eine nicht bloss auf die andere folgt, sondern so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, dass uns die Abstraktion des einen oder des andern unmoeglich faellt: nur alsdenn verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiss aus dieser Unmoeglichkeit selbst Vorteil zu ziehen.-- Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.-- Den fuenfundvierzigsten Abend (freitags, den 17. Julius) wurden "Die Brueder" des Herrn Romanus, und "Das Orakel" vom Saint-Foix gespielt. Das erstere Stueck kann fuer ein deutsches Original gelten, ob es schon groesstenteils aus den "Bruedern" des Terenz genommen ist. Man hat gesagt, dass auch Moliere aus dieser Quelle geschoepft habe; und zwar seine "Maennerschule". Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen ueber dieses Vorgeben: und ich fuehre Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er haette sagen sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere (wo dieses Spruechelchen steht, will mir nicht gleich beifallen); und ich wuesste keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen koennte, ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von Voltaire: aber daher auch keinen, der uns, die zweite zu ersteigen, weniger behilflich sein koennte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer Schriftsteller, duenkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach diesem Spruechelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so koemmt er nach und nach in die Materie, und das uebrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die franzoesischen Skribenten vornehmlich erwaehlet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan mehr mutwillig, als gruendlich scheinen wollte: der soll wissen, dass selbst der gruendliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat. Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere et casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum opinionibus, usw. O des Pedanten! wuerde der Herr von Voltaire rufen. --Ich bin es bloss aus Misstrauen in mich selbst. "'Die Brueder' des Terenz", sagt der Herr von Voltaire, "koennen hoechstens die Idee zu der Maennerschule, gegeben haben. In den 'Bruedern' sind zwei Alte von verschiedner Gemuetsart, die ihre Soehne ganz verschieden erziehen; ebenso sind in der 'Maennerschule' zwei Vormuender, ein sehr strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Aehnlichkeit. In den 'Bruedern' ist fast ganz und gar keine Intrige: die Intrige in der 'Maennerschule' hingegen ist fein und unterhaltend und komisch. Eine von den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle spielen muesste, erscheinet bloss auf dem Theater, um niederzukommen. Die Isabelle des Moliere ist fast immer auf der Szene und zeigt sich immer witzig und reizend und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung In den 'Bruedern' ist ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, dass ein Alter, der sechzig Jahre aergerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und hoeflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der 'Maennerschule' aber ist die beste von allen Entwicklungen des Moliere; wahrscheinlich, natuerlich, aus der Intrige selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht das Schlechteste daran ist, aeusserst komisch." Einundsiebzigstes Stueck Den 5. Januar 1768 Es scheinet nicht, dass der Herr von Voltaire, seitdem er aus der Klasse bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur noch sowas davon im Gedaechtnisse; und das schreibt er auf gut Glueck so hin, unbekuemmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht aufmutzen, was er von der Pamphila des Stuecks sagt, "dass sie bloss auf dem Theater erscheine, um niederzukommen". Sie erscheinet gar nicht auf dem Theater; sie kommt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloss ihre Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle spielen muesste, das laesst sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und Roemern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes Maedchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen und Gefahr laeuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem sehr ungeschickt.-- Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der muerrische strenge Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal voellig veraendern. Das ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus usw. Was geht mich Donatus an? duerfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche nur glauben duerfen, dass Donatus den Terenz fleissiger gelesen und besser verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stuecke die Rede; es ist noch da; man lese selbst. Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu besaenftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines Aergernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber morgen, bei frueher Tageszeit, muss der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen, wo er es heute gelassen hat; die Saengerin, die diesem der Vetter gekauft, will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen, sie soll kochen und backen. In der darauffolgenden vierten Szene des fuenften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte nur so obenhin nimmt, als ob er voellig von seiner alten Denkungsart abgehen und nach den Grundsaetzen des Micio zu handeln anfangen wolle.[1] Doch die Folge zeigt es, dass man alles das nur von dem heutigen Zwange, den er sich antun soll, verstehen muss. Denn auch diesen Zwang weiss er hernach so zu nutzen, dass er zu der foermlichsten haemischsten Verspottung seines gefaelligen Bruders ausschlaegt. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwuerfe; er wird nicht freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er Verschwenden nennt, laecherlich zu machen. Dieses erhellet unwider- sprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den Anschein betriegen laesst, und ihn wirklich veraendert glaubt.[2] Hic ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores, quam mutavisse. Ich will aber nicht hoffen, dass der Herr von Voltaire meinet, selbst diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts als geschmaelt und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere mehr Gelassenheit und Kaelte, als man dem Demea zutrauen duerfe. Auch hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet, bei dem geringsten Uebergange so feine Schattierungen in acht genommen, dass man nicht aufhoeren kann, ihn zu bewundern. Nur ist oefters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe sehr noetig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen Kuenstler, und in dem uebrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschaefte ein sehr ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre Stuecke ueberhaupt nicht eher bekannt werden liessen, als bis sie gespielt waren, als bis man sie gesehen und gehoert hatte: so konnten sie es um so mehr ueberhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermassen mit unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber einbildet, dass die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen, in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebaerde, jede Miene, jede besondere Abaenderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzaehlige Stellen vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene ausdruecken muss. Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesaenderung des Demea vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anfuehren will, weil auf ihnen gewissermassen die Missdeutung beruhet, die ich bestreite. Demea weiss nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, dass es sein ehrbarer frommer Sohn ist, fuer den die Saengerin entfuehret worden, und stuerzt mit dem unbaendigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und der Erde und dem Meere; und eben bekommt er den Micio zu Gesicht. "Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt meine Soehne, mir sie beide zugrunde richtet! Micio. Oh, so maessige dich, und komm wieder Demea. Gut, ich maessige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes Wort entfahren. Lass uns bloss bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte, dass sich ein jeder nur um den seinen bekuemmern sollte? Antworte."[3] usw. Wer sich hier nur an die Worte haelt und kein so richtiger Beobachter ist, als es der Dichter war, kann leicht glauben, dass Demea viel zu geschwind austobe, viel zu geschwind diesen gelassenem Ton anstimme. Nach einiger Ueberlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, dass jeder Affekt, wenn er aufs aeusserste gekommen, notwendig wieder sinken muesse; dass Demea, auf den Verweis seines Bruders, sich des ungestuemen Jachzorns nicht anders als schaemen koenne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der Zornige ganz offenbar recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, dass sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Ueberzeugung zu demuetigen. Doch da er ueber die Wallungen seines kochenden Gebluets nicht so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der ueberfuehren will, doch noch immer Zorn bleibt, so macht Donatus die zweite Anmerkung: Non quid dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagte zwar: "Ich maessige mich, ich bin wieder bei mir": aber Gesicht und Gebaerde und Stimme verraten genugsam, dass er sich noch nicht gemaessiget hat, dass er noch nicht wieder bei sich ist. Er bestuermt den Micio mit einer Frage ueber die andere, und Micio hat alle seine Kaelte und gute Laune noetig, um nur zum Worte zu kommen. ----Fussnote --Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc, Prope jam excurso spatio mitto-- Mi. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos? Quod prolubium, quae istaec subita est largitas? De. Dicam tibi: Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant, Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono, Sed ex assentando, indulgendo et largiendo, Micio. Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine, Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor; Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet! --De. Eccum adest Communis corruptela nostrum liberum. Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi. De. Repressi, redii, mitto maledicta omnia: Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit, Et ex te adeo est ortum, ne te curares meum, Neve ego tuum? responde!-- ----Fussnote Zweiundsiebzigstes Stueck Den 8. Januar 1768 Als er endlich dazukommt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im geringsten nicht ueberzeugt. Aller Vorwand, ueber die Lebensart seiner Kinder unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch faengt er wieder von vorne an, zu nergeln. Micio muss auch nur abbrechen und sich begnuegen, dass ihm die muerrische Laune, die er nicht aendern kann, wenigstens auf heute Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen laesst, sind meisterhaft.[1] "Demea. Nun gib nur acht, Micio, wie wir mit diesen schoenen Grundsaetzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht am Ende fahren werden. Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest.--Und nun genug davon! Heute schenke dich mir. Komm, klaere dich auf. Demea. Mag's doch nur heute sein! Was ich muss, das muss ich.--Aber morgen, sobald es Tag wird, geh' ich wieder aufs Dorf, und der Bursche Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; daechte ich. Sei nur heute Demea. Auch das Mensch von einer Saengerin muss mit heraus. Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiss nicht weg wuenschen. Nur halte sie auch gut. Demea. Da lass mich vor sorgen! Sie soll in der Muehle und vor dem Ofenloche Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu soll sie mir am heissen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so schwarz geworden, als ein Loeschbrand. Micio. Das gefaellt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege!--Und alsdenn, wenn ich wie du waere, muesste mir der Sohn bei ihr schlafen, er moechte wollen oder nicht. Demea. Lachst du mich aus?--Bei so einer Gemuetsart freilich kannst du wohl gluecklich sein. Ich fuehl' es, leider-- Micio. Du faengst doch wieder an? Demea. Nu, nu; ich hoere ja auch schon wieder auf." Bei dem "Lachst du mich aus?" des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller Ernst es war, dass er die Saengerin nicht als Saengerin, sondern als eine gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muss ueber den Einfall des Micio lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: "Lachst du mich aus?" und muss sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeissen. Er verbeisst es auch bald, denn das "Ich fuehl' es leider" sagt er wieder in einem aergerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch ist: so grosse Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann. Je seltner ihm diese wohltaetige Erschuetterung ist, desto laenger haelt sie innerlich an; nachdem er laengst alle Spur derselben auf seinem Gesichte vertilgt, dauert sie noch fort, ohne dass er es selbst weiss, und hat auf sein naechstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluss.-- Aber wer haette wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht? Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken. Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns gekommen, verdient daher nicht bloss wegen der Sprache studiert zu werden. Nur muss man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Dass aber dieser Donatus (Aelius) so vorzueglich reich an Bemerkungen ist, die unsern Geschmack bilden koennen, dass er die verstecktesten Schoenheiten seines Autors mehr als irgendein anderer zu enthuellen weiss: das koemmt vielleicht weniger von seinen groessern Gaben, als von der Beschaffenheit seines Autors selbst. Das roemische Theater war, zur Zeit des Donatus, noch nicht gaenzlich verfallen; die Stuecke des Terenz wurden noch gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Ueberlieferungen gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des roemischen Geschmacks herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hoerte; er brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu machen, dass ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst schwerlich duerfte ausgegruebelt haben. Ich wuesste daher auch kein Werk, aus welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen koennte, als diesen Kommentar des Donatus ueber den Terenz: und bis das Latein unter unsern Schauspielern ueblicher wird, wuenschte ich sehr, dass man ihnen eine gute Uebersetzung davon in die Haende geben wollte. Es versteht sich, dass der Dichter dabei sein und aus dem Kommentar alles wegbleiben muesste, was die blosse Worterklaerung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Uebersetzung des Textes ist waessrig und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr gaenzlich;[2] und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die Dacier zu brauchen fuer gut befunden. Es waere also keine getane Arbeit, was ich vorschlage: aber wer soll sie tun? Die nichts Bessers tun koennten, koennen auch dieses nicht: und die etwas Bessers tun koennten, werden sich bedanken. Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen--es ist doch sonderbar, dass auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, dass am Ende mit dem Charakter des Demea eine gaenzliche Veraenderung vorgehe; wenigstens laesst er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. "Je, Kinder", laesst er ihn rufen, "schweigt doch! Ihr ueberhaeuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn, Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloss weil ich einmal ein bisschen freundlich aussehe. Bin ich's denn, oder bin ich's nicht? Ich werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch huebsch, wenn man geliebt wird. Ich will auch gewiss so bleiben. Ich wuesste nicht, wenn ich so eine vergnuegte Stunde gehabt haette." Und Frontin sagt: "Nun, unser Alter stirbt gewiss bald.[3] Die Veraenderung ist gar zu ploetzlich." Jawohl; aber das Sprichwort und der gemeine Glaube von den unvermuteten Veraenderungen, die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier etwas rechtfertigen? ----Fussnote --De. Ne nimium modo Bonae tuae istae nos rationes, Micio, Et tuus iste animus aequus subvertat. Mi. Tace; Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi: Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert, Faciendum est: ceterum rus cras cum filio Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte censeo: Hodie modo hilarum fac te. De. Et istam psaltriam Una illuc mecum hinc abstraham. Mi. Pugnaveris. Eo pacto prorsum illic alligaris filium. Modo facito, ut illam serves. De. Ego istuc videro, Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis, Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec Meridie ipso faciam ut stipulam colligat: Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est. Mi. Placet, Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium, Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet. De. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies: Ego sentio. Mi. Ah pergisne? De. Jam jam desino. Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir, die Stelle daraus anzufuehren, die ich eben itzt uebersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen, ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch ungefaehr daraus sehen koennen, worin das Verdienst besteht, das ich dieser Uebersetzung absprechen muss. "Demea. Aber mein lieber Bruder, dass uns nur nicht deine schoenen Gruende, und dein gleichgueltiges Gemuete sie ganz und gar ins Verderben Micio. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Lass das immer sein. Ueberlass dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von Demea. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muss es wohl tun. Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land. Micio. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder gehn wil1st; sei doch heute nur einmal froehlich! Demea. Die Saengerin will ich zugleich mit herausschleppen. Micio. Da tust du wohl; dadurch wirst du machen, dass dein Sohn ohne sie nicht wird leben koennen. Aber sorge auch, dass du sie gut Demea. Dafuer werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch, Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Ausserdem soll sie mir in der groessten Mittagshitze gehen und Aehren lesen, und dann will ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, ueberliefern. Micio. Das gefaellt mir; nun seh' ich recht ein, dass du weislich hande1st; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, dass er sie mit zu Bette nimmt. Demea. Lachst du mich etwa aus? Du bist gluecklich, dass du ein solches Gemuet hast; aber ich fuehle. Micio. Ach! haeltst du noch nicht inne? Demea. Ich schweige schon." So soll es ohne Zweifel heissen, und nicht: stirbt ohnmoeglich bald. Fuer viele von unsern Schauspielern ist es noetig, auch solche Druckfehler anzumerken. ----Fussnote Dreiundsiebzigstes Stueck Den 12. Januar 1768 Die Schlussrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone. "Wenn euch nur das gefaellt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekuemmern!" Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise kuenftig zu bequemen versprechen.--Aber wie koemmt es, duerfte man fragen, dass die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen "Bruedern" bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der bestaendige Rueckfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch: aber bei diesem haette es auch bleiben muessen.--Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stuecks. "Das Orakel" vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluss machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt. Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward "Miss Sara"[1], und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, "Nanine"[2] wiederholt. Auf die "Nanine" folgte "Der unvermutete Ausgang" vom Marivaux, in einem Akte. Oder, wie es woertlicher und besser heissen wuerde: "Die unvermutete Entwicklung". Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, dass es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen moechte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser koemmt; aber zum Gluecke ist es ein so schoener liebenswuerdiger Mann, dass sie gar bald ihre Verstellung vergisst und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stuecke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so muehsam geschuerzt hat, in einer einzigen nicht zu loesen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekuendiget, und durch diese Ankuendigung gewissermassen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden koennen? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komoedie so aehnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komoedie sein?--Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komoedien nennet, findet man in der Komoedie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf kaeme es doch eigentlich an. Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht voellig. Der Ausgang ist, dass Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlaenglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterlaeunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es koemmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so koemmt er ihr liebenswuerdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stossen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als dass Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Dass sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, dass es vielmehr sehr unerwartet sein wuerde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekuemmern, in der er einen Teil seiner Personen laesst. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das Trauerspiel des Herrn Weisse "Richard der Dritte" aufgefuehrt: zum Beschlusse "Herzog Michel". Dieses Stueck ist ohnstreitig eines von unsern betraechtlichsten Originalen; reich an grossen Schoenheiten, die genugsam zeigen, dass, die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht ueber die Kraefte des Dichters gewesen waere, wenn er sich diese Kraefte nur selbst haette zutrauen wollen. Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Buehne gebracht: aber Herr Weisse erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also", sagt er, "bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, dass ich kein Plagium begangen habe;--aber vielleicht waere es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen." Vorausgesetzt, dass man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das laesst sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schoenheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der fremden Schoenheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen! Shakespeare will studiert, nicht gepluendert sein. Haben wir Genie, so muss uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist: er sehe fleissig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Faellen auf eine Flaeche projektieret; aber er borge nichts daraus. Ich wuesste auch wirklich in dem ganzen Stuecke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weisse so haette brauchen koennen, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den grossen Massen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhaelt sich zu der Tragoedie franzoesischen Geschmacks ungefaehr wie ein weitlaeuftiges Freskogemaelde gegen ein Miniaturbildchen fuer einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, hoechstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausfuehren muss? Ebenso wuerden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzuege werden muessen. Denn wenn man den Aermel aus dem Kleide eines Riesen fuer einen Zwerg recht nutzen will, so muss man ihm nicht wieder einen Aermel, sondern einen ganzen Rock daraus machen. Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, dass ein Goldkorn so kuenstlich kann getrieben sein, dass der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem uebersteiget. Ich fuer mein Teil bedauere es also wirklich, dass unserm Dichter Shakespeares Richard so spaet beigefallen. Er haette ihn koennen gekannt haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er haette ihn koennen genutzt haben, ohne dass eine einzige uebergetragene Gedanke davon gezeugt haette. Waere mir indes eben das begegnet, so wuerde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen nicht vermoegend gewesen waere.--Aber woher weiss ich, dass Herr Weisse dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben? Kann es nicht ebenso wohl sein, dass er das, was ich fuer dergleichen Flecken halte, fuer keine haelt? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er mehr recht hat, als ich? Ich bin ueberzeugt, dass das Auge des Kuenstlers groesstenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwuerfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie waehrend der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben. Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hoeren: denn er hat es gern, dass man ueber sein Werk urteilet; schal oder gruendlich, links oder rechts, gutartig oder haemisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, haemischste Urteil ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was faengt er mit dieser an? Verachten moechte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn fuer so etwas Ausserordentliches halten: und doch muss er die Achseln ueber sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz moechte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen.-- Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will.-- Wenigstens nicht bei dem Verfasser,--hoechstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiss nicht, wo ich es juengst gedruckt lesen musste, dass ich die "Amalia" meines Freundes auf Unkosten seiner uebrigen Lustspiele gelobt haette.[3]--Auf Unkosten? aber doch wenigstens der fruehern? Ich goenne es Ihnen, mein Herr, dass man niemals Ihre aeltern Werke so moege tadeln koennen. Der Himmel bewahre Sie vor dem tueckischen Lobe: dass Ihr letztes immer Ihr bestes ist!-- ----Fussnote [1] S. den 11. Abend. [2] S. den 27. und 33. und 37. Abend. [3] Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids "Zusaetzen zu seiner Theorie der Poesie", S. 45. ----Fussnote Vierundsiebzigstes Stueck Den 15. Januar 1768 Zur Sache.--Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worueber ich mir die Erklaerung des Dichters wuenschte. Aristoteles wuerde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gruenden zu werden wuesste. Die Tragoedie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus folgert er, dass der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein voelliger Boesewicht sein muesse. Denn weder mit des einen noch mit des andern Ungluecke lasse sich jener Zweck erreichen. Raeume ich dieses ein: so ist "Richard der Dritte" eine Tragoedie, die ihres Zweckes verfehlt. Raeume ich es nicht ein: so weiss ich gar nicht mehr, was eine Tragoedie ist. Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weisse geschildert hat, ist unstreitig das groesste, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Buehne getragen. Ich sage, die Buehne: dass es die Erde wirklich getragen habe, daran zweifle ich. Was fuer Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenstaenden unsers Mitleids gemacht hat. Aber Schrecken?--Sollte dieser Boesewicht, der die Kluft, die sich zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefuellet, mit Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt haetten sein muessen; sollte dieser blutduerstige, seines Blutdurstes sich ruehmende, ueber seine Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Masse erwecken? Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen ueber unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen ueber Bosheiten, die unsern Begriff uebersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns bei Erblickung vorsaetzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden, ueberfaellt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes Teil empfinden lassen. Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels, dass es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn ihre Personen irgendein grosses Verbrechen begehen mussten. Sie schoben oefters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber zu einem Verhaengnisse einer raechenden Gottheit, verwandelten lieber den freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der graesslichen Idee wollten verweilen lassen, dass der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis Bei den Franzosen fuehrt Crebillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich fuerchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragoedie nicht sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der Tragoedie rechnet. Und dieses--haette man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort, welches Aristoteles braucht, heisst Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragoedie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine ploetzliche, ueberraschende Furcht. Aber eben dieses Ploetzliche, dieses Ueberraschende, welches die Idee desselben einschliesst, zeiget deutlich, dass die, von welchen sich hier die Einfuehrung des Wortes "Schrecken", anstatt des Wortes "Furcht" herschreibet, nicht eingesehen haben, was fuer eine Furcht Aristoteles meine.--Ich moechte dieses Weges sobald nicht wieder kommen: man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif. "Das Mitleid", sagt Aristoteles, "verlangt einen, der unverdient leidet: und die Furcht einen unsersgleichen. Der Boesewicht ist weder dieses noch jenes: folglich kann auch sein Unglueck weder das erste noch das andere erregen."[1] Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Uebersetzer Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem Philosophen die seltsamsten Haendel von der Welt zu machen. "Man hat sich", sagt einer aus der Menge,[2] "ueber die Erklaerung des Schreckens nicht vereinigen koennen; und in der Tat enthaelt sie in jeder Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert und sie allzusehr einschraenkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz 'unsersgleichen' nur bloss die Aehnlichkeit der Menschheit verstanden hat, weil naemlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind, gesetzt auch, dass sich unter ihrem Charakter, ihrer Wuerde und ihrem Range ein unendlicher Abstand befaende: so war dieser Zusatz ueberfluessig; denn er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, dass nur tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich haetten, Schrecken erregen koennten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt ohnstreitig aus einem Gefuehl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist ihm unterworfen, und jeder Mensch erschuettert sich, vermoege dieses Gefuehls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl moeglich, dass irgend jemand einfallen koennte, dieses von sich zu leugnen: allein dieses wuerde allemal eine Verleugnung seiner natuerlichen Empfindungen, und also eine blosse Prahlerei aus verderbten Grundsaetzen, und kein Einwurf sein.--Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall zustoesst, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen bloss den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes ueberhaupt macht uns traurig, und die ploetzliche traurige Empfindung, die wir sodann haben, ist das Schrecken." Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht, wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglueck unsersgleichen setzen koenne. Dieses Schrecken, welches uns bei der ploetzlichen Erblickung eines Leidens befaellt, das einem andern bevorstehet, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen. Aristoteles wuerde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der Furcht weiter nichts als eine blosse Modifikation des Mitleids verstuende. "Das Mitleid", sagt der Verfasser der Briefe ueber die Empfindungen,[3] "ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust ueber dessen Unglueck zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man aendre nur in dem bedauerten Unglueck die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die ueber die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie haelt das Unglueck fuer geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fuehlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwaertig und ueberfaellt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das grosse Geheimnis sich ploetzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersuechtigen Mithridates sich entfaerben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fuerchtet, da sie ihren sonst zaertlichen Othello so drohend mit ihr reden hoeret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Faellen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so muessen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdruecklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und ueberhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen koennen?--Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der groesste Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Fuer wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiss nicht fuer sich, sondern fuer den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wuenschet, und fuer die betrogne Koenigin, die ihn fuer den Moerder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust ueber das gegenwaertige Uebel eines andern Mitleiden nennen: so muessen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle uebrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."-- ----Fussnote [1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst". [2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35. [3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter ----Fussnote Fuenfundsiebzigstes Stueck Den 19. Januar 1768 Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, dass uns duenkt, ein jeder haette sie haben koennen und haben muessen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im ganzen ungefaehr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, dass Aristoteles entweder muss geglaubt haben, die Tragoedie koenne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust ueber das gegenwaertige Uebel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften ueberhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen. Denn er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch uebersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines andern, fuer diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Aehnlichkeit mit der leidenden Person fuer uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Ungluecksfaelle, die wir ueber diese verhaengst sehen, uns selbst treffen koennen; es ist die Furcht, dass wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden koennen. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. Aristoteles will ueberall aus sich selbst erklaert werden. Wer uns einen neuen Kommentar ueber seine "Dichtkunst" liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich laesst, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschluesse fuer die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muss er die Buecher der "Rhetorik" und "Moral" studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschluesse muessten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wussten, laengst gefunden haben. Doch die "Dichtkunst" war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekuemmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschluesse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstuecke desselben nicht. Die authentische Erklaerung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifueget, findet sich in dem fuenften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner "Rhetorik". Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen laesst. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, dass diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, haetten noch ein wichtiges Stueck aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache naemlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich moechte wohl hoeren, was sie aus ihrem Kopfe antworten wuerden, wenn man sie fragte: warum z.E. die Tragoedie nicht ebensowohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen koenne und duerfe? Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte naemlich, dass das Uebel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein muesse, dass wir es auch fuer uns selbst, oder fuer eines von den Unsrigen, zu befuerchten haetten. Wo diese Furcht nicht sei, koenne auch kein Mitleiden stattfinden. Denn weder der, den das Unglueck so tief herabgedrueckt habe, dass er weiter nichts fuer sich zu fuerchten saehe, noch der, welcher sich so vollkommen gluecklich glaube, dass er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglueck zustossen koenne, weder der Verzweifelnde noch der Uebermuetige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erklaeret daher auch das Fuerchterliche und das Mitleidswuerdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fuerchterlich, was, wenn es einem andern begegnet waere, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken wuerde:[1] und alles das finden wir mitleidswuerdig, was wir fuerchten wuerden, wenn es uns selbst bevorstuende. Nicht genug also, dass der Unglueckliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglueck nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen: seine gequaelte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei fuer uns verloren, sei nicht vermoegend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Moeglichkeit saehen, dass uns sein Leiden auch treffen koenne. Diese Moeglichkeit aber finde sich alsdenn und koenne zu einer grossen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umstaenden wuerden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, dass wir haetten denken und handeln muessen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, dass unser Schicksal gar leicht dem seinigen ebenso aehnlich werden koenne, als wir ihm zu sein uns selbst fuehlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe. So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklaerung der Tragoedie, naechst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhaengige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden koenne; welches die Missdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklaerung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschliesst; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann. Corneille hatte seine Stuecke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, ueber die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren[2]. Er hatte funfzig Jahre fuer das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung wuerde er uns unstreitig vortreffliche Dinge ueber den alten dramatischen Kodex haben sagen koennen, wenn er ihn nur auch waehrend der Zeit seiner Arbeit fleissiger zu Rate gezogen haette. Allein dieses scheinet er hoechstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst getan zu haben. In den wesentlichem liess er sich um ihn unbekuemmert, und als er am Ende fand, dass er wider ihn verstossen, gleichwohl nicht wider ihn verstossen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und liess seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte. Corneille hatte Maertyrer auf die Buehne gebracht und sie als die vollkommensten und untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgefuehrt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, dass sie zur Tragoedie unschicklich waeren, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken koennten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie faengt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden moege? "Oh", sagte er, "mit dem Aristoteles koennen wir uns hier leicht vergleichen.[3] Wir duerfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, dass beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, noetig waeren, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragoedie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend.--Wir koennen diese Erklaerung", faehrt er fort, "aus ihm selbst bekraeftigen, wenn wir die Gruende recht erwaegen, welche er von der Ausschliessung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen missbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragoedie nicht, weil es bloss Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unertraeglich, weil es bloss die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, dass sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und dass er ihnen seinen Beifall nicht versagen wuerde, wenn sie nur eines von beiden wirkten." ----Fussnote [1] [Greek: Os d' aplos eipein, phobera estin, osa eph' eteron gignomena, ae mellonta, eleeina estin.] Ich weiss nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu uebersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muss schlechtweg heissen: quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt. [2] Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scene, sagt er in seiner Abhandlung ueber das Drama. Sein erstes Stueck "Melite" war von 1625, und sein letztes "Surena" von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, so dass es gewiss ist, dass er bei den Auslegungen des Aristoteles auf alle seine Stuecke ein Auge haben konnte und hatte. [3] Il est aise de nous accommoder avec Aristote etc. ----Fussnote Sechsundsiebzigstes Stueck Den 22. Januar 1768 Aber das ist grundfalsch!--Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier, der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen suchte, diese groesste von allen uebersehen koennen. Zwar, wie konnte er sie nicht uebersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklaerung vom Mitleid zu Rate zu ziehen?--Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man muesste glauben, dass er seine eigene Erklaerungen vergessen koennen, man muesste glauben, dass er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen koennen. Wenn, nach seiner Lehre, kein Uebel eines andern unser Mitleid erreget, was wir nicht fuer uns selbst fuerchten: so konnte er mit keiner Handlung in der Tragoedie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst fuer unmoeglich; dergleichen Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu erwecken faehig waeren, glaubte er, muessten sie auch Furcht fuer uns erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid. Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragoedie vorstellen, welche Furcht fuer uns erregen koenne, ohne zugleich unser Mitleid zu erwecken: denn er war ueberzeugt, dass alles, was uns Furcht fuer uns selbst errege, auch unser Mitleid erwecken muesse, sobald wir andere damit bedrohet oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der Tragoedie, wo wir alle das Uebel, welches wir fuerchten, nicht uns, sondern anderen begegnen sehen. Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die Tragoedie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von ihnen, dass sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer, wenn sich Corneille durch dieses weder noch verfuehren lassen. Diese disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren laesst. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie verneinen, so koemmt es darauf an, ob sich diese Dinge ebensowohl in der Natur voneinander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und durch den symbolischen Ausdruck trennen koennen, wenn die Sache demohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z.E. von einem Frauenzimmer sagen, sie sei weder schoen noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir wuerden zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden waere; denn Witz und Schoenheit lassen sich nicht bloss in Gedanken trennen, sondern sie sind wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen: "dieser Mensch glaubt weder Himmel noch Hoelle", wollen wir damit auch sagen: dass wir zufrieden sein wuerden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und keine Hoelle, oder nur die Hoelle und keinen Himmel glaubte? Gewiss nicht: denn wer das eine glaubt, muss notwendig auch das andere glauben; Himmel und Hoelle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen; wenn wir sagen, dieses Gemaelde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung noch Kolorit: wollen wir damit sagen, dass ein gutes Gemaelde sich mit einem von beiden begnuegen koenne?--Das ist so klar! Allein, wie, wenn die Erklaerung, welche Aristoteles von dem Mitleiden gibt, falsch waere? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Ungluecksfaellen Mitleid fuehlen koennten, die wir fuer uns selbst auf keine Weise zu besorgen haben? Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust ueber das physikalische Uebel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese Unlust entstehet bloss aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte Empfindung, welche wir Mitleid nennen. Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig aufgeben zu muessen. Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht fuer uns selbst, Mitleid fuer andere empfinden koennen: so ist es doch unstreitig, dass unser Mitleid, wenn jene Furcht dazukommt, weit lebhafter und staerker und anzueglicher wird, als es ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, dass die vermischte Empfindung ueber das physikalische Uebel eines geliebten Gegenstandes nur allein durch die dazukommende Furcht fuer uns zu dem Grade erwaechst, in welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet? Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloss als Affekt. Ohne jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme. Mitleidige Regungen, ohne Furcht fuer uns selbst, nennt er Philanthropie: und nur den staerkere Regungen dieser Art, welche mit Furcht fuer uns selbst verknuepft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er zwar, dass das Unglueck eines Boesewichts weder unser Mitleid noch unsere Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Ruehrung ab. Auch der Boesewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behaelt, um sein Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas Mitleidaehnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden. Aber, wie schon gesagt, diese mitleidaehnliche Empfindung nennt er nicht Mitleid, sondern Philanthropie. "Man muss", sagt er, "keinen Boesewicht aus ungluecklichen in glueckliche Umstaende gelangen lassen; denn das ist das untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch muss es kein voelliger Boesewicht sein, der aus gluecklichen Umstaenden in unglueckliche verfaellt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Ich kenne nichts Kahleres und Abgeschmackteres, als die gewoehnlichen Uebersetzungen dieses Wortes Philanthropie. Sie geben naemlich das Adjektivum davon im Lateinischen durch hominibus gratum; im Franzoesischen durch ce que peut faire quelque plaisir; und im Deutschen durch "was Vergnuegen machen kann". Der einzige Goulston, soviel ich finde, scheinet den Sinn des Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das [Greek: philanthropon] durch quod humanitatis sensu tangat uebersetzt. Denn allerdings ist unter dieser Philanthropie, auf welche das Unglueck auch eines Boesewichts Anspruch macht, nicht die Freude ueber seine verdiente Bestrafung, sondern das sympathetische Gefuehl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, trotz der Vorstellung, dass sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem Augenblicke des Leidens in uns sich fuer ihn reget. Herr Curtius will zwar diese mitleidige Regungen fuer einen ungluecklichen Boesewicht nur auf eine gewisse Gattung der ihn treffenden Uebel einschraenken. "Solche Zufaelle des Lasterhaften", sagt er, "die weder Schrecken noch Mitleiden in uns wirken, muessen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufaellig, oder wohl gar unschuldig, so behaelt er in dem Herzen der Zuschauer die Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mitleid nicht versaget." Aber er scheinet dieses nicht genug ueberlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglueck, welches den Boesewicht befaellt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist, koennen wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Ungluecks mit ihm "Seht jene Menge", sagt der Verfasser der "Briefe ueber die Empfindungen", "die sich um einen Verurteilten in dichten Haufen draenget. Sie haben alle Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt und ohnmaechtig auf das entsetzliche Schaugerueste. Man arbeitet sich durch das Gewuehl, man stellt sich auf die Zehen, man klettert die Daecher hinan, um die Zuege des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wuenschen itzt aller Herzen, dass ihm verziehen wuerde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode verurteilet haben wuerden? Wodurch wird itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die Annaeherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen Uebel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussoehnen und ihm unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe koennten wir unmoeglich mitleidig mit seinem Schicksale sein." Und ebendiese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter keinerlei Umstaenden ganz verlieren koennen, die unter der Asche, mit welcher sie andere staerkere Empfindungen ueberdecken, unverloeschlich fortglimmet und gleichsam nur einen guenstigen Windstoss von Unglueck und Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen; ebendiese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie verstehet. Wir haben recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht unrecht, wenn er ihr einen eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem hoechsten Grade der mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer wahrscheinlichen Furcht fuer uns selbst, Affekt werden, zu unterscheiden. Siebenundsiebzigstes Stueck Den 26. Januar 1768 Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff von dem Affekte des Mitleids hatte, dass er notwendig mit der Furcht fuer uns selbst verknuepft sein muesse: was war es noetig, der Furcht noch insbesondere zu erwaehnen? Das Wort Mitleid schloss sie schon in sich, und es waere genug gewesen, wenn er bloss gesagt haette: die Tragoedie soll durch Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll, noch dazu schwankend und ungewiss. Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloss haette lehren wollen, welche Leidenschaften die Tragoedie erregen koenne und solle, so wuerde er sich den Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen koennen, und ohne Zweifel sich wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein groesserer Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche Leidenschaften, durch die in der Tragoedie erregten, in uns gereiniget werden sollten; und in dieser Absicht musste er der Furcht insbesondere gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids weder in noch ausser dem Theater ohne Furcht fuer uns selbst sein kann; ob sie schon ein notwendiges Ingrediens des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch umgekehrt, und das Mitleid fuer andere ist kein Ingrediens der Furcht fuer uns selbst. Sobald die Tragoedie aus ist, hoeret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurueck als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Uebel fuer uns selbst schoepfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um anzuzeigen, dass sie dieses tun koenne und wirklich tue, fand es Aristoteles fuer noetig, ihrer insbesondere zu gedenken. Es ist unstreitig, dass Aristoteles ueberhaupt keine strenge logische Definition von der Tragoedie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloss wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschraenken, hat er verschiedene zufaellige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die uebrigen Merkmale ineinander reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklaerung uebrig: die naemlich, dass die Tragoedie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komoedie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswuerdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen. An dem letztern duerfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wuesste ich keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen waere, es zu versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragoedie als etwas Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so laesst, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache ergruendet, aber sie bei seiner Erklaerung mehr vorausgesetzt, als deutlich angegeben. "Die Tragoedie", sagt er, "ist die Nachahmung einer Handlung,--die nicht vermittelst der Erzaehlung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften bewirket." So drueckt er sich von Wort zu Wort aus. Wem sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, "nicht vermittelst der Erzaehlung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht", befremden? Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragoedie braucht, um ihre Absicht zu erreichen: und die Erzaehlung kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen oder nicht zu bedienen. Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzaehlung, welches die dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Uebersetzer bei dieser Luecke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere fuellt sie, aber nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlaessigte Wortfuegung, an die sie sich nicht halten zu duerfen glauben, wenn sie nur den Sinn des Philosophen liefern. Dacier uebersetzt: d'une action--qui, sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la terreur usw.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch die Erzaehlung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst) uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget". Oh, sehr recht! Beide sagen, was Aristoteles sagen will, nur dass sie es nicht so sagen, wie er es sagt. Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine bloss vernachlaessigte Wortfuegung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles bemerkte, dass das Mitleid notwendig ein vorhandenes Uebel erfodere; dass wir laengst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Uebel entweder gar nicht oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden koennen, als ein anwesendes; dass es folglich notwendig sei, die Handlung, durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist, nicht in der erzaehlenden Form, sondern als gegenwaertig, das ist, in der dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, dass unser Mitleid durch die Erzaehlung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch die gegenwaertige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in der Erklaerung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form faehig ist. Haette er es fuer moeglich gehalten, dass unser Mitleid auch durch die Erzaehlung erreget werden koenne: so wuerde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen sein, wenn er gesagt haette, "nicht durch die Erzaehlung, sondern durch Mitleid und Furcht". Da er aber ueberzeugt war, dass Mitleid und Furcht in der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so konnte er sich diesen Sprung, der Kuerze wegen, erlauben.--Ich verweise desfalls auf das naemliche achte Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik.[1] Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der Tragoedie gibt, und den er mit in die Erklaerung derselben bringen zu muessen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten, darueber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, dass alle, die sich dawider erklaert, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiss wussten, welches seine waeren. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen, indem sie ihr eigenes Hirngespinste zuschanden machen. Ich kann mich in die naehere Eroerterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei Anmerkungen machen. 1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tragoedie solle uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reinigen". Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn ungluecklich wird: so ist es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die Tragoedie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen. Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt Windmuehlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges, darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als gesunden Menschenverstand hat und ihnen auf seinem bedaechtlichern Pferde hinten nachruft, sich nicht zu uebereilen, und doch nur erst die Augen recht aufzusperren: [Greek: Ton toiouton pathaematon], sagt Aristoteles: und das heisst nicht "der vorgestellten Leidenschaften"; das haetten sie uebersetzen muessen durch "dieser und dergleichen" oder "der erweckten Leidenschaften". Das [Greek: toiouton] bezieht sich lediglich auf das vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragoedie soll unser Mitleid und unsere Furcht erregen, bloss um diese und dergleichen Leidenschaften, nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt aber [Greek: toiouton] und nicht [Greek: touton], er sagt "dieser und dergleichen" und nicht bloss "dieser": um anzuzeigen, dass er unter dem Mitleid nicht bloss das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern ueberhaupt alle philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloss die Unlust ueber ein uns bevorstehendes Uebel, sondern auch jede damit verwandte Unlust, auch die Unlust ueber ein gegenwaertiges, auch die Unlust ueber ein vergangenes Uebel, Betruebnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragoedie erweckt, unser Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und keine andere Leidenschaften. Zwar koennen sich in der Tragoedie auch zur Reinigung der andern Leidenschaften nuetzliche Lehren und Beispiele finden; doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und Komoedie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung ueberhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragoedie, die Nachahmung einer mitleidswuerdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie; es ist klaeglich, wenn man dieses erst beweisen muss; noch klaeglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln. Aber alle Gattungen koennen nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann, worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist ihre eigentliche Bestimmung. ----Fussnote [1] [Greek: Epei d' eggys phainomena ta pathae, eleeina eisi, ta de myrioston etos genomena, ae esomena, out' elpizontes, oute memnaemenoi, ae olos ouch eleousin, ae ouch' dmoios, anankae tous synapergazomenous schaemasi kai onais, kai esti, kai olos tae hypochrisei, eleeinoterous einai.] ----Fussnote Achtundsiebzigstes Stueck Den 29. Januar 1768 2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was fuer Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der Tragoedie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natuerlich, dass sie sich auch mit der Reinigung selbst irren mussten. Aristoteles verspricht am Ende seiner "Politik", wo er von der Reinigung der Leidenschaften durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst weitlaeuftiger zu handeln. "Weil man aber", sagt Corneille, "ganz und gar nichts von dieser Materie darin findet, so ist der groesste Teil seiner Ausleger auf die Gedanken geraten, dass sie nicht ganz auf uns gekommen sei." Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von seiner Dichtkunst noch uebrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz unbekannt ist, ueber diese Sache zu sagen fuer noetig halten konnte. Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung, Licht genug geben koenne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die Reinigung der Leidenschaften in der Tragoedie geschehe: naemlich die, wo Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und die Furcht einen unsersgleichen". Diese Stelle ist auch wirklich sehr wichtig, nur dass Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der Leidenschaften ueberhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Ungluecke", sagt er, "von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns die Furcht, dass uns ein aehnliches Unglueck treffen koenne; diese Furcht erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben, die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr Unglueck vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu maessigen, zu bessern, ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, dass man die Ursache abschneiden muesse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber dieses Raisonnement, welches die Furcht bloss zum Werkzeuge macht, durch welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch und kann unmoeglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die Tragoedie gerade alle Leidenschaften reinigen koennte, nur nicht die zwei, die Aristoteles ausdruecklich durch sie gereiniget wissen will. Sie koennte unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Hass und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglueck zugezogen. Nur unser Mitleid und unsere Furcht muesste sie ungereiniget lassen. Denn Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragoedie wir, nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften, durch welche die handelnden Personen uns ruehren, nicht aber die, durch welche sie sich selbst ihre Unfaelle zuziehen. Es kann ein Stueck geben, in welchem sie beides sind: das weiss ich wohl. Aber noch kenne ich kein solches Stueck: ein Stueck naemlich, in welchem sich die bemitleidete Person durch ein uebelverstandenes Mitleid oder durch eine uebelverstandene Furcht ins Unglueck stuerze. Gleichwohl wuerde dieses Stueck das einzige sein, in welchem, so wie es Corneille versteht, das geschaehe, was Aristoteles will, dass es in allen Tragoedien geschehen soll: und auch in diesem einzigen wuerde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt. Dieses einzige Stueck wuerde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen.--So gar sehr konnte Dacier den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, dass unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der Tragoedie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, dass der Nutzen der Tragoedie sehr gering sein wuerde, wenn er bloss hierauf eingeschraenkt waere: so liess er sich verleiten, nach der Erklaerung des Corneille, ihr die ebenmaessige Reinigung auch aller uebrigen Leidenschaften beizulegen. Wie nun Corneille diese fuer sein Teil leugnete und in Beispielen zeigte, dass sie mehr ein schoener Gedanke, als eine Sache sei, die gewoehnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so musste er sich mit ihm in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand, dass er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen musste, um seinen Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu beduerfen. Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leiden- schaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragoedie reinigen solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr gleichgueltig, ob die Tragoedie zur Reinigung der uebrigen Leidenschaften viel oder wenig beitraegt. An jene Reinigung haette sich Dacier allein halten sollen: aber freilich haette er sodann auch einen vollstaendigem Begriff damit verbinden muessen. "Wie die Tragoedie", sagt er, "Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu erklaeren. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglueck vor Augen stellet, in das unsersgleichen durch nicht vorsaetzliche Fehler gefallen sind; und sie reiniget sie, indem sie uns mit diesem naemlichen Ungluecke bekannt macht und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fuerchten, noch allzusehr davon geruehrt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte.--Sie bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufaelle mutig zu ertragen, und macht die Allerelendesten geneigt, sich fuer gluecklich zu halten, indem sie ihre Ungluecksfaelle mit weit groessern vergleichen, die ihnen die Tragoedie vorstellet. Denn in welchen Umstaenden kann sich wohl ein Mensch finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests nicht erkennen muesste, dass alle Uebel, die er zu erdulden, gegen die, welche diese Maenner erdulden muessen, gar nicht in Vergleichung gekommen?" Nun das ist wahr; diese Erklaerung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens gemacht haben. Er fand sie fast mit den naemlichen Worten bei einem Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes einzuwenden, dass das Gefuehl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid neben sich duldet; dass folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betruebnis durch das Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt, gelten lassen. Nur fragen muss ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im geringsten mehr damit gesagt, als, dass das Mitleid unsere Furcht reinige? Gewiss nicht: und das waere doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, dass die Tragoedie Mitleid und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht, dass dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklaeren fuer gut befunden? Denn, nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muss der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschoepfen will, stueckweise zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen koenne und wirklich reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Haelfte erlaeutert. Denn wer sich um einen richtigen und vollstaendigen Begriff von der Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemueht hat, wird finden, dass jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schliesset. Da naemlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muss die Tragoedie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermoegend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fuehlet, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muss nicht allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines Ungluecks befuerchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglueck, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in Angst setzet. Gleichfalls muss das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht, dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugrosse Furcht maessige: und noch nicht einmal, wie es dem gaenzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade erhoehe; geschweige, dass er auch das uebrige sollte gezeigt haben. Die nach ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergaenzet; aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragoedie voellig ausser Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte ueberhaupt, aber keinesweges der Tragoedie, als Tragoedie, insbesondere zukommen; z.E. dass sie die Triebe der Menschlichkeit naehren und staerken; dass sie Liebe zur Tugend und Hass gegen das Laster wirken solle usw.[1] Lieber! welches Gedicht sollte das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende Kennzeichen der Tragoedie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten. ----Fussnote [1] Hr. Curtius in seiner "Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels", hinter der Aristotelischen Dichtkunst". ----Fussnote Neunundsiebzigstes Stueck Den 2. Februar 1768 Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen.--Richard also erweckt ebensowenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemissbrauchten Verstande, fuer die ploetzliche Ueberraschung des Mitleids; noch in dem eigentlichen Verstande des Aristoteles, fuer heilsame Furcht, dass uns ein aehnliches Unglueck treffen koenne. Denn wenn er diese erregte, wuerde er auch Mitleid erregen; so gewiss er hinwiederum Furcht erregen wuerde, wenn wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten wuerdig faenden. Aber er ist so ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so voellig keinen einzigen aehnlichen Zug mit uns selbst finden, dass ich glaube, wir koennten ihn vor unsern Augen den Martern der Hoelle uebergeben sehen, ohne das geringste fuer ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu fuerchten, dass, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglueck, die Strafe, die ihn trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen muessen, hoeren wir, dass er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Koenigin dieses erzaehlt wird, laesst sie der Dichter sagen: "Dies ist etwas!"-- Ich habe mich nie enthalten koennen, bei mir nachzusprechen: nein, das ist gar nichts! Wie mancher gute Koenig ist so geblieben, indem er seine Krone wider einen maechtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich fuer den Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stueck durch ueber den Triumph seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen ueber das Glueck eines Boesewichts auszudruecken: [Greek: nemesis, nemesan.][1]) Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte, unterhaelt noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich: aber gut, dass es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische! Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das Stueck heisst zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben, nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragoedie erreicht wird; er hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid fuer andere zu erregen. Die Koenigin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?-- Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es fuer eine fremde, herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid fuer diese Personen mischt? die da macht, dass ich mir dieses Mitleid ersparen zu koennen wuenschte? Das wuensche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile gern dabei; und danke dem Dichter fuer eine so suesse Qual. Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiss sein! Er spricht von einem [Greek: miaron], von einem Graesslichen, das sich bei dem Ungluecke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die Koenigin, Elisabeth, die Prinzen vollkommen solche Personen? Was haben sie getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, dass sie in den Klauen dieser Bestie sind? Ist es ihre Schuld, dass sie ein naeheres Recht auf den Thron haben als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch kaum rechts und links unterscheiden koennen! Wer wird leugnen, dass sie unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit Schaudern an die Schicksale der Menschen denken laesst, dem Murren wider die Vorsehung sich zugesellet und Verzweiflung von weiten nachschleicht, ist dieser Jammer--ich will nicht fragen, Mitleid?--Er heisse, wie er wolle--Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte? Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gruendet er sich doch auf etwas, das wirklich geschehen ist.--Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Guete, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das voellig sich rundet, wo eines aus dem andern sich voellig erklaeret, wo keine Schwierigkeit aufstoesst, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie ausser ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen muessen; das Ganze dieses sterblichen Schoepfers sollte ein Schattenriss von dem Ganzen des ewigen Schoepfers sein; sollte uns an den Gedanken gewoehnen, wie sich in ihm alles zum Besten aufloese, werde es auch in jenem geschehen: und er vergisst diese seine edelste Bestimmung so sehr, dass er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darueber erregt?--O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und froehlichen Mut behalten sollen: so ist es hoechst noetig, dass wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhaengnisse so wenig als moeglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Buehne! Weg, wenn es sein koennte, aus allen Buechern mit ihnen!-- Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige die erforderlichen Eigenschaften hat, die sie haben muessten, falls er wirklich das sein sollte, was er heisst: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes Stueck geworden, wofuer ihn unser Publikum haelt? Wenn er nicht Mitleid und Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muss er doch haben und hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschaeftiget, wenn er sie vergnuegt: was will man denn mehr? Muessen sie denn notwendig nur nach den Regeln des Aristoteles beschaeftiget und vergnuegt werden? Das klingt so unrecht nicht: aber es ist darauf zu antworten. Ueberhaupt: wenn Richard schon keine Tragoedie waere, so bleibt er doch ein dramatisches Gedicht; wenn ihm schon die Schoenheiten der Tragoedie mangelten, so koennte er doch sonst Schoenheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden; kuehne Gesinnungen; einen feurigen hinreissenden Dialog; glueckliche Veranlassungen fuer den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den mannigfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Staerke in der Pantomime zu zeigen usw. Von diesen Schoenheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die den eigentlichen Schoenheiten der Tragoedie naeher kommen. Richard ist ein abscheulicher Boesewicht: aber auch die Beschaeftigung unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnuegen; besonders in der Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen, welche Groesse und Kuehnheit in uns erwecken. Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und ueberall, wo wir einen Plan wahrnehmen, wird unsere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er ausgefuehrt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das Zweckmaessige so sehr, dass es uns, auch unabhaengig von der Moralitaet des Zweckes, Vergnuegen gewaehret. Wir wollten, dass Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, dass er ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Missvergnuegen ueber ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so viel Blut voellig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist, moechten wir es nicht gern, auch noch bloss vor langer Weile, vergossen finden. Hinwiederum waere dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit; nichts hoeren wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht waere, wuerden wir nichts als das Abscheuliche derselben erblicken, wuerden wir wuenschen, dass sie nicht erreicht waere; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert vor der Erreichung. Die guten Personen des Stuecks lieben wir; eine so zaertliche feurige Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese Gegenstaende gefallen immer, erregen immer die suessesten sympathetischen Empfindungen, wir moegen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar fuer unsere Ruhe, zu unserer Besserung kein sehr erspriessliches Gefuehl: aber es ist doch immer Gefuehl. Und sonach beschaeftiget uns das Stueck durchaus, und vergnuegt durch diese Beschaeftigung unserer Seelenkraefte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht wahr, die man daraus zu ziehen meinet: naemlich, dass wir also damit zufrieden sein koennen. Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben. Nicht genug, dass sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muss auch die haben, die ihm, vermoege der Gattung, zukommen; es muss diese vornehmlich haben, und alle andere koennen den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen; besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit und Kostbarkeit ist, dass alle Muehe und aller Aufwand vergebens waere, wenn sie weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung ebensowohl zu erhalten waeren. Ein Bund Stroh aufzuheben, muss man keine Maschinen in Bewegung setzen; was ich mit dem Fusse umstossen kann, muss ich nicht mit einer Mine sprengen wollen; ich muss keinen Scheiterhaufen anzuenden, um eine Muecke zu verbrennen. ----Fussnote [1] Arist. Rhet., lib. II. cap. 9. ----Fussnote Achtzigstes Stueck Den 5. Februar 1768 Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Maenner und Weiber verkleidet, Gedaechtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Auffuehrung desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen, die eine gute Erzaehlung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen, ungefaehr auch hervorbringen wuerde. Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht erregen laesst; wenigstens koennen in keiner andern Form diese Leidenschaften auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzueglich geschickt ist. Das Publikum nimmt vorlieb.--Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muss. Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und roemische Volk auf die Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgueltig, wie kalt dagegen unser Volk fuer das Theater! Woher diese Verschiedenheit, wenn sie nicht daher koemmt, dass die Griechen vor ihrer Buehne sich mit so starken, so ausserordentlichen Empfindungen begeistert fuehlten, dass sie den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu haben: dahingegen wir uns vor unserer Buehne so schwacher Eindruecke bewusst sind, dass wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode, aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus anderer Absicht. Ich sage, wir, unser Volk, unsere Buehne: ich meine aber nicht bloss, uns Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, dass wir noch kein Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses Bekenntnis mit einstimmen und grosse Verehrer des franzoesischen Theaters sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich weiss wohl, was ich dabei denke. Ich denke naemlich dabei: dass nicht allein wir Deutsche; sondern, dass auch die, welche sich seit hundert Jahren ein Theater zu haben ruehmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben prahlen,--dass auch die Franzosen noch kein Theater haben. Kein tragisches gewiss nicht! Denn auch die Eindruecke, welche die franzoesische Tragoedie macht, sind so flach, so kalt!--Man hoere einen Franzosen selbst davon sprechen. "Bei den hervorstechenden Schoenheiten unsers Theaters", sagt der Herr von Voltaire, "fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte, weil das Publikum von selbst keine hoehere Ideen haben konnte, als ihm die grossen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremond hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt naemlich, dass unsere Stuecke nicht Eindruck genug machten, dass das, was Mitleid erwecken solle, aufs hoechste Zaertlichkeit errege, dass Ruehrung die Stelle der Erschuetterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, dass unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremond hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des franzoesischen Theaters getroffen. Man sage immerhin, dass Saint-Evremond der Verfasser der elenden Komoedie 'Sir Politik Wouldbe' und noch einer andern ebenso elenden, 'Die Opern' genannt, ist: dass seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das Kahlste und Gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; dass er nichts als ein Phrasendrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben und gleichwohl viel Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern Stuecken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem Grade von Waerme gefehlt: das andere hatten wir alles." Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere Tragoedien waren vortrefflich, nur dass es keine Tragoedien waren. Und woher kam es, dass sie das nicht waren? "Diese Kaelte aber", faehrt er fort, "diese einfoermige Mattigkeit, entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte und die Tragoedie in eine Folge von verliebten Gespraechen verwandelte, nach dem Geschmacke des 'Cyrus' und der 'Clelie'. Was fuer Stuecke sich hiervon noch etwa ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements, dergleichen den 'Sertorius' so verdorben, den 'Otho' so kalt, und den 'Surena' und 'Attila' so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene zurueckhielt und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und diese war das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen. --Was liess sich auf einem paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit Zuschauern angefuellt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen Zuruestungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln, taeuschen? Welche grosse tragische Aktion liess sich da auffuehren? Welche Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stuecke mussten aus langen Erzaehlungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespraeche als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glaenzen, und ein Stueck, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen.--Bei dieser Form fiel alle theatralische Handlung weg; fielen alle die grossen Ausdruecke der Leidenschaften, alle die kraeftigen Gemaelde der menschlichen Ungluecksfaelle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele dringende Zuege weg; man ruehrte das Herz nur kaum, anstatt es zu zerreissen." Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie und Politik laesst immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden. Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hoeren: und diese fodern, dass wir nichts als den Menschen hoeren sollen. Aber die zweite Ursache?--Sollte es moeglich sein, dass der Mangel eines geraeumlichen Theaters und guter Verzierungen einen solchen Einfluss auf das Genie der Dichter gehabt haette? Ist es wahr, dass jede tragische Handlung Pomp und Zuruestungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht vielmehr sein Stueck so einrichten, dass es auch ohne diese Dinge seine voellige Wirkung hervorbraechte. Nach dem Aristoteles sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid", sagt der Philosoph, "laesst sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch aus der Verknuepfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches letztere vorzueglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die Fabel muss so eingerichtet sein, dass sie, auch ungesehen, den, der den Verlauf ihrer Begebenheiten bloss anhoert, zu Mitleid und Furcht ueber diese Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhoeren darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die Vorstellung des Stuecks uebernommen." Wie entbehrlich ueberhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon will man mit den Stuecken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung gehabt haben. Welche Stuecke brauchten, wegen ihrer bestaendigen Unterbrechung und Veraenderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war eine Zeit, wo die Buehnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn er aufgezogen war, die blossen blanken, hoechstens mit Matten oder Tapeten behangenen Waende zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem Verstaendnisse des Zuschauers und der Ausfuehrung des Spielers zu Hilfe kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stuecke des Shakespeares ohne alle Szenen verstaendlicher, als sie es hernach mit denselben gewesen sind.[1] Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekuemmern hat; wenn die Verzierung, auch wo sie noetig scheinet, ohne besondere Nachteil seines Stuecks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten Theater gelegen haben, dass uns die franzoesischen Dichter keine ruehrendere Stuecke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst. Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine schoenere, geraeumlichere Buehne; keine Zuschauer werden mehr darauf geduldet; die Kulissen sind leer; der Dekorateur hat freies Feld; er malt und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber wo sind sie denn, die waermern Stuecke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt sich der Herr von Voltaire, dass seine "Semiramis" ein solches Stueck ist? Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst obendarein: und doch kenne ich nichts Kaelteres, als seine "Semiramis". ----Fussnote [1] ("Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir." Vol. II. p. 78. 79.)--Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting. --In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with tapestry; so that for the place originally represented, and all the successive changes, in which the poets of those times freely indulged themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or to assist the actor's performance, but bare imagination.--The spirit and judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would insinuate, plays more intelligible without scenes than they afterwards were with them. ----Fussnote Einundachtzigstes Stueck Den 9. Februar 1768 Will ich denn nun aber damit sagen, dass kein Franzose faehig sei, ein wirklich ruehrendes tragisches Werk zu machen? dass der volatile Geist der Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei?--Ich wuerde mich schaemen, wenn mir das nur eingekommen waere. Deutschland hat sich noch durch keinen Bouhours laecherlich gemacht. Und ich, fuer mein Teil, haette nun gleich die wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr ueberzeugt, dass kein Volk in der Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzueglich vor andern Voelkern erhalten habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Englaender, der witzige Franzose. Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiss nicht, die alles unter alle gleich verteilet. Es gibt ebensoviel witzige Englaender als witzige Franzosen, und ebensoviel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige Englaender: der Prass von dem Volke aber ist keines von beidem.-- Was will ich denn? Ich will bloss sagen, was die Franzosen gar wohl haben koennten, dass sie das noch nicht haben: die wahre Tragoedie. Und warum noch nicht haben?--Dazu haette sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen muessen, wenn er es haette treffen wollen. Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas bestaerkt, das sie vorzueglich vor allen Voelkern haben; aber es ist keine Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit. Es geht mit den Nationen, wie mit einzelnen Menschen.--Gottsched (man wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle) galt in seiner Jugend fuer einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter noch nicht zu unterscheiden wusste. Philosophie und Kritik setzten nach und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem Jahrhunderte nur haette fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines Zeitalters haetten verbreiten und laeutern wollen: so haette er vielleicht wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden koennen. Aber da er sich schon so oft den groessten Dichter hatte nennen hoeren, da ihn seine Eitelkeit ueberredet hatte, dass er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte unmoeglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je aelter er ward, desto hartnaeckiger und unverschaemter ward er, sich in diesem traeumerischen Besitze zu behaupten. Gerade so, duenkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riss Corneille ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar auch nie gewesen), ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch ruehrender sein koenne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward fuer unmoeglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter musste sich darauf einschraenken, dem einen oder dem andern so aehnlich zu werden als moeglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer und sage ihnen das, und hoere, was sie antworten! Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluss gehabt hat. Denn Racine hat nur durch seine Muster verfuehrt; Corneille aber durch seine Muster und Lehren zugleich. Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wussten, was sie wollten) als Orakelsprueche angenommen, von allen nachherigen Dichtern befolgt: haben--ich getraue mich, es Stueck vor Stueck zu beweisen,--nichts anders, als das kahlste, waessrigste, untragischste Zeug hervorbringen koennen. Die Regeln des Aristoteles sind alle auf die hoechste Wirkung der Tragoedie kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er traegt sie falsch und schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so sucht er, bei einer nach der andern, quelque moderation, quelque favorable interpretation; entkraeftet und verstuemmelt, deutelt und vereitelt eine jede,--und warum? pour n'etre pas obliges de condamner beaucoup de poemes que nous avons vu reussir sur nos theatres; um nicht viele Gedichte verwerfen zu duerfen, die auf unsern Buehnen Beifall gefunden. Eine schoene Ich will die Hauptpunkte geschwind beruehren. Einige davon habe ich schon beruehrt; ich muss sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen. 1. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen.-- Corneille sagt: o ja, aber wie es koemmt; beides zugleich ist eben nicht immer noetig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb' ich, ich der grosse Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten Kinder erwecken Mitleid; und sehr grosses Mitleid: aber Furcht wohl schwerlich. Und wiederum: wo blieb' ich sonst mit meiner Kleopatra, mit meinem Prusias, mit meinem Phokas? Wer kann Mitleid mit diesen Nichtswuerdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch.--So glaubte Corneille: und die Franzosen glaubten es ihm nach. 2. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen; beides, versteht sich, durch eine und ebendieselbe Person.--Corneille sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen; so wie ich in meiner "Rodogune" getan habe.--Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun es ihm nach. 3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die Tragoedie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen anhaengig, gereiniget werden.--Corneille weiss davon gar nichts und bildet sich ein, Aristoteles habe sagen wollen. Die Tragoedie erwecke unser Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete Gegenstand sein Unglueck zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht nicht sprechen: genug, dass es nicht die Aristotelische ist; und dass, da Corneille seinen Tragoedien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig seine Tragoedien selbst ganz andere Werke werden mussten, als die waren, von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahieret hatte; es mussten Tragoedien werden, welches keine wahre Tragoedien waren. Und das sind nicht allein seine, sondern alle franzoesische Tragoedien geworden; weil ihre Verfasser alle nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des Corneille sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, dass Dacier beide Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese blosse Verbindung wird die erstere geschwaecht, und die Tragoedie muss unter ihrer hoechsten Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur einen sehr unvollstaendigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich daher einbildete, dass die franzoesischen Tragoedien seiner Zeit noch eher die erste, als die zweite Absicht erreichten. "Unsere Tragoedie", sagt er, "ist, zufolge jener, noch so ziemlich gluecklich, Mitleid und Furcht zu erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die uebrigen Leidenschaften nur sehr wenig, oder da sie gemeiniglich nichts als Liebesintrigen enthaelt, wenn sie ja eine davon reinigte, so wuerde es einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, dass ihr Nutzen nur sehr klein ist.[1] Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher franzoesische Tragoedien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht ein Genuege leisten. Ich kenne verschiedene franzoesische Stuecke, welche die ungluecklichen Folgen irgendeiner Leidenschaft recht wohl ins Licht setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend, ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade erregte, in welchem die Tragoedie es erregen sollte, in welchem ich, aus verschiedenen griechischen und englischen Stuecken gewiss weiss, dass sie es erregen kann. Verschiedene franzoesische Tragoedien sind sehr feine, sehr unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, dass es keine Tragoedien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr gute Koepfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen geringen Rang: nur dass sie keine tragische Dichter sind; nur dass ihr Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem wenig oder gar nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene desto oefterer. Denn nur weiter-- ----Fussnote [1] (Poet. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragedie peut reussir assez dans la premiere partie, c'est-a-dire, qu'elle peut exciter et purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement a la derniere, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour, si elle en purgeait quelqu'une, ce serait celle-la seule, et par la il est aise de voir qu'elle ne fait que peu de fruit. ----Fussnote Zweiundachtzigstes Stueck Den 12. Februar 1768 4. Aristoteles sagt: man muss keinen ganz guten Mann, ohne alle sein Verschulden, in der Tragoedie ungluecklich werden lassen; denn so was sei graesslich.--"Ganz recht", sagt Corneille; "ein solcher Ausgang erweckt mehr Unwillen und Hass gegen den, welcher das Leiden verursacht, als Mitleid fuer den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht die eigentliche Wirkung der Tragoedie sein soll, wuerde, wenn sie nicht sehr fein behandelt waere, diese ersticken, die doch eigentlich hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer wuerde missvergnuegt weggehen, weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm gefallen haette, wenn er es allein mit wegnehmen koennen. Aber", koemmt Corneille hintennach; denn mit einem Aber muss er nachkommen--"aber, wenn diese Ursache wegfaellt, wenn es der Dichter so eingerichtet, dass der Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid fuer sich, als Widerwillen gegen den erweckt, der ihn leiden laesst: alsdenn?--Oh, alsdenn", sagt Corneille, "halte ich dafuer, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Ungluecke zu zeigen."[1] --Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu verstehen, indem man ihn Dinge sagen laesst, an die er nie gedacht hat. Das gaenzlich unverschuldete Unglueck eines rechtschaffenen Mannes, sagt Aristoteles, ist kein Stoff fuer das Trauerspiel; denn es ist graesslich. Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine blosse Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhoert. Aristoteles sagt: es ist durchaus graesslich, und eben daher untragisch. Corneille aber sagt: es ist untragisch, insofern es graesslich ist. Dieses Graessliche findet Aristoteles in dieser Art des Unglueckes selbst: Corneille aber setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht. Er sieht nicht, oder will nicht sehen, dass jenes Graessliche ganz etwas anders ist als dieser Unwille; dass, wenn auch dieser ganz wegfaellt, jenes doch noch in seinem vollen Masse vorhanden sein kann: genug, dass vors erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stuecken gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des Aristoteles will gemacht haben, dass er vielmehr vermessen genug ist, sich einzubilden, es habe dem Aristoteles bloss an dergleichen Stuecken gefehlt, um seine Lehre darnach naeher einzuschraenken und verschiedene Manieren daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglueck des ganz rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden koenne. En voici, sagt er, deux ou trois manieres que peut-etre Aristote n'a su prevoir, parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les theatres de son temps. Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst? Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind sehen.--"Die erste", sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkoemmt, und so, dass der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der 'Rodogune' und im 'Heraklius' geschiehet, wo es ganz unertraeglich wuerde gewesen sein, wenn in dem ersten Stuecke Antiochus und Rodogune, und in dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen waeren, Kleopatra und Phokas aber triumphieret haetten. Das Unglueck der erstern erweckt ein Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben, nicht erstickt wird, weil man bestaendig hofft, dass sich irgendein gluecklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse." Das mag Corneille sonst jemanden weismachen, dass Aristoteles diese Manier nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, dass er sie, wo nicht gaenzlich verworfen, wenigstens mit ausdruecklichen Worten fuer angemessener der Komoedie als Tragoedie erklaert hat. Wie war es moeglich, dass Corneille dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehoert diese Manier auch gar nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht ungluecklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Ungluecke; welches gar wohl mitleidige Besorgnisse fuer ihn erregen kann, ohne graesslich zu sein.--Nun, die zweite Manier! "Auch kann es sich zutragen", sagt Corneille, "dass ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl eines andern umkoemmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix seinen Eidam Polyeukt umkommen laesst, so ist es nicht aus wuetendem Eifer gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswuerdig machen wuerde, sondern bloss aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und missbilliget sein Verfahren; doch ueberwiegt dieser Unwille nicht das Mitleid, welches wir fuer den Polyeukt empfinden, und verhindert auch nicht, dass ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stuecks, nicht voellig wieder mit den Zuhoerern aussoehnen sollte." Tragische Stuemper, denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum sollte es also dem Aristoteles an einem Stuecke von aehnlicher Einrichtung gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille? Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie Felix, sind in dergleichen Stuecken ein Fehler mehr und machen sie noch obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im geringsten weniger graesslich zu machen. Denn, wie gesagt, das Graessliche liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in dem Ungluecke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger moegen boese oder schwach sein, moegen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der Gedanke ist an und fuer sich selbst graesslich, dass es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden ungluecklich sind. Die Helden haetten diesen graesslichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als moeglich: und wir wollten ihn naehren? wir wollten uns an Schauspielen vergnuegen, die ihn bestaetigen? wir? die Religion und Vernunft ueberzeuget haben sollte, dass er ebenso unrichtig als gotteslaesterlich ist?--Das naemliche wuerde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille nicht selbst naeher anzugeben vergessen haette. 5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglueck weder Mitleid noch Furcht erregen koenne, bringt Corneille seine Laeuterungen bei. Mitleid zwar, gesteht er zu, koenne er nicht erregen; aber Furcht allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster desselben faehig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglueck nicht zu befuerchten habe: so koenne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern aehnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den zwar proportionierten, aber doch noch immer ungluecklichen Folgen derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gruendet sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von der Reinigung der in der Tragoedie zu erweckenden Leidenschaften hatte, und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, dass die Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und dass der Boesewicht, wenn es moeglich waere, dass er unsere Furcht erregen koenne, auch notwendig unser Mitleid erregen muesste. Da er aber dieses, wie Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und bleibt gaenzlich ungeschickt, die Absicht der Tragoedie erreichen zu helfen. Ja, Aristoteles haelt ihn hierzu noch fuer ungeschickter als den ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdruecklich, falls man den Held aus der mittlere Gattung nicht haben koenne, dass man ihn eher besser als schlimmer waehlen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglueck stuerzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfuellet, ohne im geringsten graesslich zu sein, weil es die natuerliche Folge seines Fehlers ist.--Was Dubos[2] von dem Gebrauche der lasterhaften Personen in der Tragoedie sagt, ist das nicht, was Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloss zu Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloss zur Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen lassen, so wie in der "Rodogune": und das ist eigentlich, was mit der Absicht der Tragoedie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch sehr richtig an, dass das Unglueck dieser subalternen Boesewichter keinen Eindruck auf uns mache. "Kaum", sagt er, "dass man den Tod des Narciss im Britannicus bemerkt." Aber also sollte sich der Dichter auch schon deswegen ihrer so viel als moeglich enthalten. Denn wenn ihr Unglueck die Absicht der Tragoedie nicht unmittelbar befoerdert, wenn sie blosse Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, dass das Stueck noch besser sein wuerde, wenn es die naemliche Wirkung ohne sie haette. Je simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Raeder und Gewichte sie hat, desto vollkommener ist sie. ----Fussnote [1] J'estime qu'il ne faut point faire de difficulte d'exposer sur la scene des hommes tres vertueux. [2] Reflexions cr. T. I. Sect. XV. ----Fussnote Dreiundachtzigstes Stueck Den 16. Februar 1768 6. Und endlich, die Missdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft, welche Aristoteles fuer die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie sollen gut sein, die Sitten. "Gut?" sagt Corneille. "Wenn gut hier so viel als tugendhaft heissen soll: so wird es mit den meisten alten und neuen Tragoedien uebel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte, wenigstens mit einer Schwachheit, die naechst der Tugend so recht nicht bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen." Besonders ist ihm fuer seine Kleopatra in der "Rodogune" bange. Die Guete, welche Aristoteles fodert, will er also durchaus fuer keine moralische Guete gelten lassen; es muss eine andere Art von Guete sein, die sich mit dem moralisch Boesen ebensowohl vertraegt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet Aristoteles schlechterdings eine moralische Guete: nur dass ihm tugendhafte Personen, und Personen, welche in gewissen Umstaenden tugendhafte Sitten zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proaeresis ist, durch welche allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder boesen Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in einen weitlaeuftigen Beweis einlassen; er laesst sich nur durch den Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen Kunstrichters einleuchtend genug fuehren. Ich verspare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankoemmt, zu zeigen, was fuer einen ungluecklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: dass Aristoteles unter der Guete der Sitten den glaenzenden und erhabnen Charakter irgendeiner tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, sowie sie der eingefuehrten Person entweder eigentuemlich zukomme oder ihr schicklich beigeleget werden koenne: le caractere brillant et eleve d'une habitude vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable a la personne qu'on introduit. "Kleopatra in der 'Rodogune'", sagt er, "ist aeusserst boese: da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind mit einer gewissen Groesse der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat, dass man, indem man ihre Handlungen verdammt, doch die Quelle, woraus sie entspringen, bewundern muss. Ebendieses getraue ich mir von dem 'Luegner' zu sagen. Das Luegen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein Dorant bringt seine Luegen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so vieler Lebhaftigkeit vor, dass diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl laesst und die Zuschauer gestehen muessen, dass die Gabe, so zu luegen, ein Laster sei, dessen kein Dummkopf faehig ist."--Wahrlich, einen verderblichern Einfall haette Corneille nicht haben koennen! Befolget ihn in der Ausfuehrung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Taeuschung, um allen sittlichen Nutzen der Tragoedie getan! Denn die Tugend, die immer bescheiden und einfaeltig ist, wird durch jenen glaenzenden Charakter eitel und romantisch: das Laster aber mit einem Firnis ueberzogen, der uns ueberall blendet, wir moegen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus welchem wir wollen. Torheit, bloss durch die ungluecklichen Folgen von dem Laster abschrecken wollen, indem man die innere Haesslichkeit desselben verbirgt! Die Folgen sind zufaellig; und die Erfahrung lehrt, dass sie ebensooft gluecklich als ungluecklich fallen. Dieses bezieht sich auf die Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht mit jenem truegerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem Laster untergelegt wird, macht, dass ich Vollkommenheiten erkenne, wo keine sind; macht, dass ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte. Zwar hat schon Dacier dieser Erklaerung widersprochen, aber aus untriftigern Gruenden; und es fehlt nicht viel, dass die, welche er mit dem Pater Le Bossu dafuer annimmt, nicht ebenso nachteilig ist, wenigstens den poetischen Vollkommenheiten des Stuecks ebenso nachteilig werden kann. Er meinet naemlich, "die Sitten sollen gut sein", heisse nichts mehr als, sie sollen gut ausgedrueckt sein, qu'elles soient bien marquees. Das ist allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle aller Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters wuerdig ist. Aber wenn es die franzoesischen Muster nur nicht bewiesen, dass man "gut ausdruecken" fuer stark ausdruecken genommen haette. Man hat den Ausdruck ueberladen, man hat Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen personifierte Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe von Lastern und Tugenden geworden sind.-- Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die Anwendung auf unsern "Richard" selbst machen. Vom "Herzog Michel", welcher auf den "Richard" folgte, brauche ich wohl nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat ihn nicht gesehen oder gelesen? Krueger hat indes das wenigste Verdienst darum; denn er ist ganz aus einer Erzaehlung in den Bremischen Beitraegen genommen. Die vielen guten satirischen Zuege, die er enthaelt, gehoeren jenem Dichter, sowie der ganze Verfolg der Fabel. Kruegern gehoert nichts, als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Buehne an Kruegern viel verloren. Er hatte Talent zum Niedrig-Komischen, wie seine "Kandidaten" beweisen. Wo er aber ruehrend und edel sein will, ist er frostig und affektiert. Hr. Loewen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man jedoch "Die Geistlichen auf dem Lande" vermisst. Dieses war der erste dramatische Versuch, welchen Krueger wagte, als er noch auf dem Grauen Kloster in Berlin studierte. Den neunundvierzigsten Abend (donnerstags, den 23. Julius) ward das Lustspiel des Hrn. von Voltaire "Die Frau, die recht hat" gespielt, und zum Beschlusse des L'Affichard "Ist er von Familie?"[1] wiederholt. "Die Frau, die recht hat" ist eines von den Stuecken, welche der Hr. von Voltaire fuer sein Haustheater gemacht hat. Dafuer war es nun auch gut genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht zu Paris; soviel ich weiss. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine schlechtern Stuecke gespielt haetten: denn dafuer haben die Marins und Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil--ich weiss selbst nicht. Denn ich wenigstens moechte doch noch lieber einen grossen Mann in seinem Schlafrocke und seiner Nachtmuetze, als einen Stuemper in seinem Feierkleide sehen. Charaktere und Interesse hat das Stueck nicht; aber verschiedne Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Inkognito, auf Verkennungen und Missverstaendnisse gruendet. Doch die Lacher sind nicht ekel; am wenigsten wuerden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das Fremde der Sitten und die elende Uebersetzung das mot pour rire nur nicht meistens so unverstaendlich machte. Den funfzigsten Abend (freitags, den 24. Julius) ward Gressets "Sidney" wiederholt. Den Beschluss machte "Der sehende Blinde". Dieses kleine Stueck ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Intrige und alles einem alten Stuecke des De Brosse abgeborgt. Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in die er verliebt ist, als er Ordre bekoemmt, sich zur Armee zu verfuegen. Er verlaesst seine Versprochene mit den wechselseitigen Versicherungen der aufrichtigsten Zaertlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zunutze und nimmt einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte Intrige wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu ueberzeugen, ihnen schreiben laesst, dass er sein Gesicht verloren habe. Die List gelingt; er koemmt wieder nach Paris, und mit Hilfe eines Bedienten, der um den Betrug weiss, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die Entwicklung laesst sich erraten; da der Offizier an der Unbestaendigkeit der Witwe nicht laenger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu heiraten, und der Tochter gibt er die naemliche Erlaubnis, sich mit ihrem Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe versichert, dass ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, dass sie ihn aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem Liebhaber, einen Wink mit den Augen oder bezeugt ihm sonst ihre Zaertlichkeit durch Gebaerden. Das ist der Inhalt des alten Stueckes vom De Brosse,[2] und ist auch der Inhalt von dem neuen Stuecke des Le Grand. Nur dass in diesem die Intrige mit der Tochter weggeblieben ist, um jene fuenf Akte desto leichter in einen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel geworden, und was sonst dergleichen kleine Veraenderungen mehr sind. Es mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefaellt sehr. Die Uebersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten, die wir haben; sie ist wenigstens sehr fliessend und hat viele drollige Zeilen. ----Fussnote [1] S. den 17. Abend. [2] Hist. du Th. Fr., Tome VII. p. 226. ----Fussnote Vierundachtzigstes Stueck Den 19. Februar 1768 Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der Hausvater" des Hrn. Diderot aufgefuehrt. Da dieses vortreffliche Stueck, welches den Franzosen nur so so gefaellt, --wenigstens hat es mit Mueh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem Pariser Theater erscheinen duerfen--sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf unsern Buehnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird koennen gespielt werden: so hoffe ich, Raum und Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl ueber das Stueck selbst, als ueber das ganze dramatische System des Verfassers, von Zeit zu Zeit angemerkt habe. Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natuerlichen Sohne", in den beigefuegten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat Diderot sein Missvergnuegen mit dem Theater seiner Nation geaeussert. Bereits verschiedne Jahre vorher liess er es sich merken, dass er die hohen Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute taeuschen und Europa sich von ihnen taeuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche, in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in welchem der persiflierende Ton so herrschet, dass den meisten Lesern auch das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Hoehnerei zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen wollte: ein kluger Mann sagt oefters erst mit Lachen, was er hernach im Ernste wiederholen will. Dieses Buch heisst "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber doch hat er es geschrieben und muss es geschrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiss, dass nur ein solcher junger Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schaemen wuerde, es geschrieben zu haben. Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch kennen. Ich will mich auch wohl hueten, es ihnen weiter bekannt zu machen, als es hier in meinen Kram dienet.-- Ein Kaiser--was weiss ich, wo und welcher?--hatte mit einem gewissen magischen Ringe gewisse Kleinode so viel haessliches Zeug schwatzen lassen, dass seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hoeren wollte. Sie haette lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darueber brechen moegen; wenigstens nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf des Sultans Majestaet und ein paar witzige Koepfe einzuschraenken. Diese waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und ein grosser Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen unterhaelt sich die Favoritin einsmals, und das Gespraech faellt auf den elenden Ton der akademischen Reden, ueber den sich niemand mehr ereifert als der Sultan selbst, weil es ihn verdriesst, sich nur immer auf Unkosten seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hoeren, und er wohl voraussieht, dass die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung ueber das Theater an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile. "Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim. "Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre schoensten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen koennten. Unser Theater ward fuer das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafuer gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es ist das klare Altertum!" "Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans gesehen und gleichfalls den Faden des Stuecks sehr richtig gefuehret, den Dialog sehr zierlich und das Anstaendige sehr wohl beobachtet gefunden." "Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genaehret, und dem groessten Teile unsrer Neuern!" "Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker ueber die Klinge springen lassen, sind doch bei weitem so veraechtlich nicht, als Sie vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer, keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was bekuemmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnuegen macht? Es sind wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle nicht gelesen habe, welche es machen, dass ich die Stuecke des Aboulcazem, des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre! Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?" "Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schoen. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das muessen wir aus den Werken lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgaenger gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt worden. Sonst liesse sich behaupten, dass eine Wissenschaft ihren Ursprung, ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken haben koenne; welches doch wider alle Erfahrung ist." "Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als dass die Neuern, welche sich alle die Schaetze zunutze machen koennen, die bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein muessen, als die Alten: oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefaellt, dass sie auf den Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig muessen weiter sehen koennen, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre, ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit und Poesie nicht ebensowohl ueberlegen sein?" "Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist gross, und Riccaric kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklaeren. Er mag Ihnen sagen, warum unsere Tragoedien schlechter sind, als der Alten ihre; aber dass sie es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "dass Sie die Alten nicht gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schoene Kenntnisse beworben, als dass Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebraeuche, auf ihre Sitten, auf ihre Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstoessig sind, weil sich die Umstaende geaendert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff nicht immer edel, wohlgewaehlt und interessant ist? ob sich die Handlung nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem Natuerlichen nicht sehr nahe koemmt? ob die Entwicklungen im geringsten gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit Episoden ueberladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hoeren Sie alles, was von dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti ans Land stiegen, da gesagt ward; naehern Sie sich der Hoehle des ungluecklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und sagen Sie mir, ob das Geringste vorkoemmt, was Sie in der Taeuschung stoeren koennte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stueck, welches die naemliche Pruefung aushalten, welches auf den naemlichen Grad der Vollkommenheit Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben." "Beim Brahma!" rief der Sultan und gaehnte; "Madame hat uns da eine vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!" "Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefasst hat. Aber ich weiss, dass nur das Wahre gefaellt und ruehret. Ich weiss auch, dass die Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer Handlung bestehet, dass der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der Handlung selbst gegenwaertig zu sein glaubt. Findet sich aber in den Tragoedien, die Sie uns so ruehmen, nur das geringste, was diesem aehnlich saehe?" Fuenfundachtzigstes Stueck Den 23. Februar 1768 "Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und verwickelt, dass es ein Wunder sein wuerde, wenn wirklich so viel Dinge in so kurzer Zeit geschehen waeren. Der Untergang oder die Erhaltung eines Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Koemmt es auf eine Verschwoerung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie beisammen; im dritten werden alle Massregeln genommen, alle Hindernisse gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit naechstem wird es einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer foermlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut gefuehrt, interessant, warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben, der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen "Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stuecke sind ein wenig ueberladen; aber das ist ein notwendiges Uebel; ohne Hilfe der Episoden wuerden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen." "Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muss man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein sollte. Kann etwas Laecherlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es waere denn etwa dieses, dass man die Geigen ein lebhaftes Stueck, eine muntere Sonate spielen laesst, waehrend dass die Zuhoerer um den Prinzen bekuemmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen Thron und sein Leben zu verlieren. "Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien muesste man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort. "Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, dass, wenn die Episoden uns aus der Taeuschung herausbringen, der Dialog uns wieder hereinsetzt. Ich wuesste nicht, wer das besser verstuende, als unsere tragische Dichter." "Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn unaufhoerlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn Sie wollen, einige Stellen daraus uebersetzen; und Sie werden die blosse Natur hoeren, die sich durch den Mund derselben ausdrueckt. Ich moechte gar zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt dass ihr euern Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in Umstaende zu setzen, die ihnen welchen geben.'" "Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge unserer dramatischen Stuecke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte Selim, "dass Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen." "Nein, gewiss nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte fuer eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich durch ein Wunder. Weiss der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die er von Szene zu Szene ganze fuenf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll: geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstosse ab; die ganze Welt faengt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll waere. Hernach, hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Koenige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man nimmt durchgaengig an, dass wir die Tragoedie zu einem hohen Grade der Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast fuer erwiesen, dass von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die unvollkommenste geblieben ist." Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe mich darauf, eine Dichtkunst abzukuerzen, wenn ich sie zu lang finde." "Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es kaeme einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele etwas gehoert haette; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle; der ungefaehr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlaegen der Hoeflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber nicht ganz unbekannt waere, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein Freund, es aeussern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der Fuerst, der mit seinem Sohne missvergnuegt ist, weil er ihn im Verdacht hat, dass er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich fuer faehig halte, an beiden die grausamste Rache zu ueben. Diese Sache muss, allem Ansehen nach, sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, dass Sie von allem, was vorgeht, Zeuge sein koennen.' Er nimmt mein Anerbieten an, und ich fuehre ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das Theater sieht, welches er fuer den Palast des Sultans haelt. Glauben Sie wohl, dass trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemuehte, die Taeuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern koennte? Muessen Sie nicht vielmehr gestehen, dass er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebaerden, bei dem seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen wuerden, gleich in der ersten Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen wuerde, dass ich ihn entweder zum Besten haben wollte, oder dass der Fuerst mitsamt seinem Hofe nicht wohl bei Sinnen sein muessten." "Ich bekenne", sagte Selim, "dass mich dieser angenommene Fall verlegen macht; aber koennte man Ihnen nicht zu bedenken geben, dass wir in das Schauspiel gehen, mit der Ueberzeugung, der Nachahmung einer Handlung, nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen." "Und sollte denn diese Ueberzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die Handlung auf die allernatuerlichste Art vorzustellen?"-- Hier koemmt das Gespraech nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem franzoesischen Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der geruegten Maengel zu entfernen und den Weg der Natur und Taeuschung besser einzuschlagen bemueht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstuecken desselben fand: bloss und allein, um seinen Stuecken Platz zu schaffen. Er musste die Methode seiner Vorgaenger verschrien haben, weil er empfand, dass in Befolgung der naemlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wuerde. Er musste ein elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots ueber seine Stuecke her. Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natuerlichen Sohne", manche Bloesse gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der "Hausvater" ist. Zu viel Einfoermigkeit in den Charakteren, das Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog, ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen: alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heisst), die so philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen, dass die Einkleidung, welche Diderot den beigefuegten Unterredungen gab, dass der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompoes war; dass verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; dass andere Anmerkungen die Gruendlichkeit nicht hatten, die sie in dem blendenden Vortrage zu haben schienen. Sechsundachtzigstes Stueck Den 26. Februar 1768 z.E. Diderot behauptete,[1] dass es in der menschlichen Natur aufs hoechste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gaebe, die grosser Zuege faehig waeren; und dass die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so gluecklich bearbeitet werden koennten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Staende auf die Buehne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschaefte der ernsthaften Komoedie machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komoedie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufaelliges: nun aber muss der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufaellige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgaengig die Umstaende, in welchen er sich am besten aeussert, und verband diese Umstaende untereinander. Kuenftig muss der Stand, muessen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit groesserm Umfange, von weit groesserm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig uebertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmoeglich leugnen, dass der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmoeglich verkennen. Er muss das, was er hoert, notwendig auf sich anwenden." Was Palissot hierwider erinnert,[2] ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, dass die Natur so arm an urspruenglichen Charakteren sei, dass sie die komischen Dichter bereits sollten erschoepft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln koenne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwuerdig als lehrreich, indem sie vermuten laesst, dass der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen duerfte geblieben sein, wann er laenger gelebt haette.[3] Palissot selbst ist nicht ungluecklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufuegen: den dummen Maezen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekuenstelte Anschlaege immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei.--Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne traegt, bis ins Unendliche erweitern. Das ist noch Ernte genug fuer die wenigen Schnitter, die sich daran wagen duerfen! Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet waeren: wuerden die Staende denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man waehle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben muessen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch sein muessen? Wird es nicht bloss dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrige und die Moral des Stuecks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufaellige sein? Zwar koennte Diderot hierauf antworten: Freilich muss die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, dass es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhaeltnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stuermisch machen will: er muss notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschaefte erfodert. Dieses, sage ich, koennte Diderot antworten: aber zugleich haette er sich einer andern Klippe genaehert; naemlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Staende wuerden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun muessten; sie wuerden handeln, voellig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komoedie? Koennen dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen duerfen, gross genug sein, dass es sich der Muehe verlohnt, eine neue Gattung dafuer festzusetzen und fuer diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben? Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot ueberhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stuecken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Bruedern" des Terenz sagt.[4] "Die zwei kontrastierten Vaeter darin sind mit so gleicher Staerke gezeichnet, dass man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Faellt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so duerfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, dass der, den er ganzer fuenf Aufzuege hindurch fuer einen verstaendigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und dass der, den er fuer einen Narren gehalten hat, wohl gar der verstaendige Mann sein koennte. Man sollte zu Anfange des fuenften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stuecks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, dass man gar nicht mehr weiss, fuer wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man fuer den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man fuer keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten." Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem naemlichen Stuecke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege duenken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloss verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natuerlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Fuer eine Gesellschaft im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise haelt, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in welchen man Vaeter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder voellig entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen koennte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der naemliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stuecke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatuerlicher, sondern auch untereinander einfoermiger sein, als es die sein koennen, welche Vaeter von verschiednen Grundsaetzen einfuehren. Auch ist es gewiss, dass die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloss verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natuerlich, dass sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem soviel Uebereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nuetzlich sein koennen. ----Fussnote [1] S. die Unterredungen hinter dem "Natuerlichen Sohne", S. 321-322 d. [2] "Petites Lettres sur de grands Philosophes", Lettr. II. [3] ("Impromptu de Versailles", Sc. 3.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (a Moliere) fournirons toujours assez de matiere, et nous ne prenons guere le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce qu'il dit. Crois-tu qu'il ait epuise dans ses Comedies tous les ridicules des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt caracteres de gens, ou il n'a pas touche? N'a-t-il pas, par exemple, ceux qui se font les plus grandes amities du monde, et qui, le dos tourne, font galanterie de se dechirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs a outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au coeur a ceux qui les ecoutent? N'a-t-il pas ces laches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encensent dans la prosperite, et vous accablent dans la disgrace? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mecontents de la Cour, ces suivants inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour services ne peuvent compter que des importunites, et qui veulent qu'on les recompense d'avoir obsede le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux qui caressent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilites a droite, a gauche, et courent a tous ceux qu'ils voyent avec les memes embrassades, et les memes protestations d'amitie?--Va, va, Marquis, Moliere aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il a touche n'est que bagatelle au prix de ce qui reste. [4] In der dr. Dichtkunst hinter dem "Hausvater", S. 258 d. Uebers. ----Fussnote Siebenundachtzig-und achtundachtzigstes Stueck Den 4. Maerz 1768 Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit seiner Lanze stossen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens verrueckt die Lanze, und er stoesst den Ring gerade vorbei. So sagt er ueber den "Natuerlichen Sohn" unter andern: "Welch ein seltsamer Titel! der natuerliche Sohn! Warum heisst das Stueck so? Welchen Einfluss hat die Geburt des Dorval? Was fuer einen Vorfall veranlasst sie? Zu welcher Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Luecke fuellt sie auch nur? Was kann also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein paar Betrachtungen ueber das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwaermen? Welcher vernuenftige Mensch weiss denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches Vorurteil ist?" Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur Verwickelung meiner Fabel noetig; ohne ihn wuerde es weit unwahrscheinlicher gewesen sein, dass Dorval seine Schwester nicht kennet und seine Schwester von keinem Bruder weiss; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen, und ich haette den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen koennen. --Wenn Diderot dieses antwortete, sag' ich, waere Palissot nicht ungefaehr Gleichwohl ist der Charakter des natuerlichen Sohnes einem ganz andern Einwurfe blossgestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schaerfer haette zusetzen koennen. Diesem naemlich: dass der Umstand der unehelichen Geburt und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu eigentuemlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zuviel Einfluss gehabt hat, als dass dieser diejenige Allgemeinheit haben koenne, welche nach der eignen Lehre des Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muss.--Die Gelegenheit reizt mich zu einer Ausschweifung ueber diese Lehre: und welchem Reize von der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen? "Die komische Gattung", sagt Diderot,[1] "hat Arten, und die tragische hat Individua. Ich will mich erklaeren. Der Held einer Tragoedie ist der und der Mensch. es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein anderer. Die vornehmste Person einer Komoedie hingegen muss eine grosse Anzahl von Menschen vorstellen. Gaebe man ihr von ohngefaehr eine so eigene Physiognomie, dass ihr nur ein einziges Individuum aehnlich waere, so wuerde die Komoedie wieder in ihre Kindheit zuruecktreten.--Terenz scheinet mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein Vater, der sich ueber den gewaltsamen Entschluss graemet, zu welchem er seinen Sohn durch uebermaessige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kuemmerlich haelt, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft und das Feld mit eigenen Haenden bauet. Man kann gar wohl sagen, dass es so einen Vater nicht gibt. Die groesste Stadt wuerde kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein Beispiel einer so seltsamen Betruebnis aufzuweisen haben." Zuerst von der Instanz des "Heautontimorumenos". Wenn dieser Charakter wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als den Menander. Menander war der Schoepfer desselben, der ihn, allem Ansehen nach, in seinem Stuecke noch weit ausfuehrlichere Rolle spielen lassen, als er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphaere, wegen der verdoppelten Intrige, wohl sehr einziehen muessen.[2] Aber dass er von Menandern herruehrt, dieses allein schon haette, mich wenigstens, abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das [Greek: o Menandre kai bie, poteros ar' ymon poteron emimaesato]; ist zwar frostiger, als witzig gesagt: doch wuerde man es wohl ueberhaupt von einem Dichter gesagt haben, der Charaktere zu schildern imstande waere, wovon sich in der groessten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel zeiget? Zwar in hundert und mehr Stuecken koennte ihm auch wohl ein solcher Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen Gegenstaende der Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt haben, dass schon Horaz, der einen so besonders zaertlichen Geschmack hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen und im Vorbeigehen, aber fast unmerklich, getadelt habe. Die Stelle soll die in der zweiten Satire des ersten Buchs sein, wo Horaz zeigen will, "dass die Narren aus einer Uebertreibung in die andere entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius", sagt er, "fuerchtet fuer einen Verschwender gehalten zu werden. Wisst ihr, was er tut? Er leihet monatlich fuer fuenf Prozent und macht sich im voraus bezahlt. Je noetiger der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiss die Namen aller jungen Leute, die von gutem Hause sind und itzt in die Welt treten, dabei aber ueber harte Vaeter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr, dass dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkuenften entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in der Komoedie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann sich nicht schlechter quaelen: non se pejus cruciaverit."--Dieses schlechter, dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen beilaeufige Hiebe, meinet er, waeren dem Charakter des Horaz vollkommen Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu lassen. Denn hier, duenkt mich, wuerde die beilaeufige Anspielung dem Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so grosser Narr, wenn es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz ebenso abgeschmackt peinigte, wenn er ebensowenig Ursache haette, sich zu peinigen, als Fufidius, so teilt er das Laecherliche mit ihm, und Fufidius ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius, ohne alle Ursache, ebenso hart und grausam gegen sich selbst ist, als der Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut, was dieser aus Reu und Betruebnis tat: nur alsdenn wird uns jener unendlich laecherlicher und veraechtlicher, als mitleidswuerdig wir diesen finden. Und allerdings ist jede grosse Betruebnis von der Art, wie die Betruebnis dieses Vaters: die sich nicht selbst vergisst, die peiniget sich selbst. Es ist wider alle Erfahrung, dass kaum alle hundert Jahre sich ein Beispiel einer solchen Betruebnis finde: vielmehr handelt jede ungefaehr ebenso; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veraenderung. Cicero hatte auf die Natur der Betruebnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betruebte, nicht bloss von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kaelterm Gebluete fortsetzen zu muessen glauben.[3] Haec omnia recta, vera, debita putantes, faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri, quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est, aut dictum: plorare cogunt.--Quid ille Terentianus ipse se puniens? usw. Menedemus aber, so heisst der Selbstpeiniger bei dem Terenz, haelt sich nicht allein so hart aus Betruebnis; sondern, warum er sich auch jeden geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich dieses: um desto mehr fuer den abwesenden Sohn zu sparen und dem einmal ein desto gemaechlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein so ungemaechliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Vaeter tun wuerden? Meint aber Diderot, dass das Eigene und Seltsame darin bestehe, dass Menedemus selbst hackt, selbst graebt, selbst ackert: so hat er wohl in der Eil' mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit wuerde das freilich nicht so leicht tun: denn die wenigsten wuerden es zu tun verstehen. Aber die wohlhabensten, vornehmsten Roemer und Griechen waren mit allen laendlichen Arbeiten bekannter und schaemten sich nicht, selbst Hand anzulegen. Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des Selbstpeinigers sei wegen des Allzueigentuemlichen, wegen dieser ihm fast nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so ungeschickt, als er nur will. Waere Diderot nicht in eben den Fehler gefallen? Denn was kann eigentuemlicher sein, als der Charakter seines Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein zukoemmt, als der Charakter dieses natuerlichen Sohnes? "Gleich nach meiner Geburt", laesst er ihn von sich selbst sagen, "ward ich an einen Ort verschleudert, der die Grenze zwischen Einoede und Gesellschaft heissen kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die mich mit den Menschen verknuepften, konnte ich kaum einige Truemmern davon erblicken. Dreissig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und verabsaeumet umher, ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden, noch irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht haette." Dass ein natuerliches Kind sich vergebens nach seinen Eltern, vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die naehern Bande des Bluts verknuepfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen begegnen. Aber dass es ganze dreissig Jahre in der Welt herumirren koenne, ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden zu haben, ohne irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht haette: das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmoeglich. Oder wenn es moeglich waere, welche Menge ganz besonderer Umstaende muessten von beiden Seiten, von seiten der Welt und von seiten dieses so lange insulierten Wesens zusammengekommen sein, diese traurige Moeglichkeit wirklich zu machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfliessen, ehe sie wieder einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, dass ich mir je das menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wuenschte ich sonst, ein Baer geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter Menschen so lange verlassen sein! Man schleudere ihn hin, wohin man will: wenn er noch unter Menschen faellt, so faellt er unter Wesen, die, ehe er sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht glueckliche, so sind es unglueckliche Menschen! Menschen sind es doch immer. So wie ein Tropfen nur die Flaeche des Wassers beruehren darf, um von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfliessen: das Wasser heisse, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean. Gleichwohl soll diese dreissigjaehrige Einsamkeit unter den Menschen den Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun aehnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in ihm erkennen? Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: "In der ernsthaften Gattung werden die Charaktere oft ebenso allgemein sein, als in der komischen Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der tragischen." Er wuerde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komoedie und Tragoedie fuellen soll, so muessen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so voellig individuell sind, als diese; und solcher Art duerfte doch wohl der Charakter des Dorval sein. Also waeren wir gluecklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen. Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, dass die Tragoedie Individua, die Komoedie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, dass die Personen der Komoedie eine grosse Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen muessten; dahingegen der Held der Tragoedie nur der und der Mensch, nur Regulus oder Brutus oder Cato sei und sein solle. Ist es wahr, so hat auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er die ernsthafte Komoedie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter seines Dorval waere so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so faellt auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natuerlichen Sohnes kann aus einer so ungegruendeten Einteilung keine Rechtfertigung zufliessen. ----Fussnote [1] Unterred., S. 292 d. Uebers. [2] Falls naemlich die 6. Zeile des Prologs Duplex quae ex argumento facta est simplici, von dem Dichter wirklich so geschrieben und nicht anders zu verstehen ist, als die Dacier und nach ihr der neue englische Uebersetzer des Terenz, Colman, sie erklaeren. Terence only meant to say, that he had doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very properly: novam esse ostendi,--which certainly could not have been implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius, hatte das duplex nicht anders verstanden; propter senes et juvenes sagt diese; und jener schreibt: nam in hac latina senes duo, adolescentes item duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil ich gar nicht einsehe, was von dem Stuecke uebrigbleibt, wenn man die Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie Menander diesen Stoff ohne den Chremes und ohne den Clitipho habe behandeln koennen; beide sind so genau hineingeflochten, dass ich mir weder Verwicklung noch Aufloesung ohne sie denken kann. Einer andern Erklaerung, durch welche sich Julius Scaliger laecherlich gemacht hat, will ich gar nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit haben die Kritici bald das duplex, bald das simplici in der Zeile zu veraendern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermassen berechtigten. Einige haben gelesen: Duplex quae ex Argumente facta est duplici. Simplex quae ex argumento facta est duplici. Was bleibt noch uebrig, als dass nun auch einer lieset: Simplex quae ex argumento facta est simplici? Und in allem Ernste: so moechte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle im Zusammenhange, und ueberlege meine Gruende: Ex integra Graeca integram comoediam Hodie sum acturus Heautontimorumenon: Simplex quae ex argumento facta est simplici. [3] Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern am Theater vorgeworfen ward: Multas contaminasse graecas, dum facit Paucas latinas-- [4] Er schmelzte naemlich oefters zwei Stuecke in eines und machte aus zwei griechischen Komoedien eine einzige lateinische. So setzte er seine "Andria" aus der "Andria" und "Perinthia" des Menanders zusammen; seinen "Eunuchus" aus dem "Eunuchus" und dem "Colax" eben dieses Dichters; seine "Brueder" aus den "Bruedern" des naemlichen und einem Stuecke des Diphilus. Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des "Heautontimorumenos". Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm getan haetten. --Id esse factum hic non negat Neque se pigere, et deinde factum iri autumat. Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi Licere id facere, quod illi fecerunt putat. [5] Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, dass ich es noch oefterer tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stuecke, und nicht auf das gegenwaertige, den "Heautontimorumenos". Denn dieser war nicht aus zwei griechischen Stuecken, sondern nur aus einem einzigen gleichen Namens genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage: Simplex quae ex argumento facta est simplici. So einfach, will Terenz sagen, als das Stueck des Menanders ist, ebenso einfach ist auch mein Stueck; ich habe durchaus nichts aus andern Stuecken eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stuecke genommen, und das griechische Stueck ist ganz in meinem lateinischen; ich gebe also Ex integra Graeca integram Comoediam. Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben fand, dass es soviel sein sollte als a nullo tacta, ist hier offenbar falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das zweite integram schicken wuerde.--Und so glaube ich, dass sich meine Vermutung und Auslegung wohl hoeren laesst! Nur wird man sich an die gleich folgende Zeile stossen: Novam esse ostendi, et quae esset-- Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, dass er das ganze Stueck aus einem einzigen Stuecke des Menanders genommen habe, wie kann er eben durch dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, dass sein Stueck neu sei, novam esse? Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar durch eine Erklaerung ebendieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten getraue, dass sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur mir zugehoert, und kein Ausleger, soviel ich weiss, sie nur von weitem vermutet hat. Ich sage naemlich: die Worte, Novam esse ostendi, et quae esset-- beziehen sich keinesweges auf das, was Terenz den Vorredner in dem vorigen sagen lassen; sondern man muss darunter verstehen, apud Aediles; novus aber heisst hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen, sondern bloss, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Dass mein Stueck, will er sagen, ein neues Stueck sei, das ist, ein solches Stueck, welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem Griechischen uebersetzt, das habe ich den Aedilen, die mir es abgekauft, bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an den Streit erinnern, welchen er wegen seines "Eunuchus" vor den Aedilen hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen uebersetztes Stueck verkauft; aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den Aedilen ueberreden, dass er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei alten Stuecken des Naevius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der "Eunuchus" mit diesen Stuecken vieles gemein; aber doch war die Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der griechischen Quelle geschoepft, aus welcher, ihm unwissend, schon Naevius und Plautus vor ihm geschoepft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen bei seinem "Heautontimorumenos" vorzubauen, was war natuerlicher, als dass er den Aedilen das griechische Original vorgezeigt und sie wegen des Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Aedilen konnten das leicht selbst von ihm gefodert haben. Und darauf geht das Novam esse ostendi, et quae esset. [6] Tusc. Quaest., lib. III. c. 27. ----Fussnote Neunundachtzigstes Stueck Den 8. Maerz 1768 Zuerst muss ich anmerken, dass Diderot seine Assertion ohne allen Beweis gelassen hat. Er muss sie fuer eine Wahrheit angesehen haben, die kein Mensch in Zweifel ziehen werde, noch koenne; die man nur denken duerfe, um ihren Grund zugleich mitzudenken. Und sollte er den wohl gar in den wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles und Alexander und Cato und Augustus heissen und Achilles, Alexander, Cato, Augustus wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus geschlossen haben, dass sonach alles, was der Dichter in der Tragoedie sie sprechen und handeln laesst, auch nur diesen einzeln so genannten Personen, und keinem in der Welt zugleich mit, muesse zukommen koennen? Fast scheint es so. Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zweitausend Jahren widerlegt und auf die ihr entgegenstehende Wahrheit den wesentlichen Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, sowie den groessern Nutzen der letztern vor der ersten gegruendet. Auch hat er es auf eine so einleuchtende Art getan, dass ich nur seine Worte anfuehren darf, um keine geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein koenne. "Aus diesen also", sagt Aristoteles,[1] nachdem er die wesentlichen Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet klar, dass des Dichters Werk nicht ist, zu erzaehlen, was geschehen, sondern zu erzaehlen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene und was nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei moeglich gewesen. Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Buecher des Herodotus in gebundene Rede bringen kann und sie darum doch nichts weniger in gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, dass jener erzaehlet, was geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nuetzlicher als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln wuerde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan oder gelitten hat. Bei der Komoedie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefasst ist, legt man die etwanigen Namen sonach bei und macht es nicht wie die jambischen Dichter, die bei dem Einzeln bleiben. Bei der Tragoedie aber haelt man sich an die schon vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Moegliche glaubwuerdig ist und wir nicht moeglich glauben, was nie geschehen, dahingegen was geschehen offenbar moeglich sein muss, weil es nicht geschehen waere, wenn es nicht moeglich waere. Und doch sind auch in den Tragoedien, in einigen nur ein oder zwei bekannte Namen, und die uebrigen sind erdichtet; in einigen auch gar keiner, so wie in der >Blume< des Agathon. Denn in diesem Stuecke sind Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefaellt es darum nichts weniger." In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Uebersetzung anfuehre, mit welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als moeglich, sind verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen koennen, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier zur Sache gehoert, muss ich mitnehmen. Das ist unwidersprechlich, dass Aristoteles schlechterdings keinen Unterschied zwischen den Personen der Tragoedie und Komoedie, in Ansehung ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln, nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen koennte, sondern so wie ein jeder von ihrer Beschaffenheit in den naemlichen Umstaenden sprechen oder handeln wuerde und muesste. In diesem [Greek: katholou], in dieser Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer und folglich lehrreicher ist als die Geschichte; und wenn es wahr ist, dass derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene Physiognomien geben wollte, dass ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt aehnlich waere, die Komoedie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre Kindheit zuruecksetzen und in Satire verkehren wuerde: so ist es auch ebenso wahr, dass derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den Menschen, nur den Caesar, nur den Cato, nach allen den Eigentuemlichkeiten, die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle diese Eigentuemlichkeiten mit dem Charakter des Caesar und Cato zusammengehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, dass, sage ich, dieser die Tragoedie entkraeften und zur Geschichte erniedrigen wuerde. Aber Aristoteles sagt auch, dass die Poesie auf dieses Allgemeine der Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele ([Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]); welches sich besonders bei der Komoedie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die Ausleger dem Aristoteles nachzusagen sich begnuegt, im geringsten aber nicht erlaeutert haben. Wohl aber haben verschiedene sich so darueber ausgedrueckt, dass man klar sieht, sie muessen entweder nichts, oder etwas ganz Falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie, wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser Personen? und wie ist diese ihre Ruecksicht auf das Allgemeine der Person, besonders bei der Komoedie, schon laengst sichtbar gewesen? Die Worte: [Greek: esti de katholou men, to poio ta poi atta symbainei legein, ae prattein kata to eikos, ae io anankaion, ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae], uebersetzt Dacier: Une chose generale, c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractere a du dire, ou faire vraisemblablement ou necessairement, ce qui est le but de la poesie lors meme, qu'elle impose les noms a ses personnages. Vollkommen so uebersetzt sie auch Herr Curtius: "Das Allgemeine ist, was einer, vermoege eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit redet oder tut. Dieses Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.--Auch in ihrer Anmerkung ueber diese Worte stehen beide fuer einen Mann; der eine sagt vollkommen eben das, was der andere sagt. Sie erklaeren beide, was das Allgemeine ist; sie sagen beide, dass dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei: aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht, davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors meme, sowie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, dass sie nichts davon zu sagen gewusst, ja, dass sie gar nicht einmal verstanden, was Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors meme, dieses auch wenn, heisst bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach bloss sagen, dass ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln Personen beilege, sie demohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des Dacier, die ich in der Note anfuehren will,[2] zeigen dieses deutlich. Nun ist es wahr, dass dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es erschoepft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, dass die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, dass sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine ziele, [Greek: ou stochazetai]. Ich sollte doch wohl meinen, dass beides nicht einerlei waere. Ist es aber nicht einerlei: so geraet man notwendig auf die Frage: wie zielt sie darauf? Und auf diese Frage antworten die Ausleger nichts. ----Fussnote [1] Dichtk., 9. Kapitel. [2] Aristote previent ici une objection, qu'on pouvait lui faire, sur la definition qu'il vient de donner d'une chose generale: car les ignorants n'auraient pas manque de lui dire qu'Homere, par exemple, n'a point en vue d'ecrire une action generale et universelle, mais une action particuliere, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes comme Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par consequent, il n'y a aucune difference entre Homere et un Historien, qui aurait ecrit les actions d'Achille. Le Philosophe va au-devant de cette objection, en faisant voir que les Poetes, c'est-a-dire, les Auteurs d'une Tragedie ou d'un Poeme Epique lors meme qu'ils imposent les noms a leurs personnages ne pensent en aucune maniere a les faire parler veritablement, ce qu'ils seraient obliges de faire, s'ils ecrivaient les actions particulieres et veritables d'un certain homme, nomme Achille ou Edipe, mais qu'ils se proposent de les faire parler et agir necessairement ou vraisemblablement; c'est-a-dire, de leur faire dire et faire tout ce que des hommes de ce meme caractere doivent faire et dire en cet etat, ou par necessite, ou au moins selon les regles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que ce sont des actions generales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr Curtius in seiner Anmerkung; nur dass er das Allgemeine und Einzelne noch an Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, dass er auf den Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zufolge wuerden es nur personifierte Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln liesse, da es doch charakterisierte Personen sein sollen. ----Fussnote Neunzigstes Stueck Den 11. Maerz 1768 Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe ich schon laengst an der Komoedie deutlich gezeigt: [Greek: Hepi men oun taes komodias aedae touto daelon gegonen sustaesantes gar ton mython dia ton eikoton, outo ta tychonta onomata epititheasi, chai ouch osper oi iambopoioi peri ton kath' ekaston poiousin]. Ich muss auch hiervon die Uebersetzungen des Dacier und Curtius anfuehren. Dacier sagt: C'est ce qui est deja rendu sensible dans la comedie, car les poetes comiques, apres avoir dresse leur sujet sur la vraisemblance, imposent apres cela a leurs personnages tels noms qu'il leur plait, et n'imitent pas les poetes satyriques, qui ne s'attachent qu'aux choses particulieres. Und Curtius: "In dem Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die Komoedienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit entworfen haben, legen sie den Personen willkuerliche Namen bei und setzen sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum Ziele." Was findet man in diesen Uebersetzungen von dem, was Aristoteles hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als dass die komischen Dichter es nicht machten wie die jambischen, (das ist, satirischen Dichter) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkuerliche Namen, tels noms qu'il leur plait, beilegten. Gesetzt nun auch, dass [Greek: ta tychonta onomata] dergleichen Namen bedeuten koennten: wo haben denn beide Uebersetzer das "[Greek: outo]" gelassen? Schien ihnen denn dieses "[Greek: outo]" gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn diesem "[Greek: outo]" zufolge legten die komischen Dichter ihren Personen nicht allein willkuerliche Namen bei, sondern sie legten ihnen diese willkuerliche Namen "so", [Greek: outo], bei. Und wie "so"? So, dass sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: [Greek: ou stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]. Und wie geschah das? Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius! Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die Komoedie gab ihren Personen Namen, welche, vermoege ihrer grammatischen Ableitung und Zusammensetzung oder auch sonstigen Bedeutung die Beschaffenheit dieser Personen ausdrueckten: mit einem Worte, sie gab ihnen redende Namen; Namen, die man nur hoeren durfte, um sogleich zu wissen, von welcher Art die sein wuerden, die sie fuehren. Ich will eine Stelle des Donatus hierueber anziehen. Nomina personarum, sagt er bei Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der "Brueder", in comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim absurdum est, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen personae incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum.[1] Hinc servus fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraso vel Polemon: juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum poetae vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque protulerit, nisi per [Greek: antiorasin] nomen imposuerit joculariter, ut Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr Beispiele hiervon ueberzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus und Terenz untersuchen. Da ihre Stuecke alle aus dem Griechischen genommen sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs und haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die Denkungsart oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein haben koennen; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und sicher angeben koennen. Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern muss ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles sich ihrer gleichwohl da nicht erinnern koennen, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klaerer sein, als was der Philosoph von der Ruecksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als dass [Greek: epi men taes komodias aedae touto daelon gegonen], dass sich diese Ruecksicht bei der Komoedie besonders laengst offenbar gezeigt habe? Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die jambischen Dichter von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der beleidigenden Satire die unterrichtende Komoedie entstand: suchte man jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der grosssprecherische feige Soldat hiess nicht wie dieser oder jener Anfuehrer aus diesem oder jenem Stamme: er hiess Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende Schmarutzer, der diesem um das Maul ging, hiess nicht, wie ein gewisser armer Schlucker in der Stadt: er hiess Artotrogus, Brockenschroeter. Der Juengling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater in Schulden setzte, hiess nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln Buergers: er hiess Phidippides, Junker Sparross. Man koennte einwenden, dass dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine Erfindung der neuern griechischen Komoedie sein duerften, deren Dichtern es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; dass aber Aristoteles diese neuere Komoedie nicht gekannt habe und folglich bei seinen Regeln keine Ruecksicht auf sie nehmen koennen. Das letztere behauptet Hurd;[2] aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, dass die aeltere griechische Komoedie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in denjenigen Stuecken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine gewisse bekannte Person laecherlich und verhasst zu machen, waren, ausser dem wahren Namen dieser Person, die uebrigen fast alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet. ----Fussnote [1] Diese Periode koennte leicht sehr falsch verstanden werden. Naemlich wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das fuer etwas Ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es wuerde ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen oder Beschaeftigungen beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein bei ihm, was er seinen Personen fuer Namen beilegen, oder was er mit diesen Namen fuer einen Stand oder fuer eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach duerfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrueckt haben; und mit Veraenderung einer einzigen Silbe ist dieser Anstoss vermieden. Man lese naemlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere et nomen personae u.s.w. [2] Hurd in seiner Abhandlung ueber die verschiedenen Gebiete des Drama: From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking ridicule. His notion was taken from the state and practice of the Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to this description. The great revolution, which the introduction of the new comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses nimmt Hurd bloss an, damit seine Erklaerung der Komoedie mit der Aristotelischen nicht so geradezu zu streiten scheine. Aristoteles hat die Neue Komoedie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in der Moral an den Nikomachus, wo er von dem anstaendigen und unanstaendigen Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14.) [Greek: Idoi d' an tis kai ek ton komodion ton palaion kai ton kainon. Tois men gar aen geloion ae aischrologia, tois de mallon ae hyponoia]. Man koennte zwar sagen, dass unter der Neuen Komoedie hier die Mittlere verstanden werde; denn als noch keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heissen muessen. Man koennte hinzusetzen, dass Aristoteles in eben der Olympiade gestorben, in welcher Menander sein erstes Stueck auffuehren lassen, und zwar noch das Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komoedie von dem Menander rechnet; Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach, aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazugehoert schrieb viel frueher, und der Uebergang von der Mittleren zur Neuen Komoedie war so unmerklich, dass es dem Aristoteles unmoeglich an Mustern derselben kann gefehlt haben. Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; sein "Kokalos" war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen Veraenderungen zueignen konnte: Kokalon heisst es in dem "Leben des Aristophanes", [Greek: en ho eisagei phthoran kai anagnorismon, kai talla panta a ezaelose Menandros]. Wie nun also Aristophanes Muster von allen verschiedenen Abaenderungen der Komoedie gegeben, so konnte auch Aristoteles seine Erklaerung der Komoedie ueberhaupt auf sie alle einrichten. Das tat er denn; und die Komoedie hat nachher keine Erweiterung bekommen, fuer welche diese Erklaerung zu enge geworden waere. Hurd haette sie nur recht verstehen duerfen, und er wuerde gar nicht noetig gehabt haben, um seine an und fuer sich richtigen Begriffe von der Komoedie ausser allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen. ----Fussnote Einundneunzigstes Stueck Den 15. Maerz 1768 Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, laecherlich und verdaechtig machen. Der gefaehrliche Sophist ueberhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Zuege, die auf den Sokrates gar nicht passten; so dass Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komoedie, wenn man diese nicht treffende Zuege fuer nichts als mutwillige Verleumdungen erklaert und sie durchaus dafuer nicht erkennen will, was sie doch sind, fuer Erweiterungen des einzeln Charakters, fuer Erhebungen des Persoenlichen zum Allgemeinen! Hier liesse sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen Komoedie ueberhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es liesse sich anmerken, dass dieser Gebrauch keinesweges in der aeltern griechischen Komoedie allgemein gewesen,[1] dass sich nur der und jener Dichter gelegentlich desselben erkuehnet,[2] dass er folglich nicht als ein unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komoedie zu betrachten. [3] Es liesse sich zeigen, dass, als er endlich durch ausdrueckliche Gesetze untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch stillschweigend fuer ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stuecken des Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt und laecherlich gemacht.[4] Doch ich muss mich nicht aus einer Ausschweifung in die andere verlieren. Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragoedie machen. So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal einer eiteln und gefaehrlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Taeuscher und Verfuehrer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloss der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband und noch naeher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens bestimmte: so ist auch bloss der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er fuehrt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Maenner bekanntzumachen, nicht um das Gedaechtnis derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Maennern von ihrem Charakter ueberhaupt begegnen koennen und muessen. Nun ist zwar wahr, dass wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht, dass uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurueckfuehren muesse; er kann uns nicht selten weit kuerzer, weit natuerlicher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als dass sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und ueber Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhaengen scheinen und alles, was einmal geschehen, glaubwuerdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser Ursachen fliesst aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe ueberhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht noetig, sich umstaendlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer von anderwaerts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt ausser meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger missverstanden als jene. Nun also auf die Behauptung des Diderot zurueckzukommen. Wenn ich die Lehre des Aristoteles richtig erklaert zu haben glauben darf: so darf ich auch glauben, durch meine Erklaerung bewiesen zu haben, dass die Sache selbst unmoeglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die Charaktere der Tragoedie muessen ebenso allgemein sein, als die Charaktere der Komoedie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder Diderot muss unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verstehen, als Aristoteles darunter verstand. ----Fussnote [1] Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komoedie von dem Margites des Homer, [Greek: ou psogon alla to geloion dramatopoiaesantos], genommen worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die erdichteten Namen mit eingefuehrt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewissen Person, indem [Greek: Margeitaes] wohl eher von [Greek: margaes] gemacht worden, als dass [Greek: margaes] von [Greek: Margeitaes] sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten Komoedie finden wir es auch ausdruecklich angemerkt, dass sie sich aller Anzueglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht moeglich gewesen waere. z.E. von dem Pherekrates. [2] Die persoenliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche Eigenschaft der alten Komoedie, dass man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkuehnet. Es war Cratinus, welcher zuerst [Greek: to charienti taes komodias to ophelimon prosethaeke, tous kakos prattontas diaballon, kai osper daemosia mastigi tae komodia kolazon]. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine, verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befuerchten hatte. Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, dass er es sei, welcher sich zuerst an die Grossen des Staats gewagt habe (Ir. v. 750.): [Greek: Ouch idiotas anthropischous komodon, oude gynaikas, All' Haerakleous orgaen tin' echon toisi megistois epicheirei]. [3] Ja er haette lieber gar diese Kuehnheit als sein eigenes Privilegium betrachten moegen. Er war hoechst eifersuechtig, als er sahe, dass ihm so viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten. [4] Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und will behaupten, dass mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et Phormis inventerent les sujets de leurs pieces, puisque l'un et l'autre ont ete des Poetes de la vieille Comedie, ou il n'y avait rien de feint, et que ces aventures feintes ne commencerent a etre mises sur le theatre, que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-a-dire dans la nouvelle Comedie. (Remarque sur le Chap. V. de la Poet. d'Arist.) Man sollte glauben, wer so etwas sagen koenne, muesste nie auch nur einen Blick in den Aristophanes getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komoedie, war ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer sein konnten. Kein einziges von den uebriggebliebenen Stuecken des Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen waere; und wie kann man sagen, dass sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als ausgemacht annimmt, [Greek: oti ton poiaetaen mallon ton mython einai dei poiaetaen ae ton metron]: wuerde er nicht schlechterdings die Verfasser der alten griechischen Komoedie aus der Klasse der Dichter haben ausschliessen muessen, wenn er geglaubt haette, dass sie die Argumente ihrer Stuecke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragoedie gar wohl mit der poetischen Erfindung bestehen kann, dass Namen und Umstaende aus der wahren Geschichte entlehnt sind: so muss es, seiner Meinung nach, auch in der Komoedie bestehen koennen. Es kann unmoeglich seinen Begriffen gemaess gewesen sein, dass die Komoedie dadurch, dass sie wahre Namen brauche und auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmaehsucht zurueckfalle; vielmehr muss er geglaubt haben, dass sich das [Greek: katholou poiein logous ae mythous] gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den aeltesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und wird es gewiss dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wusste, wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles und Sokrates namentlich mitgenommen. [5] Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komoedie laecherlich zu machen, in seiner "Republik" einfuehren wollte ([Greek: maete logo, maete eichoni, maete thymo, maete aneu thymou, maedamno maedena ton politon komodein]) ist in der wirklichen Republik niemals darueber gehalten worden. Ich will nicht anfuehren, dass in den Stuecken des Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit Namen genennt ward; man koennte antworten, dass dieser Abschaum von Menschen nicht zu den Buergern gehoert. Aber Ktesippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiss atheniensischer Buerger so gut wie einer, und man sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.) ----Fussnote Zweiundneunzigstes Stueck Den 18. Maerz 1768 Und warum koennte das letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast ebenso ausdrueckt als Diderot, fast ebenso geradezu dem Aristoteles zu widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht, dass ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern fuer denjenigen erkennen muss, der noch das meiste Licht ueber diese Materie verbreitet hat. Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd; ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Uebersetzungen bei uns immer am spaetesten bekannt werden. Ich moechte ihn aber hier nicht gern anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der Deutsche, der ihr gewachsen waere, sich noch nicht gefunden hat: so duerften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen daran gelegen waere. Der fleissige Mann, voll guten Willens, uebereile sich also lieber damit nicht und sehe, was ich von einem noch unuebersetzten guten Buche hier sage, ja fuer keinen Wink an, den ich seiner allezeit fertigen Feder geben wollen. Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung "Ueber die verschiednen Gebiete des Drama" beigefuegt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, dass bisher nur die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwaegung gezogen worden, ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen. Gleichwohl muesse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu faellen. Nachdem er also die Absicht des Drama ueberhaupt, und der drei Gattungen desselben, die er vor sich findet, der Tragoedie, der Komoedie und des Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in welchen sie voneinander unterschieden sein muessen. Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komoedie und Tragoedie, auch diese, dass der Tragoedie eine wahre, der Komoedie hingegen eine erdichtete Begebenheit zutraeglicher sei. Hierauf faehrt er fort: The same genius in the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; tragedy, particular. The Avare of Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of covetousness itself. Racine's Nero on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. d.I.: "In dem naemlichen Geiste schildern die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komoedie macht alle ihre Charaktere general; die Tragoedie partikulaer. Der Geizige des Moliere ist nicht so eigentlich das Gemaelde eines geizigen Mannes, als des Geizes selbst. Racines Nero hingegen ist nicht das Gemaelde der Grausamkeit, sondern nur eines grausamen Mannes." Hurd scheinet so zu schliessen: wenn die Tragoedie eine wahre Begebenheit erfodert, so muessen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die Komoedie sich mit erdichteten Begebenheiten begnuegen kann, wenn ihr wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allem ihrem Umfange zeigen koennen, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so weiten Spielraum nicht erlauben, so duerfen und muessen auch ihre Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren; angesehen dem Allgemeinen selbst in unserer Einbildungskraft eine Art von Existenz zukoemmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhaelt. Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schliessen nicht ein blosser Zirkel ist: ich will die Schlussfolge bloss annehmen, so wie sie da liegt und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloss, welches aus der weitern Erklaerung des Hurd erhellet. "Es wird aber", faehrt er fort, "hier dienlich sein, einer doppelten Verstossung vorzubauen, welche der eben angefuehrte Grundsatz zu beguenstigen scheinen koennte. Die erste betrifft die Tragoedie, von der ich gesagt habe, dass sie partikulaere Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind partikulaerer, als die Charaktere der Komoedie. Das ist: die Absicht der Tragoedie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, dass der Dichter von den charakteristischen Umstaenden, durch welche sich die Sitten schildern, so viele zusammenzieht, als die Komoedie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als soviel der Verlauf der Handlung unumgaenglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Zuege, durch die er sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiss aufgesucht und angebracht. Es ist fast wie mit dem Portraetmalen. Wenn ein grosser Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der naemlichen Art nur so weit aehnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentuemlichen Zuges geschehen kann. Soll ebenderselbe Kuenstler hingegen einen Kopf ueberhaupt malen, so wird er alle die gewoehnlichen Mienen und Zuege zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesamten Gattung bemerkt hat, dass sie die Idee am kraeftigsten ausdruecken, die er sich itzt in Gedanken gemacht hat und in seinem Gemaelde darstellen will. Ebenso unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des Drama: woraus denn erhellet, dass, wenn ich den tragischen Charakter partikular nenne, ich bloss sagen will, dass er die Art, zu welcher er gehoeret, weniger vorstellig macht als der komische; nicht aber, dass das, was man von dem Charakter zu zeigen fuer gut befindet, es mag nun so wenig sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als wovon ich das Gegenteil anderwaerts behauptet und umstaendlich erlaeutert habe.[1] Was zweitens die Komoedie anbelangt, so habe ich gesagt, dass sie generale Charaktere geben muesse, und habe zum Beispiele den Geizigen des Moliere angefuehrt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen Mannes entspricht. Doch auch hier muss man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Moliere duenkt mich in diesem Beispiele selbst fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklaerung, nicht ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen. Da die komische Buehne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine ich, kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, als moeglich. Denn indem auf diese Weise die in dem Stuecke aufgefuehrte Person gleichsam der Repraesentant aller Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur moeglich. Es muss aber sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den moeglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, sondern nur bis auf die wirkliche Aeusserung seiner Kraefte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertiget werden und im gemeinen Leben stattfinden koennen. Hierin haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben erteilen koennte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muss sich in jedem dramatischen Gemaelde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, dass das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll. Doch aber muss die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kraeftiger ausdruecke." ----Fussnote [1] Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque jubebo Doctum imitatorum, et veras hinc ducere voces, wo Hurd zeigt, dass die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist; Falschheit hingegen das heisse, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur uebereinstimmend sei. ----Fussnote Dreiundneunzigstes Stueck Den 22. Maerz 1768 "Alles dieses laesst sich abermals aus der Malerei sehr wohl erlaeutern. In charakteristischen Portraeten, wie wir diejenigen nennen koennen, welche eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann von wirklicher Faehigkeit ist, nicht auf die Moeglichkeit einer abstrakten Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein, dass irgendeine Eigenschaft die herrschende ist; diese drueckt er stark, und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden Leidenschaft am sichtbarsten aeussern. Und wenn er dieses getan hat, so duerfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein Kompliment gegen seine Kunst, gar wohl von einem solchen Portraete sagen, dass es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade so wie die Alten von der beruehmten Bildsaeule des Apollodorus vom Silanion angemerkt haben, dass sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die Leidenschaft des Zornes vorstelle.[1] Dieses aber muss bloss so verstanden werden, dass er die hauptsaechlichen Zuege der vorgebildeten Leidenschaft gut ausgedrueckt habe. Denn im uebrigen behandelt er seinen Vorwurf ebenso, wie er jeden andern behandeln wuerde: das ist, er vergisst die mitverbundenen Eigenschaften nicht und nimmt das allgemeine Ebenmass und Verhaeltnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht. Und das heisst denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft verwandelt waere. Keine Metamorphosis koennte seltsamer und unglaublicher sein. Gleichwohl sind Portraete, in diesem tadelhaften Geschmacke verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer Sammlung das Gemaelde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewoehnlicheres gibt es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und ueberladen finden, sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darueber zu aeussern.--Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit wuerde Le Bruns Buch von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen Portraete enthalten: und die Charaktere des Theophrasts muessten, in Absicht auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein. Ueber das erstere dieser Urteile wuerde jeder Virtuose in den bildenden Kuensten unstreitig lachen. Das letztere aber, fuerchte ich, duerften wohl nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu urteilen, welchen dergleichen Stuecke gemeiniglich gefunden haben. Es liessen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komoedien Beispiele anfuehren. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten Ideen auszufuehren, in ihrem voelligen Lichte sehen will, der darf nur Ben Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein charakteristisches Stueck sein soll, in der Tat aber nichts als eine unnatuerliche und, wie es die Maler nennen wuerden, harte Schilderung einer Gruppe von fuer sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komoedie immer ihre Bewunderer gehabt; und besonders muss Randolph von ihrer Einrichtung sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse' ausdruecklich nachgeahmet zu haben scheint. Auch hierin, muessen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern noch wesentlichern Schoenheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer seine Komoedien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden, dass seine auch noch so kraeftig gezeichneten Charaktere, den groessten Teil ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdruecken und ihre wesentlichen und herrschenden Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die Umstaende eine ungezwungene Aeusserung veranlassen, an den Tag legen. Diese besondere Vortrefflichkeit seiner Komoedien entstand daher, dass er die Natur getreulich kopierte und sein reges und feuriges Genie auf alles aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen Dienliches aufstossen konnte: dahingegen Nachahmung und geringere Faehigkeiten kleine Skribenten verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der aengstlichen Sorgfalt ihre Lieblingscharaktere in bestaendigem Spiele und ununterbrochner Taetigkeit zu erhalten. Man koennte ueber diese ungeschickte Anstrengung ihres Witzes sagen, dass sie mit den Personen ihres Stuecks nicht anders umgehen, als gewisse spasshafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit ihren Hoeflichkeiten so zusetzen, dass sie ihren Anteil an der allgemeinen Unterhaltung gar nicht nehmen koennen, sondern nur immer, zum Vergnuegen der Gesellschaft, Spruenge und Maennerchen machen muessen." ----Fussnote [1] Non hominem ex aere iecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8. [2] Beim B. Jonson sind zwei Komoedien, die er vom Humor benennt hat; die eine "Every Man in his Humour" und die andere "Every Man out of his Humour". Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen und wurde auf die laecherlichste Weise gemissbraucht. Sowohl diesen Missbrauch als den eigentlichen Sinn desselben bemerkt er in folgender Stelle selbst: As when some one peculiar quality Doth so possess a Man, that it doth draw All his affects, his spirits, and his powers, In their constructions, all to run one way. This may be truly said to be a humour. But that a rook by wearing a py'd feather, The cable hatband, or the three-pil'd ruff, A yard of shoe-tye, or the Switzer's knot On bis French garters, should affect a humour! O, it is more than most rediculous. [3] In der Geschichte des Humors sind beide Stuecke des Jonson also sehr wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der Humor, den wir den Englaendern itzt so vorzueglich zuschreiben, war damals bei ihnen grossenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation laecherlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen, muesste auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand der Komoedie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen, sich durch etwas Eigentuemliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie waehlt, sehr laecherlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber, wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende zur Natur gewordene Gewohnheit einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel zu speziell, als dass es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht des Drama vertragen koennte. Der ueberhaeufte Humor in vielen englischen Stuecken duerfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere derselben sein. Gewiss ist es, dass sich in dem Drama der Alten keine Spur von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wussten das Kunststueck, ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren, ja die alten Dichter ueberhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann und wann Humor: wenn naemlich die historische Wahrheit oder die Aufklaerung eines gewissen Fakti diese genaue Schilderung kaJ' ekaston erfodert. Ich habe Exempel davon fleissig gesammelt, die ich auch bloss darum in Ordnung bringen zu koennen wuenschte, um gelegentlich einen Fehler wiedergutzumachen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir uebersetzen naemlich itzt fast durchgaengig Humor durch Laune; und ich glaube mir bewusst zu sein, dass ich der erste bin, der es so uebersetzt hat. Ich habe sehr unrecht daran getan, und ich wuenschte, dass man mir nicht gefolgt waere. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu koennen, dass Humor und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade entgegengesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist, ausser diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich haette die Abstammung unsers deutschen Worts und den gewoehnlichen Gebrauch desselben besser untersuchen und genauer erwaegen sollen. Ich schloss zu eilig, weil Laune das franzoesische Humeur ausdruecke, dass es auch das englische Humour ausdrucken koennte; aber die Franzosen selbst koennen Humour nicht durch Humeur uebersetzen.--Von den genannten zwei Stuecken des Jonson hat das erste, "Jedermann in seinem Humor", den vom Hurd hier geruegten Fehler weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so individuell, noch so ueberladen, dass er mit der gewoehnlichen Natur nicht bestehen koennte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung so ziemlich verbunden. In dem zweiten hingegen, "Jedermann aus seinem Humor", ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der wunderlichsten Narren nacheinander auf, man weiss weder wie noch warum; und ihr Gespraech ist ueberall durch ein paar Freunde des Verfassers unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingefuehrt sind und Betrachtung ueber die Charaktere der Personen und ueber die Kunst des Dichters, sie zu behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an, dass alle die Personen in Umstaende geraten, in welchen sie ihres Humors satt und ueberdruessig werden. ----Fussnote Vierundneunzigstes Stueck Den 25. Maerz 1768 Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere und den Grenzen dieser Allgemeinheit nach der Idee des Hurd!--Doch es wird noetig sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklaert zu haben versichert, inwieweit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur partikular waeren, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluss ueberhaupt machen koennen, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem Aristoteles uebereinstimmen. "Wahrheit", sagt er, "heisst in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist; Falschheit hingegen ein solcher, als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit jener allgemeinen Natur uebereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdrucks in der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz[1] zwei Dinge: einmal, die Sokratische Philosophie fleissig zu studieren; zweitens, sich um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil es der eigentuemliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius accedere;[2] dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere Aehnlichkeit erteilen zu koennen. Sich hiervon zu ueberzeugen, darf man nur erwaegen, dass man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der Kuenstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu aengstlich befleissigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten, und so die allgemeine Idee der Gattung auszudruecken verfehlen. Oder er kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemueht, sie aus zu vielen Faellen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange, zusammensetzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich bloss in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der niederlaendischen Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und nicht, wie die italienische, von dem geistigen Ideale der Schoenheit entlehnet. [3] Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man gleichfalls den niederlaendischen Meistern vorwirft und der dieser ist, dass sie lieber die besondere, seltsame und groteske als die allgemeine und reizende Natur sich zum Vorbilde waehlen. Wir sehen also, dass der Dichter, indem er sich von der eigenen und besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegruebelt hatte und nicht ohne Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Naemlich, dass die poetische Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen koenne. Denn, der poetische Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das Abbild von des Dichters eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge; und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem goettlichen Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild von dem Bilde eines Bildes und liefert uns urspruengliche Wahrheit nur gleichsam aus der dritten Hand. [4] Aber alle diese Vernuenftelei faellt weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehoerig fasset und fleissig in Ausuebung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet, ueberspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden besondern Gegenstaende und erhebt sich, soviel moeglich, zu dem goettlichen Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewoehnliche Lob, welches der grosse Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; dass sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere Studium sei: [Greek: philosophoteron kai spoudaioteron poiaesis historias estin]. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nun gleichfalls sehr begreiflich: [Greek: ae men gar poiaesis mallon ta katholou, ae d' historia ta kath' ekaston legei].[5] Ferner wird hieraus ein wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den zwei grossen Nebenbuhlern der griechischen Buehne soll befunden haben. Wenn man dem Sophocles vorwarf, dass es seinen Charakteren an Wahrheit fehle, so pflegte er sich damit zu verantworten, dass er die Menschen so schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie waeren: [Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschraenkte enge Vorstellung, welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen vollstaendigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht hatte und von da aus das Leben uebersehen wollte, hielt seinen Blick zu sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet, versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den vorhabenden Gegenstaenden nach, seine Charaktere zwar natuerlich und wahr, aber auch dann und wann ohne die hoehere allgemeine Aehnlichkeit, die zur Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7] Ein Einwurf stoesst gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen muessen. Man koennte sagen, 'dass philosophische Spekulationen die Begriffe eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das Individuelle einschraenken muessten. Das letztere sei ein Mangel, welcher aus der kleinen Anzahl von Gegenstaenden entspringe, die den Menschen zu betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch abzuhelfen, dass man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, dass man ueber die allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen Buechern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Buecher haetten ihren allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben koennen, ohne welche ihre Buecher sonst von keinem Werte sein wuerden.' Die Antwort hierauf, duenkt mich, ist diese. Durch Erwaegung der allgemeinen Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein muss, die aus dem Uebergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften entspringet: das ist, er lernet das Betragen ueberhaupt, welches der beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlaessig zu wissen, wieweit und in welchem Grade von Staerke sich dieser oder jener Charakter, bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise aeussern wuerde, das ist einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Dass Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis bei einem Dichter, wie Euripides war, sehr haeufig sollten gewesen sein, laesst sich nicht wohl annehmen: auch werden, wo sich dergleichen in seinen uebriggebliebenen Stuecken etwa finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, dass sie auch einem gemeinen Leser in die Augen fallen muessten. Es koennen nur Feinheiten sein, die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermoegend ist; und auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im Grunde eine Schoenheit ist. Es wuerde also ein sehr gefaehrliches Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein geglaubt hatte. Aber gleichwohl will ich es wagen, eine anzufuehren, die, wenn ich sie auch schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine Meinung zu erlaeutern dienen kann." ----Fussnote [1] De arte poet. v. 310. 317. 318. [2] De Orat. I. 51. [3] Nach Massgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret: sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat. (Cic. Or. 2.) [4] Plato de Repl., L. X. [5] "Dichtkunst", Kap. 9. [6] "Dichtkunst", Kap. 25. [7] Diese Erklaerung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Uebersetzung scheinet Dacier zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisait ses Heros, comme ils devaient etre et qu'Euripide les faisait comme ils etaient. Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd versteht unter dem Wie sie sein sollten die allgemeine abstrakte Idee des Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr als nach ihren individuellen Verschiedenheiten schildern muesse. Dacier aber denkt sich dabei eine hoehere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu erreichen faehig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese, sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewoehnlicherweise beigelegt: Sophocle tachait de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours bien plus ce qu'une belle Nature etait capable de faire, que ce qu'elle faisait. Allein diese hoehere moralische Vollkommenheit gehoeret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt, schildert gerade umgekehrt mehr in der Manier des Euripides als des Sophokles. Die weitere Ausfuehrung hiervon verdienet mehr als eine Note. ----Fussnote Fuenfundneunzigstes Stueck Den 29. Maerz 1768 "Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte in dem Charakter dieser Prinzessin ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll erfuelltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Haerte, mit der man sich gegen sie selbst betrug, erbittert war und durch noch weit staerkere Bewegungsgruende angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu raechen. Eine solche heftige Gemuetsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl schliessen, muss immer sehr bereit sein, sich zu aeussern. Elektra, kann er wohl einsehen, muss, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausfuehrung ihres Vorhabens beschleunigen zu koennen wuenschen. Aber zu welcher Hoehe dieser Groll steigen darf? d.I. wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdruecken darf, ohne dass ein Mann, der mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften im ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: Das ist unwahrscheinlich? Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein. Sogar eine nur maessige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben ist hier nicht hinlaenglich, uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das Aeusserste getrieben haette, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die Geschichte duerfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Faelle als moeglich; einzig und allein vermittelst der ausgebreitetsten Kenntnis, wieviel eine solche Erbitterung ueber dergleichen Charaktere unter dergleichen Umstaenden im wirklichen Leben gewoehnlicherweise vermag. So verschieden diese Kenntnis in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden. In der schoenen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes vorfaellt, von dem sie aber noch nicht weiss, dass er ihr Bruder ist, koemmt die Unterredung ganz natuerlich auf die Ungluecksfaelle der Elektra und auf den Urheber derselben, die Klytaemnestra, sowie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu werden. Das Gespraech, wie es hierauf weitergehet, ist dieses: Orestes. Und Orestes? Gesetzt, er kaeme nach Argos zurueck-- Elektra. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals zurueckkommen wird? Orestes. Aber gesetzt, er kaeme! Wie muesste er es anfangen, um den Tod seines Vaters zu raechen? Elektra. Sich eben des erkuehnen, wessen die Feinde sich gegen seinen Vater erkuehnten. Orestes. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen? Elektra. Sie mit dem naemlichen Eisen umbringen, mit welchem sie meinen Vater mordete! Orestes. Und darf ich das, als deinen festen Entschluss, deinem Bruder Elektra. 'Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!' Das Griechische ist noch staerker: [Greek: Thanoimi, maetros aim' episphaxas' emaes]. 'Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht Nun kann man nicht behaupten, dass diese letzte Rede schlechterdings unnatuerlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug ereignet, wo unter aehnlichen Umstaenden die Rache sich ebenso heftig ausgedrueckt hat. Gleichwohl, denke ich, kann uns die Haerte dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht fuer gut, ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umstaenden nur das: 'Jetzt sei dir die Ausfuehrung ueberlassen! Waere ich aber allein geblieben, so glaube mir nur: beides haette mir gewiss nicht misslingen sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!' Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, insofern sie aus einer ausgebreitetem Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen Natur ueberhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemaesser ist, als die Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen ueberlassen, die es zu beurteilen faehig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere sein, als die ich angenommen: dass naemlich Sophokles seine Charaktere so geschildert, als er, unzaehligen von ihm beobachteten Beispielen der naemlichen Gattung zufolge, glaubte, dass sie sein sollten; Euripides aber so, als er in der engeren Sphaere seiner Beobachtungen erkannt hatte, dass sie wirklich waeren<--". Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen Stellen des Hurd angefuehret habe, enthalten sie unstreitig so viel feine Bemerkungen, dass es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, dass er meine Absicht selbst darueber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu zeigen, dass auch Hurd, so wie Diderot, der Tragoedie besondere, und nur der Komoedie allgemeine Charaktere zuteile und demohngeachtet dem Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen, verlanget. Hurd erklaert sich naemlich so: der tragische Charakter muesse zwar partikulaer oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er muesse die Art, zu welcher er gehoere, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber muesse das wenige, was man von ihm zu zeigen fuer gut finde, nach dem Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere.[1] Und nun waere die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen wolle?--Warum nicht, wenn ihm daran gelegen waere, sich nirgends in Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem daran gelegen ist, dass zwei denkende Koepfe von der naemlichen Sache nicht Ja und Nein sagen, koennte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen. Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort!--Mich duenkt, es ist eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort allgemein wird offenbar darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter verneinen, ist nicht die naemliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet. Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: aber wie, wenn die eine die andere schlechterdings ausschloesse? In der ersten Bedeutung heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat, zusammennimmt; es heisst mit einem Worte, ein ueberladener Charakter; es ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine mittlere Proportion angenommen; es heisst mit einem Worte, ein gewoehnlicher Charakter, nicht zwar insofern der Charakter selbst, sondern nur insofern der Grad, das Mass desselben gewoehnlich ist. Hurd hat vollkommen recht, das [Greek: katholou] des Aristoteles von der Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklaeren. Aber wenn denn nun Aristoteles diese Allgemeinheit ebensowohl von den komischen als tragischen Charakteren erfodert: wie ist es moeglich, dass der naemliche Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es moeglich, dass er zugleich ueberladen und gewoehnlich sein kann? Und gesetzt auch, er waere so ueberladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem getadelten Stuecke des Jonson sind; gesetzt, er liesse sich noch gar wohl in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, dass er sich wirklich in mehrern Menschen ebenso stark, ebenso ununterbrochen geaeussert habe: wuerde er demohngeachtet nicht auch noch viel ungewoehnlicher sein, als jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet? Das ist die Schwierigkeit!--Ich erinnere hier meine Leser, dass diese Blaetter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzuloesen, die ich mache. Meine Gedanken moegen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als Fermenta cognitionis ausstreuen. ----Fussnote [1] In calling the tragic character particular, I suppose it only less representative of the kind than the comic; not that the draught of so much character as it is concerned to represent should not be general. ----Fussnote Sechsundneunzigstes Stueck Den 1. April 1768 Den zweiundfunfzigsten Abend (dienstags, den 28. Julius) wurden des Herrn Romanus "Brueder" wiederholt. Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: "Die Brueder" des Herrn Romanus? Nach einer Anmerkung naemlich, welche Donatus bei Gelegenheit der "Brueder" des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta; quam de poetae nomine fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komoedien zwar ohne seinen Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden. Noch itzt sind diejenigen Stuecke, die sich auf unserer Buehne von ihm erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen Deutschlands genannt wird, wo er ohne sie wohl nie waere gehoeret worden. Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit seinen Arbeiten fuer das Theater so lange fortzufahren, bis die Stuecke aufgehoert haetten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafuer die Stuecke empfohlen haette? Das meiste, was wir Deutsche noch in der schoenen Literatur haben, sind Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, dass es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Maenner, sagt man, haben ernsthaftere Studia oder wichtigere Geschaefte, zu welchen sie die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komoedien heissen Spielwerke; allenfalls nicht unnuetzliche Voruebungen, mit welchen man sich hoechstens bis in sein fuenfundzwanzigstes Jahr beschaeftigen darf. Sobald wir uns dem maennlichen Alter naehern, sollen wir fein alle unsere Kraefte einem nuetzlichen Amte widmen; und laesst uns dieses Amt einige Zeit, etwas zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der Gravitaet und dem buergerlichen Range desselben bestehen kann; ein huebsches Kompendium aus den hoehern Fakultaeten, eine gute Chronike von der lieben Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen. Daher koemmt es denn auch, dass unsere schoene Literatur, ich will nicht bloss sagen gegen die schoene Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen aller neuern polierten Voelker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kraefte und Nerven, Mark und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein Mann, der im Denken geuebt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner Erholung und Staerkung, einmal ausser dem einfoermigen ekeln Zirkel seiner alltaeglichen Beschaeftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann wohl z.E. in unsern hoechst trivialen Komoedien finden? Wortspiele, Sprichwoerter, Spaesschen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hoert: solches Zeug macht zwar das Parterre zu lachen, das sich vergnuegt so gut es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschuettern will, wer zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal dagewesen und koemmt nicht wieder. Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst in die Welt tritt, kann unmoeglich die Welt kennen und sie schildern. Das groesste komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und leer; selbst von den ersten Stuecken des Menanders sagt Plutarch,[1] dass sie mit seinen spaetern und letztern Stuecken gar nicht zu vergleichen gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, koenne man schliessen, was er noch wuerde geleistet haben, wenn er laenger gelebt haette. Und wie jung meint man wohl, dass Menander starb? Wieviel Komoedien meint man wohl, dass er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundertundfuenfe; und nicht juenger als zweiundfunfzig. Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es sich noch der Muehe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte Teil so viel Stuecke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben das zu sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand?--Sie wage es aber nur, und spreche! Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hoeren. Wir haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren beste Kritik darin besteht,--alle Kritik verdaechtig zu machen. "Genie! Genie!" schreien sie. "Das Genie setzt sich ueber alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!" So schmeicheln sie dem Genie: ich glaube, damit wir sie auch fuer Genies halten sollen. Doch sie verraten zu sehr, dass sie nicht einen Funken davon in sich spueren, wenn sie in einem und ebendemselben Atem hinzusetzen: "Die Regeln unterdruecken das Genie!"--Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdruecken liesse! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es begreift und behaelt und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in Worten ausdruecken. Und diese seine in Worten ausgedrueckte Empfindung sollte seine Taetigkeit verringern koennen? Vernuenftelt darueber mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur, insofern es eure allgemeinen Saetze den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von diesem einzeln Falle bleibt Erinnerung in ihm zurueck, die waehrend der Arbeit auf seine Kraefte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die Erinnerung eines gluecklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen gluecklichen Erfahrung auf sie zu wirken imstande ist. Behaupten also, dass Regeln und Kritik das Genie unterdruecken koennen: heisst mit andern Worten behaupten, dass Beispiele und Uebung eben dieses vermoegen; heisst, das Genie nicht allein auf sich selbst, heisst es sogar lediglich auf seinen ersten Versuch einschraenken. Ebensowenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie ueber die nachteiligen Eindruecke, welche die Kritik auf das geniessende Publikum mache, so lustig wimmern! Sie moechten uns lieber bereden, dass kein Mensch einen Schmetterling mehr bunt und schoen findet, seitdem das boese Vergroesserungsglas erkennen lassen, dass die Farben desselben nur "Unser Theater", sagen sie, "ist noch in einem viel zu zarten Alter, als dass es den monarchischen Szepter der Kritik ertragen koenne.--Es ist fast noetiger, die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind.--Die Buehne muss durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden.--Raisonnieren ist leichter als selbst erfinden." Heisst das, Gedanken in Worte kleiden: oder heisst es nicht vielmehr, Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen?--Und wer sind sie denn, die so viel von Beispielen und vom Selbsterfinden reden? Was fuer Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden? --Schlaue Koepfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so wuenschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so moechten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen, dass sie falsch ist, beweisen sie, dass sie zu strenge ist; und glauben vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an, dass Erfinden schwerer ist als Raisonnieren; und glauben widerlegt Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muss raisonnieren koennen. Nur die glauben, dass sich das eine von dem andern trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind. Doch was halte ich mich mit diesen Schwaetzern auf? Ich will meinen Gang gehen und mich unbekuemmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren. Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel. Ihr Sommer ist so leicht abgewartet! Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei Gelegenheit der ersten Vorstellung der "Brueder" des Herrn Romanus[2] annoch ueber dieses Stueck versprach!--Die vornehmsten derselben werden die Veraenderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu muessen geglaubet, um sie unsern Sitten naeher zu bringen. Was soll man ueberhaupt von der Notwendigkeit dieser Veraenderungen sagen? Wenn wir so wenig Anstoss finden, roemische oder griechische Sitten in der Tragoedie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komoedie? Woher die Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber in unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter aufbuerden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine Handlung vorgehen laesst, so genau als moeglich zu schildern; da wir in dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen? "Dieses", sagt Pope an einem Orte, "scheinet dem ersten Ansehen nach blosser Eigensinn, blosse Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten Grund in der Natur. Das Hauptsaechlichste, was wir in der Komoedie suchen, ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber nicht so leicht versichert sein koennen, wenn wir es in fremde Moden und Gebraeuche verkleidet finden. In der Tragoedie hingegen ist es die Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen einheimischen Vorfall aber fuer die Buehne bequem zu machen, dazu muss man sich mit der Handlung groessere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte Geschichte verstattet." ----Fussnote [1] "Epit, [Greek: taes synkriseos] Arist. [Greek: kai Menan]", p. 1588. Ed. Henr. Stephani. [2] Dreiundsiebzigstes Stueck. ----Fussnote Siebenundneunzigstes Stueck Den 5. April 1768 Diese Aufloesung, genau betrachtet, duerfte wohl nicht in allen Stuecken befriedigend sein. Denn zugegeben, dass fremde Sitten der Absicht der Komoedie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der Tragoedie ein besseres Verhaeltnis haben, als fremde? Diese Frage ist wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne allzumerkliche und anstoessige Veraenderungen fuer die Buehne bequem zu machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch einheimische Vorfaelle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragoedie am leichtesten und gewissesten ihren Zweck erreichte, so muesste es ja doch wohl besser sein, sich ueber alle Schwierigkeiten, welche sich bei Behandlung dieser finden, wegzusetzen als in Absicht des Wesentlichsten zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht alle einheimische Vorfaelle so merklicher und anstoessiger Veraenderungen beduerfen; und die deren beduerfen, ist man ja nicht verbunden zu bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, dass es gar wohl Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so ereignet haben, als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat er auch schon entschieden, dass sich der Dichter um den wenigern Teil seiner Zuschauer, der von den wahren Umstaenden vielleicht unterrichtet ist, lieber nicht bekuemmern, als seiner Pflicht minder Genuege leisten muesse. Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komoedie haben, beruhet auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu noetigen Beschreibungen und Winke ueberhoben; er kann seine Personen sogleich nach ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit und befoerdern bei dem Zuschauer die Illusion. Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als moeglich zu erleichtern, seine Kraefte nicht an Nebenzwecke zu verschwenden, sondern sie ganz fuer den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm koemmt auf die Illusion des Zuschauers alles an.--Man wird vielleicht hierauf antworten, dass die Tragoedie der Sitten nicht gross beduerfe; dass sie ihrer ganz und gar entuebriget sein koenne. Aber sonach braucht sie auch keine fremde Sitten; und von dem wenigen, was sie von Sitten haben und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden. Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht bloss in der Komoedie, sondern auch in der Tragoedie, zum Grunde gelegt. Ja sie haben fremden Voelkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer Tragoedie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten leihen, als die Wirkungen der Buehne durch unverstaendliche barbarische Sitten entkraeften wollen. Auf das Kostuem, welches unsern tragischen Dichtern so aengstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der Beweis hiervon koennen vornehmlich die "Perser" des Aeschylus sein: und die Ursache, warum sie sich so wenig an das Kostuem binden zu duerfen glaubten, ist aus der Absicht der Tragoedie leicht zu folgern. Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, dass einheimische Sitten auch in der Tragoedie zutraeglicher sein wuerden, als fremde: so setze ich schon als unstreitig voraus, dass sie es wenigstens in der Komoedie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, dass sie es sind: so kann ich auch die Veraenderungen, welche Herr Romanus in Absicht derselben mit dem Stuecke des Terenz gemacht hat, ueberhaupt nicht anders als billigen. Er hatte recht, eine Fabel, in welche so besondere griechische und roemische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhaelt seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewoehnlichsten ist. Alle Anwendung faellt weg, wo wir uns erst mit Muehe in fremde Umstaende versetzen muessen. Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je vollkommener die Fabel ist, desto weniger laesst sich der geringste Teil veraendern, ohne das Ganze zu zerruetten. Und schlimm! wenn man sich sodann nur mit Flicken begnuegt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen. Das Stueck heisst "Die Brueder", und dieses bei dem Terenz aus einem doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea, sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind Brueder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif' ich nicht, warum unserm Verfasser diese Adoption missfallen. Ich weiss nicht anders, als dass die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebraeuchlich und vollkommen auf dem naemlichen Fuss gebraeuchlich ist, wie sie es bei den Roemern war. Demohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten Brueder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art erziehet. Aber desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch die zwei Alten wirkliche Vaeter; und das Stueck ist wirklich eine Schule der Vaeter, d.i. solcher, denen die Natur die vaeterliche Pflicht aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar uebernommen, die sich ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen Gemaechlichkeit bestehen kann. Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt! Sehr wohl! Nur schade, dass durch Aufloesung dieses einzigen Knoten, welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine auseinander faellt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene entstehen, die bloss die Konvenienz des Dichters, und keineswegs ihre eigene Natur zusammenhaelt! Denn ist Aeschinus nicht bloss der angenommene, sondern der leibliche Sohn des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekuemmern? Der Sohn eines Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, dass jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschaehe es auch in der besten Absicht von der Welt, so habe ich recht, diesem gutherzigen Verfuehrer mit aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als dass ich diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn oefters und ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhaeltnisse, in welchem er bei dem Terenz stehet, aber er laesst ihm die naemliche Ungestuemheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhaeltnis berechtigen konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit aerger, als bei dem Terenz. Er will aus der Haut fahren, "dass er an seines Bruders Kinde Schimpf und Schande erleben muss". Wenn ihm nun aber dieser antwortete: "Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du koenntest an meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und bleibt, so wird, wie das Unglueck, also auch der Schimpf nur meine sein. Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er beleidiget mich. Falls du mich nur immer so aergern wil1st, so komm mir lieber nicht ueber die Schwelle! usw." Wenn Micio, sage ich, dieses antwortete: nicht wahr, so waere die Komoedie auf einmal aus? Oder koennte Micio etwa nicht so antworten? Ja, muesste er wohl eigentlich nicht so Wieviel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er ein so liederliches Leben zu fuehren glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet der roemische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast mir, sagt er, deinen Sohn einmal ueberlassen; bekuemmere dich um den, der dir noch uebrig ist; --nam ambos curare; propemodum Reposcere illum est, quem dedisti-- Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurueckzugeben, ist es auch, die ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, dass sie alle vaeterliche Empfindungen bei ihm unterdruecken soll. Es muss den Micio zwar verdriessen, dass Demea auch in der Folge nicht aufhoert, ihm immer die naemlichen Vorwuerfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gaenzlich will verderben lassen. Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der fuer das Wohl dessen besorgt ist, fuer den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zaenker, der sich aus Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf keine Weise an dem blossen Bruder dulden muesste. Achtundneunzigstes Stueck Den 8. April 1768 Ebenso schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten Bruederschaft, auch das Verhaeltnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke es dem deutschen Aeschinus, dass er[1] "vielmals an den Torheiten des Ktesipho Anteil nehmen zu muessen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der Gefahr und oeffentlichen Schande zu entreissen". Was Vetter? Und schickt es sich wohl fuer den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: "Ich billige deine hierbei bezeugte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch inskuenftige nicht?" Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das sollte er ihm verwehren. "Suche deinen Vetter", muesste er ihm hoechstens sagen, "soviel moeglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest, dass er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter Name muss dir wertet sein, als seiner." Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an leiblichen Bruedern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern ruehmet: --Illius opera nunc vivo! Festivum caput, Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo: Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit. Denn der bruederlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, dass unser Verfasser seinem Aeschinus die Torheit ueberhaupt zu ersparen gewusst hat, die der Aeschinus des Terenz fuer seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entfuehrung hat er in eine kleine Schlaegerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Juengling weiter keinen Teil hat, als dass er sie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl laesst er diesen wohlgezognen Juengling fuer einen ungezognen Vetter noch viel zuviel tun. Denn muesste es jener wohl auf irgendeine Weise gestatten, dass dieser ein Kreatuerchen, wie Citalise ist, zu ihm in das Haus braechte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verfuehrerische Damis, diese Pest fuer junge Leute,[2] dessentwegen der deutsche Aeschinus seinem liederlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die blosse Konvenienz des Dichters. Wie vortrefflich haengt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus nimmt einem Sklavenhaendler ein Maedchen mit Gewalt aus dem Hause, in das sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung seines Bruders zu willfahren, als um einem groessern Uebel vorzubauen. Der Sklavenhaendler will mit diesem Maedchen unverzueglich auf einen auswaertigen Markt: und der Bruder will dem Maedchen nach; will lieber sein Vaterland verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.[3] Noch erfaehrt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluss. Was soll er tun? Er bemaechtiget sich in der Geschwindigkeit des Maedchens und bringt sie in das Haus seines Oheims, um diesem guetigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Maedchen ist zwar entfuehrt, aber sie muss ihrem Eigentuemer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand und freuet sich nicht sowohl ueber die Tat der jungen Leute, als ueber die bruederliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und ueber das Vertrauen, welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das Groesste ist geschehen; warum sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufuegen, ihnen einen vollkommen vergnuegten Tag zu machen? --Argentum adnumeravit illico: Dedit praeterea in sumptum dimidium minae. Hat er dem Ktesipho das Maedchen gekauft, warum soll er ihm nicht verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnuegen? Da ist nach den alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit widerspraeche. Aber nicht so in unsern "Bruedern"! Das Haus des guetigen Vaters wird auf das ungeziemendste gemissbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanstaendigere Person, als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt haette, so wuerde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen haben. Er wuerde Citalisen die Tuere gewiesen und mit dem Vater die kraeftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so straeflich emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten. Ueberhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfang viel zu verderbt geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem Vetter ueber seinen Vater unterhaelt.[4] "Leander. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater schuldig bist? Lykast. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir Leander. Er sollte sie nicht verlangen? Lykast. Nein, gewiss nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb. Ich muesste es luegen, wenn ich es sagen wollte. Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen. Lykast. Hm! Ich weiss nun eben nicht, was da geschehen wuerde. Auf allen Fall wuerde ich wohl auch so gar unrecht nicht tun. Denn ich glaube, er wuerde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast taeglich zu mir: 'Wenn ich dich nur los waere! wenn du nur weg waerest!' Heisst das Liebe? Kannst du verlangen, dass ich ihn wieder lieben soll?" Auch die strengste Zucht muesste ein Kind zu so unnatuerlichen Gesinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgendeiner Ursache, faehig ist, verdienst nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so muessen jenes Ausschweifungen kein grundboeses Herz verraten; es muessen nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert. So streng ihn sein Vater haelt, so entfaehrt ihm doch nie das geringste boese Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen koennte, macht er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er moechte seiner Liebe gern wenigstens ein paar Tage ruhig geniessen; er freuet sich, dass der Vater wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist; und wuenscht, dass er sich damit so abmatten,--so abmatten moege, dass er ganze drei Tage nicht aus dem Bette koenne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze: --utinam quidem Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim, Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere. Quod cum salute ejus fiat! Nur muesste es ihm weiter nicht schaden!--So recht! so recht, liebenswuerdiger Juengling! Immer geh, wohin dich Freunde und Liebe rufen! Fuer dich druecken wir gern ein Auge zu! Das Boese, das du begehst, wird nicht sehr boese sein! Du hast einen strengern Aufseher in dir, als selbst dein Vater ist!--Und so sind mehrere Zuege in der Szene, aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein abgefeimter Bube, dem Luegen und Betrug sehr gelaeufig sind: der roemische hingegen ist in der aeussersten Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen koennte. Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die. Quid dicam? SY. Nil ne in mentem venit? CT. Nunquam quicquam. SY. Tanto nequior. Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis? CT. Sunt, quid postea? SY. Hisce opera ut data sit? CT. Quae non data sit? Non potest Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Juengling sucht einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlaegt ihm eine Luege vor. Eine Luege! Nein, das geht nicht: non potest fieri! ----Fussnote [1] Aufz. I., Auftr. 3. S. 18. [2] Seite 30. [3] Act. II. Sc. 4. Ae. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier. Ct. Pudebat. Ae. Ah, stultitia est istaec; non pudor, tam ob parvulam Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant. 1. Erster Aufz., 6. Auftr. ----Fussnote Neunundneunzigstes Stueck Den 12. April 1768 Sonach hatte Terenz auch nicht noetig, uns seinen Ktesipho am Ende des Stuecks beschaemt, und durch die Beschaemung auf dem Wege der Besserung, zu zeigen. Wohl aber musste dieses unser Verfasser tun. Nur fuerchte ich, dass der Zuschauer die kriechende Reue und die furchtsam Unterwerfung eines so leichtsinnigen Buben nicht fuer sehr aufrichtig halten kann. Ebensowenig als die Gemuetsaenderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in ihrem Charakter gegruendet, dass man das Beduerfnis des Dichters, sein Stueck schliessen zu muessen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu schliessen, ein wenig zu sehr darin empfindet.--Ich weiss ueberhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, dass der Boese notwendig am Ende des Stuecks entweder bestraft werden oder sich bessern muesse. In der Tragoedie moechte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versoehnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komoedie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einfoermig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muss die Handlung sodann in etwas mehr, als in einer blossen Kollision der Charaktere bestehen. Diese kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veraenderung des einen Teiles dieser Charaktere geendet werden; und ein Stueck, das wenig oder nichts mehr hat als sie, naehert sich nicht sowohl seinem Ziele, sondern schlaeft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision, die Handlung mag sich ihrem Ende naehern soviel als sie will, dennoch gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, dass das Ende ebenso lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hoeren, dass der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so koennen wir uns das uebrige alles an den Fingern abzaehlen; denn es ist der fuenfte Akt. Er wird anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besaenftigen lassen, wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, dass er nie wieder zu einer solchen Komoedie den Stoff geben kann: desgleichen wird der ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen; kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich sehen, der in dem fuenften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters erraten kann! Die Intrige ist laengst zu Ende, aber das fortwaehrende Spiel der Charaktere laesst es uns kaum bemerken, dass sie zu Ende ist. Keiner veraendert sich; sondern jeder schleift nur dem andern ebensoviel ab, als noetig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der freigebige Micio wird durch das Manoever des geizigen Demea dahin gebracht, dass er selbst das Uebermass in seinem Bezeigen erkennst, Quod proluvium? quae istaec subita est largitas? So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manoever des nachsichtsvollen Micio endlich erkennet, dass es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco.-- Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenen Nachteile, von seinem Muster entfernt hat. Terenz sagt es selbst, dass er in die "Brueder" des Menanders eine Episode aus einem Stuecke des Diphilus uebertragen, und so seine "Brueder" zusammengesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entfuehrung der Psaltria durch den Aeschinus: und das Stueck des Diphilus hiess: "Die miteinander Sterbenden". Synapothnescontes Diphili comoedia est-- In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit Meretricem in prima fabula-- --eum hic locum sumpsit sibi In Adelphos-- Nach diesen beiden Umstaenden zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar Verliebte aufgefuehret haben, die fest entschlossen waren, lieber miteinander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiss, was geschehen waere, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel geschlagen und das Maedchen fuer den Liebhaber mit Gewalt entfuehrt haette? Den Entschluss, miteinander zu sterben, hat Terenz in den blossen Entschluss des Liebhabers, dem Maedchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdruecklich: Menander mori illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heissen? Ganz gewiss; wie Peter Nannius dieses schon angemerkt hat.[1] Denn der Dichter, wie wir gesehen, sagt es ja selbst, dass er diese ganze Episode von der Entfuehrung nicht aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stueck des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel. Indes muss freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten Entfuehrung, in dem Stuecke des Menanders eine andere Intrige gewesen sein, an der Aeschinus gleicherweise fuer den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende ihre Verbindung so gluecklich beschleunigte. Worin diese eigentlich bestanden, duerfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben, worin sie will: so wird sie doch gewiss ebensowohl gleich vor dem Stuecke vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafuer gebrauchte Entfuehrung. Denn auch sie muss es gewesen sein, wovon man noch ueberall sprach, als Demea in die Stadt kam; auch sie muss die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein, worueber Demea gleich anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in welchem sich beider Gemuetsarten so vortrefflich entwickeln. --Nam illa, quae antehac facta sunt Omitto: modo quid designavit?-- Fores effregit, atque in aedes irruit Alienas-- --clamant omnes, indignissime Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio, Dixere? in ore est omni populo-- Nun habe ich schon gesagt, dass unser Verfasser diese gewaltsame Entfuehrung in eine kleine Schlaegerei verwandelt hat. Er mag auch seine guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlaegerei selbst nicht so spaet haette geschehen lassen. Auch sie sollte und muesste das sein, was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe sie geschieht, und man weiss gar nicht worueber? Er tritt auf und zankt, ohne den geringsten Anlass. Er sagt zwar: "Alle Leute reden von der schlechten Auffuehrung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuss in die Stadt setzen, so hoere ich mein blaues Wunder." Aber was denn die Leute eben itzt reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt gehoert und worueber er ausdruecklich mit seinem Bruder zu zanken koemmt, das hoeren wir nicht und koennen es auch aus dem Stuecke nicht erraten. Kurz, unser Verfasser haette den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar veraendern koennen, aber er haette ihn nicht versetzen muessen! Wenigstens, wenn er ihn versetzen wollen, haette er den Demea im ersten Akte seine Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach muessen aeussern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen.-- Moechten wenigstens nur diejenigen Stuecke des Menanders auf uns gekommen sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenderes denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den lateinischen Kopien sein wuerde. Denn gewiss ist es, dass Terenz kein blosser sklavischer Uebersetzer gewesen. Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stueckes voellig beibehalten, hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstaerkung oder Schwaechung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur schade, dass sich Donatus immer so kurz und oefters so dunkel darueber ausdrueckt (weil zu seiner Zeit die Stuecke des Menanders noch selbst in jedermanns Haenden waren), dass es schwer wird, ueber den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Kuensteleien etwas Zuverlaessiges zu sagen. In den "Bruedern" findet sich hiervon ein sehr merkwuerdiges Exempel. ----Fussnote [1] Sylloge v. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est.--Ita cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex eo commoriendi cum puella studio [Greek: synapothnaeskontes] nomen fabulae inditum esse.-- ----Fussnote Hundertstes Stueck Den 15. April 1768 Demea, wie schon angemerkt, will im fuenften Akte dem Micio eine Lektion nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er moechte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnuegen zu haben, ihm am Ende sagen zu koennen: "Nun sieh, was du von deiner Gutherzigkeit hast!" Solange der ehrliche Micio nur von seinem Vermoegen dabei zusetzt, lassen wir uns den haemischen Spass ziemlich gefallen. Aber nun koemmt es dem Verraeter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten verlebten Muetterchen zu verkoppeln. Der blosse Einfall macht uns anfangs zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, dass es Ernst damit wird, dass sich Micio wirklich die Schlinge ueber den Kopf werfen laesst, der er mit einer einzigen ernsthaften Wendung haette ausweichen koennen: wahrlich, so wissen wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea, oder auf den Micio.[1] "Demea. Jawohl ist das mein Wille! Wir muessen von nun an mit diesen guten Leuten nur eine Familie machen; wir muessen ihnen auf alle Weise aufhelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden.-- Aeschinus. Das bitte ich, mein Vater. Micio. Ich bin gar nicht dagegen. Demea. Es schickt sich auch nicht anders fuer uns.--Denn erst ist sie seiner Frauen Mutter-- Micio. Nun dann? Demea. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar-- Micio. So hoere ich. Demea. Bei Jahren ist sie auch. Micio. Jawohl. Demea. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist niemand, der sich um sie bekuemmerte; sie ist ganz verlassen. Micio. Was will der damit? Demea. Die musst du billig heiraten, Bruder. Und du (zum Aeschinus) musst ja machen, dass er es tut. Micio. Ich? sie heiraten? Demea. Du! wie gesagt, du! Micio. Du bist nicht klug. Demea (zum Aeschinus). Nun zeige, was du kannst! Er muss! Aeschinus. Mein Vater-- Micio. Wie?--Und du, Geck, kannst ihm noch folgen? Demea. Du straeubest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders Micio. Du schwaermst. Aeschinus. Lass dich erbitten, mein Vater. Micio. Rasest du? Geh! Demea. Oh, so mach dem Sohne doch die Freude! Micio. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fuenfundsechzigsten Jahre noch heiraten? Und ein altes, verlebtes Weib heiraten? Das koennet ihr mir zumuten? Aeschinus. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen. Micio. Versprochen gar?--Buerschchen, versprich fuer dich, was du versprechen wil1st! Demea. Frisch! Wenn es nun etwas Wichtigeres waere, warum er dich Micio. Als ob etwas Wichtigeres sein koennte, wie das? Demea. So willfahre ihm doch nur! Aeschinus. Sei uns nicht zuwider! Demea. Fort, versprich! Micio. Wie lange soll das waehren? Aeschinus. Bis du dich erbitten lassen. Micio. Aber das heisst Gewalt brauchen. Demea. Tu ein uebriges, guter Micio. Micio. Nun dann;--ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft noch mit meiner Lebensart reimet:--weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!" "Nein", sagt die Kritik; "das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen koennte, waere dieses, dass er die nachteiligen Folgen einer uebermaessigen Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so liebenswuerdig bewiesen, er hat so viel Verstand, so viele Kenntnis der Welt gezeigt, dass diese seine letzte Ausschweifung wider alle Wahrscheinlichkeit ist und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen muss. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide?--Der neue englische Uebersetzer des Terenz, Colman, will den groessern Teil des Tadels auf den Menander zurueckschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des Donatus beweisen zu koennen, dass Terenz die Ungereimtheit seines Originals in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt naemlich: Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius euretikon. "Es ist sehr sonderbar", erklaert sich Colman, "dass diese Anmerkung des Donatus so gaenzlich von allen Kunstrichtern uebersehen worden, da sie, bei unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit verdienet. Unstreitig ist es, dass Terenz in dem letzten Akte dem Plane des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch vom Donatus, dass dieser Umstand ihm selber anstoessig gewesen, und er sein Original dahin verbessert, dass er den Micio alle den Widerwillen gegen eine solche Verbindung aeussern lassen, den er in dem Stuecke des Menanders, wie es scheinet, nicht geaeussert hatte." Es ist nicht unmoeglich, dass ein roemischer Dichter nicht einmal etwas besser koenne gemacht haben, als ein griechischer. Aber der blossen Moeglichkeit wegen moechte ich es gern in keinem Falle glauben. Colman meinet also, die Worte des Donatus. Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur, hiessen so viel als: beim Menander straeubet sich der Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hiessen? Wenn sie vielmehr zu uebersetzen waeren: beim Menander faellt man dem Alten mit der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari wuerde zwar allerdings jenes heissen: aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja wohl das eigentliche Passivum und kann also meine Auslegung nicht allein leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie. Waere aber dieses: wie stuende es dann um den Terenz? Er haette sein Original so wenig verbessert, dass er es vielmehr verschlimmert haette; er haette die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden. Terentius euretikon! Aber nur, dass es mit den Erfindungen der Nachahmer nicht weit her ist! ----Fussnote [1] Act. v. Sc. VIII. De. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus, Quam maxime unam facere nos hanc familiam; Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quaeso pater. Mi. Haud aliter censeo. De. Imo hercle ita nobis decet. Primum hujus uxoris est mater. Mi. Quid postea? De. Proba, et modesta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior. Mi. Scio. De. Parere jam diu haec per annos non potest: Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est. Mi. Quam hic rem De. Hanc te aequum est ducere: et te operam, ut fiat, dare. Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi. Ineptis. De. Si tu sis homo, Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, asine, auscultas. De. Nihil agis, Fieri aliter non potest. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi Mi. Insanis, aufer. De. Age, da veniam filio. Mi. Satin' sanus es? Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi? Aes. Fac; promisi ego illis. Mi. Promisti autem? de te largitor De. Age, quid, si quid te majus oret? Mi. Quasi non hoc sit maximum. De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non omittis? Aes. Non; nisi te exorem. Mi. Vis est haec quidem. De. Age prolixe Micio. Mi. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea Videtur: si vos tantopere istuc vultis. Fiat.-- ----Fussnote Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stueck Den 19. April 1768 Hundert und erstes bis viertes?--Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang dieser Blaetter nur aus hundert Stuecken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig Wochen, und die Woche zwei Stueck, geben zwar allerdings hundertundviere. Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen woechentlichen Schriftsteller kein Feiertag zustatten kommen? Und in dem ganzen Jahre nur viere: ist ja so wenig! Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen, ausdruecklich hundert und vier Stueck versprochen. Ich werde die guten Leute schon nicht zu Luegnern machen muessen. Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an?--Der Zeug ist schon verschnitten: ich werde einflicken oder recken muessen.--Aber das klingt so stuempermaessig. Mir faellt ein,--was mir gleich haette einfallen sollen: die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will, und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu stehen.--So ein Nachspiel dann mag die Blaetter nun fuellen, die ich mir ganz ersparen wollte. Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel einen Prolog haben duerfen, der sich mit einem Poeta, cum primum animum ad scribendum appulit, anfinge? Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen Versuch zu machen, ob nicht fuer das deutsche Theater sich etwas mehr tun lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Prinzipals geschehen koenne: so weiss ich nicht, wie man auf mich dabei fiel und sich traeumen liess, dass ich bei diesem Unternehmen wohl nuetzlich sein koennte?--Ich stand eben am Markte und war muessig; niemand wollte mich dingen: ohne Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wusste; bis gerade auf diese Freunde!--Noch sind mir in meinem Leben alle Beschaeftigungen sehr gleichgueltig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten; aber auch die geringfuegigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Praedilektion erlesen zu sein glauben konnte. Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters konkurrieren wolle? darauf war also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es koenne? und wie ich es am besten koenne? Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich fuer den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die aeltesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern fuer Genie haelt. Was in den neuerern Ertraegliches ist, davon bin ich mir sehr bewusst, dass ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fuehle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschiesst: ich muss alles durch Druckwerk und Roehren aus mir heraufpressen. Ich wuerde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermassen gelernt haette, fremde Schaetze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu waermen und durch die Glaeser der Kunst mein Auge zu staerken. Ich bin daher immer beschaemt oder verdruesslich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hoerte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe koemmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaehschrift auf die Kruecke unmoeglich erbauen kann. Doch freilich; wie die Kruecke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Laeufer machen kann: so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen wuerde: so kostet es mich so viel Zeit, ich muss von andern Geschaeften so frei, von unwillkuerlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muss meine ganze Belesenheit so gegenwaertig haben, ich muss bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals ueber Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen koennen; dass zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann, als ich. Was Goldoni fuer das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit dreizehn neuen Stuecken bereicherte, das muss ich fuer das deutsche zu tun folglich bleiben lassen. Ja, das wuerde ich bleiben lassen, wenn ich es auch koennte. Ich bin misstrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht fuer Eingebungen des boesen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte:[1] so denke ich doch immer, dass die ersten Gedanken die ersten sind, und dass das Beste auch nicht einmal in allen Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine erste Gedanken sind gewiss kein Haar besser, als jedermanns erste Gedanken: und mit jedermanns Gedanken bleibt man am kluegsten zu Hause. --Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen, oder, wie es meinen ruestigem Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht, selbst das an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee zu diesem Blatte. Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der Griechen, d.I. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles von den Stuecken der griechischen Buehne zu schreiben der Muehe wert gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal ueber den grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer Hochachtung fuer das Solide in den Wissenschaften, einbildete, dass es dem Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen Didaskalien zu tun gewesen.[2]--Wahrhaftig, es waere auch eine ewige Schande fuer den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der Stuecke, mehr um ihren Einfluss auf die Sitten, mehr um die Bildung des Geschmacks darin bekuemmert haette, als um die Olympiade, als um das Jahr der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst aufgefuehret worden! Ich war schon willens, das Blatt selbst "Hamburgische Didaskalien" zu nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir sehr lieb, dass ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine Didaskalie aussehen muesse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz waere, die eben dieser Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust, meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere itztlebende Casauboni wuerden die Koepfe trefflich geschuettelt haben, wenn sie gefunden haetten, wie selten ich irgendeines chronologischen Umstandes gedenke, der kuenftig einmal, wenn Millionen anderer Buecher verlorengegangen waeren, auf irgendein historisches Faktum einiges Licht werfen koennte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der Prinzen vom Gebluete, oder nicht der Prinzen vom Gebluete, dieses oder jenes franzoesische Meisterstueck zuerst aufgefuehret worden: das wuerden sie bei mir gesucht und zu ihrem grossen Erstaunen nicht gefunden haben. Was sonst diese Blaetter werden sollten, darueber habe ich mich in der Ankuendigung erklaeret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser wissen. Nicht voellig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas anderes; aber doch, denk' ich, nichts Schlechteres. "Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters als des Schauspielers hier tun wuerde." Die letztere Haelfte bin ich sehr bald ueberdruessig geworden. Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muss ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwaetze darueber hat man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Praezision abgefasste Regeln, nach welchen der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen sei, deren wuesste ich kaum zwei oder drei. Daher koemmt es, dass alles Raisonnement ueber diese Materie immer so schwankend und vieldeutig scheinet, dass es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts als eine glueckliche Routine hat, sich auf alle Weise dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zuviel glauben: ja oefters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung schon laengst gemacht, dass die Empfindlichkeit der Kuenstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem Verhaeltnisse steigt, in welchem die Gewissheit und Deutlichkeit und Menge der Grundsaetze ihrer Kuenste abnimmt.--So viel zu meiner, und selbst zu deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen haette. Aber die erstere Haelfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen,--und wie haette es auch koennen? Die Schranken sind noch kaum geoeffnet, und man wollte die Wettlaeufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem hoehnischen Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum: und was hat denn das Publikum getan, damit etwas geschehen koennte? Auch nichts; ja noch etwas Schlimmers, als nichts. Nicht genug, dass es das Werk nicht allein nicht befoerdert: es hat ihm nicht einmal seinen natuerlichen Lauf gelassen. --Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloss von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Auslaendischen, besonders noch immer die untertaenigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine koemmt, ist schoen, reizend, allerliebst, goettlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehoer, als dass wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit fuer Ungezwungenheit, Frechheit fuer Grazie, Grimasse fuer Ausdruck, ein Geklingle von Reimen fuer Poesie, Geheule fuer Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superioritaet zweifeln, welche dieses liebenswuerdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schoen und erhaben und anstaendig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat.-- Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die naehere Anwendung desselben koennte leicht so bitter werden, dass ich lieber davon abbreche. Ich war also genoetiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des dramatischen Dichters hier wirklich koennte getan haben, mich bei denen zu verweilen, die sie vorlaeufig tun muesste, um sodann mit eins ihre Bahn mit desto schnellern und groessern zu durchlaufen. Es waren die Schritte, welche ein Irrender zurueckgehen muss, um wieder auf den rechten Weg zu gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen. Seines Fleisses darf sich jedermann ruehmen: ich glaube, die dramatische Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig, die sie ausueben. Auch habe ich sie so weit ausgeuebet, als es noetig ist, um mitsprechen zu duerfen: denn ich weiss wohl, so wie der Maler sich von niemanden gern tadeln laesst, der den Pinsel ganz und gar nicht zu fuehren weiss, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er bewerkstelligen muss, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen vermag, doch urteilen, ob es sich machen laesst. Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmasst, der, wenn er nicht dem oder jenem Auslaender nachplaudern gelernt haette, stummer sein wuerde, als Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was mich also versichert, dass mir dergleichen nicht begegnet sei, dass ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, dass ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzaehligen Meisterstuecken der griechischen Buehne abstrahieret hat. Ich habe von dem Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitlaeufigkeit nicht aeussern koennte. Indes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darueber ausgelacht werden!), dass ich sie fuer ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsaetze sind ebenso wahr und gewiss, nur freilich nicht so fasslich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt, als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragoedie, als ueber die uns die Zeit so ziemlich alles daraus goennen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, dass sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu ----Fussnote [1] An opinion John de la Casa, archbishop of Benevento, was afflicted with--which opinion was,--that whenever a Christian was writing a book (not for his private amusement, but) where his intent and purpose was bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were always the temptations of the evil one.--My father was hugely pleased with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the Shandy estate, to have been the broacher of it;--but as he could not have the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil etc. ("Life and Op. of Tristram Shandy", Vol. V. p. 74.) [2] ("Animadv. in Athenaeum Libr." VI. cap. 7.) Didaskalia accipitur pro eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula aliqua fuerit acta.--Quantum critici hac diligentia veteres chronologos adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem, cum Didaskalias suas componeret.-- ----Fussnote Nach dieser Ueberzeugung nahm ich mir vor, einige der beruehmtesten Muster der franzoesischen Buehne ausfuehrlich zu beurteilen. Denn diese Buehne soll ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man uns Deutsche bereden wollen, dass sie nur durch diese Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Buehnen aller neuern Voelker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest geglaubt, dass bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten. Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefuehl bestehen. Dieses ward, gluecklicherweise, durch einige englische Stuecke aus seinem Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, dass die Tragoedie noch einer ganz andern Wirkung faehig sei, als ihr Corneille und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem ploetzlichen Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes zurueck. Den englischen Stuecken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln, mit welchen uns die franzoesischen so bekannt gemacht hatten. Was schloss man daraus? Dieses: dass sich auch ohne diese Regeln der Zweck der Tragoedie erreichen lasse; ja, dass diese Regeln wohl gar schuld sein koennten, wenn man ihn weniger erreiche. Und das haette noch hingehen moegen!--Aber mit diesen Regeln fing man an, alle Regeln zu vermengen und es ueberhaupt fuer Pedanterei zu erklaeren, dem Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun muesse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, dass jeder die Kunst aufs neue fuer sich erfinden solle. Ich waere eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen, wenn ich glauben duerfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese Gaerung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen, als den Wahn von der Regelmaessigkeit der franzoesischen Buehne zu bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr verkannt, als die Franzosen. Einige beilaeufige Bemerkungen, die sie ueber die schicklichste aeussere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles fanden, haben sie fuer das Wesentliche angenommen und das Wesentliche durch allerlei Einschraenkungen und Deutungen dafuer so entkraeftet, dass notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit unter der hoechsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln kalkuliert hatte. Ich wage es, hier eine Aeusserung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofuer man will!--Man nenne mir das Stueck des grossen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?-- Doch nein; ich wollte nicht gern, dass man diese Aeusserung fuer Prahlerei nehmen koenne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlaessig besser machen,--und doch lange kein Corneille sein,--und doch lange noch kein Meisterstueck gemacht haben. Ich werde es zuverlaessig besser machen;--und mir doch wenig darauf einbilden duerfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann,--der so fest an den Aristoteles glaubet, wie ich. Eine Tonne, fuer unsere kritische Walfische! Ich freue mich im voraus, wie trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein fuer sie ausgeworfen; besonders fuer den kleinen Walfisch in dem Salzwasser Und mit diesem Uebergange,--sinnreicher muss er nicht sein,--mag denn der Ton des ernsthaftem Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu ich diese letztern Blaetter bestimmte. Wer haette mich auch sonst erinnern koennen, dass es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Gemeimerat Klotz den Inhalt desselben bereits angekuendiget hat?[1]-- Aber was bekoemmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jaeckchen, dass er so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, dass ich ihm etwas dafuer versprochen haette. Er mag wohl bloss zu seinem Vergnuegen trommeln; und der Himmel weiss, wo er alles her hat, was die liebe Jugend auf den Gassen, die ihm mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der ersten Hand von ihm zu erfahren bekommt. Er muss einen Wahrsagergeist haben, trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer haette es ihm sonst sagen koennen, dass der Verfasser der Dramaturgie auch mit der Verleger derselben ist? Wer haette ihm sonst die geheimen Ursachen entdecken koennen, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme beigelegt und das Probestueck einer andern so erhoben habe? Ich war freilich damals in beide verliebt: aber ich haette doch nimmermehr geglaubt, dass es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen koennen es ihm auch unmoeglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern, wenn unsere hochgebietende Herren, die Journalisten und Zeitungsschreiber, mit solchen Kaelbern pfluegen wollen! Wenn sie zu ihren Beurteilungen, ausser ihrer gewoehnlichen Gelehrsamkeit und Scharfsinnigkeit, sich aus noch solcher Stueckchen aus der geheimsten Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen? "Ich wuerde", schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolds, "auch den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen koennen, wenn nicht die Abhandlung wider die Buchhaendler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als dass er das Werk bald beschliessen koennte." Man muss auch einen Kobold nicht zum Luegner machen wollen, wenn er es gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das boese Ding dem guten Stl. hier eingeblasen. Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich wollte meinen Lesern erzaehlen, warum dieses Werk so oft unterbrochen worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Muehe, so viel davon fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich ueber den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen, es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte ueber die nachteiligen Folgen des Nachdrucks ueberhaupt einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. Aber, das waere ja sonach keine Abhandlung wider die Buchhaendler geworden? Sondern vielmehr, fuer sie: wenigstens, der rechtschaffenen Maenner unter ihnen; und es gibt deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolde also nicht immer so ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiss des boesen Feindes von der Zukunft noch etwa weiss, das weiss es nur halb.-- Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich nicht weise duenke. Denn eben dieser Mund sagt: Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist: antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, dass die Sache selbst darueber vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden wuerdest. Und so wende ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen ernstlich um Vergebung bitte. Es ist die lautere Wahrheit, dass der Nachdruck, durch den man diese Blaetter gemeinnuetziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich ihre Ausgabe bisher so verzoegert hat, und warum sie nun gaenzlich liegenbleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierueber sage, erlaube man mir, den Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts dabei, dass diese Hoffnung fehlschlaegt. Auch bin ich gar nicht ungehalten darueber, dass ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge ebenso gern wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wuenschen ohnedem, dass ich sie nie angelegt haette; und es wird sich leicht einer unter ihnen finden, der das Tageregister einer misslungenen Unternehmung bis zu Ende fuehret und mir zeiget, was fuer einen periodischen Nutzen ich einem solchen periodischen Blatte haette erteilen koennen und sollen. Denn ich will und kann es nicht bergen, dass diese letzten Bogen fast ein Jahr spaeter niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der suesse Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gruenden, ist schon wieder verschwunden: und soviel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, duerfte er auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spaetesten in Erfuellung Aber auch das kann mir sehr gleichgueltig sein!--Ich moechte ueberhaupt nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es fuer ein grosses Unglueck hielte, dass Bemuehungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen. Sie koennen von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil daran genommen. Doch wie, wenn Bemuehungen von weiterm Belange durch die naemlichen Undienste scheitern koennten, durch welche meine gescheitert sind? Die Welt verliert nichts, dass ich, anstatt fuenf und sechs Baende Dramaturgie, nur zwei an das Licht der Welt bringen kann. Aber sie koennte verlieren, wenn einmal ein nuetzlicheres Werk eines bessern Schriftstellers ebenso ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gaebe, die einen ausdruecklichen Plan darnach machten, dass auch das nuetzlichste, unter aehnlichen Umstaenden unternommene Werk verungluecken sollte und muesste. In diesem Betracht stehe ich nicht an und halte es fuer meine Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplott zu denunzieren. Eben diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und geschrieben, bei den Buchhaendlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort Nachricht an die Herren Buchhaendler Wir haben uns mit Beihilfe verschiedener Herren Buchhaendler entschlossen, kuenftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise allezeit um die Haelfte zu verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhaendler, welche wohl eingesehen, dass eine solche unbefugte Stoerung fuer alle Buchhaendler zum groessten Nachteil gereichen muesse, haben sich entschlossen, zu Unterstuetzung dieses Vorhabens eine Kasse aufzurichten, und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu unterstuetzen. Von den uebrigen gutgesinnten Herren Buchhaendlern erwarten wir demnach zur Vermehrung der Kasse desgleichen und ersuchen, auch unsern Verlag bestens zu rekommandieren. Was den Druck und die Schoenheit des Papiers betrifft, so werden wir der ersten nichts nachgeben; uebrigens aber uns bemuehen, auf die unzaehlige Menge der Schleichhaendler genau achtzugeben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu hoecken und zu stoeren anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende Herren Mitkollegen, dass wir keinem rechtmaessigen Buchhaendler ein Blatt nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, sobald jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufuegen, sondern auch nicht weniger denenjenigen Buchhaendlern, welche ihren Nachdruck zu verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren Buchhaendler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhaendler- Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich loszumachen oder zu erwarten, ihren besten Verlag fuer die Haelfte des Preises oder noch weit geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhaendlern von unsre Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Verguetung widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, dass sich auch die uebrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihilfe gutgesinnter Herren Buchhaendler in kurzer Zeit legen werden. Wenn die Umstaende erlauben, so kommen wir alle Ostermessen selbst nach Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen Mitkollegen, J. Dodsley und Compagnie. Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern Verbindung der Buchhaendler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu steuern, so wuerde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen. Aber wie hat es vernuenftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen koennen, diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein paar armen Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Strassenraeuber werden? "Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt." Das moechte sein; wenn es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu raechen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein? Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmaelern, aus seinem eigentuemlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er moeglicherweise daraus ziehen kann? "Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen Eigenschaften in die Buchhandlung." Was sind das fuer erforderliche Eigenschaften? Dass man fuenf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine Innung? Welches sind seine ausschliessenden Privilegien? Wer hat sie ihm erteilt? Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstuemmeln, sondern auch das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Dass sie ihre Verteidigung beifuegen--wenn anders eine Verteidigung fuer sie moeglich ist--werde ich ihnen nicht verdenken. Sie moegen sie auch in einem Tone abfassen oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen: selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei Histoerchen und Anekdoetchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache. Nur erklaere ich im voraus die geringste Insinuation, dass es gekraenkter Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, fuer eine Luege. Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen und werde es schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, mehr als einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhaendlern, dessen Vermittelung ich ein solches Geschaeft gern ueberlasse. Aber keiner von ihnen muss mir es auch veruebeln, dass ich meine Verachtung und meinen Hass gegen Leute bezeigen in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen coup de main fuer sich: Dodsley und Compagnie aber wollen bandenweise rauben. Das beste ist, dass ihre Einladung wohl von den wenigsten duerfte angenommen werden. Sonst waere es Zeit, dass die Gelehrten mit Ernst darauf daechten, das bekannte Leibnizische Projekt auszufuehren. Ende des zweiten Bandes ----Fussnote [1] Neuntes Stueck, S. 56. ----Fussnote Verzeichnis der Theaterstuecke geordnet nach Autorennamen John Banks: Der Graf von Essex Augustin David de Brueys: Der Advokat Patelin Giovanni Maria Cecchi: Die Mitgift Chevalier de Cerou: Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter Pierre Corneille: Rodogune Thomas Corneille: Der Graf von Essex Johann Friedrich Cronegk: Olint und Sophronia Philippe Nericault Destouches: Das Gespenst mit der Trommel Philippe Nericault Destouches: Das unvermutete Hindernis Philippe Nericault Destouches: Der poetische Dorfjunker Philippe Nericault Destouches: Der verborgene Schatz Philippe Nericault Destouches: Der verheiratete Philosoph Denis Diderot: Der Hausvater Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy: Zelmire Frederik Duim: Zaire Charles Simon Favart: Soliman der Zweite Christian Fuerchtegott Gellert: Die kranke Frau Luise Adelgunde Gottsched: Die Hausfranzoesin Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny: Cenie Jean Baptiste Louis Gresset: Sidney Franz Heufeld: Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe Theodor Gottlieb von Hippel: Der Mann nach der Uhr Johann Christian Krueger: Herzog Michel Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Die Muetterschule Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Melanide Thomas l'Affichard: Ist er von Familie? Marc Antoine le Grand: Der sehende Blinde Marc Antoine le Grand: Der Triumph der vergangenen Zeit Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist Gotthold Ephraim Lessing: Der Schatz Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson Johann Friedrich Loewen: Die neue Agnese Johann Friedrich Loewen: Das Raetsel Francesco Scipione Maffei: Merope Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der Bauer mit der Erbschaft Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der unvermutete Ausgang Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Die falschen Vertraulichkeiten Moliere: Die Frauenschule Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Schatz Philemon von Syrakus: Der Schatz Plautus: Trinummus Philippe Quinault: Die kokette Mutter Jean Francois Regnard: Demokrit Jean Francois Regnard: Der Spieler Jean Francois Regnard: Der Zerstreute Karl Franz Romanus: Die Brueder Germain Francois Poullain de Saint-Foix: Der Finanzpachter Johann Elias Schlegel: Der Triumph der guten Frauen Johann Elias Schlegel: Die stumme Schoenheit Voltaire: Das Kaffeehaus Voltaire: Die Frau, die recht hat Voltaire: Merope Voltaire: Nanine Voltaire: Semiramis Voltaire: Zaire Christian Felix Weisse: Amalia Christian Felix Weisse: Richard der Dritte Verzeichnis der Theaterstuecke geordnet nach Titeln Amalia (Christian Felix Weisse) Cenie (Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny) Das Gespenst mit der Trommel (Philippe Nericault Destouches) Das Kaffeehaus (Voltaire) Das Raetsel (Johann Friedrich Loewen) Das unvermutete Hindernis (Philippe Nericault Destouches) Demokrit (Jean Francois Regnard) Der Advokat Patelin (Augustin David de Brueys) Der Bauer mit der Erbschaft (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Der Finanzpachter (Germain Francois Poullain de Saint-Foix) Der Freigeist (Gotthold Ephraim Lessing) Der Graf von Essex (John Banks) Der Graf von Essex (Thomas Corneille) Der Hausvater (Denis Diderot) Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter (Chevalier de Cerou) Der Mann nach der Uhr (Theodor Gottlieb von Hippel) Der poetische Dorfjunker (Philippe Nericault Destouches) Der Schatz (Gotthold Ephraim Lessing) Der Schatz (Gottlieb Konrad Pfeffel) Der Schatz (Philemon von Syrakus) Der sehende Blinde (Marc Antoine le Grand) Der Spieler (Jean Francois Regnard) Der Triumph der guten Frauen (Johann Elias Schlegel) Der Triumph der vergangenen Zeit (Marc Antoine le Grand) Der unvermutete Ausgang (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Der verborgene Schatz (Philippe Nericault Destouches) Der verheiratete Philosoph (Philippe Nericault Destouches) Der Zerstreute (Jean Francois Regnard) Die Brueder (Karl Franz Romanus) Die falschen Vertraulichkeiten (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux) Die Frau, die recht hat (Voltaire) Die Frauenschule (Moliere) Die Hausfranzoesin (Luise Adelgunde Gottsched) Die kokette Mutter (Philippe Quinault) Die kranke Frau (Christian Fuerchtegott Gellert) Die Mitgift (Giovanni Maria Cecchi) Die Muetterschule (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee) Die neue Agnese (Johann Friedrich Loewen) Die stumme Schoenheit (Johann Elias Schlegel) Herzog Michel (Johann Christian Krueger) Ist er von Familie? (Thomas l'Affichard) Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe (Franz Heufeld) Melanide (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee) Merope (Francesco Scipione Maffei) Merope (Voltaire) Miss Sara Sampson (Gotthold Ephraim Lessing) Nanine (Voltaire) Olint und Sophronia (Johann Friedrich Cronegk) Richard der Dritte (Christian Felix Weisse) Rodogune (Pierre Corneille) Semiramis (Voltaire) Sidney (Jean Baptiste Louis Gresset) Soliman der Zweite (Charles Simon Favart) Trinummus (Plautus) Zaire (Frederik Duim) Zaire (Voltaire) Zelmire (Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy) Das im laufenden Alphabet nicht Verzeichnete ist im Register des Schlußbandes aufzusuchen. Sodbrennen (Magenbrennen, Pyrosis), Symptom des chronischen Magenkatarrhs, besteht in einem brennenden Gefühl im Schlund und Rachen; es beruht darauf, daß die sauren und scharfen Flüssigkeiten und Gase, welche sich infolge des chronischen Magenkatarrhs und der dabei stattfindenden abnormen Verdauungsvorgänge im Magen bilden, durch Aufstoßen in den Schlund, ja selbst bis in den Mund gelangen und auf die Schleimhaut dieser Teile einen scharfen Reiz ausüben. Das S. verschwindet mit dem Magenkatarrh. Zur augenblicklichen Milderung eignet sich am meisten doppeltkohlensaures Natron, welches die überschüssige Säure neutralisiert. Soddoma (eigentlich Giovannantonio Bazzi), ital. Maler, geb. 1477 zu Vercelli in Savoyen, bildete sich seit 1498 nach Leonardo da Vinci in Mailand und kam 1501 nach Siena, wo er verschiedene Fresken und Tafelbilder ausführte; 1505 malte er einen großen Freskencyklus aus dem Leben des heil. Benedikt für das Kloster Montoliveto und um dieselbe Zeit die Kreuzabnahme, jetzt im Museum von Siena. 1507-1509 war er in Rom, wo er im Vatikan malte; dann ging er wieder nach Siena, kehrte aber 1514 nach Rom zurück, wo er in der Villa Farnesina seine berühmtesten Fresken malte, Alexander vor der Familie des Dareios und seine Vermählung mit Roxane, ein Bild, das durch Liebenswürdigkeit der Erfindung und Zartheit des Ausdrucks bezaubert. Damals erhob ihn Leo X. für ein Bild der Römerin Lucrezia in den Ritterstand. Im J. 1515 kam er nach Siena zurück, wo er 1518 vier Fresken aus der Geschichte der Maria im Oratorium von San Bernardino malte. Zwischen 1518 und 1525 scheint er sich in Oberitalien aufgehalten zu haben, wo er mehr von der lombardischen Schule beeinflußt wurde. Von 1525 bis 1537 war er wieder in Siena ansässig, wo er seit 1525 die Fresken aus dem Leben der heil. Katharina in der Kapelle der Heiligen in der Kirche San Domenico, ein durch Tiefe und Wahrheit der Empfindung ausgezeichnetes Hauptwerk des Künstlers, und später mehrere Heiligengestalten, die Auferstehung Christi u. a. im Stadthaus malte. Im J. 1542 war er zu Pisa thätig. Er starb 15. Febr. 1549 in Siena. B. war ein Lebemann, dessen exzentrisches Wesen (daher der Name S.) ihn nicht zu einem sorgsamen Naturstudium und zu einer fleißigen Durchführung seiner Bilder kommen ließ. Von seinen Tafelbildern sind noch die heilige Familie mit Calixtus (im Stadthaus zu Siena), die Anbetung der Könige (in Sant' Agostino daselbst) sowie eine Prozessionsfahne mit der Madonna und dem heil. Sebastian (in den Uffizien zu Florenz) hervorzuheben. Vgl. Jansen, Leben und Werke des Malers G. Bazzi (Stuttg. Soden, 1) Dorf und Badeort im preuß. Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis Höchst, am Fuß des Taunus und an der Linie Höchst-S. der Preußischen Staatsbahn, 142 m ü. M., hat schöne Parkanlagen, einen Kursaal, ein Badehaus, eine neue Trinkhalle und (1885) 1517 meist evang. Einwohner. Die dortigen Heilquellen, 24 an der Zahl, sind eisenhaltige Säuerlinge von 11-29,5° C. und werden namentlich gegen chronisch-entzündliche Krankheiten der Respirationsorgane, Skrofulose etc., die stärkern gegen chronische Magenkatarrhe, Dyspepsie, Hämorrhoiden, Menstruationsstörungen, Rheumatismus, Gicht etc. angewandt. Besonders wichtig für Badezwecke ist der Solsprudel, dessen stark gashaltiges Kochsalzwasser (1,5 Proz.) eine natürliche Wärme von 31° C. besitzt. Die Zahl der Kurgäste betrug 1885: 2132. S. war früher unmittelbares Reichsdorf. Vgl. Thilenius, S. am Taunus, mit vergleichender Rücksicht auf Ems, Kissingen etc. (2. Aufl., Frankf. 1874); Köhler, S. am Taunus (2. Aufl., das. 1873); Haupt, S. am Taunus (2. Aufl., Würzb. 1883). - 2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schlüchtern, zwischen Salza und Kinzig, 1 km von Station Salmünster der Linie Hanau-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein Schloß, eine Sägemühle und Parkettfußbodenfabrik, Schuhmacherei und (1885) 883 fast nur kath. Einwohner. Die dortigen vier jod- und bromhaltigen Solquellen von 12,5-13° C. werden vorzugsweise bei Skrofulose, Unterleibsstockungen, chronischen Gebärmutterentzündungen, alten Exsudaten etc. benutzt. 1885 ward dort auch ein an Kohlensäure reicher Säuerling entdeckt und gefaßt. Dabei auf einer Anhöhe die malerisch gelegenen Ruinen der Burg Stolzenberg. - 3) (Sooden) Flecken im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Witzenhausen, an der Werra und der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn, der Stadt Allendorf (s. d.) gegenüber, hat eine evang. Kirche, ein Salzwerk (schon 973 genannt) mit Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Soden - Sofala. Solbad, eine Kinderheilanstalt und (1885) 758 evang. Einw. Vgl. Sippell, S. an der Werra (Soden 1886). Soden, Friedrich Julius Heinrich, Graf von, Schriftsteller, geb. 4. Dez. 1754 zu Ansbach aus freiherrlichem Geschlecht, wurde fürstlich branden-burgischer Regierungsrat, später Geheimrat und preußischer Gesandter beim fränkischen Kreis zu Nürnberg und 1790 in den Reichsgrafenstand erhoben. Seit 1796 privatisierend, lebte er auf seinem Gut Sassenfahrt am Main, führte 1804-10 die Leitung des Bamberg-Würzburger Theaters, zog dann nach Erlangen und starb 13. Juli 1831 in Nürnberg. Als Schriftsteller hat er sich durch Erzählungen (z. B. "Franz von Sickingen", 1808) und eine beträchtliche Reihe dramatischer Arbeiten bekannt gemacht, von welch letztern "Inez de Castro" (1784), "Anna Boley" (1794), "Doktor Faust, ein Volksschauspiel" (1797), und "Virginia" (1805) erwähnt seien. S. war auch als Übersetzer (Lope de Vega, Cervantes) sowie als staatswissenschaftlicher Schriftsteller Söderhamn, Stadt im schwed. Län Gefleborg, unweit des Bottnischen Meerbusens, an der Eisenbahn Kilafors-Stugsund, hat lebhaften Handel mit Holz und Eisen und (1885) 9044 Einw. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. Söderköping, Stadt im schwed. Län Ostgotland, am Götakanal, der 5 km davon in die Ostseebucht Slätbaken mündet, einst ein ansehnlicher Ort, jetzt unbedeutend, mit (1885) nur 1909 Einw. Södermanland, Län im mittlern Schweden (Swearike), zwischen der Ostsee im SO. und dem Mälar- und Hjelmarsee im N., grenzt im Süden an Ostgotland, im W. an Örebro, im N. an Westmanland, im NO. an das Län Stockholm, welchem nur der nordöstliche Teil der alten Landschaft S. zugeteilt ist, und hat ein Areal von 6841,4 qkm (124,2 QM.). Es ist größtenteils Flachland, reich an Seen und Wäldern (37 Proz. des Areals) und eine der fruchtbarsten Provinzen des mittlern Schweden. Die Bewohner, deren Zahl 1887: 152,296 betrug, treiben Ackerbau (1886 wurden 888,000 hl Hafer, 435,000 hl Roggen, 116,000 hl Weizen geerntet), Viehzucht (1884 zählte man 95,797 Stück Rindvieh) und Industrie in Eisen, Wolle und Baumwolle. Das Län wird von der Westbahn durchschnitten, an welche sich bei Flen nach Oxelösund und Kolbäck führende Zweigbahnen und bei Katrineholm die Ostbahn anschließt. Hauptstadt ist Nyköping. Södertelge, Landstadt im schwed. Län Stockholm, an der Bahn Stockholm-Gotenburg, zwischen dem Mälar und dem kleinen See Maren, durchschnitten von dem Södertelgekanal, welcher, 1819 eröffnet, von dem Mälar in den Maren und von diesem in die Ostsee führt, hat ein Pädagogium, 2 mechanische Werkstätten, Zündhölzerfabrik, eine Kaltwasserheilanstalt, ein Seebad und (1885) 3926 Einw. Sodium, s. v. w. Natrium. Sodom, alte Stadt Palästinas, im Thal Siddim, ging nach mosaischem Bericht (1. Mos. 19, 24 ff.) mit dem benachbarten Gomorra (s. d.) zu Abrahams Zeiten unter. Der Name hat sich in dem des Salzbergs Usdum erhalten. Vgl. Totes Meer. Sodoma, Maler, s. Soddoma. Sodomie, s. Unzuchtsverbrechen. Sodor und Man, engl. Bistum, welches jetzt nur die Insel Man umfaßt, sich früher aber auch auf die Hebriden (die Sodoreys der Normannen) erstreckte. Soerabaya (spr. sura-), Stadt, s. Surabaja. Soest, 1) (spr. sohst) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Arnsberg, in einer fruchtbaren Ebene (Soester Börde). Knotenpunkt der Linien S.-Nordhausen, Schwelm-S. und S.-Münster der Preußischen Staatsbahn, 98 m ü. M., hat 6 evang. Kirchen (darunter die gotische, 1314 begonnene, 1846 restaurierte Wiesenkirche), einen kath. Dom, ein Gymnasium, Schullehrerseminar, ein Taubstummen- und ein Blindeninstitut, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, ein Puddel- und Walzwerk, Fabrikation von Zucker, Nieten, Seife, Hüten und Zigarren, Leinweberei, Gerberei, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei, eine Molkerei, Ziegeleien, Getreide- und Viehhandel, besuchte Märkte, bedeutenden Acker- und Gartenbau und (1885) mit der Garnison (eine Abteilung Feldartillerie Nr. 22) 14,846 meist evang. Einwohner. - Im Mittelalter war S. eine der angesehensten und reichsten Hansestädte mit reichsstädtischen Rechten und einer Bevölkerung von 25-30,000 Seelen. Ihr Stadtrecht, Schran (jus Susatense) genannt und zwischen 1144 und 1165 aufgezeichnet, diente in vielen andern Städten, Lübeck, Hamburg etc., als Norm. Die Stadt galt als Hauptstadt des Landes Engern im Herzogtum Sachsen. Nach Auflösung des letztern 1180 bemächtigte sich der Erzbischof von Köln derselben und eignete sich das Schultheißenamt an. Dagegen stand den Grafen von Arnsberg bis 1278 die Vogtei (Blutbann) in S. zu. Unter dem Erzbischof Dietrich von Köln entzog sich die Stadt wegen zu harten Drucks der erzbischöflichen Botmäßigkeit wieder und begab sich 24. Okt. 1441 unter den Schutz Adolfs, Herzogs von Kleve und Grafen von der Mark, was 1444 zu einer langwierigen Belagerung der Stadt (Soester Fehde) führte, bei welcher die dortigen Frauen sich durch Mut auszeichneten. Der Streit endete infolge päpstlicher Entscheidung damit, daß S. mit der Börde 1449 unter die Landeshoheit des neuen Herzogs von Kleve, Johannes, kam. Vgl. Barthold, S., die Stadt der Engern (Soest 1855); Schmitz, Denkwürdigkeiten aus Soests Vorzeit (Leipz. 1873); Hansen, Die Soester Fehde (das. 1888); "Chroniken der deutschen Städte", Bd. 21; S. (das. 2) (spr. suhst) Dorf in der niederländ. Provinz Utrecht, Bezirk Amersfoort, am Eem und der Eisenbahn Utrecht-Kampen, mit (1887) 3776 Einw. Dabei das Lustschloß Soestdyk, vom Prinzen von Oranien (nachmals König Wilhelm III. von England) 1674 Soeste (spr. sohste), Fluß im Großherzogtum Oldenburg, entspringt bei Kloppenburg, durchfließt das Saterland und mündet links in die Leda. Soeurs converses (franz., spr. ssör kongwérs, bekehrte Schwestern), s. v. w. Beaten (s. d.). Soeurs de la charité (franz., spr. ssör d' la charité), s. v. w. Barmherzige Schwestern (s. d.). Sofa, in den türk. Häusern die Vorhalle, von wo man zu den verschiedenen Zimmern gelangt; dieselbe ist auf drei Seiten mit Ruhesitzen versehen, woher die europäische Bedeutung des Wortes stammt. Sofála (arab., "Niederland"), geographische Bezeichnung für das Küstenland Ostafrikas zwischen dem Sambesi und der Delagoabai, bestehend aus einem flachen Küstenstrich mit der vorliegenden Gruppe der Bazarutoinseln und einem weiter zurückliegenden gebirgigen Teil. Zahlreiche Flüsse, darunter Bazi, Sabia und Limpopo, münden hier in den Ozean und überschwemmen alljährlich das Land. Der Boden ist längs der Küste sehr fruchtbar und bringt besonders Reis, Orseille, Indigo, Kautschuk, Zuckerrohr und Soffariden - Sohar. Kaffee hervor. Im Hinterland findet sich viel Gold, Kupfer, Eisen, und die Kaffern, die Bewohner des Landes, bringen Elfenbein an die Küste. Die Portugiesen, welche am Ende des 15. Jahrh. diese Küste entdeckten, und zu deren Kolonie Mosambik dieselbe jetzt gehört, trafen hier arabische, vom Sultan von Kilwa abhängige Niederlassungen. Sie unterwarfen diese sowie die benachbarten Kaffern und nannten die neue Besitzung Königreich Algarve. Von ihren hier angelegten Militär- und Handelsstationen S. und Inhambane unternahmen die Portugiesen namentlich im 16. Jahrh. Züge nach den goldreichen Kaffernstaaten Mokaranga und Monomotapa, welche als angeblich mächtige und zivilisierte "Kaiserreiche" erschienen, in der That aber nur barbarische Reiche waren. Im Hinterland von S. liegen auch die Goldgruben von Manica sowie verschiedene 1871 von Karl Mauch entdeckte Goldgruben und die Ruinen von Zimbabye (s. d.), weshalb man schon im 16. Jahrh. das Salomonische Ophir hierher verlegte, eine Ansicht, die mit mehr Kühnheit als Begründung in neuerer Zeit wiederholt wurde. - Die Stadt S., am Kanal von Mosambik, seit 1505 im Besitz der Portugiesen, ist ein armseliger, verfallener Ort, der kaum 1200 Einw. (darunter wenige Weiße) zählt, aber doch Hauptort des gleichnamigen Bezirks und Station für das submarine Kabel von Durban nach Soffariden, pers. Dynastie, s. Saffariden. Soffionen (ital., "Blasebälge"), Name der Dampfausströmungen der Borsäure (s. d.) in Toscana. Soffítte (ital.), in der Baukunst die ornamentierte Unteransicht eines Bogens, einer Hängeplatte, einer Balkendecke etc.; eine in Felder geteilte oder mit Getäfel gezierte Zimmerdecke; im Theaterwesen die über der Bühne aufgehängten, den Himmel oder eine Decke darstellenden Dekorationsstücke. Sofi (arab., Sufi, Ssofi, Ssufi), s. Sûfismus. Sófia (bulgar. Sredec), Hauptstadt des Fürstentums Bulgarien, an der Eisenbahn von Konstantinopel nach Belgrad und an der Bogana (Nebenflüßchen des Isker) in einer prachtvollen, weiten Ebene, zwischen Balkan und Witosch, 580 m ü. M. gelegen. S., Mittelpunkt eines ansehnlichen Straßennetzes, hat viele Moscheen (darunter als die architektonisch bedeutendste die jetzt verfallene Böjük Dschami), christliche Kirchen und Klöster; das sehenswerteste Gebäude ist das große Bad bei der Moschee Baschi Dschamisi, mit warmen Quellen. Doch entstehen gegenwärtig viele Neubauten, und die alten Straßen werden reguliert und gepflastert. Neu errichtet sind ein fürstlicher Palast, eine Nationalbibliothek, eine Druckerei, Apotheken, Agenturen, Gasthöfe, eine Post, eine Nationalbank mit einem Kapital von 2 Mill. Frank, ein wissenschaftlicher Verein u. a. 1887 zählte es 30,428 Einw., darunter 5000 Juden, 2000 Türken und 1000 Zigeuner. S. hat starken Export von Häuten nach Österreich und Frankreich, von Mais und Getreide. Es ist der Sitz der bulgarischen Regierung, eines griechischen Metropoliten, eines Kassations- und eines Appellhofs sowie eines deutschen Berufskonsuls. - S. steht an der Stelle des alten Ulpia Serdica in Obermösien (berühmt durch ein 344 daselbst gehaltenes Konzil) und fiel 1382 in die Hände der Türken. Am 3. Jan. 1878 wurde die Stadt von den Russen unter Gurko besetzt. Sofia-Expedition, 28. Juni bis 20. Okt. 1868, s. Maritime wissenschaftliche Expeditionen. Sofiero (Sophiero), königliches Lustschloß am Öresund in Schweden, 6 km von Helsingborg; Sommersitz der königlichen Familie. Sofis (Safis, Sûfis), pers. Dynastie, gegründet von Ismail, mit dem Beinamen Sofi, herrschte von 1505 bis 1735 über Persien (s. d., S. 873). Sofismus, s. Sûfismus. Söflingen, Marktflecken im württemberg. Donaukreis, Oberamtsbezirk Ulm, an der Blau und der Linie Ulm-Sigmaringen der Württembergischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein Forstamt, mechanische Weberei und (1885) 2501 Einw. S. war früher reichsunmittelbare Frauenabtei, kam 1802 an Bayern und 1810 an Württemberg. Softa (pers.), in der Türkei ein der Wissenschaft lebender, der Welt abgestorbener Besucher der Hochschulen (s. Medresse). Die Softas rekrutieren sich jetzt aus den untersten Volksschichten und haben mehrere Prüfungen zu bestehen, bis sie den gesetzlichen Titel "Molla" (s. d.) erlangen, um dann als Geistliche oder als Richter angestellt zu werden. Meist Gegner aller europäisierenden Maßregeln, haben sie sich in der Neuzeit auch zu politischen Demonstrationen verleiten lassen. Sog, s. v. w. Kielwasser (s. d.). Sogamoso, Stadt im Staat Boyacá der südamerikan. Republik Kolumbien, am Chicamocha, 2506 m ü. M., mit Hospital, lebhaftem Handel und (1870) 9553 Einw. Ehemals war S. die Hauptstadt der theokratischen Regierung des Sugamuxi, eines Hohenpriesters der Muisca oder Tschibtscha (s. d.). Sogdiana, ehemals die nördlichste bis zum Jaxartes reichende Satrapie des Perserreichs, mit der Hauptstadt Marakanda (jetzt Samarkand). Sögel, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Osnabrück, Kreis Lingen, am Hümmling, mit kath. Kirche, Amtsgericht und (1885) 1100 Einw. Östlich das herzoglich arenbergische Jagdschloß Klemenswerth. Soggen, s. Salz, S. 238. Soghum Kala, Stadt, s. Suchum Kalé. Soglio (spr. ssolljo), s. Sils 3). Sognefjord, tief einschneidender Fjord an der Westküste Norwegens, über 200 km lang, endigt in einem Seitenfjord, welcher den Namen Lysterfjord führt, ist kaum irgendwo 7 km breit und fast überall von hohen, steilen Felswänden umgeben. Die Landschaft, welche den S. umgibt, ist die gebirgige Vogtei Sogn und gehört zu den wildesten Gegenden des Landes. Die vom Hauptfjord abgehenden Seitenfjorde zeichnen sich besonders durch ihre gewaltigen Umgebungen aus. So sind die südlichen Zweige, der Aurlands- und der Näröfjord, von Gebirgen umgeben, die sich von der See aus 1600-2000 m senkrecht erheben. Im N. sendet der S. außer dem Lysterfjord auch den Sogndalsfjord und den Fjärlandsfjord aus, von denen der letztere bis zu den Gletschern des Jostedalsbrä hineindringt, welche hier bis zu 65 m ü. M. herabsteigen. Diese riesenhafte Schneemasse, die mit ihren Gletschern die angrenzenden Thäler erfüllt, begrenzt den Fjord im N., während ihn im O. große, zu den Jotunfjelden (s. d.) gehörige Gebirgsmassen von den angrenzenden Gegenden scheiden; nur im Süden führt ein einziger Paß durch das großartige Närödal, die Fortsetzung des Sohair (Zuhair), berühmter arab. Dichter der vormohammedanischen Zeit. Seine "Moallaka" ist einzeln herausgegeben von Rosenmüller ("Analecta arabica", 2. Teil, Leipz. 1826), übersetzt von Rückert ("Hamasa" I, Zugabe 1 zu Nr. 149); seine erhaltenen Gedichte s. bei Ahlwardt in den "Six ancient poets" (Lond. 1870). Vgl. Kaab Ibn Sohair. Sohar ("Glanz", auch S. hakadosch, der heilige S., genannt), das in unkorrektem Aramäisch in Form Sohar - Soiron. eines Pentateuchkommentars abgefaßte Hauptwerk der Kabbala (s. d.), das jahrhundertelang fast vergöttert wurde, aber durch seine verworrene Vermischung von neuplatonischen, gnostischen, Aristotelischen und jüdisch-allegorischen Anschauungen die Entwickelung des Judentums sehr geschädigt hat. Verfasser oder Redakteur des S. ist vermutlich der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. in verschiedenen Städten Spaniens lebende Moses ben Schemtob de Leon und nicht Simon ben Jochai (Mitte des 2. Jahrh. n. Chr.). Der S., der an einzelnen Stellen eine Feindseligkeit gegen den Talmud zu erkennen gibt und hin und wieder mit dem Christentum liebäugelt, besteht aus drei Hauptteilen: 1) dem eigentlichen S., 2) dem treuen Hirten (Raja mehemna) und 3) dem geheimen Midrasch (Midrasch neelam). Vgl. Tholuck, Wichtige Stellen des rabbinischen Buches S. (Berl. 1824); Joël, Die Religionsphilosophie des S. (Leipz. 1849); Jellinek, Moses ben Schem-Tob de Leon und sein Verhältnis zum S. (das. Sohar, Hafenstadt in der arab. Landschaft Oman, mit guter Reede, einem festen Schloß, sorgfältig angebauter Umgebung und ca. 24,000 Einw. (darunter eine Anzahl Juden mit eigner Synagoge). Gewerbe, Weberei, Metallarbeiten blühen. Sohl (ungar. Zólyom), ungar. Komitat am linken Donauufer, grenzt an die Komitate Liptau, Gömör, Neográd, Hont, Bars und Thúrócz, ist 2730 qkm (49,7 QM.) groß, ganz von Gebirgen bedeckt, wird vom Granfluß durchströmt, dessen Thal besonders fruchtbar ist, und hat zahlreiche Gebirgsweiden. Die Einwohner (1881: 102,500, meist Slowaken) betreiben Rindvieh- und Schafzucht, etwas Weinbau, lebhaften Bergbau auf Schwefel, Silber, Kupfer, Eisen, Vitriol und Quecksilber sowie Fabrikation von Eisen- und Töpferwaren, Tuch, Glas, Papier etc. Sitz des Komitats, das seinen Namen von der bei Altsohl malerisch gelegenen Ruine S. an der Mündung der Szlatina in die Gran erhielt, ist Neusohl. Sohland, Dorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Spree und an der Linie Bischofswerda-Zittau der Sächsischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, Hand- und mechan. Weberei, Säge- und Mahlmühlen und (1885) 5126 Einw. Sohle (Soole), Fisch, s. Schollen. Sohlenbau, s. v. w. Strossenbau, s. Bergbau, 724. Sohlengänger, Säugetiere, die mit der ganzen Sohle auftreten, wie die Bären (s. Säugetiere, 345). Sohlennähmaschine, s. Schuh. Söhlig, im Bergwesen s. v. w. horizontal. Vgl. Fallen der Schichten. Sohn, jede Person männlichen Geschlechts im Verhältnis zu ihren Erzeugern (Vater und Mutter). S. Verwandtschaft. Sohn, 1) Karl Ferdinand, Maler, geb. 10. Dez. 1805 zu Berlin, erhielt von Schadow, dem er 1826 nach Düsseldorf folgte, den ersten Unterricht in der Kunst und behandelte anfangs mit Vorliebe antike Stoffe, dann auch Szenen aus neuern Dichtern, wie Tasso, Goethe etc. Seine Hauptwerke, welche ihm in den 30er und 40er Jahren eine große Popularität einbrachten, sind: Rinaldo und Armida, die Lautenschlägerin und der Raub des Hylas (beide in der Nationalgalerie zu Berlin), Diana und Aktäon, das Urteil des Paris, Romeo und Julie, die beiden Leonoren, die Schwestern, die vier Jahreszeiten, Lurlei und Darstellungen von sentimental-romantischen Situationen. S. war Meister in Behandlung der Karnation und in der Darstellung von Frauengestalten. Besonders ausgezeichnet war er im weiblichen Bildnis. Er wurde 1832 Lehrer an der Düsseldorfer Akademie und starb 25. Nov. 1867 während eines Besuchs in Köln. Als Lehrer hat er einen großen Einfluß auf die Entwickelung der Düsseldorfer Schule geübt. - Seine beiden Söhne Richard S. (geb. 1834) und Karl S. (geb. 1845) haben sich als Porträt- und Genremaler vorteilhaft bekannt gemacht. 2) Wilhelm, Maler, Neffe des vorigen, geb. 1830 zu Berlin, ging 1847 nach Düsseldorf und erhielt durch Karl S. seine Ausbildung, die er durch Reisen ergänzte. Anfangs malte er historische Bilder, wie: Christus auf stürmischer See (1853, städtische Galerie in Düsseldorf, Christus am Ölberg (1855, in der Friedenskirche zu Jauer in Schlesien), Genoveva (1856); bald aber wandte er sich der Genremalerei zu. Seine Verschiedenen Lebenswege, Gewissensfrage (1864, Galerie zu Karlsruhe), besonders aber die Konsultation beim Rechtsanwalt (1866, Museum in Leipzig) sind meisterhaft in der Charakteristik, in der Zeichnung und der koloristischen Wirkung. Infolge des Aufsehens, welches diese Gemälde machten, erhielt er den Auftrag, für die preußische Nationalgalerie ein großes Bild, die Abendmahlsfeier einer protestantischen Patrizierfamilie, zu malen, das ihn noch beschäftigt. S. wurde 1874 Lehrer der Malerei an der Düsseldorfer Akademie. Seit dieser Zeit hat er wenig geschaffen, desto ersprießlicher aber als Lehrer gewirkt. Soho, Vorstadt von Birmingham (s. d.), mit berühmter, von Watt gegründeter Dampfwagenfabrik. Sohrau, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Oppeln, Kreis Rybnik, am Ursprung der Ruda und an der Linie Orzesche-S. der Preußischen Staatsbahn, 283 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht, Eisengießerei und Eisenwarenfabrikation, Lein- und Wollweberei, eine Dampf- und 3 Wassermühlen, Ziegeleien und (1885) mit der Garnison (1 Eskadron Ulanen Nr. 2) 4450 meist kath. Söhre, bewaldete Berglandschaft im preuß. Regierungsbezirk Kassel, rechts von der Fulda, südöstlich von Kassel, besteht aus Buntsandstein und erreicht im Stellberg 482 Soi-disant (franz., spr. ssoa-disang), sogenannt. Soignies (spr. ssoanjih), Hauptstadt eines Arrondissements in der belg. Provinz Hennegau, an der Senne und der Eisenbahn Brüssel-Quiévrain (mit Abzweigung nach Houdeng-Goegnies), hat mehrere Kirchen (darunter die romanische Vincentiuskirche aus dem 12. Jahrh.) und Klöster, ein Rathaus im spanischen Stil, eine höhere Knabenschule, Industrieschule, ein geistliches Seminar, Zwirnfabrikation und (1887) 8683 Einw. Hier 10. Juli 1794 siegreiches Gefecht der Franzosen gegen die Niederländer. Soirée (franz., spr. ssóareh), Abend; Abendgesellschaft; S. dansante, Abendgesellschaft mit Tanz. Soiron (spr. ssoaróng), Alexander von, bad. Politiker, geb. 2. Aug. 1806 zu Mannheim, studierte in Heidelberg und Bonn, widmete sich seit 1832 der advokatorischen Praxis erst zu Heidelberg, dann zu Mannheim und ward 1834 daselbst Oberhofgerichtsadvokat. Seit 1845 Abgeordneter der badischen Zweiten Kammer, hielt er zur liberalen Opposition und nahm 1848 an den Vorbereitungen zur Berufung des Vorparlaments regen Anteil. Er ward auch in den Fünfzigerausschuß gewählt und führte den Vorsitz darin. In der Nationalversammlung war er geraume Zeit erster Vizepräsident und Vorsitzender des Verfassungsausschusses. Er handhabte seine Ämter mit Energie und Umsicht und zog sich dadurch den Haß Soissonische Stufe - Soja. der Linken zu. S. war ein tüchtiger Redner und fleißiger Arbeiter. Auch am Erfurter Parlament nahm er teil. Er starb 6. Mai 1855 in Heidelberg. Soissonische Stufe (spr. ssoa-), s. Tertiärformation. Soissons (spr. ssoassóng), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Aisne, an der Aisne und der Nordbahn (mit Abzweigung nach Compiègne und Reims), mit detachierten Forts umgebene Festung zweiten Ranges, hat mehrere Überreste gallorömischer Architektur und bedeutende Bauwerke aus dem Mittelalter, wie die schöne Kathedrale (12.-13. Jahrh.), die Kirche St.-Léger, die Stiftskirche St.-Pierre, die Reste der 1076 gegründeten Abtei St.-Jean des Vignes, das Stadthaus u. a. S. hat ein Zivil- und Handelstribunal, ein Collège, großes und kleines Seminar, eine Zeichenschule, eine Bibliothek mit 30,000 Bänden, ein Antikenmuseum, ein Taubstummeninstitut und (1886) 11,850 Einw., welche etwas Industrie und starken Handel mit landwirtschaftlichen Produkten treiben. Es ist Bischofsitz. - Im Altertum hieß die Stadt Noviodunum, später Augusta Suessionum (wovon der heutige Name) und war die Hauptstadt der Suessionen im belgischen Gallien. In S. war ein Palatium der römischen Kaiser, und es war die letzte Stadt, welche die Römer in Gallien besaßen. Aetius und Syagrius residierten daselbst, und letzterer wurde 486 von Chlodwig in der Nähe der Stadt geschlagen. In der Merowingerzeit war es fast immer Residenz eines Teilreichs und war auch nachher von Bedeutung. Hier fand 744 eine für Neustrien wichtige Synode und 751 die Erhebung Pippins zum König statt; hier mußte Ludwig der Fromme 833 Kirchenbuße thun. Seit dem 9. Jahrh. Sitz eigner Grafen, ging S. durch Kauf und Heirat in verschiedene Hände über und fiel 1734 an die französische Krone. Als Knotenpunkt großer Heerstraßen und Sperrpunkt der Nordbahn spielte S. in den Kämpfen von 1814 und 1815 sowie 1870 eine große Rolle, 15. Okt. d. J. ward es nach dreitägiger Beschießung vom Großherzog von Mecklenburg-Schwerin genommen. Die Geschichte dieser Belagerung beschrieben Gärtner (Berl. 1874) und H. Müller (das. 1875). Soissons (spr. ssoassóng), 1) Charles von Bourbon, Graf von, Sohn des Prinzen Ludwig I. von Condé (s. d.) aus dessen zweiter Ehe mit Françoise von Orléans-Longueville, durch welche die Grafschaft S. an das Haus Bourbon-Condé kam, geb. 1566, stand in den Hugenottenkriegen bald auf seiten des Hofs, bald auf seiten des Königs Heinrich von Navarra, schloß sich 1588 an diesen an, leistete ihm in der Schlacht bei Coutras nützliche Dienste und starb 1. Nov. 1612. 2) Louis von Bourbon, Graf von, Sohn des vorigen, geb. 11. Mai 1604 zu Paris, folgte seinem Vater als Grand-Maître und Gouverneur der Dauphiné. Schon im 16. Jahr unterstützte er die Königin-Mutter Maria von Medici gegen ihren Sohn Ludwig XIII., während er zugleich, um sich gefürchtet zu machen, mit den Hugenotten unterhandelte. Als diese ihn mißtrauisch von sich wiesen, kehrte er zur Partei des Königs zurück und begleitete diesen im Feldzug von 1622 gegen die Protestanten. Durch die Entdeckung der Verschwörung gegen Richelieu, an der er teilgenommen hatte, kompromittiert, floh er nach Italien; Ludwig XIII. rief ihn jedoch zurück und beauftragte ihn mit der Belagerung von La Rochelle. 1630 kaufte S. die Grafschaft S. vom Prinzen von Condé, begleitete den König nochmals nach Italien und erhielt dann das Gouvernement von Champagne und La Brie. In dem Feldzug von 1636 befehligte er ein kleines Korps an der Aisne und Oise, wurde jedoch von den Spaniern zum Rückzug nach Noyon gezwungen. Ein neuer, abermals vereitelter Anschlag zur Ermordung Richelieus nötigte S. zur Flucht nach Sedan, wo er sich mit dem Herzog von Bouillon, dem Herzog von Guise und den Spaniern zum Kriege gegen den Minister verband. Ein königliches Heer unter dem Marschall Châtillon wurde 6. Juli 1641 bei Marfée in der Nähe von Sedan geschlagen, S. aber im Gefecht erschossen. Mit ihm erlosch die Seitenlinie S. des Hauses Bourbon-Condé; Besitz und Titel gingen auf den zweiten Sohn seiner Schwester Maria über, die sich 1625 mit dem Prinzen Thomas Franz von Savoyen-Carignan vermählt 3) Eugène Maurice von Savoyen, Graf von, Sohn des Prinzen Thomas Franz von Savoyen-Carignan, Neffe des vorigen, geb. 1635 zu Chambéry, widmete sich in der Jugend dem geistlichen Stand, nahm jedoch später Kriegsdienste und heiratete 1657 Olympia Mancini (s. Mancini 1), die Nichte des Ministers Mazarin, der ihn zum Generalobersten der Schweizer und zum Gouverneur der Champagne ernannte. 1667 wohnte er dem Feldzug in Flandern bei, und 1672 ward er von Ludwig XIV. zum Generalleutnant befördert, in welcher Eigenschaft er sich in Holland und am Rhein auszeichnete. Er starb 7. Juni 1673. Sein jüngerer Sohn war der berühmte Prinz Eugen (s. d.) von Savoyen; der ältere, Ludwig Thomas, setzte die Linie Savoyen-S. fort, die mit dessen Enkel 1734 erlosch. Soja Savi (Sojabohne), Gattung aus der Familie der Papilionaceen, mit der einzigen Art S. hispida Mönch, einer einjährigen, in Japan, Südindien und auf den Molukken heimischen Pflanze. Sie hat einen bis 1 m hohen, aufrechten, etwas windenden Stengel, langgestielte, dreizählige Blätter, welche wie Stengel und Zweige dicht rotbraun behaart sind, kurzgestielte Blütenträubchen mit kleinen, unscheinbaren, blaßvioletten Blüten und sichelförmige, trockenhäutige, rötlich behaarte, zwei- bis fünfsamige, zwischen den Samen schwammig gefächerte Hülsen. Man kultiviert die Sojabohne in zahlreichen Varietäten und in sehr weiter Verbreitung in Asien. Sie geht mit ihrer nördlichen Verbreitungsgrenze noch über den Mais hinaus, besitzt ein großes Anpassungsvermögen an Boden- und klimatische Verhältnisse, völlige Immunität gegen Schmarotzerpilze und nie versagende Fruchtbarkeit. Die früh reifenden Varietäten geben in Mitteleuropa nach zahlreichen mehrjährigen Anbauversuchen sehr befriedigende Resultate. Die Samen sind rundlich, länglich oder nierenförmig, gelblich, braunrot, grünlich oder schwarz, niemals gefleckt; sie enthalten neben etwa 7 Proz. Wasser 38 Proteinkörper, 17-20 Fett, 24-28 stickstofffreie Substanzen, 5 Rohfaser und 4,5 Proz. Asche. Ihr Nährwert ist mithin gegenüber den übrigen Hülsenfrüchten ein sehr hoher, und namentlich tritt der bedeutende Fettgehalt hervor. Auf letzterm beruht zum Teil die vielfache Verwendung der wohlschmeckenden Samen in Japan, indem der fettige Brei fast allen Gerichten statt der Butter zugesetzt wird; in China lebt ein großer Teil der Bevölkerung von Sojagerichten; auch bereitet man aus Sojabohnen durch einen Gärungsprozeß eine pikante braune Sauce für Braten und Fische, welche in Japan, China, Ostindien sehr beliebt ist und in England wie auf dem Kontinent und in Nordamerika ebenfalls in den Handel kommt. Die japanische Sojasauce ist die beste, sie besitzt nicht den süßlichen Geschmack der chinesischen. Gute Sojasauce ist tiefbraun, sirupartig und bildet Sojaro - Sokrates. beim Schütteln eine helle, gelbbraune Decke. Bei der Benutzung darf den Speisen nur sehr wenig zugesetzt werden. In Österreich hat man die Samen als gutes Kaffeesurrogat benutzt. Vgl. Haberlandt, Die Sojabohne (Wien 1878); Wein, Die Sojabohne (Berl. 1881). Sojaro, Beiname von Bernardino Gatti (s. d.). Sok, siamesische Elle, = 2 Kup à 12 Niuh oder Nid à 4 Kabiet = 1/2 m. Sokal, Stadt in Ostgalizien, am Bug und an der Eisenbahn Jaroslau-S., mit Bezirkshauptmannschaft, Bezirksgericht, Bernhardinerkloster, Wallfahrtskirche und (1880) 6725 Einw. Hier 1519 Niederlage der Polen gegen die Tataren. Sokol (slaw.), Falke; übertragen s. v. w. Held, wackerer Mann; in Böhmen und Mähren häufig auch Name von Turnvereinen. Sokolka, Kreisstadt im russ. Gouvernement Grodno, an der Petersburg-Warschauer Eisenbahn, mit (1885) 4125 Einw., von denen sich die Christen mit Landbau, die Juden mit Kramhandel beschäftigen; kam bei der dritten Teilung Polens (1795) an Preußen und 1807 an Rußland. Sokolow, 1) Stadt in Galizien, Bezirkshauptmannschaft Kolbuszow, hat ein Bezirksgericht und (1880) 4296 Einw. - 2) Kreisstadt im russisch-poln. Gouvernement Sjedletz, mit (1885) 7083 Einw. Sókoto (Soccatu, Sakatu), Reich der Fellata im westlichen Sudân (Afrika), grenzt nördlich an die Sahara, östlich an Bornu, westlich an Gando und umfaßt den größten Teil des Haussalandes mit einem Flächenraum von ca. 440,000 qkm (8000 QM.). Hauptstadt des Landes und Residenz des Sultans ist Wurno mit 22,000 Einw. Der Sultan von S. übt über Gando, Bautschi, Nupe und Adamáua mehr ein geistliches als ein weltliches Regiment. Dennoch empfängt er von diesen Staaten mäßigen Tribut. Das Reich, welches unter den Sultanen Bello (1819 bis 1832) und Atiku (1832-37) in ziemlicher Blüte stand, ist unter deren Nachfolgern sehr in Verfall gekommen. Die Stadt S., ehemals Hauptstadt des Reichs, am gleichnamigen Fluß (Nebenfluß des Niger), ist mit einer Mauer umgeben, ziemlich regelmäßig gebaut, hat einen großen Residenzpalast, mehrere Moscheen, Fabrikation von Leder- u. Baumwollwaren, Waffen, Werkzeugen etc. Ein aus Brasilien zurückgekehrter Fulahsklave hat in der Nähe eine Zuckerplantage und -Raffinerie angelegt. Arabische Kaufleute aus Ghadames bewohnen ein besonderes Viertel, auch englische Händler erscheinen jetzt daselbst. Clapperton gelangte 1824 als erster Europäer nach S. und starb 1827 in der Nähe der Stadt. 1853 wurde es von Barth, 1880 von Flegel und 1885 von I. Thomson besucht. Letzterer schloß namens der National African Company mit dem Sultan einen Vertrag ab, wonach jener Gesellschaft gegen eine jährliche Subsidie das Monopol des Handels und der Mineralausbeute an den Ufern des Binue eingeräumt wurde. S. Karte bei Guinea. Sokotora (Socotra, verderbt aus dem griech. Dioskorides), Insel im Indischen Ozean, 220 km östlich vom Kap Gardafui, der Ostspitze Afrikas, 3579 qkm (65 QM.) groß mit 12,000 Einw., ist mit Ausnahme eines schmalen Küstenstrichs von hohen, bis über 1360 m aufsteigenden Gebirgen erfüllt, nur in einzelnen Thälern unweit der Küste fruchtbar, in welchen vorzugsweise die nach der Insel benannte Aloe und Dattelpalmen gedeihen, welche nebst Drachenblut, Schildpatt, Zibetkatzen etc. ausgeführt werden. Die Bevölkerung ist ein Mischvolk von Arabern, Somal, Negern und Indern. Ihre Hauptbeschäftigung bilden Handel, Viehzucht (Kamele, Rinder, Schafe, Ziegen) und etwas Ackerbau. Der Hauptort ist Tamarida an der Nordküste. - Von den alten Kulturvölkern Dioskorides genannt und auch im Periplus erwähnt, wurde die Insel im 15. Jahrh. von Niccolò Conti und 1503 von Pereira besucht und 1506 von Tristan da Cunha erobert. Doch stellte 1510 der arabische Scheich von Keschin seine Autorität wieder her. Damals befand sich eine im 4. Jahrh. von Arabien aus gegründete christliche Gemeinde auf der Insel, die später den Arabern weichen mußte. Von 1835 bis 1839 hielten englische Truppen die Insel besetzt, 1876 schloß die englische Regierung mit dem Scheich von Keschin einen Vertrag ab, wodurch sie das Vorkaufsrecht erwarb, und 30. Okt. 1886 ließ der britische Resident in Aden die Insel besetzen. Schweinfurth hat dieselbe 1881 erforscht. Vgl. Robinson, Sokotra (Lond. 1878). Sokrates, 1) der berühmteste unter den griechischen Weisen, Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phänarete, wurde um 469 v. Chr. zu Athen geboren. Er soll die Kunst seines Vaters erlernt und auch eine Zeitlang ausgeübt haben; eine Gruppe am Fuß der zur Akropolis führenden Treppe galt für sein Werk. Zu seiner Lebensaufgabe machte er den in Gestalt von Unterredungen und im Gegensatz zu den Sophisten unentgeltlich erteilten Unterricht, zu welchem Zweck er seine materiellen Bedürfnisse auf das äußerste beschränkte und den Verkehr mit Jünglingen, deren Geburt und Talent (wie bei Alkibiades und Kritias) vorhersehen ließen, daß sie späterhin einen großen Einfluß auf ihre Mitbürger üben würden, um sie zu denkenden und charaktervollen Männern zu bilden, jedem andern vorzog. Seine Tüchtigkeit bekundete sich jedoch nicht bloß in diesen didaktischen, sondern auch in praktischen, auf die Erfüllung seiner Bürgerpflichten, auch der militärischen, gerichteten Bestrebungen. Obgleich dem Krieg abhold, beteiligte er sich an drei Feldzügen und rettete in der Schlacht bei Potidäa dem vom Pferd gestürzten Alkibiades durch mannhafte Verteidigung das Leben. Gerade aber sein Streben nach unabhängiger Tüchtigkeit im Treiben einer korrumpierten Umgebung und seine Bemühungen, die Jugend von den verderblichen Lehren sittlicher Zersetzung abzuziehen und edlerer Geistesverfassung zuzuführen, zogen ihm Verfolgung zu. S. wurde bezichtigt, die Jugend zu verderben und andre Götter als die vom Staat anerkannten zu lehren. Als seine Ankläger werden genannt: ein mittelmäßiger Dichter, Melitos, ein Lederhändler und Demagog, Anytos, und ein Rhetor, Lykon. S. verteidigte sich in mutvoller und seiner würdiger Weise, ohne eine gewisse Reizung seiner Richter zu vermeiden. Nachdem er mit ganz geringer Majorität verurteilt war und nun selbst dem Herkommen gemäß einen Strafantrag zu stellen hatte, lehnte er letzteres ab, indem er ironisch an Stelle der vorzuschlagenden Strafe eine Belohnung seiner Verdienste durch Erhaltung auf öffentliche Kosten im Prytaneion forderte. Hierdurch erbittert, verurteilten ihn seine Richter mit größerer Majorität zum Tode. Der religiöse Gebrauch, dem zufolge niemand bis zur Rückkehr eines gerade um diese Zeit nach Delos entsendeten heiligen Schiffs hingerichtet werden durfte, gestattete ihm, noch 30 Tage zu leben. Während dieser Zeit unterhielt er sich im Gefängnis mit einigen seiner Anhänger über philosophische Gegenstände und namentlich über den Tod. Das Anerbieten Kritons, ihm zur Flucht zu verhelfen, lehnte er ab. Mit der größten Gemütsruhe nahm er Sokratik - Sol., Soland. nach Ablauf der Frist den Schierlingstrank und starb so in einem Alter von etwa 70 Jahren 399. Die große Bedeutung des S. ist in der Anregung zu suchen, die er durch sein Leben und noch mehr durch seinen Tod gab. Sein geistreichster und edelster Schüler, Platon, hat in seinen Dialogen Charakter und Gedankenkreis seines Meisters, wenn auch in einer freien, mit dichtender Umbildung versetzten Form, so doch mit jener Wahrheit, die auch der Dichtung innewohnt, dargestellt. Eine mehr nüchterne, aber gerade darum wertvolle Auffassung des S. findet sich in den "Memorabilien" Xenophons, der ebenfalls zu dem Kreise seiner Vertrauten gehörte. Die Lehre des S. ist, da er selbst nichts geschrieben hat, nur durch seine Schüler auf uns gekommen. Als Philosoph kam derselbe mit seinen Zeitgenossen, den Sophisten, darin überein, daß er, wie diese, den Schwerpunkt des Unterrichts in die (lehrbare) Methode und den Zweck desselben nicht, wie deren Vorgänger, die griechischen Physiker und Naturphilosophen, in die Erkenntnis der Natur, sondern in jene des dem Menschen Nützlichen als des für diesen einzig Wissens- und Wünschenswerten legte, unterschied sich aber von denselben dadurch, daß einerseits seine Methode nicht, wie die der Sophisten, ein dialektisch-rhetorisches Kunststück, um Wahres falsch, Falsches wahr scheinen zu machen, sondern die dialektische Kunst, das Wahre als solches zu finden und zu erkennen, anderseits sein Zweck nicht, wie bei jenen, auf die Erkenntnis des Nützlichen als des Guten, sondern vielmehr auf jene des Guten als des allein wahrhaft, bleibend und allgemein Nützlichen gerichtet war. Um seiner Abwendung von der Physik willen ist von ihm gesagt worden, daß er die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeführt habe. Seine Übereinstimmung mit den Sophisten hinsichtlich des Wertes methodischen Denkens und praktischer Ziele hat bewirkt, daß er von Fernstehenden (z. B. von Aristophanes in den "Wolken") zu den Sophisten gerechnet, ja seiner dialektischen Schärfe wegen als "Erzsophist" hingestellt worden ist. Die Reinheit seiner nur auf Erkenntnis der Wahrheit abzielenden sowie die Uneigennützigkeit seiner nur das Gute als Zweck menschlichen Handelns zulassenden Denkweise haben gemacht, daß er von den ihm Nahestehenden (von seinen Schülern, insbesondere von Platon) als deren diametraler Gegensatz erkannt und sein Bild als Ideal eines Weisen dem des Sophisten als des Zerrbildes eines solchen entgegengestellt wurde. Jene Kunst des S. bestand (nach Aristoteles) darin, einerseits von der Betrachtung des Besondern zum Allgemeinen aufzusteigen (Induktion), anderseits durch Ausscheidung des Unwesentlichen und Ungehörigen wie durch Zusammenfassung des Wesentlichen und Unentbehrlichen zum Begriff zu gelangen (Definition), welch letzterer, weil er der Sache selbst entspricht, immer derselbe bleibt, während das Allgemeine, weil es aus dem Besondern gewonnen worden ist, dieses letztere sämtlich in sich begreift. Dieselbe wurde von S., hierin dem Beispiel der Sophisten folgend, in dialogischer Form, durch geschicktes Fragen (erotematisch), aber zu dem Zweck, die Wahrheiten an den Tag zu bringen (daher er sie selbst mit dem Handwerk seiner Mutter, der mäeutischen oder Hebammenkunst, verglich), und zugleich indirekt, d. h. in der Weise geübt, daß der Fragende (obgleich der Wissende) sich unwissend stellt und von dem Gefragten (als ob dieser wissend wäre) belehrt zu werden vorgibt, während er diesen belehrt (daher diese Form des erotematischen Unterrichts als "sokratische Ironie" bezeichnet wird). Von diesem nur aus didaktischen Gründen gewählten Schein des Nichtwissens verschieden ist das dem S. gleichfalls in den Mund gelegte Eingeständnis wirklichen Nichtwissens, der anspruchsvollen Vielwisserei der Sophisten gegenüber, um derentwillen derselbe von dem delphischen Orakel für den weisesten aller Menschen erklärt worden sein soll. In Bezug auf die Tugend als Verwirklichung des Guten war S. der Meinung, daß dieselbe lehrbar, d. h. durch richtige Erkenntnis und Unterweisung zu bewirken sei, denn es sei unmöglich, das Gute zu wissen, ohne es zu thun. In Bezug auf den Inhalt des Guten aber liebte es S., sich auf sein von ihm sogenanntes Dämonion als eine in seinem Innern sich kundgebende Stimme zu berufen, welche zwar niemals ratend, aber stets warnend sich vernehmbar mache, wenn er etwas Unrechtes zu thun im Begriff sei. Unter den Schülern des S. haben die sogen. Sokratiker einzelne Seiten seines Wesens (Eukleides und Phädon in der megarischen und elischen Schule die dialektische, Antisthenes und Aristippos in der cynischen und kyrenäischen Schule die moralische) einseitig entwickelt, während Platon allein die empfangenen geistigen und sittlichen Anregungen zu einem das Ganze der Philosophie umfassenden Gedankenbau ausbildete. Aus der antiken Litteratur über S. sind die Platonischen Dialoge (insbesondere Kriton, Phädon und die "Apologie") hervorzuheben. Vgl. Lasaulx, Des S. Leben, Lehre und Tod (Münch. 1857); Volkmann, Die Lehre des S. (Prag 1861); Alberti, Sokrates (Götting. 1869); Fouillée, La philosophie de Socrate (Par. 1874, 2 Bde.); Grote, Plato and the other companions of S. (4. Aufl., Lond. 1885, 3 Bde.); Zeller, Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abteil. (4. Aufl., Leipz. 2) S. Scholasticus, Verfasser einer Kirchengeschichte in sieben Büchern, der Fortsetzung des Werkes des Eusebios, welche von 306-439 reicht, geboren um 380 zu Konstantinopel war eigentlich Sachwalter. Sein Werk ist herausgegeben unter andern von Hussey (Oxf. 1853, 3 Bde.) und Bright (das. 1878). Sokrátik (Sokratische Methode), die "erotematische" Kunst (s. Erotema) oder die Kunst, durch geschickt gestellte Fragen die passende Antwort hervorzulocken, welche Sokrates selbst, auf den Beruf seiner Mutter anspielend, eine geistige Hebammenkunst (s. Mäeutik) genannt und seine Schule mit Rücksicht darauf, daß der Fragende sich unwissend stellt, aber wissend ist, als sokratische Ironie bezeichnet hat. Vgl. Sokrates 1) und Katechetik. Sokratiker, Schüler, Anhänger des Sokrates. Sokratischer Dämon (Dämonion) nannte Sokrates selbst (Xenophon und Platon zufolge) das "höhere Wesen", von dem er meinte, daß es ihm durch ein göttliches Geschenk von Jugend auf beiwohne und sich ihm, wenn er oder seine Freunde etwas Unrechtes zu thun im Begriff seien, als abratende, jedoch niemals als zu etwas zuratende Stimme kundgebe, was zu mancherlei Mißdeutungen (z. B. durch den Spiritismus) Anlaß gegeben hat. Vgl. Volquardsen, Das Dämonium des Sokrates (Kiel Sol, seit 1862 Rechnungseinheit in Peru, à 100 Centavos = 5 Frank; auch s. v. w. Sou (s. d.). Sol, in der Musik, s. Solmisation. Sol, bei den Römern der Sonnengott, s. Helios; in der Alchimie das Gold. Sol., Soland., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Daniel Solander, geb. 1736 in Norrland, gest. 1782 als Unterbibliothekar des Britischen Museums zu London. Weichtiere, Korallen. Sola fide - Solario. Sola fide (lat.), d. h. "allein durch den Glauben" werden wir nämlich gerechtfertigt. Dieses von Luther in der Stelle Röm. 3, 28, sinn-, aber nicht textgemäß eingeschobene Sola wurde das Stichwort der lutherischen Reformation. Solamen miseris socios habuisse malorum (lat.), "es ist ein Trost für die Unglücklichen, Leidensgenossen zu Solanaceen, dikotyle Familie aus der Ordnung der Tubifloren, einjährige und perennierende Kräuter und Holzpflanzen mit wechselständigen, einfachen, oft in der Blütenstandregion gepaarten Blättern ohne Nebenblätter und mit meist vollständigen Blüten, welche einzeln oder in Wickeln stehen, und deren Stiele häufig scheinbar außerhalb der Blattachseln oder aus der Seite der Internodien entspringen. Der Kelch ist verwachsenblätterig, meist fünfspaltig oder -teilig, selten über der stehen bleibenden Basis abfallend, meist bleibend und an der Frucht mehr oder weniger vergrößert. Die regelmäßige Korolle ist dem Blütenboden inseriert, verwachsenblätterig, rad-, glocken-, trichter- oder präsentiertellerförmig, mit meist fünfspaltigem Saum, dessen Zipfel gefaltet, gedreht oder klappig liegen; bisweilen ist die Blumenkrone zygomorph. Die fünf Staubgefäße stehen in der Röhre der Blumenkrone abwechselnd mit den Saumabschnitten derselben. Der oberständige Fruchtknoten wird aus zwei schräg zur Mediane gestellten Karpiden gebildet und ist zweifächerig oder durch sekundäre Scheidewände unvollständig oder vollständig vierfächerig und hat eine dicke zentrale, mit zahlreichen amphitropen Samenknospen besetzte Placenta. Die Frucht ist eine Beere oder eine Kapsel. Die mehr oder weniger nierenförmigen Samen haben ein reichliches fleischiges Endosperm und einen halb oder ganz kreisförmig gekrümmten, seltener geraden Embryo. Die Familie zählt über 1200 Arten, die zum größten Teil den Tropen und demnächst den beiden gemäßigten Zonen angehören. Mehrere enthalten narkotische Alkaloide und sind wichtige Arznei- oder gefährliche Giftpflanzen (Hyoscyamus, Datura, Atropa, Solanum, Nicotiana); andere, wie die Kartoffel (Solanum tuberosum), sind namentlich wegen ihres Gehalts an Stärkemehl wichtige Nutzpflanzen. Nur sehr wenige S. sind fossil in Tertiärschichten gefunden worden (Solanites Solanin C43H71NO16 findet sich in verschiedenen Arten der Pflanzengattung Solanum, besonders reichlich in den Keimen, welche Kartoffeln im Frühjahr im Keller treiben. Extrahiert man diese mit säurehaltigem Wasser und fällt den Auszug mit Ammoniak, so entzieht Alkohol dem Niederschlag das S. Dies bildet farb- und geruchlose Kristalle, schmeckt bitter, etwas brennend, ist sehr schwer löslich in Wasser und Äther, leichter in Alkohol, schmilzt bei 235°, reagiert schwach alkalisch und bildet mit Säuren zwei Reihensalze, von denen die neutralen nicht kristallisieren, bitter und brennend schmecken, in Wasser und Alkohol leicht, in Äther kaum löslich sind, und aus deren Lösung Ammoniak amorphes S. fällt. Beim Kochen mit verdünnten Säuren wird S. in Zucker und Solanidin C25H41NO gespalten; letzteres kristallisiert, ist flüchtig, reagiert stärker alkalisch und bildet kristallisierbare Salze. S. ist stark giftig. Solano (span.), ein im südlichen Spanien in der Mancha und Andalusien, namentlich in Sevilla und Cadiz, meist von Juni bis September auftretender, dem Scirocco ähnlicher, von SO. und Süden kommender heißer Wind, welcher erschlaffend und Schwindel erregend wirkt. Solanum L. (Nachtschatten), Gattung aus der Familie der Solanaceen, Kräuter, Sträucher oder kleine Bäume von sehr verschiedenem Habitus, bisweilen kletternd, oft zottig, sternfilzig oder drüsig behaart, auch stachlig, mit abwechselnden, einzeln stehenden oder gepaarten, einfachen, gelappten oder fiederschnittigen Blättern, gelben, weißen, violetten oder purpurnen Blüten in achsel- oder endständigen Trauben oder wickeligen Infloreszenzen und gewöhnlichen, vom bleibenden Kelche gestützten, meist kugeligen, vielsamigen Beeren. Etwa 700 Arten, meist in den tropischen und subtropischen Klimaten, besonders Amerikas. S. Dulcamara L. (Bittersüß, Alpranke, Mäuseholz, Hundskraut, Stinkteufel, Teufelszwirn), Halbstrauch mit hin- und hergebogenem, kletterndem oder windendem Stamm, länglich eiförmigen, zugespitzten, am Grund oft herzförmigen oder geöhrt dreilappigen Blättern, diesen gegenüberstehenden, wickeligen, nickenden Infloreszenzen, violetten Blüten und roten, länglichen Beeren, wächst an feuchten Stellen in Europa, Asien, Nordamerika. Die Stämme riechen beim Zerbrechen sehr widrig narkotisch, sind nach dem Trocknen geruchlos, schmecken bitterlich, hintennach süß; sie enthalten Solanin, Dulcamarin und Zucker; seit dem 17. Jahrh. wurden sie medizinisch benutzt, sind jetzt aber ziemlich obsolet. Die Beeren erzeugen Erbrechen und Durchfall. S. esculentum Dun. (S. Melongena L. Eierpflanze, Melanganapfel), in Ostindien, einjährig, mit krautartigem, bis 60 cm hohem, stachligem oder wehrlosem Stengel, eirunden, ganzrandige oder buchtig gezahnten, unbewehrten oder dornigen, unterseits filzigen Blättern und lilafarbigen, großen Blüten, trägt ovale, violette, gelbe oder weiße Früchte (Aubergine, Albergine) von der Größe eines Hühnereies, die als Zuthat an Saucen, Suppen, Ragouts etc. oder geröstet gegessen werden. Man kultiviert sie in den Tropen, in Spanien, Südfrankreich, um Rom, Neapel, in der Walachei und der Levante. In Deutschland kommt diese Pflanze nur in Töpfen oder auf warmen Rabatten, besser in Mistbeeten, vor. S. nigrum L. (Hühnertod, Saukraut, s. Tafel "Giftpflanzen II"), aus Amerika eingewandert, allenthalben auf bebautem Land, an Wegen, auf Schutt, unbewehrt, mit eirunden, buchtig-gezahnten Blättern, weißen, selten ins Violette spielenden Blüten in kurz doldenartigen Wickeln und erbsengroßen, schwarzen (auch grünen) Beeren, und das zottig oder dicht behaarte S. villosum Lam. mit gelben und mennigroten (S. miniatum Bernh.) Beeren, sind bekannte Giftpflanzen und enthalten Solanin. S. Quitoense Lam. (Orange von Quito), ein bis 2 m hoher Halbstrauch in Peru und Quito, trägt genießbare Früchte von der Größe einer kleinen Orange, wird auch in England kultiviert. Von S. anthropophagorum Seem., auf den Fidschiinseln, wurden die Beeren als Würze bei den kannibalischen Mahlzeiten der Eingebornen benutzt. Viele Arten werden als Blattzierpflanzen kultiviert. Über S. tuberosum s. Kartoffel. Solar (solarisch, lat.), auf die Sonne Solarchemie, die von Kirchhoff und Bunsen begründete, auf Beobachtung des Sonnenspektrums beruhende Untersuchung der chemischen Beschaffenheit der Sonnenatmosphäre; s. Spektralanalyse. Solario, Andrea, italien. Maler, geboren um 1460 zu Mailand, bildete sich seit 1490 in Venedig bei G. Bellini und später nach Leonardo da Vinci. Von 1507 bis 1509 war er in Frankreich thätig. Er starb nach 1515. Seine Hauptwerke sind: der Ecce homo und die Ruhe auf der Flucht (im Museum Poldi- Solarlicht - Soleillet. Pezzoli zu Mailand), die Madonna mit dem grünen Kissen und die Schüssel mit dem Haupt Johannes' des Täufers (im Louvre zu Paris) und die Salome (in der Galerie zu Oldenburg). Solarlicht, veraltet s. v. w. elektrisches Licht. Solarmaschine, s. v. w. Sonnenmaschine. Solaröl, s. Mineralöle. Solarstearin, aus Schweineschmalz abgeschiedenes festes Fett, dient zu Kerzen. Solawechsel, ein nur in einem einzigen Exemplar ausgestellter Wechsel, im Gegensatz zu einem Wechsel, von welchem noch ein oder mehrere Duplikate ausgefertigt werden (Prima-, Sekunda-, Tertiawechsel etc.); auch s. v. w. eigner Wechsel (s. Solbad, ein Bad, welches in einem natürlichen, viel Kochsalz, oft auch Jod und Brom enthaltenden Mineralwasser (s. d.) oder statt des letztern in einer künstlich bereiteten Lösung von Seesalz oder Mutterlaugensalz (Kreuznach, Kösen) genommen wird. Über die Anwendung der Solbäder und die Bereitung der künstlichen s. Bad, S. Solbrunnen, s. Salz, S. 237. Sold, s. v. w. Lohn, Bezahlung für geleistete Dienste, namentlich Kriegsdienste, abzuleiten vom lat. solidus, der von Alexander Severus (222-235 n. Chr.) eingeführten Goldmünze, welche den viermonatlichen Lohn des Kriegers ausmachte. Daher Söldner, Scharen, welche um Lohn in Kriegsdienste treten, wie im Altertum die Griechen, im Mittelalter Deutsche und, bis in die Neuzeit, besonders die Schweizer (s. Fremdentruppen). Nach dem Verfall des Heerbannes, der Lehnsfolge und des Rittertums bildeten bis gegen Ende des 18. Jahrh. geworbene Söldner die Masse der Heere. Geregelte Soldzahlung begann erst mit dem Aufkommen der stehenden Heere. Bei dem ausgehobenen Wehrpflichtigen ist S. die zum Unterhalt nötige Löhnung, die, wie schon zu Gustav Adolfs Zeit, alle zehn Tage ausbezahlt wird. Ihre Höhe beträgt in Deutschland für den Gemeinen der Infanterie 35 Pf. auf den Tag, für Leute der berittenen Waffen 5 Pf. mehr, für Gefreite je 5 Pf. mehr als für Gemeine derselben Waffe. Bei den Griechen beginnt die Soldzahlung unter Perikles, bei den Römern schon unter den Königen, aber aus den Gemeindekassen, aus der Staatskasse erst seit 406 n. Chr. halbjährlich oder jährlich; der bare S., das Salarium (Geld für Salz) eingerechnet, entsprach dem Lohn der ländlichen Arbeiter. Bei den Deutschen beginnt die Soldzahlung vereinzelt unter Karl d. Gr. und war durch die Hansa im 13. Jahrh., in England um 1050 vollständig entwickelt. Soldanella L. (Troddelblume, Alpenglöckchen), Gattung aus der Familie der Primulaceen, kleine, perennierende Kräuter mit grundständigen, gestielten, nierenförmigen Blättern, auf nacktem Schaft einzeln oder doldig stehenden, nickenden, blauen, violetten oder rosenroten Blüten und kegelförmig länglicher Kapsel. Vier Arten auf den südeuropäischen Hochgebirgen. S. alpina L., mit überhängenden, hellvioletten Blüten auf zwei- bis vierblütigem Schaft. S. pusilla Baumg., mit großer, rötlichweißer oder rosenroter, einzeln stehender Blüte, wird, wie die vorige, gleich andern Alpenpflanzen Soldat, jede für Sold dienende Militärperson, mit Ausnahme der Militärbeamten; insbesondere der Gemeine (s. Militär). Der Name S. wurde im 16. Jahrh. aus dem Italienischen (soldato) entlehnt und stammt vom lateinischen solidus (s. Sold). Soldatenhandel, das Vermieten von Truppen, namentlich seitens der Fürsten deutscher Kleinstaaten, an fremde Staaten, lediglich zum Zweck des Gelderwerbs, gleichgültig, ob zu gunsten der Kasse des Staats oder des Fürsten. Hierin liegt der Unterschied zwischen dem S. und den Subsidienverträgen behufs Truppenstellung oder Lieferung von Subsidiengeldern; diesen Verträgen liegt eine Staatsidee zu Grunde, die dem S. mangelt. Der letztere hat seinen Ursprung bei den Handelsstaaten des Altertums: Syrakus, Tarent, Karthago, und fand gleiche Anwendung in Venedig, den Niederlanden und England, die alle zur Aufstellung ihrer Heere der Werbung von Söldnern bedurften und (wie England) noch bedürfen. Den S. begann Bernhard von Galen, Bischof von Münster, 1665; ihm folgte Johann Georg III. von Sachsen, der 1685 für 120,000 Thlr. 3000 Mann an Venedig zum Krieg in Morea vermietete. Den höchsten Aufschwung nahm der S. während der Kriege Englands gegen seine amerikanischen Kolonien; etwa 30,000 Mann sind dazu aus Deutschland gestellt, wofür dieses gegen 8 Mill. Pfd. Sterl. erhielt. Der Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen vermietete während des österreichischen Erbfolgekriegs sowohl Truppen an England als an Karl VII., also an die sich bekriegenden Gegner. Die Fremdentruppen (s. d.), die Schweizerregimenter, die sich oft in den feindlichen Parteien gegenüberstanden, gehören zum S. Vgl. Jähns, Heeresverfassungen und Völkerleben (Berl. 1885); Winter, Über Soldtruppen (8. Beiheft zum "Militärwochenblatt" 1884). Soldatéska (ital.), das Soldatentum, mit dem Nebenbegriff des Übermütigen und Eigenmächtigen. Soldau (poln. Dzialdowo), Stadt im preuß. Regierungsbezirk Königsberg, Kreis Neidenburg, am Flusse S., Knotenpunkt der Linie Allenstein-S. und der Eisenbahn Marienburg-Mlawka, 157 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, Ruinen eines alten Ordensschlosses, ein Amtsgericht, Spiritusfabrikation, Getreide- und Schweinehandel und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbat. Nr. 44) 3122 meist evang. Einwohner. Hier 26. Dez. 1806 heftiges Gefecht zwischen Franzosen (Ney) und Preußen (Lestocq). Soldin, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, am Ausfluß der Miezel aus dem Soldinsee und an der Eisenbahn Stargard i. P.-Küstrin, 76 m ü. M., hat Reste einer Stadtmauer und einige Thore aus dem Mittelalter, eine schöne evang. Kirche, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, 3 Dampfschneidemühlen, eine Molkerei, Fischerei und (1885) 6198 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1262 erwähnt. Hier bestand 1298-1538 ein Kollegiat- oder Domstift der Prämonstratenser. Söldner, s. Sold. Soldo (Mehrzahl Soldi), ital. Rechnungs- und Kupfermünze, von welcher 20 auf die Lira gehen. Sole (Soole), kochsalzhaltiges Wasser aus natürlichen Salzquellen oder künstlich erzeugt (s. Solea (Soole), Zungenscholle, s. Schollen. Solebai, die Reede von Southwold (s. d.). Soleillet (spr. ssolläjäh), Paul, franz. Afrikareisender, geb. 29. April 1842 zu Nîmes, bereiste 1865 Algerien, Tunesien und Tripolitanien, durchzog dann 1871 die algerische Sahara und machte sich bekannt als einer der Hauptagitatoren der transsaharischen Eisenbahn. 1873 unternahm er eine Reise nach Tuat auf einer neuen, noch nicht begangenen Route, durfte aber die Oase selbst nicht betreten und kehrte 1874 nach Frankreich zurück. 1878 ging er über Senegambien nach Segu am Niger und versuchte 1879 nach seiner Rückkehr im Auftrag der französischen Regierung Solenhofen - Solferino. von St. Louis nach Timbuktu vorzudringen, wurde indessen bei Schingit, in der Nähe von Adras, ausgeplündert und war schon im Mai 1880 wieder in Paris. Im Juli d. J. versuchte er von St. Louis aus abermals, aber wiederum vergeblich, nach Timbuktu zu gelangen. Im Auftrag einer französischen Handelsgesellschaft in Obok machte er 1882 einen kurzen Ausflug über Schoa nach Kaffa und stand im Begriff, sich abermals nach Schoa zu begeben, als er 10. Sept. 1886 in Aden starb. Er schrieb: "Exploration du Sahara" (1876); "L'avenir de la France en Afrique" (1876); "L'Afrique occidentale" (1877); "Les voyages et découvertes de P. S., etc., racontés par lui-même" (1881); "Voyage en Éthiopie 1882-1884" (1886); "Obock, le Choa, le Kaffa" (1886); "Voyage a Ségou 1878-79" (hrsg. von Gravier, 1887). Vgl. Gros, Paul S. en Afrique (Par. 1888). Solenhofen, Dorf, s. Solnhofen. Solenn (lat.), feierlich; Solennität, Feierlichkeit. Solenoglypha (Röhrenzähner), Unterordnung der Schlangen (s. d., S. 501). Solenoid (griech.), ein schraubenförmig gewundener Draht, welcher, solange ihn ein galvanischer Strom durchfließt, sich wie ein Magnet verhält, nämlich, wenn beweglich aufgehängt, seine Längsachse in den magnetischen Meridian einstellt, indem dasjenige Ende, an welchem der Strom in der Richtung des Uhrzeigers kreist, sich nach Süden wendet und deshalb Südpol des Solenoids genannt wird, wogegen das andre nach N. weisende Ende Nordpol heißt. Auch einem Magnet oder einem zweiten S. gegenüber verhält sich ein S. wie ein Magnet. Vgl. Elektrodynamik und Magnetismus, S. Solenópsis, s. Ameisen, S. 452. Solent, Meeresarm, welcher die engl. Insel Wight von Hampshire trennt. Die westliche Einfahrt verteidigt Hurst Soleras, s. Jereswein. Solesmes (spr. ssolähm), 1) Stadt im franz. Departement Nord, Arrondissement Cambrai, an der Selle und der Nordbahn, hat bedeutende Zuckerfabrikation, Woll- u. Baumwollwebereien und (1886) 5728 Einw. - 2) Dorf im franz. Departement Sarthe, Arrondissement La Flèche, mit Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrh., einer Klosterkirche aus dem 13. Jahrh. mit schönen Skulpturen und Soleure (spr. -löhr), franz. Name für Soleus (lat.), der Schollenmuskel (fälschlich Sohlenmuskel) in der Wade. Solfa (ital.), Tonleiter (vgl. Solmisation). Solfatára (ital., franz. Soufrière, Schwefelgrube), vulkan. Krater, dessen Schlot sich bei abnehmender vulkanischer Thätigkeit allmählich verschloß und nur noch Gase, Wasserdämpfe und Sublimationen von Schwefel aus Spalten zu Tage treten läßt wodurch die Gesteine der Kraterwände Zersetzungen erleiden und einen Überzug von Schwefel erhalten. Die bekanntesten Solfataren sind in Italien. Hier heißen so insbesondere drei kleine Seen in der Provinz Rom, an der nach Tivoli führenden Straße, welche durch einen Kanal mit dem Teverone in Verbindung stehen. Der Boden exhaliert Schwefeldünste an mehreren eingebrochenen Stellen ist trübes Schwefelwasser zu sehen. Von dem einen dieser Seen werden Thermalbäder (Aquae Albulae) gespeist. Die S. von Pozzuoli ist einer von den 27 Kratern, welche sich auf der schon bei den Alten als Phlegräische Felder (s. d.) bezeichneten vulkanischen Hügellandschaft im W. von Neapel befinden. Es ist ein durch Einsturz des Kraters eines sich dicht über Pozzuoli erhebenden Vulkans entstandenes fast kreisrundes Becken das rings von den Kraterwänden umgeben und nur durch eine Bresche an der Westseite zugänglich ist. An einigen Stellen ist der Boden warm, an andern brennend heiß; heiße Schwefeldämpfe strömen namentlich aus der sogen. Bocca grande hervor. Die aufsteigenden Dünste werden zu Heilzwecken benutzt, zu welchem Behuf Bretterhütten errichtet sind. Auch der an den Wänden der Spalten abgelagerte Schwefel und der durch Verbindung der porösen Kalke mit der Schwefelsäure gebildete Gips werden industriell verwertet. Andre Solfataren finden sich in Westindien (St. Vincent, Guadeloupe, Dominica, wo die sogen. Grande Soufrière am 4. Jan. 1880 einen großen vulkanischen Ausbruch hatte, etc.) und in Mexiko. Die vielgenannte S. von Urumtsi in der Nähe der gleichnamigen Stadt, am Nordhang des Thianschan (Westchina), ist wahrscheinlich nur ein brennendes Kohlenlager. Vgl. Fumarolen. Solfeggio (ital., spr. ssolféddscho. franz. Solfège) Gesangsübung zur Ausbildung des Gehörs und der Trefffähigkeit, musikalische Leseübung, am Pariser Konservatorium der vorbereitende Elementarkursus für alle Schüler, an vielen andern Anstalten leider vernachlässigt. Die Solfeggien benannten Gesangsübungen werden in der Regel auf die Tonnamen: ut (do), re, mi, fa, sol, la, si gesungen und sind daher zugleich Vokalisationsübungen (Vokalisen) und bei gesteigerter Schwierigkeit Koloratur- und Vortragsübungen. Als Meister in der Solfeggienkomposition stehen die Italiener, namentlich Porpora, Mazzoni, Crescentini, Concone, obenan. Vgl. Gesang. Solferino, rote Farbe, s. Anilin, S. 591. Solferino, Marktflecken in der ital. Provinz Mantua, Distrikt Castiglione, auf einer Anhöhe 3 Stunden westlich vom Mincio und ebenso weit südlich vom [siehe Graphik] Kärtchen zur Schlacht bei Solferino (24. Juni 1859). Gardasee, mit (1881) 1284 Einw., ehemals Sitz eines Fürstentums, geschichtlich merkwürdig durch den entscheidenden Sieg, welchen hier 24. Juni 1859 die verbündeten Franzosen und Sardinier über die Solger - Soliman. reicher erfochten. Die Österreicher hatten 21. Juni 1859 ihren Rückzug hinter den Mincio beendigt, am 23. aber, nachdem der Kaiser, dem Heß zur Seite trat, den Oberbefehl übernommen, mit 170,000 Mann wieder den Vormarsch in die Lombardei begonnen. Auf diesem trafen sie 24. Juni früh auf die gleichfalls vormarschierenden Alliierten (150,000 Mann). Es entspann sich nun auf der ganzen Linie eine Reihe von Einzelgefechten ohne Entscheidung, bis Napoleon gegen Mittag einen energischen Angriff auf S., den Mittelpunkt und Schlüssel der österreichischen Aufstellung, befahl. Verteidigung u. Angriff leisteten das Äußerste. Um 3 Uhr erstürmten die Franzosen endlich die österreichischen Stellungen von S. und San Cassiano. Da ein Angriff Wimpffens auf den französischen rechten Flügel von Niel zurückgewiesen wurde, traten die Österreicher 4 Uhr den Rückzug an. Ein starkes Gewitter mit Wolkenbruch verhüllte von 5 Uhr an diesen. Die Piemontesen hatten mittlerweile die gefährlichste Aufgabe zu lösen: sie sollten in der schmalen Ebene zwischen dem Nordabfall des Hügellandes und dem Südufer des Gardasees östlich gegen Peschiera vorgehen. General Benedek drängte sie bis Rivoltella zwischen Desenzano und Sermione zurück und stellte sich auf dem Plateau von San Martino auf, das gegen N. und W. steil abfällt. Fünfmal stürmten die piemontesischen Bataillone; aber so oft sie bis an den obern Rand gelangten, wurden sie unter großen Verlusten zurückgeworfen. Erst am Abend trat auch Benedek zögernd den Rückzug an. Die Schlacht von S. war eine sehr blutige. Der Gesamtverlust der Österreicher belief sich auf 22,350 Mann; die Franzosen verloren 11,670, die Piemontesen 5521 Mann. Den Gefallenen ward hier 1870 ein Denkmal errichtet. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Ästhetiker, geb. 28. Nov. 1780 zu Schwedt in der Ukermark, studierte zu Halle und Jena die Rechte und unter Schelling Philosophie, schloß sich am letztern Ort und später in Berlin dem Kreis der Romantiker an, wurde 1809 Professor der Ästhetik zu Frankfurt a. O., 1811 zu Berlin, wo er 20. Okt. 1819 starb. Außer seinem in Form der Platonischen Dialoge abgefaßten mystisch-dunkeln "Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst" (Berl. 1815, 2 Bde.), in welchem er die ästhetischen Prinzipien der romantischen Schule vertrat, der aber auch eindringlich auf Hegels Ästhetik gewirkt hat, verfaßte er noch: "Philosophische Gespräche" (das. 1817) und eine geschätzte Übersetzung des Sophokles (das. 1808, 2 Bde.; 3. Aufl. 1837). Seine "Nachgelassenen Schriften und Briefwechsel" wurden von Tieck und Fr. v. Raumer (Leipz. 1826, 2 Bde.), seine "Vorlesungen über Ästhetik" von Heyse (Berl. 1829) herausgegeben. Vgl. Reinh. Schmidt, Solgers Philosophie (Berl. 1841). Solicitor (engl., spr. ssollíssítör), Anwalt, Sachwalter (s. Attorney); S. general (spr. dschönnerel), der Obersachwalter der Krone in England. Solid (lat.), fest, gediegen, zuverlässig; Solidität, Festigkeit, Zuverlässigkeit. Solidago L. (Goldrute), Gattung aus der Familie der Kompositen, ausdauernde Kräuter mit abwechselnden, ganzrandigen, oft gesägten Blättern, in Trauben oder Rispen stehenden, kleinen Blütenkörbchen und cylindrischen, gerippten Achenen mit einreihigem Pappus. Etwa 80 Arten, meist Nordamerikaner. S. canadensis L. (kanadische Goldrute, Klapperschlangenkraut), in Nordamerika, mit bis 2,5 m hohem, zottigem Stengel, lanzettförmigen, gesägten, scharfen Blättern und gelben Blüten in zurückgebogenen, einseitigen Trauben, welche wieder große Rispen bilden, wird gegen den Biß der Klapperschlange gebraucht und häufig als Zierpflanze kultiviert. Von S. Virga aurea L. (heidnisches Wundkraut), in Europa, in Wäldern und Hainen, besonders an trockenen Stellen, mit bis 1 m hohem Stengel, untern elliptischen, gesägten, obern lanzettlichen, fast ganzrandigen Blättern und gelben, traubigen oder rispig traubigen Blütenständen, war das adstringierend aromatische Kraut früher offizinell. Solidarhaft (Solidarbürgschaft), im Genossenschaftswesen die Haftpflicht des Einzelmitglieds für die Verbindlichkeiten der Genossenschaft (s. Genossenschaften, S. Solidarisch (lat. in solidum), Bezeichnung für diejenige Gemeinschaftlichkeit von Verbindlichkeiten und Rechten (Solidarobligation), vermöge deren, wenn mehrere etwas zu fordern haben, jeder das Ganze fordern kann und, wenn mehrere verpflichtet sind, jeder das Ganze zu leisten schuldig ist (alle für einen und einer für alle, samt und sonders, korreal). Der Entwurf des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs spricht in solchen Fällen von einem "Gesamtschuldverhältnis" und von "Gesamtgläubigern" und "Gesamtschuldnern". Vgl. Korrealverbindlichkeit. Solidarität (lat.), völlige Übereinstimmung, Einheit, z. B. der Interessen. Solidarpathologie (lat.), s. Cellularpathologie und Soli Deo gloria! (lat.), Gott allein die Ehre! Solidieren (lat.), befestigen, sichern. Solidungula, s. v. w. Einhufer. Solidus, röm. Goldmünze, welche Kaiser Konstantin d. Gr. um 312 an Stelle des bis dahin üblichen Aureus (s. d.) einführte, und die seitdem nicht bloß die allgemeine Reichsmünze war, sondern bald auch Geltung über die ganze damals bekannte Welt erlangte. Der Wert betrug 1/72 Pfd = 4,55 g und war bisweilen durch die Zahl LXXII oder durch die griechischen Zahlzeichen O B (d. h. 72) auf der Münze ausgedrückt. Das gewöhnlichste Teilstück ist das Drittel, der Tremissis oder Triens; selten sind Stücke von 11/2, 2 und mehr Solidi (sogen. Medaillons). Der Name S. ("Ganzstück") erhielt sich noch lange für verschiedene Geldwerte; schließlich ging er, da Feinheit und Kurswert der Münzen immer mehr herabsanken, auf Kupfermünzen, wie den italienischen Soldo und den französischen Sou, über. Soligalitsch (Ssoligalitsch), Kreisstadt im russ. Gouvernement Kostroma, an der Kostroma, mit (188^) 3303 Einw., entstand aus einem Kloster (1335 gegründet), in dessen Nähe Salzquellen entdeckt wurden, und gehörte seit 1450 zum moskauischen Fürstentum. Die Salzgewinnung hat jetzt fast ganz aufgehört; doch wird ein Brunnen, aus dem klares bittersalziges Wasser hervorsprudelt, als Heilquelle benutzt. Solikamsk (Ssolikamsk), Kreisstadt im russ. Gouvernement Perm, unweit der Kama, hat 7 griechisch-russ. Kirchen, ein Kloster, eine Stadtbank, wichtige Salinen (jährlich über 1 Mill. Pud Salz) und (1885) 3901 Einw. Soliloquium (lat.), Selbstgespräch, Monolog. Soliman (Suleiman), Name von drei türk. Sultanen: 1) S. I., Sohn Bajesids I., ließ sich nach der Gefangennehmung seines Vaters bei Angora 1402 in Adrianopel zum Sultan ausrufen, mußte aber mit seinem Bruder Musa um den Thron kämpfen, wurde in Adrianopel eingeschlossen, auf der Flucht gefangen genommen und seinem Bruder ausgeliefert, welcher ihn 1410 erdrosseln ließ. Solimoes - Solis y Ribadeneira. 2) S. II., el Kanani ("der Große" oder "der Prächtige"), Sohn Selims I., der berühmteste Sultan der Osmanen, geb. 1496, war bei des Vaters Tod (22. Sept. 1520) Statthalter von Magnesia, gab die durch seinen Vater eingezogenen Güter an die Beraubten zurück und bestrafte mit Strenge Staatsdiener, welche sich Unordnungen hatten zu schulden kommen lassen. Die Verweigerung des bei einem Thronwechsel üblichen Tributs gab ihm den Vorwand zu einem Feldzug gegen Ungarn, der ihm den Besitz von Schabatz, Semlin und Belgrad verschaffte. Dann rüstete er sich zur Eroberung der Insel Rhodos, welche nach einer sechsmonatlichen Verteidigung am 25. Dez. 1522 durch Verrat fiel. Hierauf zog er im April 1526 mit 100,000 Mann und 300 Kanonen von neuem gegen Ungarn, und am 29. Aug. erfocht er den Sieg von Mohács, worauf am 10. Sept. Pest und Ofen dem Sieger die Thore öffneten. Nach Unterdrückung eines Aufstandes in Kleinasien unternahm er zu gunsten Johann Zápolyas, Bans von Siebenbürgen, den eine Partei zum Könige gewählt hatte, 1529 einen dritten Feldzug nach Ungarn, nahm am 8. Sept. Ofen und drang am 27. mit 120,000 Mann bis Wien vor, mußte aber nach einem Verlust von 40,000 Mann am 14. Okt. die Belagerung der Stadt aufgeben. Nun wandte er seine Waffen nach Osten. Bereits im Herbst 1533 sandte er ein Heer unter dem Großwesir Ibrahim nach Asien, wo die Festungen Ardschisch, Achlath und Wan fielen und Persiens Hauptstadt Tebriz 13. Juli 1534 ihm ihre Thore öffnete. Auch Bagdad ward noch in demselben Jahr besetzt und hierauf von da aus das eroberte Land organisiert. Während dessen hatte Solimans Marine unter Barbarossa den Spaniern 1533 Koron genommen und 1534 Tunis unterworfen, welches aber 1535 durch Karls V. Expedition bald wieder verloren ging. 1541 unterwarf S. über die Hälfte Ungarns, und Zápolyas Sohn mußte sich mit Siebenbürgen begnügen. Endlich wurde 1547 ein fünfjähriger Waffenstillstand geschlossen, nach welchem S. ein jährlicher Tribut von 50,000 Dukaten bewilligt ward. Hierauf unternahm er einen zweijährigen Krieg gegen Persien und erneuerte 1551 den Krieg in Ungarn. Erst 1562 kam mit Ungarn ein Friede zu stande. Obschon über 70 Jahre alt, unternahm S. 1566 einen abermaligen Heereszug gegen Ungarn, fand aber vor Szigeth am 5. Sept. 1566 das Ende seines thatenreichen Lebens. S. beschließt die Periode der Blüte der osmanischen Herrschaft. Die Türken verehren in ihm ihren größten Fürsten. Als Krieger ausgezeichnet und glücklich, war er auch ein weiser Gesetzgeber und Staatsmann. Er übte Gerechtigkeit, hielt die Beamten in Pflicht und Gehorsam, beförderte Ackerbau, Gewerbfleiß und Handel und war freigebig gegen Gelehrte und Dichter. Doch hielt er sich nicht frei von Grausamkeit; so ließ er seiner Favoritin Roxelane, einer gebornen Russin, zu Gefallen alle ihm von andern Frauen gebornen Kinder umbringen, um ihrem Sohn Selim II. die Nachfolge zu sichern. 3) S. III., Sohn Ibrahims, Bruder Mohammeds IV., geb. 1647, folgte, nach dessen Absetzung von den Ulemas aus seiner langjährigen Haft befreit, 1687, hatte mit Empörungen zu kämpfen und führte den Krieg in Ungarn unglücklich, bis er 1689 Mustafa Köprili zum Großwesir ernannte; Solimões, s. Amazonenstrom. Solingen, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, auf einer Anhöhe unweit der Wupper und an der Linie Ohligswald-S. der Preußischen Staatsbahn, 216 m ü. M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Realprogymnasium, ein Kranken-, Armen- und Waisenhaus, ein Amtsgericht, eine Handelskammer, eine Reichsbanknebenstelle, sehr bedeutende Fabrikation von Eisen- und Stahlwaren, insbesondere von trefflichen Säbel- und Degenklingen, Messern, Gabeln, Scheren, chirurgischen Instrumenten etc., welche in die entferntesten Länder ausgeführt werden, ferner Eisengießereien und Fabriken für Patronentaschen, Helme, Zigarren etc. und (1885) 18,641 meist evang. Einwohner. Die Entstehung der Eisenindustrie soll unter Adolf IV. von Berg 1147 durch Damaszener Waffenschmiede, nach andrer Annahme um 1290 durch eingewanderte Steiermärker begründet worden sein. Erst 1359 wurde der Herrenhof S. vom Grafen von Berg erworben und erhielt bald darauf Stadtrecht. 1815 kam S. an Preußen. Vgl. Cronau, Geschichte der Solinger Klingenindustrie (Stuttg. u. Leipz. 1885). Solinus, Gajus Julius, röm. Schriftsteller, wahrscheinlich aus dem 3. Jahrh. n. Chr., veranstaltete aus des Plinius "Historia naturalis" einen Auszug, meist geographischen Inhalts, der unter dem Titel: "Polyhistor" auf uns gekommen ist (beste Bearbeitung von Th. Mommsen, Berl. 1864). Soliped (lat.), Einhufer. Solipsen (v. lat. solus, allein, und ipse, selbst, = S. I.), satir. Name für die Jesuiten, insofern diese nur an sich selbst zuerst denken. Vgl. Imhofer (Scotti), Monarchia Solipsorum (Vened. 1645). Solipsismus, in theoretischer Hinsicht der subjektive Idealismus (Fichtes), weil das Ich aus sich allein die Welt schafft, in praktischer Hinsicht der Egoismus, weil der Einzelne handelt, als ob die Welt sein wäre; Solipsist, ein Selbstsüchtiger. Solis, Virgilius, Zeichner und Kupferstecher, geb. 1514 zu Nürnberg, bildete sich nach den Stichen der sogen. Kleinmeister, verlor sich aber bald in charakterlose Manier, welche den meisten seiner Kupferstiche (ca. 650) und Federzeichnungen eigen ist. Er hat seine Motive mit Vorliebe aus der antiken Mythologie und Geschichte gewählt, aber auch viele Bildnisse und Szenen aus dem Leben seiner Zeit gezeichnet und gestochen. Zuletzt schloß er sich ganz den Italienern an. Er starb 1. Aug. 1562 in Nürnberg. Solist (lat.), Solosänger. Solis y Ribadeneira, Antonio de, span. Dichter und Geschichtschreiber, geb. 28. Okt. 1610 zu Alcalá de Henares, studierte in Salamanca die Rechte, begleitete später den Grafen von Oropesa, Vizekönig von Navarra und später von Valencia, als Sekretär und leistete in dieser Stellung ausgezeichnete Dienste. Seine Talente erregten die Aufmerksamkeit Philipps IV., der ihm eine Stelle im Staatssekretariat verlieh und ihn später zu seinem eignen Sekretär machte. Dasselbe Amt bekleidete S. auch bei der Königin-Regentin, die ihn außerdem 1666 zum Chronisten von Indien ernannte. Nicht lange darauf ließ er sich zum Priester weihen und starb 19. April 1686. Seine "Poesías varias" wurden von I. de Goyeneche (Madr. 1692) herausgegeben, neuerdings auch in der "Biblioteca de autores españoles" (Bd. 42) abgedruckt. Viel bedeutender ist er aber durch seine "Comedias" und er kann als der letzte gute Dramatiker im Nationalgeschmack betrachtet werden. Seine Stücke zeichnen sich weniger durch Originalität der Erfindung, die meistens nicht ihm gehört, als durch geschickte Behandlung sowie große Reinheit und Eleganz der Sprache und des Stils aus und wurden zu Madrid 1681 und 1732 gedruckt (eine Auswahl auch im 47. Bande der genannten "Biblioteca"). Unter denselben waren die Schauspiele: "El amor al uso" und Solitär - Solmisation. "El alcazar del segreto" sowie die nach Cervantes' schöner Novelle bearbeitete "Gitanilla de Madrid" (auch von P. A. Wolff zu seiner "Pretiosa" benutzt) besonders beliebt. Am berühmtesten und außerhalb Spaniens am bekanntesten ist S. als Geschichtschreiber durch seine "Historia de la conquista de Mejico" (Madr. 1684; am besten, das. 1783-84, 2 Bde., u. öfter; auch im 28. Bd. der "Biblioteca de autores españoles", 1853; deutsch von Förster, Quedlinb. 1838), welche, wenn auch kein kritisches Geschichtswerk im strengen Sinn des Wortes, doch wegen der kunstreichen Darstellung und der geistvollen Betrachtungsweise sowie wegen des Reichtums, der Eleganz und Klarheit der Sprache zu den klassischen Werken der spanischen Litteratur gerechnet wird. Noch hat man von S. eine Anzahl vortrefflich geschriebener Briefe, die Mayans y Siscar in seiner Sammlung "Cartas morales etc." (Val. 1773, 5 Bde.) herausgab. Solitär (franz. solitaire), Einsiedler, einsiedlerisch lebender Mensch; ein einzeln stehender, funkelnder Stern; ein einzeln gefaßter Diamant oder Edelstein von besonderm Wert. Auch ein Geduldspiel für eine einzelne Person, das sich vielfach in Kinderstuben findet, heißt S. Auf einem Brett sind 37 Löcher in 7 Reihen so angebracht, daß die 1. und 7. Reihe je 3, die 2. und 6. je 5, die 3., 4. und 5. je 7 Löcher enthalten. In jedem Loch steckt ein leicht ausziehbarer Stift. Das Spiel besteht darin, daß man einen Stift weglegt, sodann immer einen Stift in gerader Linie über einen andern wegsteckt und den übersprungenen herausnimmt. Um das Spiel zu gewinnen, darf man zuletzt nur noch einen Stift im Brett behalten. Solitärpflanzen, Pflanzen mit schönen Blättern etc. zur Einzelstellung auf Rasen. Solitüde (franz., "Einsamkeit"), öfters Name von Lustschlössern. Besonders bekannt ist die S. bei Stuttgart, 1763-67 von Herzog Karl erbaut und 1770-1775 Sitz der durch Schiller berühmt gewordenen Karlsschule (s. d.). Solium (lat.), s. v. w. Thron, ein hoher erhabener Sitz mit Rücken- und Seitenlehnen. Auf einem solchen saß bei den Römern der Pater familias, wenn er morgens seinen Klienten Audienz gab. Soljanka, russ. Gericht aus mit Zwiebeln gedämpftem Sauerkraut, welches mit gebratenem Fleisch geschichtet, mit Pfeffergurken, Pilzen, Würstchen bedeckt und im Ofen leicht gebacken wird. Soll, in der Buchhaltung (s. d., S. 564) s. v. w. Debet. Solleinnahmen, Sollausgaben, erwartete, noch nicht erfolgte Einnahmen und Ausgaben (Sollposten). Demgemäß spricht man auch von einem Budgetsoll oder Etatsoll, während das Kassensoll die Summe angibt, welche, entsprechend den Buchungen, in der Kasse vorhanden sein soll. Sölle, s. Riesentöpfe. Sollen unterscheidet sich von Müssen wie das Sitten- vom Naturgesetz dadurch, daß eine durch das erstere gebotene Handlung unterlassen werden kann, aber nicht unterlassen werden darf, ohne mißfällig zu werden, während von dem durch das letztere vorgeschriebenen Geschehen keine Ausnahme stattfinden kann. Söller (v. lat. solarium), s. v. w. Saal oder Vorplatz im obern Stockwerk eines Hauses; auch ein offener Gang oder Altan um dasselbe. Sollicitudo omnium ecclesiarum (lat.), die Bulle vom 7. Aug. 1814, durch welche Papst Pius VII. den Jesuitenorden wiederherstellte ; s. Jesuiten, 210. Solling (Solinger Wald), ein den Weserbergen angehöriger Bergzug in der preuß. Provinz Hannover und im Herzogtum Braunschweig, fällt steil von Bodenfelde bis Holzminden westlich zum Weserthal und östlich bei Einbeck zu den Thälern der Leine und Elme ab. Der S., welcher im Moosberg zu 513 m Höhe ansteigt, ist ganz bewaldet und besteht aus Buntsandstein, der vielfach gebrochen wird (Höxtersandstein). Mit dem S. schließt das durch die hessischen Länder nach Süden bis zum Odenwald sich erstreckende Buntsandsteingebirge Sollizitieren (lat.), nachsuchen, inständig bitten; Sollizitant, Bittsteller, Rechtssucher; Sollizitation, Gesuch; Sollizitator, Anwalt. Sollm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für A. Sollmann, Lehrer in Koburg (Pilze). Sollogub, Wladimir Alexandrowitsch, Graf, russ. Schriftsteller, geb. 1814 zu St. Petersburg, studierte in Dorpat, schlug dann die diplomatische Laufbahn ein und erhielt bei der Gesandtschaft in Wien einen Posten. Später wurde er vom Ministerium des Innern in den Süden Rußlands abkommandiert, um statistische Nachrichten über die südlichen Gouvernements zu sammeln. Nachdem er sich vom Staatsdienst zurückgezogen, nahm er seinen Wohnsitz in Dorpat und starb 17. Juni 1882 im Bad Homburg. Sein Hauptwerk ist "Tarantas" (1845; deutsch, Leipz. 1847), eine mit trefflichem Humor verfaßte Schilderung der verschiedenen Schichten der Gesellschaft in der Provinz. Außerdem sind zahlreiche Novellen und Erzählungen (darunter die rührende "Geschichte zweier Galoschen" und "Die große Welt") vorhanden, die von Phantasie und Beobachtungsgabe zeugen, wenn sie auch der künstlerischen Tiefe ermangeln. Gelegentlich versuchte sich S. auch als Theaterdichter (z. B. mit dem Lustspiel "Der Beamte", 1857) und veröffentlichte "Erinnerungen an Gogol, Puschkin und Lermontow" (deutsch, Dorp. 1883) u. a. Solmisation, eine eigentümliche, Jahrhunderte hindurch üblich gewesene Methode, die Kenntnis der Intervalle und der Tonleitern zu lehren, welche auf Guido von Arezzo (um 1026) zurückgeführt wird; sicher ist, daß sie um 1100 bereits sehr verbreitet war. Die S. hängt offenbar eng zusammen mit der damals aufkommenden Musica ficta, d. h. dem Gebrauch chromatischer, der Grundskala fremder Töne, und verrät eine Ahnung von dem innersten Wesen der Modulation, d. h. des Überganges in andre, transponierte Tonarten, entsprechend unserm G dur, F dur etc., die nichts als Nachbildungen des C dur auf andrer Stufe sind. Die sechs Töne C D E F G A (Hexachordum naturale) erhielten nämlich die Namen ut, re, mi, fa, sol, la (nach den Anfangssilben eines Johanneshymnus: ut queant laxis resonare fibris mira gestorum famuli tuorum, sole polluti labii reatum, sancte Ioannes); dieselben Silben konnten nun aber auch von F oder von G aus anfangend zur Anwendung kommen, so daß F oder G zum ut wurde, G oder A zum re etc. Da stellte sich nun heraus, daß, wenn A mi war, der nächste Schritt (mi-fa) einen andern Ton erreichte als das mi des mit G als ut beginnenden Hexachords, d. h. die Unterscheidung des B von H (B rotundum oder molle [b] und B quadratum oder durum [#], vgl. Versetzungszeichen) wurde damit begreiflich gemacht. Jedes Überschreiten des Tons A nach der Höhe (sei es nach B oder H) bedingte nun aber einen Übergang aus dem Hexachordum naturale entweder in das mit F beginnende (mit B molle [B], daher Hexachordum molle) oder das mit G beginnende (mit B durum [H], daher Hexachordum durum); im erstern Fall erschien der Übergang von G nach A als sol-mi. im andern als sol-re. Vom erstern stammt der Name S. Jeder Solmona - Solms. derartige Hexachordwechsel hieß Mutation. Die folgende Tabelle mag das veranschaulichen: [siehe Graphik] Die geklammerten Vertikalreihen hier sind die Hexachorde: die unterhalb mit # bezeichneten Reihen Hexachorda dura (mit h), die mit b bezeichneten Hexachorda mollia (mit b), die ohne Abzeichen naturalia (weder h noch b enthaltend). Die Horizontalreihen ergeben die zusammengesetzten Solmisationsnamen der Töne (Gamma ut bis e la). Zur bequemen Demonstration der S. bediente man sich der sogen. Harmonischen Hand (s. d.). In Deutschland ist die S. nie sehr beliebt gewesen; dagegen verdrängten in Italien und Frankreich die Solmisationsnamen gänzlich die Buchstabennamen der Töne, ja man bediente sich längere Zeit daselbst sogar der zusammengesetzten Namen C solfaut, G solreut etc., weil nämlich C im Hexachordum naturale ut, im Hexachordum durum fa und im Hexachordum molle sol war etc. Der italienische Name Solfa für Tonleiter sowie solfeggiare, solfeggieren (d. h. die Tonleiter singen), kommt natürlich auch von der S. her. Für das moderne System der transponierten Tonarten wurde die S. unpraktikabel. Als man anfing, die zusammengesetzten Solmisationsnamen zu schwerfällig und, was wichtiger ist, nicht ausreichend zu finden (nämlich für die Benennung der chromatischen Töne), und den einfachen Silben ut, re, mi, fa, sol, la ein für allemal feststehende Bedeutung anwies, um sie durch b und # beliebig verändern zu können, bemerkte man, daß ein Ton (unser H) gar keinen Namen hatte; indem man nun auch diesem Ton einen Namen gab, versetzte man der S. den Todesstoß, denn die damit beseitigte Mutation war deren Wesenskern. Einfacher wäre es freilich gewesen, zur schlichten Buchstabenbenennung zurückzukehren, wie sie durch die Schlüsselzeichen [Grafik] ein für allemal in unsrer Tonschrift implizite enthalten ist. Statt dessen soll um 1550 Hubert Waelrant, ein belgischer Tonsetzer, die sogen. belgische S. mit den sieben Silben: bo, ce, di, ga, lo, ma, ni (Bocedisation) vorgeschlagen und eingeführt haben, während um dieselbe Zeit der bayrische Hofmusikus Anselm von Flandern für H den Namen si, für B aber bo wählte (beide galten nach alter Anschauung für Stammtöne). Henri van de Putte (Puteanus, Dupuy) stellte in seiner "Modulata Pallas" (1599) bi für H auf, Adriano Banchieri in der "Cartella musicale" (1610) dagegen ba und Pedro d'Urenna, ein spanischer Mönch um 1620, ni. Ganz andre Silben wünschte Daniel Hitzler (1628): la, be, ce, de, me, fe, ge (Bebisation), unserm A, B, C, D, E, F, G entsprechend, und noch Graun (1750) glaubte mit dem Vorschlag von da, me, ni, po, tu, la, be etwas Nützliches zu thun (Damenisation). Von allen diesen Vorschlägen gelangte schließlich nur der zu allgemeiner Geltung, die Silbe si für H (aber ohne bo für B) zu setzen, und dies erklärt sich hinreichend daraus, daß das si wie die übrigen Solmisationssilben dem erwähnten Johanneshymnus entnommen ist (die Anfangsbuchstaben der beiden Schlußworte: Sancte Ioannes). Solmona, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Aquila (Abruzzen), in herrlicher Gebirgsgegend am Fluß Gizzio, an der Eisenbahn Castellammare Adriatico-Aquila-Terni, ist Bischofsitz, hat mehrere Kirchen (darunter San Pamfilo mit schönem Portal), ein schönes Rathaus, eine alte Wasserleitung, ein Gymnasium, technische Schule, Seminar, Papier- und Walkmühlen, Fabrikation von Webwaren, Darmsaiten und Konfitüren, Weinbau und (1881) 14,171 Einw. S. ist das alte Sulmo, Ovids Geburtsort, wovon sich noch einzelne Baureste erhalten Solms, altes gräfliches, zum Teil fürstliches Geschlecht, dessen Stammschloß seit dem 14. Jahrh. Braunfels in der Wetterau war, und das Marquard, Grafen von S. im Hessengau, der 1129 erwähnt wird, zum ersten gewissen Stammvater hat. 1409 teilte sich das Geschlecht in die Linien S.-Braunfels und S.-Lich. Erstere teilte sich wieder in drei Zweige, wovon nur noch der Zweig Greiffenstein besteht, der 1693 den Namen Braunfels annahm und 1742 in den Reichsfürstenstand erhoben ward. Die zweite Linie teilte sich in zwei Hauptzweige: S.-Hohen-S.-Lich, 1792 in den Reichsfürstenstand erhoben, und S.-Laubach, gräflich. Letzterer teilte sich wieder in zwei Unterlinien, S.-Sonnenwalde und S.-Baruth; die letztgenannte wieder in zwei Äste, S.-Rödelheim und Assenheim, in beiden Hessen standesherrlich, und S.-Wildenfels mit den Nebenästen S.-Wildenfels-Laubach und S.-Wildenfels zu Wildenfels. Die Reichsunmittelbarkeit verloren die fürstlichen und gräflichen Linien 1806. Den ansehnlichsten zusammenhängenden Teil der Ländereien des Hauses besitzt Georg, Fürst von S.-Braunfels (geb. 18. März 1836; succedierte 7. März 1880 seinem Bruder, dem Fürsten Ernst), nämlich unter preußischer Landeshoheit die Ämter Braunfels, Greiffenstein, unter großherzoglich hessischer die Ämter Hungen, Wölfersheim und Gambach, unter württembergischer einen Teil von Limpurg-Gaildorf, zusammen 514 qkm, mit welchen Besitzungen eine Virilstimme beim Landtag der Rheinprovinz verbunden ist. Residenz ist Braunfels. Dieser Linie gehörte auch der österreichische Feldmarschallleutnant Prinz Karl zu S.-Braunfels (geb. 27. Juli 1812, gest. 13. Nov. 1875) an, der Sohn der in zweiter Ehe mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm (gest. 1814) vermählten Prinzessin Friederike von Mecklenburg-Strelitz, Stiefbruder des Exkönigs Georg von Hannover, auf den er in österreichischem Interesse einwirkte; seine Söhne sind katholisch und stehen in österreichischen Diensten. Der Fürst von S.-Hohen-S.-Lich, Hermann, geb. 15. April 1838, besitzt unter preußischer Landeshoheit das Amt Hohen-S. und unter großherzoglich hessi- Solnhofen - Solombala. scher die Ämter Lich und Niederweisel, zusammen 220 qkm. Er residiert zu Lich und ist erbliches Mitglied der großherzoglich hessischen Ersten Kammer, wie er auch auf dem Landtag der Rheinprovinz eine Virilstimme hat. Haupt der in Preußen und Sachsen ansässigen, nicht standesherrlichen Linie S.-Sonnenwalde ist Graf Theodor, geb. 6. Febr. 1814; sein jüngerer Bruder, Graf Eberhard, geb. 2. Juli 1825, war 1878-87 deutscher Gesandter in Madrid und ist jetzt Botschafter in Rom. Standesherr in der Linie S.-Laubach zu Rödelheim und Assenheim ist Graf Maximilian, geb. 14. April 1826, der auf Grund seiner Besitzungen im Groß Herzogtum Hessen erbliches Mitglied der dortigen Ersten Kammer ist. Gleicherweise ist der Standesherr zu S.-Laubach, Graf Friedrich, geb. 23. Juni 1833, erbliches Mitglied der Ersten Kammer im Großherzogtum Hessen. Der Standesherr von S.-Wildenfels zu Wildenfels, Graf Friedrich Magnus, geb. 26. Juli 1847, der neben der Herrschaft Wildenfels unter königlich sächsischer Landeshoheit im Großherzogtum Hessen und in Sachsen-Weimar Besitzungen hat, ist erbliches Mitglied der Ersten Kammer des Königreichs Sachsen. Das Haupt der Baruther Linie, Graf Friedrich Hermann Karl Adolf, geb. 29. Mai 1821, erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses, ward im April 1888 in den Fürstenstand erhoben. Vgl. Graf zu S.-Laubach, Geschichte des Grafen- und Fürstenhauses S. (Frankf. a. M. 1865). Solnhofen (Solenhofen), Dorf im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, Bezirksamt Weißenburg, an der Altmühl und der Linie München-Ingolstadt-Hof der Bayrischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein ehemaliges Benediktinerkloster von 743 und (1885) 1128 Einw. Berühmt sind die Solnhofener Schiefer, womit man die obersten schieferigen Jurakalke bezeichnet, die zwischen S. und Monheim und bis tief nach Schwaben hinein den Jurakalk und Dolomit bedecken und in ausgedehnten Brüchen, die bei S. ihren Mittelpunkt haben, für die verschiedensten Zwecke: als lithographische Steine, zu Tischplatten, für Kegelbahnen, Fußböden etc., verarbeitet werden. In ihnen fand man die Überreste des ersten bekannten Vogels (s. Archaeopteryx). Solnhofener Schichten, s. Juraformation. Solo (ital., "allein"), in der Musik Bezeichnung eines Instrumentalstücks, welches allein, ohne Begleitung eines andern Instruments, vorgetragen wird. Innerhalb der für Orchester geschriebenen Werke bedeutet S. soviel wie eine sich auffallend heraushebende, von einem einzelnen Instrument ausdrucksvoll vorzutragende Stelle, die indes in der Regel von andern Instrumenten begleitet wird. Wieder eine andre Nüance der Bedeutung des Wortes ist die, daß es bei Instrumenten, welche vielfach besetzt sind, als Gegensatz von Tutti gebraucht wird; die Anweisung "S." im Parte der Violinen eines Orchesterwerkes bedeutet, daß nur Ein Violinist (der Konzertmeister) die Stelle spielen soll; der Wiedereintritt der übrigen Geiger wird dann durch "Tutti" bezeichnet. In demselben Sinn ist in Chorwerken S. der Gegensatz von "Chor" (vgl. Ripieno). Tasto s. (t. s.) bedeutet in der Generalbaßbezifferung, daß die übrigen Stimmen pausieren und nur die Baßstimme selbst angegeben werden Solo (ital., "allein"), im Kartenspiel entweder (z. B. beim Skatspiel) ein Spiel, welches mit denjenigen Karten allein gemacht wird, die man ursprünglich erhalten hat, oder ein selbständiges Spiel mit deutscher Karte, dem L'hombre nachgebildet. Zu diesem Spiel gehören vier Personen, welche zunächst die vier Farben untereinander auslosen. Wer Eicheln hat, gibt an, und Eicheln ist für die ersten 16 Spiele (eine Tour) die Kouleur. In der nächsten Tour wird die Farbe des zweiten Spielers Kouleur etc. Jeder erhält 8 Blätter. Treffdame oder Eichelnober (Spadille), die Sieben der jedesmaligen Trumpffarbe (Manille oder Spitze) und Pikdame oder Grünober (Baste) sind beständige Trümpfe und rangieren in der genannten Folge; der Wert der übrigen Karten ist der natürliche. In Treff und Pik (Eicheln und Grün) sind 9, in Coeur und Karo (Rot und Schellen) aber 10 Trümpfe vorhanden. Es gibt im S. 4 Spiele: Frage, Groß-Casco (Forcée partout, Respect), Solo und Klein-Casco (Forcée simple). Die beiden Cascos sind Zwangsspiele: das kleine muß, wenn alle 4 Personen gepaßt haben, der Inhaber der Spadille machen; das große muß der Besitzer von Spadille und Baste spielen, außer wenn er selbst oder ein andrer S. hat. Frage und S. werden durch Frage und S. in Kouleur überboten. Nur im S. spielt einer gegen drei; bei Casco oder Frage nimmt sich der Meldende durch das sogen. Dausrufen einen Gehilfen. Spielt jemand Frage, so wählt er eine Farbe zu Trumpf und nennt zugleich ein Daus von einer andern Farbe. Wer dieses Daus hat, ist Gehilfe; er darf dies aber nicht entdecken. Spielt einer Casco, so ruft er ebenfalls ein Daus; den Trumpf macht aber der aufgerufene Gehilfe. Zum Gewinn sind mindestens 5 Stiche erforderlich; bei 4 Stichen ist das Spiel einfach verloren und bei nur 3 Stichen "Codille". Vole, Tout, Wäsche oder Lese ist gemacht, wenn der oder die Spieler alle 8 Stiche bekommen, eine Revolte oder Devole, wenn sie gar keine bekommen, Remis, wenn jede Partei 4 Stiche macht. Es gilt Matadorrechnung, wie im Skat. Das Solospiel ist in vielfacher Weise erweitert und abgeändert worden; eine interessante Abart ist das S. unter 5 Personen, welches nach gleichen Regeln mit einer Karte von 5 Farben (40 Blättern) gespielt wird. Die hinzugefügte Farbe heißt die blaue. Eine andre ist die mit dem Mediateur, wobei von einem der Mitspieler ein Daus (As) gegen eine entbehrliche Karte eingetauscht und dann S. gespielt wird. Solo, Landschaft, s. Surakarta. Solofänger, ein Windhund, der einen Hasen allein, ohne Hilfe andrer Hunde, zu fangen vermag. Solofra, Stadt in der ital. Provinz Avellino, am Fuß des Monte Terminio, Station der Eisenbahn von Neapel nach Avellino, hat bedeutende Fabrikation von Leder und Pergament, Handel mit Wolle und gesalzenem Schweinefleisch und (1881) 5178 Sologne (spr. ssolonnj), franz. Landstrich in den Departements Cher, Loiret und Loir-et-Cher, 460,000 Hektar groß und sprichwörtlich wegen seiner Unfruchtbarkeit, enthält sandige Heiden, zahlreiche Teiche und Sümpfe (zu deren Entwässerung in neuerer Zeit allerdings viel gethan worden ist) und etwas Wald, produziert Buchweizen und Wein (Solognewein), Schafe und eine eigne Rasse Pferde (Solognote). Sololá, Departement im mittelamerikan. Staat Guatemala, erstreckt sich an der Küste des Stillen Ozeans bis auf die Hochebene und hat (1885) 76,342 Einw. In seiner Mitte liegt der reizende Atitlansee (s. d.) und in dessen Nähe die Hauptstadt S. Solombala (Ssolombala), ehemaliger Kriegshafen im russ. Gouvernement Archangel, am Weißen Meer, von Peter I. angelegt, mit einer Admiralität, wurde 1862 als solcher aufgehoben und bildet gegenwärtig eine Vorstadt von Archangel, von welchem der Ort durch einen Arm der Dwina getrennt ist. S. Solon - Solothurn. hat 2 Kirchen, ein kath. Bethaus, eine Seemannsschule, eine Schiffswerfte, einen geräumigen Kauffahrteihafen und gegen 11,000 Einw. Solon, berühmter Gesetzgeber Athens, unter den sieben Weisen Griechenlands der bedeutendste, geboren um 640 v. Chr. zu Athen, Sohn des Exekestides, aus einem alten edlen Geschlecht, welches Kodros unter seinen Ahnen zählte, widmete sich dem Handel und ging frühzeitig auf Reisen. Zum erstenmal trat er 604 öffentlich auf. Die Athener, eines langen resultatlosen Kampfes mit Megara um Salamis müde, hatten ein Gesetz gegeben, welches jeden mit dem Tod bedrohte, der eine Erneuerung des Kampfes beantragen würde. S. erschien hierauf in der Rolle eines Wahnsinnigen auf dem Markt, sang vom Stein des Herolds herab eine von ihm verfertigte Elegie: "Salamis", und entflammte dadurch die Kriegslust der Athener aufs neue in solchem Grade, daß der Kampf wieder begonnen und mit der Eroberung der Insel beendigt wurde. Nicht lange nachher (600) wurde auf Solons Betrieb der erste Heilige Krieg gegen Krissa zum Schutz des delphischen Heiligtums beschlossen. Athen selbst aber befand sich um diese Zeit in einer bedenklichen Lage. Die Zerrüttung war allgemein, und der Zwiespalt der Parteien drohte den Staat zu untergraben. Da trat S. im entscheidenden Augenblick abermals als Retter seiner Vaterstadt auf, bewirkte eine allgemeine Sühnung des Volkes durch Epimenides und stiftete Frieden. Hierauf machte er, um der wachsenden Not und Verarmung des niedern Volkes zu steuern, durch die Seisachtheia (s. d.) dem Wucher ein Ende und ermöglichte die Abwälzung der Schulden. 594 zum ersten Archon gewählt, gab er dem Staat eine neue Verfassung. Seine Absicht ging hierbei vornehmlich dahin, die bisher zwischen Adel und Volk bestandene Kluft auszufüllen, die Anmaßung des erstern zu brechen, die Entwürdigung der letztern zu beseitigen, Standesvorrechte und Beamtenwillkür abzuschaffen und eine nach den Leistungen abgestufte Beteiligung aller Staatsbürger an der Staatsregierung einzuführen (s. Athen, S. 1001). Seine Verfassung war also eine Timokratie. Ihren Charakter und Zweck hat S. selbst am schönsten in den Versen bezeichnet (nach der Übersetzung von Geibel): So viel Teil an der Macht, als genug ist, gab ich dem Volke, Nahm an Berechtigung ihm nichts, noch gewährt' ich zu Für die Gewaltigen auch und die reicher Begüterten Daß man ihr Ansehen nicht schädige wider Also stand ich mit mächtigem Schild und schützte sie Doch vor beiden zugleich schützt' ich das heilige Außerdem gab er dem Volk eine dessen ganzes Leben und ganze Thätigkeit umfassende Gesetzgebung, deren segensreiche Wirkungen seine Verfassung überdauert haben; sie gewöhnte das Volk zu lebendiger, selbständiger Teilnahme am öffentlichen Leben, hob die geistige Bildung und erzeugte bewußte Sittlichkeit und edle Humanität in ihm. Die Sage erzählt, daß S. die Athener verpflichtet habe, während eines zehnjährigen Zeitraums an seiner Gesetzgebung nichts zu ändern, und daß er eine Reise ins Ausland deshalb gemacht habe, um nicht selbst Hand an die Abänderung seiner Gesetze legen zu müssen. Er ging zunächst nach Ägypten, wo er mit den Priestern von Heliopolis und Sais Umgang hatte, dann nach Cypern und nach Sardes zu Krösos, mit dem er nach der (historisch unmöglichen) Sage die bekannte Unterredung über die Nichtigkeit menschlicher Glückseligkeit hatte. Nach seiner Rückkehr nach Athen suchte er vergeblich den von neuem ausbrechenden Zerwürfnissen daselbst zu steuern und mußte noch sehen, daß sich Peisistratos zum Tyrannen aufwarf. Er starb 559; seine Gebeine sollen auf sein eignes Verlangen nach Salamis gebracht und dort verbrannt, die Asche aber auf der ganzen Insel umhergestreut worden sein. Als Sittenspruch wurde ihm beigelegt: "Nichts zu viel". Als Dichter war er nicht minder ausgezeichnet wie als Gesetzgeber. Seine Gedichte sind größtenteils hervorgegangen aus dem Bedürfnis, seinen Mitbürgern die Notwendigkeit der von ihm getroffenen Staatseinrichtungen darzuthun. Die Fragmente derselben sind gesammelt von Bach (Bonn 1825), in Schneidewins "Delectus poesis Graecorum elegiacae" (Göttingen 1838) und in Bergks "Poetae lyrici graeci". Ins Deutsche übersetzte sie Weber in den "Elegischen Dichtern der Hellenen" (Frankf. 1826). Die ihm von Diogenes Laertius beigelegten Briefe an Peisistratos und einige der sieben Weisen sind untergeschoben. Solons Leben beschrieb Plutarch. Vgl. Kleine, Quaestiones de Solonis vita et fragmentis (Kref. 1832); Schelling, De Solonis legibus (Berl. 1842). Solothurn (franz. Soleure), ein Kanton der Schweiz, wird im O. von Basel und Aargau, im Süden und W. von Bern, im N. von Basel begrenzt und hat einen Flächengehalt von 784 qkm (14,2 QM.). Abgesehen von den beiden Exklaven Mariastein und Klein-Lützel, die auf bernischem Gebiet an der Elsässer Grenze liegen, ist das Land von eigentümlich zerrissenen Umrißformen und zerfällt zunächst in Anteile der Schweizer Hochebene und in solche des Jura. Zu jenen gehören das Aarethal von S., in welches die Thalebene der Großen Emme ausmündet, und das Aarethal von Olten. Beide Thalstrecken scheidet ein vorspringendes Stück des bernischen Ober-Aargaues (Wangen-Wiedlisbach), und eine Jurakette, deren Häupter Hasenmatt (1449 m), Weißenstein (1284 m) und Röthifluh (1398 m) sind, schließt sie nach der Seite der jurassischen Landschaften ab. In der Klus von Önsingen-Balsthal bricht die Dünnern aus ihrem dem Aarelauf parallelen jurassischen Hochthal hervor, um bei Olten in die Aare zu münden, während ebenfalls bei Balsthal das jenem parallele Guldenthal sich öffnet. Ein zweiter Jurazug, die Kette des Paßwang (1005 m), führt von Mümliswyl hinüber in das Birsgebiet (Schwarzbubenland). Das Klima gehört eher zu den rauhen als milden, so daß das Land ohne Weinbau ist. Die Volkszahl beläuft sich auf (1888) 85,720 Köpfe. Die Solothurner, deutschen Stammes und katholischer Konfession (nur 21,898 Protestanten, vorwiegend im Bucheggberger Amt), gelten für "ein gutmütiges, munteres und rechtschaffenes Völkchen". Seit durch Referendum vom 4. Okt. 1874 die Benediktinerabtei Mariastein und die beiden Chorherrenstifter von Solothurn und Schönenwerd aufgehoben sind, besitzt der Kanton noch drei Kapuziner- und drei Nonnenklöster. Die Katholiken des Kantons sind der Diözese Basel zugeteilt, und seit längerer Zeit ist die Stadt S. Bischofsitz. Einige Gemeinden haben sich dem 1874 geschaffenen Nationalbistum angeschlossen. S. ist ein vorzugsweise Ackerbau treibendes Ländchen, einer der wenigen Schweizer Kantone, welche Getreide über den Bedarf erzeugen; auch kommen Obst und Kirschwasser sowie (bei guter Waldwirtschaft) Holz zur Ausfuhr. Rindvieh, meist vom Berner Schlag, wird viel gehalten. Einige Käse kommen dem Emmenthaler gleich; um Mümliswyl wird der "Geißkäse" bereitet. Auch viele Schafe und Ziegen werden gehalten, Pferde weniger als früher; hingegen besteht noch eine treffliche Schweinezucht. Der Jura liefert Gips und trefflichen Kalkstein; in der Nähe der Hauptstadt wird "Marmor" Solothurn (Kanton und Stadt). gebrochen und weithin versandt. Bohnerzlager finden sich bei Matzendorf (seit 1877 so gut wie erschöpft). Gerlafingen hat in neuerer Zeit Baumwollspinnerei (Derendingen) u. Papierfabrikation eingeführt. Sonst besitzt die Gegend von Olten-Schönenwerd eine rege Industrie: einen Eisendrahtzug, eine große Maschinenbauwerkstätte, Strumpffabrikation u. a. Die Bandweberei des Schwarzbubenlandes ist eine Dependenz von Basel (s. d., S. 418). Ferner bestehen Glashütten, Parkettfabriken etc. Wenn auch weder die Stadt S. noch Olten zu den Handelsplätzen gehört, sind beide doch bedeutsame Knotenpunkte im Schweizer Bahnnetz geworden. Im Kur- und Touristenverkehr nimmt S. keine hervorragende Stelle ein; nur der Weißenstein und Bad Lostorf sind stark besuchte Punkte. Die heutige Volksschule gliedert sich, wie in den meisten Kantonen, in eine allgemein verbindliche primäre und eine fakultative sekundäre Stufe. Von humanitären Anstalten besitzt der Kanton eine Irrenheilanstalt (Rosegg), die Dischersche Rettungsanstalt Hofmatt und eine von Schwendimann dotierte Blindenanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken zählen ca. 85,000 Bände (die Stadtbibliothek Solothurns allein Die Verfassung des Kantons, 12. Dez. 1875 vom Volk angenommen, 23. Okt. 1887 revidiert, hat an die Stelle der Repräsentativdemokratie das Referendum gesetzt. Demgemäß unterliegen alle Gesetze und Staatsverträge sowie alle neuen Ausgaben von höherm Betrag und alle Staatsanleihen von mehr als einer halben Million dem obligatorischen Referendum. Das Recht der Initiative ist geregelt; ein Volksentscheid muß stattfinden, wenn eine Anregung von 2000 Votanten eingereicht ist. Das Volk kann sowohl Legislative als oberste Exekutive abberufen; eine Abstimmung entscheidet, sobald die Abberufung von 4000 Votanten verlangt wird. Der Kantonsrat, als gesetzgebende Behörde, wird vom Volk auf vier Jahre gewählt. Die Exekutive übt ein Regierungsrat von fünf Mitgliedern, welche das Volk auf vier Jahre erwählt. Der Präsident führt den Titel Landammann. Ein Obergericht, durch den Kantonsrat ebenfalls auf vier Jahre ernannt, besteht aus sieben Mitgliedern. Im übrigen garantiert die Verfassung alle in den Schweizer Kantonen üblichen Grundrechte. Der Kanton ist in fünf Amteien eingeteilt, jede mit Oberamtmann und Amtsgericht. Die Staatsrechnung für 1887 ergibt an Einnahmen 1,736,746 Frank, davon an Abgaben 611,581 Fr.; die Ausgaben belaufen sich auf 1,865,956 Fr., wovon 333,558 Fr. auf das Erziehungswesen entfallen. Zu Ende 1887 betrugen die Aktiva des Staatsvermögens 13,245,122 Fr., die Passiva 10,079,000 Fr., also reines Staatsvermögen 3,166,122 Fr.; dazu die Spezialfonds, 15 an Zahl, im Betrag von 3,685,089 Fr., zusammen 6,851,211 Fr. Die gleichnamige Hauptstadt des Kantons, zu beiden Seiten der Aare, Knotenpunkt der Bahnlinien Herzogenbuchsee-Biel, Olten-Lyß und S.-Langnau, bietet außer dem Ursusmünster (1773 von Pisoni vollendet) und dem Zeughaus nur die eine Sehenswürdigkeit der Verena-Einsiedelei, mit einem Felskirchlein und einer großen Felsenhöhle. Die Stadt selbst hat sich in neuerer Zeit erweitert und verschönert und besitzt eine Kantonsschule (Gymnasium und Industrieschule), eine Stadtbibliothek mit einer Sammlung von Altertümern und Münzen, eine Gemäldegalerie, 3 Bankinstitute (darunter eine Notenbank mit 3 Mill. Fr. Kapital), Uhren-, Eisen-, Zementfabrikation, Baumwollweberei, Marmorsteinbrüche und (1888) 8305 Einw. (darunter ca. 2000 Protestanten). Entferntere Punkte sind Zuchwyl, wo Kosciuszko begraben liegt, und der Kurort Weißenstein. Vgl. Hartmann, S. und seine Umgebungen (Soloth. [Geschichte.] Die Stadt S. (Salodurum) war schon zur Römerzeit ein Knotenpunkt der großen Heerstraßen Helvetiens. Im Mittelalter lehnt sich ihre Geschichte an das im 10. Jahrh. entstandene Chorherrenstift des heil. Ursus an, das ursprünglich alle Hoheitsrechte mit Ausnahme des Blutbanns innehatte, von dem sich die Bürgerschaft aber allmählich emanzipierte. Nach dem Aussterben der Zähringer (1218), welche die Reichsvogtei besessen, wurde S. reichsunmittelbar; 1295 schloß es mit Bern ein ewiges Bündnis und hatte 1318 eine Belagerung durch Herzog Leopold auszustehen, weil es Friedrich den Schönen nicht als König anerkannte. Ein Versuch des verarmten Grafen Rudolf von Kyburg, sich der Stadt durch Verrat zu bemächtigen, wurde glücklich vereitelt (Solothurner Mordnacht, vom 10. zum 11. Nov. 1382) u. führte zu dem Kyburger Krieg, in welchem Bern und S. das Grafenhaus vernichteten. Als treue Verbündete Berns nahm S. an den Schicksalen der Eidgenossen schon seit dem 14. Jahrh. Anteil, wurde aber infolge des Widerstandes der "Länder" erst 22. Dez. 1481 gleichzeitig mit Freiburg in den Bund aufgenommen, nachdem es sich durch Kauf den größten Teil des heutigen Kantons als Unterthanenland erworben. Gegen die Reformation verhielt sich S. eine Zeitlang schwankend, aber nach der Schlacht von Kappel waren die Katholiken im Begriff, die reformierte Minderheit mit den Waffen zu vernichten, als der katholische Schultheiß Wengi sich vor die Mündung der Kanonen stellte und durch seine hochherzige Dazwischenkunft den blutigen Zusammenstoß vermied. Doch blieb S. der Reformation verloren und schloß sich 1586 dem Borromeischen Bund an. Dagegen hielt es sich fern von dem Bunde der übrigen katholischen Orte mit Spanien (1587), vornehmlich aus Ergebenheit gegen Frankreich, dessen Ambassadoren S. zu ihrer regelmäßigen Residenz erwählt hatten. Aus ihrem glänzenden Hofhalt und den reichlich fließenden französischen Gnadengeldern schöpfte die Stadt einen Wohlstand, den der Adel in höfischen Festlichkeiten zu entfalten liebte. Auch in S. bildete sich nämlich ein erbliches Patriziat aus, dessen Regiment erst 1798 mit dem Einrücken der Franzosen ein Ende nahm (1. März). Die Mediationsakte erhob 1803 S. zu einem der sechs Direktorialkantone mit einer Repräsentativverfassung. Nach dem Einrücken der Österreicher bemächtigten sich die noch lebenden Mitglieder der alten patrizischen Räte in der Nacht vom 8. zum 9. Jan. 1814 des Rathauses, erklärten sich für die rechtmäßige Regierung und schlugen eine Erhebung der Landschaft mit bernischer Hilfe nieder; nur ein Drittel des Großen Rats wurde dieser zugestanden. 1828 wurde S. durch ein Konkordat der Kantone Bern, Luzern, Zug, S., Aargau und Thurgau zum Sitz des neugegründeten Bistums Basel erhoben. 1830 mußte der Große Rat dem stürmischen Verlangen der Landschaft nachgeben und vereinbarte mit den Ausschüssen derselben eine neue Verfassung, welche, obwohl sie der Hauptstadt noch 37 Vertreter auf 109 gewährte, 13. Jan. 1831 mit großer Mehrheit angenommen wurde. Nach dem "Züricher Putsch" wurde das Wahlvorrecht der Stadt beseitigt und die Mitgliederzahl der Regierung vermindert, worauf die neue Verfassung 10. Jan. 1841 angenommen und das liberale Regiment durch fortschrittliche Wahlen aufs neue befestigt wurde. Daher hielt sich Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Solotnik - Soltikow. ton trotz seiner überwiegend katholischen Bevölkerung zu den entschiedensten Gegnern des Sonderbundes und nahm die neue Bundesverfassung 1848 mit großer Mehrheit an. Durch zwei Verfassungsrevisionen (1851 und 1856) ward das lange festgehaltene System der indirekten Wahlen und der Allmacht der Regierung auch in Kommunalangelegenheiten beseitigt. Nachdem 1869 Referendum und Initiative eingeführt worden waren, wurde 1875 die gesamte Verfassung revidiert. Inzwischen war der Konflikt der Baseler Diözesanstände gegen den in S. residierenden Bischof Lachat ausgebrochen, in welchem S. sich der Mehrheit anschloß und den Bischof nötigte, nach seiner Entsetzung seine Amtswohnung zu räumen. Zugleich strengte die Regierung namens der Stände einen Aufsehen erregenden Prozeß gegen Lachat wegen stiftungswidriger Verwendung von bedeutenden Legaten an, der 1877 vom Obergericht zu ihren gunsten entschieden wurde. Eine Folge dieses Konflikts war die Aufhebung einer Anzahl kirchlicher Stiftungen, deren ca. 4 Mill. betragendes Vermögen zu Schul- u. Krankenfonds verwendet wurde (18. Sept. 1874). Auch fand das christkatholische Bistum staatliche Anerkennung in S., doch vermieden sowohl die Regierung als die römisch-katholische Geistlichkeit einen offenen Bruch, und die letztere unterwarf sich auch 1879 der in der Verfassung vorgesehenen periodischen Wiederwahl durch die Gemeinden. 1885 wurde der Friede mit der Kurie durch Wiedererrichtung des Bistums Basel und des Domkapitels in S. hergestellt, wo der neue Bischof Fiala seinen Sitz nahm. Da die Regierung sich durch Beteiligung mehrerer ihrer Mitglieder an einem Bankschwindel bloßstellte, trat sie 1887 zurück, und das Volk beschloß 23. Okt. d. J. eine neue, rein demokratische Verfassung. Vgl. Strohmeier, Der Kanton S. historisch, geographisch, statistisch (St. Gallen 1836); Fiala, Geschichtliches über die Schule von S. (das. 1875-1879, 4 Tle.); Amiet, S. im Bunde der Eidgenossen (Soloth. 1881). Solotnik, Gewicht in Rußland, = 1/96 Pfund = 96 Doli = 4,265 g. Solotonoscha, Kreisstadt im russ. Gouvernement Poltawa, am Flusse S., der dem Dnjepr zuströmt, mit 9 Kirchen, Mädchenprogymnasium und (1885) 8417 Einw., die sich meist mit Landwirtschaft beschäftigen. S. kam 1654 an Rußland. Solotschow, Stadt im russ. Gouvernement Charkow, an der Uda, mit (1885) 6584 Einw., die sich mit Garten- und Ackerbau, Schuhmacherei, Kürschnerei und Viehhandel beschäftigen. Solowezk (Ssolowezk), russ. Inselgruppe im Weißen Meer, im Eingang zum Onegabusen gelegen, zum Teil mit Tundren und Gestrüppe bedeckt, zum Teil mit Birken und Kiefern bewachsen. Auf der Hauptinsel liegt das reiche Solowjezkische Kloster, ein berühmter, jährlich von ca. 8000 Pilgern besuchter Wallfahrtsort, seit 1429 bestehend und aus Anlaß der häufigen Überfälle von seiten der Schweden mit betürmten Granitmauern umgeben. Die Mönche betreiben Thransiederei und in dem an den Ufern schon sehr tiefen Meer Herings-, Hausen- und Lachsfanng (vgl. die vortreffliche Schilderung von Dixon in "New Russia"). Solowjew, 1) Sergei Michailowitsch, russ. Geschichtschreiber, geb. 5. Mai 1820 zu Moskau, studierte daselbst und brachte als Hauslehrer bei dem Grafen Stroganow die Jahre 1842-44 im Ausland, meist in Paris, zu. Nachdem er mit einer Schrift: "Über die Beziehungen Nowgorods zu den Großfürsten", die Magisterwürde und mit einer andern: "Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Fürsten des Rurikschen Geschlechts", den Doktorgrad erlangt hatte, hielt er Vorlesungen über Geschichte an der Moskauer Universität, ward 1855 Dekan der philosophischen Fakultät und 1871 Rektor der Universität Moskau. Daneben unterrichtete er die Großfürsten in Petersburg in der Geschichte und versah das Amt eines Direktors der Antiquitätensammlung im Kreml. Als der Unterrichtsminister Tolstoi das freisinnige Universitätsstatut abschaffen wollte, geriet S. in Streit mit den Behörden und forderte 1877 seine Entlassung, die er auch erhielt. Er starb 4. Okt. 1879 in Moskau. Außer zahlreichen Aufsätzen über Geschichtswissenschaft und russische Geschichte in periodischen Zeitschriften schrieb S.: "Historische Briefe" (1858-59); "Schlözer und die antihistorische Richtung"; "Die Geschichte des Falles von Polen" (1863; deutsch von Spörer, Gotha 1865); "Kaiser Alexander I., Politik und Diplomatie" (1877); "Lehrbuch der russischen Geschichte" (7. Aufl. 1879); "Populäre Vorlesungen über russische Geschichte" (1874); "Kursus der neuen Geschichte" ; "Politisch-diplomatische Geschichte Alexanders I." (1877) u. a. Sein Hauptwerk ist die "Russische Geschichte von den ältesten Zeiten" (1851-80, Bd. 1-29, bis 1774 reichend). 2) Alexander Konstantinowitsch, russ. Revolutionär, geb. 1846, ward Lehrer, dann Amtsschreiber, ging 1878 nach Petersburg, trat hier der nihilistischen Verschwörung bei und unternahm 14. April 1879 ein Attentat auf Kaiser Alexander II., indem er fünf Revolverschüsse auf ihn abfeuerte, ohne ihn zu verletzen; S. ward 10. Juni d. J. gehenkt. Solözismus (griech.), Sprachfehler, besonders ein auf die Konstruktion des Satzes bezüglicher. Die Alten leiteten das Wort von dem Namen der athenischen Kolonie Soloi in Kilikien ab, deren Einwohner ihren Heimatsdialekt rasch vergessen und sich durch fehlerhafte Sprechweise ausgezeichnet haben Solpuga, Walzenspinne. Solquellen, s. Salz (S. 237) und Mineralwässer. Solsalz, aus Salzlösungen gewonnenes Kochsalz im Gegensatz zum Steinsalz. Solsona (das alte Setelsis), Bezirksstadt in der span. Provinz Lerida, hat 2 Kastelle, eine Kathedrale, Quincailleriefabriken, Baumwoll- und Leinweberei und (1878) 2413 Solspindel, s. Gradierwage. Solstitium (lat., "Sonnenstillstand"), s. Sonnenwenden; solstitial, die Solstitien betreffend. Solt, Markt im ungar. Komitat Pest mit (1881) 5692 ungarischen und serbischen Einwohnern. Solta, österreich. Insel im Adriatischen Meer, südlich von Spalato, 56 qkm groß, ist fruchtbar, hat mehrere Häfen, eine Landwirtschaftsgesellschaft und in sechs Ortschaften (1880) 2556 Einw. Soltau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Lüneburg, an der Linie Stendal-Langwedel der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Filz-, Teppich-, Faßkräne- und bedeutende Fruchtweinfabrikation, Honig- und Bettfedernhandel und (1885) 2827 Einw. S., schon 937 genannt, ist durch die Schlacht vom 28. Juni 1519 (beim Dorf Langeloh) in der Hildesheimer Stiftsfehde Soltikow (Ssaltykow), russ. Adelsgeschlecht, welches auf die Zeiten Alexander Newskijs zurückreicht und unter seinen Gliedern viele Bojaren zählt. Praskowja Fedorowna S. ward die Gemahlin des Zaren Iwan Alexejewitsch (gest. 1696) und dadurch Mutter der Kaiserin Anna. Der General Se- Soltyk - Somal. men S., Gouverneur von Moskau, ward durch diese 1732 in den russischen Grafenstand erhoben. Dessen Sohn, Graf Peter Semenowitsch S., geb. 1700, führte im Siebenjährigen Krieg seit 1759 den Oberbefehl über die russische Armee, trug 23. Juli 1759 bei Kai einen Sieg über den preußischen General Wedel davon und gewann 12. Aug., nachdem er sich mit dem österreichischen General Laudon vereinigt hatte, den entscheidenden Sieg bei Kunersdorf über den König Friedrich II. selbst. Dafür mit der Feldmarschallswürde belohnt, ward er später Generalgouverneur in Moskau und starb 15. Dez. 1772. Nikolai Iwanowitsch S., geb. 24. Okt. 1736, wurde 1783 Erzieher des nachmaligen Kaisers Alexander I. und des Großfürsten Konstantin, 1796 Feldmarschall und Präsident des Kriegskollegiums, 1812 Präsident des Reichsrats und 1813-15 Vorsitzender des Ministerkomitees. 1814 in den Fürstenstand erhoben, starb er 28. Mai 1816 in Petersburg. Sein ältester Sohn, Fürst Alexander S., war kurze Zeit Minister des Äußern und starb 1837. Dessen Neffe, Fürst Alexei S., machte sich durch seine Reisen in Persien 1838 und Ostindien 1841-46 bekannt, die er in "Voyages dans l'Inde" (3. Aufl., Par. 1858) und "Voyage en Perse" (das. 1851) Soltyk, Roman, poln. General, geb. 1791 zu Warschau, Sohn des Reichstagsmarschalls Stanislaus S. und der Prinzessin Karoline Sapieha, besuchte die polytechnische Schule in Paris, trat 1807 als Leutnant in die Fußartillerie des damaligen Großherzogtums Warschau und machte 1809 den Feldzug gegen Österreich mit. 1812 als Adjutant des Generals Sokolnicki in den Generalstab Napoleons I. berufen, befehligte er in der Schlacht bei Leipzig die Sachsen und geriet durch deren Übergang in die Gefangenschaft der Alliierten. Wieder frei, verließ er den Militärdienst und eröffnete in Warschau ein Eisenmagazin. Seit 1822 beteiligte er sich an den geheimen politischen Gesellschaften. Nach dem Ausbruch der Revolution vom 29. Nov. 1830 begab er sich nach Warschau, ward Generalkommandant der vier auf dem rechten Weichselufer liegenden Woiwodschaften, organisierte hier 47,000 Mann mobiler Nationalgarden und beantragte auf dem Reichstag die Absetzung des Kaisers Nikolaus und die Erklärung der Souveränität des Volkes (21. Jan. 1831). Während der Belagerung Warschaus durch die Russen Befehlshaber der Artillerie in der Stadt, widersetzte er sich aufs eifrigste der Kapitulation Krukowieckis und hielt stand bis zum letzten Augenblick, ging dann mit der Armee nach Plozk und übernahm eine Sendung nach England und Frankreich, um dort eine Vermittelung dieser Mächte für Polen nachzusuchen. Er starb am 22. Okt. 1843 in St. Germain en Laye. Im Exil schrieb er den "Précis historique, politique et militaire de la révolution du 29 novembre" (Par. 1833, 2 Bde.; deutsch bearbeitet von Elsner, Stuttg. 1834) und "Napoléon en 1812" (Par. 1836; deutsch, Wesel 1837). Soluntum (Solus), im Altertum befestigte Stadt auf Sizilien, östlich von Palermo, phönikischen Ursprungs, zur Zeit des Dionys (397 v. Chr.) mit den Karthagern verbündet und im ersten Punischen Krieg erst nach dem Fall von Panormos zu Rom übergehend, wahrscheinlich durch die Sarazenen zerstört; jetzt Ruinen Solanto. Seit 1826 (in größerm Maßstab seit 1863) werden hier, 1/2 Stunde Gehens von der Station Santa Flavia, Ausgrabungen vorgenommen, durch welche bereits die meisten Straßen der Stadt, viele Mosaikböden und mancherlei Skulpturen freigelegt worden sind. Solution (lat.), Lösung; solubel, löslich. Solutivum (neulat.), Auflösungsmittel. Solutum (lat.), Zahlung. Solvabel (lat.), auflösbar; solvieren, lösen, seiner Verbindlichkeit nachkommen; solvent, zahlungsfähig (daher insolvent, zahlungsunfähig); Solvenz, Zahlungsfähigkeit, im Gegensatz zu Insolvenz (s. d.). Solventia (lat.), lösende Mittel, Expektoranzien, welche eine Lösung des zähen Schleims bewirken, den Auswurf befördern. Solway Firth (spr. ssóllwe), Golf des Irischen Meers, zwischen England und Schottland, schneidet in nordöstlicher Richtung 56 km tief in das Land ein und enthält viele Lachse und Heringe. Während der Ebbe kann der obere Teil des S. fast trocknen Fußes durchkreuzt werden, die Flut steigt aber rasch und mit großer Heftigkeit. In ihn münden die Flüsse Cocker, Eden, Esk, Annan und Nith. Sein oberes Ende überspannt ein Eisenbahnviadukt. Solwytschegodsk (Ssolwytschegodsk), Kreisstadt im russ. Gouvernement Wologda, an der Wytschegda, mit (1885) 1313 Einw. Solzy (Ssolzy), Flecken im russ. Gouvernement Pskow, Kreis Porchow, am Schelonj, mit (1885) 5903 Einw., welche lebhaften Flachshandel nach Petersburg treiben. Soma (griech.), Leib, Körper. Soma (ital.), in der Lombardei s. v. w. Hektoliter. Soma, in den Hymnen des Weda (s. d.) ursprünglich der berauschende, mit Milch und Mehl gemischte und einige Zeit der Gärung überlassene Saft einer Pflanze, der eine begeisternde und heilende Wirkung auf Menschen und Götter übt; besonders häufig wird der berauschende Einfluß des Trankes auf den Gott Indra geschildert. Als die betreffende Pflanze gilt heute eine Sarcostemma-Art (Asclepias acida), die indes in südlichern Strecken wächst, als die Wohnsitze des wedischen Volkes gelegen waren, so daß wahrscheinlich mit den Sitzen auch die Pflanze gewechselt hat. Die begeisternde Macht des Trankes führte bereits in indo-iranischer Zeit dazu, den Saft als Gott S. zu personifizieren und ihm fast alle Thaten andrer Götter zuzuschreiben. Bei den Ostiraniern steht dem Somakult der ganz analoge Haomakult zur Seite. Vgl. Windischmann, Über den Somakultus der Arier (Münch. 1847); Muir, Original Sanskrit texts (Bd. 2, S. 469 ff., und Bd. 5, S. 258 ff.); Haug, Essays on the sacred language etc. of the Parsis (2. Ausg., Lond. 1878, S. 282 ff.); Hovelacqe, L'Avesta (Par. 1880, S. 272 ff.). Somain (spr. ssomäng), Stadt im franz. Departement Nord, Arrondissement Douai, Knotenpunkt der Eisenbahnlinien zwischen Douai und Valenciennes, mit bedeutenden Steinkohlengruben und darauf gegründeter Industrie in Zucker, Leinwand, Glas, Chemikalien und 1881) 4782 Einw. Somal (Singular Somali), ein den Hamiten und zwar der äthiopischen Familie derselben zugerechneter großer Volksstamm, welcher das ganze östliche Horn Afrikas östlich von den Galla und südlich von den Danakil über den Dschubbfluß hinaus bis gegen den Tana bewohnt. Sie zerfallen in drei voneinander unabhängige Stämme: die Adschi von Tadschura am Golf von Aden bis Kap Gardafui, die Hawijah an der Küste des Indischen Ozeans bis zur Stadt Obbia und die Rahanwin im W. der Hawijah zwischen Dschubb und Webbi (s. Tafel "Afrikanische Völker", Fig. 29 u. 30). Die ethnographische Stellung der S. ist noch keine sichere; sie scheinen ein Mischvolk zu sein, bei dem nach den physischen Eigenschaften Somateria - Somerset. einmal der nordostafrikanische Typus durchschlägt, dann aber wieder eine Annäherung an das Semitische sich kundgibt. Unzweifelhaft sind sie Verwandte der Abessinier und Galla. Als fanatische Mohammedaner rühmen sie sich ihrer Herkunft aus Arabien. Bemerkenswert ist die von Revoil bei Somalweibern häufiger beobachtete Steatopygie (s. d.). Das Haar läßt man lang wachsen, beizt es mit Kalk rötlich; im Innern werden Perücken aus Schaffell getragen. Die Zahl der S. (zu 5 Mill. geschätzt) ist nicht bekannt, da in den eigentlichen Kern ihres Landes bis jetzt nur der Brite L. James nebst Genossen eingedrungen ist. Die Sprache der S. gehört zu dem äthiopischen (südlichen) Zweig des hamitischen Sprachstammes (dargestellt von Prätorius in der "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft", Bd. 24, 1870; auch von Hunter: "Somal-Grammatik", Bombay 1880). Eine Schrift besitzen die S. nicht. Der Charakter des Volkes ist nach der Lebensweise verschieden. Die beduinischen S. sind leidenschaftlich, verräterisch und grausam, der Wert eines Mannes wird bei ihnen nach der Zahl seiner Mordthaten bemessen. Dagegen zeigen die Bewohner der größern Ortschaften eine verhältnismäßig nicht unbedeutende Bildung. Alle aber sind stolz und freiheitliebend u. im allgemeinen Feinde der Fremden. Sie leben meist in Monogamie, Sklaven sind nicht häufig. Die Kinder beiderlei Geschlechts werden beschnitten, die Mädchen bis zur Verheiratung vernäht. Bei der Verheiratung wählt das Mädchen den Mann, letzterer muß aber den Schwiegervater für dasselbe bezahlen. Auf die Frauen fällt die ganze Arbeitslast. Als Kleidung dienten früher Felle, jetzt ein der abessinischen Schama ähnliches Baumwollentuch, auch tragen die Frauen Beinkleider, Sandalen sind häufig in Gebrauch. Als Waffen dienen Lanzen, runde Schilde, Messer, im Süden auch Schwerter, ferner Bogen und vergiftete Pfeile. Die Wohnungen werden in den Städten aus Steinen und Lehmziegeln, sonst aus Fachwerk und Strohmatten errichtet; die nomadisierenden S. haben leicht abtragbare, zeltähnliche Hütten. Die Nahrung besteht im Fleisch ihrer Herden, in Sorghum, Mais, Milch, Butter sowie eingeführten Datteln und Reis. Spirituosen und Schweinefleisch sind verboten. Als Haustiere werden Kamele, Rinder (Zebu), Schafe, Ziegen, Pferde, Esel gehalten. Gelegentlich jagt man Elefanten, Nashorn, Büffel, Antilopen, Strauße. Den Toten zollt man viel Verehrung. Die Stämme stehen unter Häuptlingen, die aber wenig Macht haben. Die Gesellschaft zerfällt in drei Klassen: die Saladin, die Reichen und Würdenträger; die Barkele oder Beduinen und die Mödgan, letztere sind die Eisenarbeiter und werden als Zauberer scheel angesehen. Eine Art Hörige sind die Tomal, welche als Hirten, Kamelreiter u. a. dienen; eine Art Zigeuner, verachtet, aber wegen ihrer Zaubereien gefürchtet, sind die Jibbir. Bei allen hat die Blutrache Geltung. Das Somal- oder Somaliland besteht aus einem schmalen, sandigen Küstenstreifen, der an der Nordseite mehrere Häfen (Zeila, Bulhar, Berbera, Las Gori, sämtlich in englischem Besitz, ferner am Osthorn Bender Felek, Ras Felek) hat, während die Ostküste ganz ohne Häfen verläuft bis zu den im Besitz von Sansibar befindlichen: Warscheich, Mogduschu, Merka, Barawa, Kismaju. Das Innere ist eine weite, von einzelnen Höhenrücken unterbrochene Hochfläche, die zum Teil aus großen wüsten Strichen mit hartem Boden besteht. Die Wasserläufe, die das Land durchziehen, sind den größten Teil des Jahrs trocken, nur der Dschubb führt das ganze Jahr hindurch Wasser und ist auch eine beträchtliche Strecke aufwärts bis Bardera, wo v. d. Decken ermordet wurde, schiffbar; der nächstbedeutende Webi erreicht die See nicht. Auf dem Hochland sind der Tug Dehr und Tug Faf ihrer fruchtbaren Thalmulden wegen zu bemerken. Die hohe Temperatur des Küstenstrichs wird durch heftige Seewinde sehr gemildert; auf dem Hochland bilden 8° C. das Temperaturminimum und 32° C. das Maximum. Mimosen, Calotropis procera, Euphorbien und Koloquinten charakterisieren die Vegetation des Tieflandes, während im Hochland Weihrauchbäume, alle Gummisorten, Leuchtereuphorbien, im Webigebiet auch der Affenbrotbaum gedeihen. Die Fauna bietet Wanderheuschrecken, giftige große Ameisen, viele Bienen, Flußpferde und Krokodile, Strauße, alle afrikanischen Katzen, große Antilopenherden, das Zebra und den Wildesel. Vgl. Haggenmacher, Reise im Somaliland (Gotha 1876); Révoil, La vallée du Darror. Voyage au pays Çomalis (Par. 1882); Derselbe, Faune et flore des pays Çomalis (das. 1882); Paulitschke, Beiträge zur Ethnographie und Anthropologie der S., Galla und Harari (Leipz. 1886); James, The unknown horn of Africa (Lond. 1888). Somateria, Eiderente. Somátisch (griech.), körperlich. Somatologie (griech.), die Lehre vom menschlichen Körper, also besonders Anatomie. Sombreréte, Bergstadt im mexikan. Staat Zacatecas, 2369 m ü. M., an der Eisenbahn von Zacatecas nach Durango, 1570 gegründet, hat eine höhere Schule und (1882) 5173 Sombrerit, ein jüngst gebildeter, an Korallen reicher Kalk, der durch überlagernden Guano teilweise metamorphosiert worden ist und neben kohlensaurem Kalk und Thon 75-90 Proz. phosphorsauren Kalk enthält. Er findet sich auf der Insel Sombrero. Die Amerikaner beuteten 1856 den S. aus und brachten ihn als Dungmittel in den Handel, doch scheint das Lager rasch erschöpft worden zu sein. Vgl. Guano. Sombrero ("Hutinsel"), eine der Kleinen Antillen, 5 qkm groß, zwischen den Jungferninseln und Anguilla gelegen, ist ein Kalksteinfels, der schroff aus dem Meer aufsteigt, einen Leuchtturm trägt, fast ohne Vegetation ist, aber seiner Kalkbrüche halber doch einigen Wert besitzt; eine Zeit lang lieferte die Insel den Sombrerit. Sombreros (span.), breitrandige, leichte und dauerhafte Hüte, aus Palmblättern gefertigt (s. Sabal). Somerset (spr. ssommersset), 1) Grafschaft im südwestlichen England, grenzt nordwestlich an den Bristolkanal, wird zu Lande von den Grafschaften Gloucester, Wilts, Dorset und Devon umschlossen und umfaßt 4248 qkm (77,1 QM.) mit (1881) 469,109 Einw. Die Küste ist großenteils steil und unzugänglich, hat aber teilweise auch schöne Buchten mit niedrigem Landsaum; die bedeutendste derselben ist die Bridgewaterbai. Im N. und W. ist die Grafschaft gebirgig und von langen, jäh abfallenden Hügelketten (Mendip, Blackdown und Quantock Hills) durchschnitten; an der Westgrenze gegen Devon zu erhebt sich das Bergland Exmoorforest (509 m). Die bedeutendern Flüsse sind: der Avon, welcher zum Teil die Nordgrenze bildet, der Ex, Yeo, Axe, Brue und Parret. Der Boden ist teils steinig, teils Heide, teils Marsch- und Moorland, im allgemeinen aber fruchtbar, und namentlich ist die Thalebene von Taunton einer der reichsten Bezirke von England. Das Klima ist gemäßigt. Von der Oberfläche sind 22,1 Proz. unter dem Pflug, 60,5 Proz. bestehen aus Weideland; 1888 zählte man 34,701 Ackerpferde, 217,728 Rinder 557,857 Schafe, 123,901 Schweine. Der Bergbau Fig. 1. Die Sonne (photographiert von Rutherford). Fig. 2. Sonnenflecke, beobachtet vom 10.-22. Mai 1868. Fig. 4. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869. Fig. 3. Totale Sonnenfinsternis am 18. Juni 1860, nach Rümker, I-VI sind Koronastrahlen. Fig. 5. Protuberanzen, beobachtet von Zöllner 1869. Fig. 6. Protuberanzen, beobachtet von Secchi 1871. Somerset (engl. Adelstitel). liefert Steinkohlen, Eisen und Blei. Die Industrie erstreckt sich auf die Herstellung von Tuch, Seide, Spitzen, Handschuhen, Eisen und Stahl, Maschinen etc. Hauptstadt ist Taunton, die größte Stadt aber Bath. - 2) Die nördlichste Niederlassung der britisch-austral. Kolonie Queensland auf der Kap-York-Halbinsel, mit sicherm Zufluchtshafen. Das früher hier bestehende Regierungsetablissement wurde nach der Thursdayinsel und die hier 1872 errichtete Hauptstation der Londoner Missionsgesellschaft nach der Murrayinsel (Neuguinea) verlegt. Somerset (spr. ssómmersset) , engl. Adelstitel. 1397 erhielt das von den Plantagenets abstammende ältere Haus Beaufort den Grafentitel und 1443 den Herzogstitel von S. Dies Haus starb mit Edmund, dem vierten Herzog von S., der nach der Schlacht bei Tewkesbury auf Eduards IV. Befehl enthauptet wurde, aus. Ein natürlicher Sohn des dritten Herzogs Henry von S. nahm den Familiennamen S. an, und dessen Nachkommen sind 1514 Grafen, 1642 Marquis von Worcester, 1682 aber wieder Herzöge von Beaufort geworden, so daß die jüngern Söhne dieses Herzogshauses Lords S. heißen. Unter ihnen ist hervorzuheben Lord Granville Charles Henry S., geb. 27. Dez. 1792, unter Liverpool Lord des Schatzes, unter Peel Domänenminister und 1841 Kanzler des Herzogtums Lancaster, gest. 23. Febr. 1848. Dessen Oheim war Fitzroy James Henry S., später Lord Raglan (s. d.). Den Titel Graf S. führte im 17. Jahrh. Robert Carr, Viscount von Rochester, Graf von S., geb. 1590. Derselbe stammte aus einer schottischen Adelsfamilie, kam als Page an den Hof Jakobs I., gewann durch seine Schönheit dessen Gunst, ward von ihm 3. Nov. 1611 zum Viscount von Rochester erhoben und erhielt großen Einfluß auf die britische Regierung. 1613 vermählte er sich mit Frances Howard, Gräfin von Essex, deren Ehe mit dem Grafen von Essex zu diesem Zweck getrennt werden mußte. Einen Gegner dieser Verbindung, Sir Thomas Overbury, ließ der mächtige Günstling im Tower vergiften, ward aber später durch George Villiers, nachmaligen Herzog von Buckingham, aus des Königs Gunst verdrängt und samt seiner Gemahlin als Mörder Overburys zum Tod verurteilt. Nachdem beide mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, woselbst S. mit der Enthüllung von Geheimnissen drohte, die den König kompromittieren würden, erhielten sie die Freiheit und lebten seitdem in stiller Zurückgezogenheit. S. starb im Juli 1645. Aus der Ehe seiner einzigen Tochter mit dem Herzog von Bedford entsprang der unter Karl II. hingerichtete Lord William Russell (s. d. 1). Schon im 16. Jahrh. war der Herzogstitel von S. an die Familie Seymour (s. d.) gekommen. Der erste Herzog war Edward Seymour. Derselbe erhielt bei der Vermählung Heinrichs VIII. mit seiner Schwester Jane S. 1536 den Titel eines Viscount von Beauchamp, wurde 1537 zum Grafen von Hertford ernannt, kämpfte 1544 in Schottland, verwüstete Leith und Edinburg und folgte darauf dem König nach Frankreich, wo er Boulogne erobern half. 1547 ernannte ihn Heinrich VIII. zu einem der Geheimräte, die während der Minderjährigkeit des jungen Eduard VI., seines Neffen, die Regierung führen sollten. Gleich in den ersten Sitzungen des Geheimen Rats nach Heinrichs Tod ließ sich aber Hertford zum Protektor des Königreichs und zum Herzog von S. erheben und zugleich durch ein Patent des jungen Königs die volle Regierungsgewalt übertragen. S. benutzte seine Macht zuvörderst, um unter Cranmers Leitung die Kirchenreformation durchzuführen. Dann unternahm er im August 1547 einen abermaligen Feldzug nach Schottland und brachte den Schotten 10. Sept. die Niederlage bei Pinkey bei. Nach seiner Rückkehr ließ er vom Parlament alle blutigen Gesetze Heinrichs VIII. aufheben. Gleichwohl bildete sich allmählich eine Partei gegen ihn, an deren Spitze die Grafen Southampton und John Dudley, Graf von Warwick, später Herzog von Northumberland, standen. Diesen Gegnern gelang es infolge des Mißvergnügens über des Protektors kirchliche Reformen und den Krieg mit Frankreich, in welchen sein schottischer Feldzug die Nation verwickelte, den Herzog zu stürzen: der Geheime Rat entschied sich gegen ihn, und S. wurde gefangen gesetzt. Im November 1549 ward seine Sache vor das Parlament gebracht, doch verurteilte ihn dieses bloß zu einer Geldstrafe. Darauf trat S. wieder in den Rat ein; aber seine alte Macht erlangte er nicht wieder, und seine Zerwürfnisse mit Warwick dauerten trotz einer zwischen beiden geschlossenen Familienverbindung fort. Nachdem sich Warwick des Königs bemächtigt und die Staatsgewalt an sich gerissen, ließ er S. 16. Okt. 1551 verhaften und beschuldigte denselben, ihm nach dem Leben getrachtet und verräterische Anschläge auf die Staatsgewalt gemacht zu haben. Von der Anklage des Verrats freigesprochen, aber wegen Felonie verurteilt, da er einen Vasallen des Königs habe ermorden wollen, ward S. 22. Jan. 1552 auf Tower Hill enthauptet. Der Titel Herzog von S. erlosch darauf; seine übrigen Titel und Güter hatte S. auf seine Kinder zweiter Ehe übertragen lassen, nach deren Aussterben erst die Nachkommenschaft aus erster Ehe folgen sollte. Sein Enkel William Seymour ging 1610 eine heimliche Ehe mit Lady Arabella Stuart, einer Verwandten König Jakobs I., ein und mußte deshalb ins Ausland flüchten, während seine Gattin 1615 im Tower starb. Gleichwohl bewies er sich nachmals als treuen Anhänger der königlichen Sache, ward 1640 zum Marquis von Hertford erhoben und 1660 nach Karls II. Restauration wieder mit dem Titel eines Herzogs von S. ausgestattet. Er starb 24. Okt. 1660. Charles Seymour, siebenter Herzog von S., geb. 12. Aug. 1662, spielte unter Karl II., Wilhelm III., Anna und Georg I. als erster Peer des Reichs eine hervorragende Rolle, trug durch seine Gemahlin, die Erbin der Percy, wesentlich zum Sturz Marlboroughs bei, ward Lord-Oberkammerherr und starb 2. Dez. 1748. Da sein einziger Sohn, Algernon, achter Herzog von S., 7. Febr. 1750 ohne männliche Nachkommen starb, trat jene frühere Klausel in Kraft, und die Titel des Herzogs von S. und Lord Seymour gingen auf Sir Edward Seymour, einen Nachkommen des Protektors aus erster Ehe, über, welcher 15. Dez. 1757 starb. Dessen Urenkel Edward Adolphus, 12. Herzog von S., geb. 20. Dez. 1804, trat 1834 für Totneß ins Parlament. Als eifriger Whig ward er 1835 zum Lord des Schatzes, 1839 zum Sekretär des indischen Amtes und 1841 auf einige Zeit zum Unterstaatssekretär des Innern ernannt. Von 1849 bis Februar 1852 war er Oberkommissar der Wälder und Forsten, zog sich aber durch Willkürlichkeiten viele Gegner zu und wurde beim Wiedereintritt der Whigregierung 1855 übergangen, dagegen 1859 in das Whigministerium unter Palmerston als erster Lord der Admiralität berufen, welches Amt er bis 1866 verwaltete. Seitdem gehörte S. keiner Regierung mehr an und starb 28. Nov. 1885 in London. Ihm folgte sein Bruder Archibald (geb. 30. Dez. 1810) als 13. Herzog von Somersinseln - Somme. Somersinseln (spr. ssömmers), s. Bermudas. Somerville (spr. ssömmerwill), Stadt im nordamerikan. Staat Massachusetts, dicht bei Cambridge und Charlestown, und Wohnstadt von Boston, hat ein Irrenhaus und (1885) 29,992 Einw. Somerville (spr. ssömmerwill), 1) William, engl. Dichter, geb. 1677 (nicht 1692) zu Edston in Warwickshire, kam 1690 auf die Schule zu Winchester, wurde dann Fellow am New College zu Oxford und lebte später als Friedensrichter auf dem von seinem Vater ererbten Gut. Er starb am 19. Juli 1742. Sein Hauptwerk ist: "The chace" (1735, mit kritischem Essay von Aikin 1796; neue Ausg. 1873), ein gefälliges didaktisch-deskriptives Gedicht in reimlosen Versen, in welchen die Sportsmen besonders die Sachkenntnis, die sich darin ausspricht, hervorheben. Seine "Works" erschienen zu London 1742, 1776 u. öfter. 2) Mary, engl. Schriftstellerin im Fach der Physik und Astronomie, Tochter des Vizeadmirals Sir William Fairfax, geb. 26. Dez. 1780 zu Jedburg in Roxburghshire, wurde in der Nähe von Edinburg erzogen und heiratete den Kapitän Samuel Greig, der sie in den exakten Wissenschaften unterrichtete. Schon 1811 hatte sie mehrere wissenschaftliche Probleme gelöst, 1826 veröffentlichte sie eine Arbeit über die magnetisierende Kraft der Sonnenstrahlen; dann folgten unter dem Titel: "Mechanism of the heavens" (Lond. 1831) eine Einleitung in das Studium der Astronomie und "On the connexion of the physical sciences" (das. 1851; 10. Aufl., das. 1877), ihr Hauptwerk, welches wegen seiner Tiefe und Klarheit außerordentlichen Beifall fand. S. wurde 1835 zum Mitglied der königlichen Gesellschaft der wissenschaften ernannt. Sie vermählte sich nach dem Tod ihres ersten Gatten mit dem Arzt William S., mit dem sie in London lebte. 1838 siedelte sie mit den Ihrigen nach Italien über, wo sie 1860 von neuem Witwe ward und 29. Nov. 1872 in Neapel starb. Von ihren Werken sind noch die treffliche "Physical geography" (Lond. 1848, 2 Bde.; 7. Aufl. 1877; deutsch, Leipz. 1852) und "On the molecular and microscopic science" (l869, 2 Bde.) zu erwähnen. Vgl. ihre "Personal recollections from early life to old age" Somino (Ssomino), Flußhafen im russ. Gouvernement Nowgorod, Kreis Ustjuschna, an der Somina, ist ein bedeutender Stapelplatz, hauptsächlich für Getreide, Glas und Metalle, wo alljährlich gegen 4000 Flußfahrzeuge (Barken) ankommen und gegen 5000 abgehen. Somma, 1) (S. Lombarda) Flecken in der ital. Provinz Mailand, Kreis Gallarate, an der Simplonstraße und der Eisenbahn von Mailand nach Arona, mit altem Kastell und (1881) 3422 Einw. Als Sehenswürdigkeit gilt eine uralte Cypresse von 28 m 2) (S. Vesuviana) Flecken in der ital. Provinz Neapel, am nördlichen Abhang des Vesuvs, hat ein Schloß, Reste von alten Stadtmauern, Weinbau und (1881) 4533 Einw. Hiernach ist auch der nördliche Gipfel des Vesuvs "S." benannt. Somma-Campagna, Dorf bei Custozza (s. d.). Sommatino, Stadt in der ital. Provinz Caltanissetta, 368 m ü. M. auf einer Hochebene südlich von Caltanissetta gelegen, mit Olivenkultur, Schwefelbergbau und (1881) 5375 Sommation (franz.), die vor dem Zwangseinschreiten erlassene Aufforderung oder gütliche Mahnung; diplomatisch s. v. w. Ultimatum. Somme (spr. ssomm, im Altertum Samara), Fluß im nördlichen Frankreich, entspringt bei Font-S. unweit St.-Quentin im Departement Aisne, fließt südwestlich, wendet sich dann nordwestlich, tritt in das Departement S. ein, wird bei Bray für kleinere, bei Amiens für größere Fahrzeuge schiffbar und fällt nach einem Laufe von 245 km unterhalb St.-Valéry mit breitem Mündungsbecken in den Kanal (La Manche). Der Sommekanal begleitet einen großen Teil ihres Laufs; außerdem steht die S. noch durch den St.-Quentin-Kanal mit der Schelde und durch den Crozatkanal mit der Oise in Verbindung. Das Departement Somme, gebildet aus den ehemals zur Picardie gehörigen Landschaften Santerre, Amiénais, Vimeux, Ponthieu, Vermandois und Marquenterre, grenzt nördlich an das Departement Pas de Calais, nordöstlich an das Departement Nord, östlich an Aisne, südlich an Oise, südwestlich an Niederseine, westlich an den Kanal (La Manche) und umfaßt 6161 qkm (111,89 QM.). Das Departement gehört zu den fruchtbarsten des nördlichen Frankreich; es bildet eine weite, nur gegen die Küste hin sandige Ebene, die sich namentlich um den Sommebusen allmählich durch Anschwemmungen und Eindeichungen vergrößert hat und noch vergrößert; nur im SO. ist das Land von einzelnen Ausläufern der Ardennen durchzogen. Bewässert wird das Departement von der Authie, Maye, Somme mit ihren Nebenflüssen und der Bresle. Das Klima ist kühl und feucht, im allgemeinen aber gesund. Die Bevölkerung belief sich 1886 auf 548,982 Einw. und hat seit 25 Jahren um 24,000 Seelen abgenommen. Von der Oberfläche kamen 1882 auf Äcker und Gärten 499,714 Hektar, Wiesen 21,596, Wälder 39,449, Heiden und Weiden 5553 Hektar. Der hoch entwickelte Ackerbau liefert Getreide über den Bedarf (jährlich 7-8 Mill. hl), besonders: Weizen (2,8 Mill. hl), Hafer (3,4 Mill. hl), Halbfrucht, Gerste und Roggen, Kartoffeln, viel Hülsenfrüchte, Gemüse, Hanf, Flachs, Raps, andere Ölpflanzen und Zuckerrüben. Sehr bedeutend ist ferner die Torfgewinnung (85,500 Ton.). Geringere Ausdehnung hat die Viehzucht; doch ist die Zahl der Pferde (1882: 77,590), der Schafe (423,948) und namentlich des Geflügels (1,8 Mill. Stück) immerhin ansehnlich. Einen größern Holzbestand bildet nur der Wald von Crécy im NW. Die Industrie ist sehr lebhaft. Ihre vorzüglichsten Zweige sind die Spinnerei und zwar in Wolle (125,000 Spindeln), Baumwolle (75,000 Spindeln), Flachs und Hanf (50,600 Spindeln) und Seide (18,000 Spindeln) nebst der Schafwollkämmerei und Zwirnerei; außerdem die Weberei (3400 mechanische und 10,500 Handstühle), insbesondere die Erzeugung von sogen. Articles d'Amiens (Gewebe aus verschiedenen Stoffen), Tuch (besonders zu Abbeville), Baumwollsamt, Teppichen etc. Neben der Textilindustrie ist besonders wichtig die Rübenzuckerfabrikation (69 Etablissements mit 6600 Arbeitern, Produktion 970,000 metr. Ztr.); ferner sind zu nennen die Eisengießerei, die Erzeugung von Schlosserwaren und Maschinen, Seife, Kerzen, chemischen Produkten, Papier, Bier und Branntwein. Von geringerer Wichtigkeit dagegen ist der Handel, namentlich der Seehandel, da es dem Departement an guten Häfen fehlt; er erstreckt sich auf die einheimischen Ackerbau- und Industrieprodukte in der Ausfuhr, Wein, Holz, Kohlen etc. in der Einfuhr. Das Departement wird von der Nordbahn (Paris-Brüssel) durchschnitten, die hier von Amiens nach Beauvais, Rouen, Abbeville, St.-Valéry, Tréport, Boulogne und Doullens sowie nach Laon abzweigt. Es zerfällt in fünf Arrondissement Abbeville, Amiens, Doullens, Montdidier und Péronne. Hauptstadt ist Amiens. Sommer - Sommersprossen. Sommer, die Jahreszeit zwischen Frühling und Herbst, astronomisch die Zeit vom längsten Tag bis zum darauf folgenden Äquinoktium. Auf der nördlichen Halbkugel der Erde beginnt der S., wenn die Sonne den Wendekreis des Krebses und damit ihre größte nördliche Abweichung vom Äquator erreicht hat (Sommersonnenwende, 21. oder 22. Juni), und endet, wenn die Sonne auf ihrem Rückgang wieder den Äquator erreicht hat (Herbstäquinoktium, 22. oder 23. Sept.). Der S. der südlichen Hemisphäre dagegen fällt auf unsern Winter und umfaßt den Zeitraum, während dessen die Sonne von ihrer größten südlichen Abweichung vom Äquator, also vom Wendekreis des Steinbocks (Wintersonnenwende, 21. oder 22. Dez.), wieder zum Äquator zurückkehrt (Frühlingsäquinoktium, 20. oder 21. März). Auf der nördlichen Halbkugel ist der S. um einige Tage länger als auf der südlichen, was davon herrührt, daß die Erde während unsers Frühlings und Sommers die von der Sonne entferntere Hälfte ihrer Bahn durchläuft, in welcher, dem zweiten Keplerschen Gesetz zufolge, ihre Geschwindigkeit eine geringere ist. Der höhere Stand der Sonne, der ein mehr senkrechtes Auftreffen der Strahlen bewirkt, sowie die längere Dauer des Verweilens der Sonne über dem Horizont bewirken, daß trotz des größern Abstandes der Sonne unser S. wärmer ist als unser Winter; der Einfluß der verschiedenen Entfernung der Sonne ist in Bezug auf die durch sie bewirkte Erwärmung nicht bedeutend und wird erst merklich bei Vergleichung der S. beider Hemisphären. Infolge der stärkern Bestrahlung während des Sommers der Südhalbkugel ist z. B. in Australien und Neuseeland während des Sommers der Wechsel, wenn man aus dem Schatten in die Sonne tritt, fühlbarer als bei uns. Im meteorologischen Sinn rechnet man den S. bei uns vom 1. Juni bis 1. Sept., auf der Südhalbkugel vom 1. Dez. bis 1. März. Die größte Sommerwärme tritt etwa einen Monat nach dem längsten Tag und zwar erst dann ein, wenn die Erwärmung durch die Sonnenstrahlen gleich der Abkühlung durch die Wärmeausstrahlung geworden ist. Daher ist der Juli der wärmste Monat auf der nördlichen und der Januar auf der südlichen Halbkugel, und damit dieser wärmste Monat in die Mitte des Sommers fällt, ist die oben angegebene Begrenzung desselben erforderlich. Vgl. Jahreszeiten. Sommer, 1) Anton, thüring. Dialektdichter, geb. 11. Dez. 1816 zu Rudolstadt, studierte 1835-38 in Jena Theologie, übernahm 1847 die Leitung einer Töchterschule in seiner Vaterstadt und daneben das Pfarramt zu Schaala und wurde 1864 zum Garnisonprediger in Rudolstadt ernannt, wo er, halb erblindet und seit 1881 Ehrenbürger, 1. Juni 1888 starb. Seine gemütvollen "Bilder und Klänge aus Rudolstadt in Volksmundart" (11. Aufl., Rudolst. 1886, 2 Bde.) haben vielen Beifall gefunden. 2) Otto, Pseudonym, s. Möller 3). Sommercypresse, s. Chenopodium. Sömmerda, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Erfurt, Kreis Weißensee, an der Unstrut, Knotenpunkt der Linie Sangerhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn u. der Eisenbahn Großheringen-Straußfurt, 160 m ü. M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Gewehr-, Munitions-, Zündhütchen- und Eisenwarenfabrikation, Eisengießerei und (1885) 4795 meist evang. Einwohner. S. war Geburtsort und Wohnsitz von Dreyse (s. d.). Sommerendivien, s. Lattich. Sommerfäden, s. v. w. Alterweibersommer. Sommerfeld, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis Krossen, an der Lubis, Knotenpunkt der Linien Berlin-S., S.-Breslau und S.-Liegnitz der Preußischen Staatsbahn, 82 m ü. M., besteht aus der Stadt, 2 Vorstädten (Schönfeld und Hinkau) und 3 Kolonien (Karras, Bornstadt und Klinge), hat 2 evang. Kirchen, ein Schloß, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, eine Reichsbanknebenstelle, bedeutende Tuchfabrikation, eine Hutfabrik, eine mechanische Bandweberei, 3 Dampffärbereien, 2 Maschinenbauanstalten, eine Flachsgarnspinnerei, Appretur- u. Karbonisieranstalten, Ziegeleien, eine Ofenfabrik, Dampfschneidemühlen, Bierbrauereien u. (1885) 11,362 meist ev. Einw. Sommerfrischen, die im Sommer zu benutzenden klimatischen Kurorte (s. d.). Sommergewächse, einjährige Pflanzen, s. Sommerkatarrh (Catarrhus aestivus), s. Heufieber. Sommerkleid, s. Vögel. Sommerkönig, Vogel, s. Laubsänger und Goldhähnchen. Sommerpappel, s. Lavatera. Sommerpunkt, s. v. w. Sommersolstitium, s. Sonnenwenden. Sömmerring, Samuel Thomas von, Mediziner, geb. 28. Jan. 1755 zu Thorn, studierte seit 1774 in Göttingen, ward 1778 Professor der Anatomie in Kassel, 1784 in Mainz, praktizierte seit 1798 in Frankfurt a. M., wurde 1805 königlicher Leibarzt in München, dann Geheimrat und in den Adelstand erhoben. 1820 kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er 2. März 1830 starb. Seine Untersuchungen über Gehirn- und Nervensystem, über die Sinnesorgane, über den Embryo und seine Mißbildungen, über den Bau der Lungen, über die Brüche etc. stellen ihn in die Reihe der ersten deutschen Anatomen. Er konstruierte auch 1809 einen elektrischen Telegraphen, bei welchem die Zeichen durch galvanische Zersetzung von Wasser gegeben werden sollten, arbeitete über die Veredelung des Weins, über die Zeichnungen, welche sich bei der Ätzung des Meteoreisens auf demselben bilden, über die Sonnenflecke etc. Er schrieb: "Vom Hirn- und Rückenmark" (Mainz 1788, 2. Aufl. 1792); "Vom Bau des menschlichen Körpers" (Frankf. 1791-96, 6 Bde.; 2. Aufl. 1800; neue Aufl. von Bischoff, Henle u. a., Leipz. 1839-45, 8 Bde.); "De corporis humani fabrica" (Frankf. 1794-1801, 6 Bde.); "De morbis vasorum absorbentium corporis humani" (das. 1795); "Tabula sceleti feminini" (das. 1798); "Abbildungen des menschlichen Auges" (das. 1801), "des menschlichen Hörorgans" (das.1806), "des menschlichen Organs des Geschmacks und der Stimme" (das. 1806), "der menschlichen Organe des Geruchs" (1809). Sömmerrings Briefwechsel mit Georg Forster wurde von Hettner (Braunschw. 1878) herausgegeben. Vgl. R. Wagner, Sömmerrings Leben und Verkehr mit Zeitgenossen (Leipz. Sommerschlaf s. Winterschlaf. Sommersolstitium, s. Sonnenwenden. Sommersporen, s. Pilze, S. 66, und Rostpilze, S. 989. Sommersprossen (Sommerflecke, Ephelides), kleine, rundliche, bräunliche Flecke, welche sich namentlich bei blonden und rothaarigen Menschen, unter der Einwirkung des Sonnenlichts und der Sonnenwärme, der Feuchtigkeit und des Windes an den unbedeckten Stellen der Haut bilden. Die S. beruhen auf der Ablagerung eines bräunlichen Pigments in den oberflächlichen Hautschichten. Während des Win- Sommerthürchen - Son. ters blassen sie ab oder verschwinden auch ganz. Durch Mittel, welche eine Abstoßung der Epidermis mit Einschluß ihrer tiefern pigmenthaltigen Schichten bewirken, kann man die S. vertreiben; sie kehren aber nach wenigen Wochen wieder, wenn die Haut von neuem den erwähnten Schädlichkeiten ausgesetzt wird. Auf diese Weise wirken die Lilionese und Umschläge mit einprozentiger Lösung von Sublimat (Quecksilberchlorid, höchst giftig!). Man läßt diese Umschläge nur einige Stunden lang wirken und sorgt dafür, daß die mit der Sublimatlösung befeuchteten Leinwandläppchen keine Falten schlagen. Zeigt sich die Haut hiernach stärker entzündet, so bedeckt man sie mit in Öl getränkten Sommerthürchen, Pflanze, s. Leucojum. Sommertuch, s. Halbtuch. Sommerwal, s. Finnfisch. Sommerwurz, s. Orobranche. Sommières (spr. ssommjähr), Stadt im franz. Departement Gard, Arrondissement Nîmes, am Vidourle und an der Eisenbahnlinie Lunel-Le Vigan (mit Abzweigung nach Nimes und Les Mazes), hat ein altes Schloß, eine Brücke mit Turm, eine reformierte Konsistorialkirche, Fabrikation von Likör, Essenzen, Decken, Wollenstoffen, Hüten etc. und (1881) 3644 Sommitäten (franz.), die Höchsten, Vornehmsten. Somnambulismus (lat.), im engern Sinn das "Umherwandeln im Schlaf", das Schlafwandeln; dann das habituell gewordene, dem Anschein nach mit Überlegung vor sich gehende, in Wahrheit aber nur traumbewußte Verrichten von Handlungen während des Schlafs, das Schlafhandeln; gewöhnlich rechnet man zum S. auch diejenigen meist auf Selbsttäuschung oder Betrug beruhenden Fälle, in welchen gewisse Personen Dinge oder Ereignisse wahrzunehmen glauben oder vorgeben, welche mittels gesunder Sinne nicht wahrzunehmen sind (das Hellsehen, clairvoyance); endlich auch die Gesamtheit der noch vielfach problematischen Erscheinungen des sogen. tierischen Magnetismus (s. Magnetische Kuren und Hypnotismus). Die beiden ersten Arten des S., welche man gewöhnlich als Nachtwandeln bezeichnet, charakterisieren sich besonders dadurch, daß bei mangelndem klaren Bewußtsein Handlungen vorgenommen werden, welche den Schein der Willkürlichkeit und Zweckmäßigkeit an sich tragen. Das Nachtwandeln nimmt niemals einen tödlichen Ausgang und stört den Fortgang der Körperentwickelung nicht auf eine erhebliche Weise. Beim Traum wie beim Nachtwandeln ist das dämmernde Selbstbewußtsein der Mittelpunkt, worin sich die dunkeln und verworrenen Empfindungen der Sinne und des Gemeingefühls, wenn nämlich solche noch zur Wahrnehmung kommen, sammeln, während Reihen von Vorstellungen und Willensantrieben auftreten, welche zu den mannigfaltigsten, ihnen entsprechenden Bewegungen der Glieder sowie zu einem völlig artikulierten und zusammenhängenden Sprechen Veranlassung geben. Nur die höchsten Grade dieser Erscheinungen kommen aber hier in Betracht, insofern bei ihnen die charakteristischen Bedingungen des Schlafs nicht mehr vorhanden zu sein scheinen. Dahin ist vor allem zu rechnen, daß die Nachtwandler ungeachtet der größten Anstrengung beim Erklettern von Fenstern, Dächern etc. nicht erwachen, was doch der Fall sein würde, wenn bei ihnen, wie beim gewöhnlichen Schlaf, die Fähigkeit zur Empfindung und Bewegung in gleichem Maß ab- und zunähme. Vielmehr geben sie bei äußerer ordentlicher Bethätigung ihres ganzen Muskelsystems zuweilen eine so gänzliche Empfindungslosigkeit kund, daß weder das stärkste Licht, noch der Schall von lärmenden Instrumenten, noch die schärfsten Gerüche, noch Verletzungen der Haut den geringsten Eindruck auf sie machen. Auch haben die Reden des Nachtwandlers nicht jenen Charakter der Zerfahrenheit und des Unzusammenhängenden wie die des Träumenden, sondern meist logischen Zusammenhang und bewegen sich, wie seine Handlungen, größtenteils im Kreis früherer Erinnerungen. Nach dem bisherigen Stand unsers Wissens unerklärlich ist der angebliche, im Volksmund allgemein behauptete Einfluß des Mondes auf die Nachtwandler, welcher zu der Bezeichnung Mondsucht (Lunatismus) Veranlassung gegeben hat. Die oft erzählten Sagen von Mondsüchtigen, welche auf Bäume, Dächer und Türme gleichsam dem Mond entgegengeklettert seien etc., sind noch zu wenig beglaubigt, als daß man sie unbedenklich gelten lassen könnte. Erwähnung verdient noch, daß die Nachtwandler ihre Bewegungen auch auf gefährlichen Wegen mit der größten Sicherheit ausführen sollen, wobei das Freibleiben von Schwindel eine wirksame Unterstützung gewähren mag. Da das Nachtwandeln gewöhnlich einen völlig konstitutionellen Zustand darstellt, welcher als solcher das Individuum Jahrzehnte behaften kann, so läßt es sich höchstens durch kräftige diätetische Maßregeln mit einigem Erfolg bekämpfen. Zu letztern würden vor allem angemessene Körperanstrengungen, um einen möglichst festen und tiefen Schlaf zu bewirken, und Vermeidung aller das Nervensystem stärker aufregenden psychischen und physischen Reize, z. B. allzu reichliche Abendmahlzeiten, zu rechnen sein. Entschieden abzuraten ist von den gebräuchlichen Gewaltmitteln, wie z. B. den vor das Bett gestellten Wassergefäßen, Prügeln u. dgl. Jedenfalls hat man die Nachtwandler unter eine angemessene Aufsicht zu stellen, damit sie in ihren Paroxysmen weder sich noch andern Schaden zufügen können. Vgl. Magnetische Kuren. Somnium (lat.), Traum. Somnolénz (lat.), Schläfrigkeit, schlafsüchtiger Zustand, leichtester Grad von Betäubtheit. Somnus (lat.), Gott des Schlafs, s. Hypnos. Somogy (spr. schómodj, Sümeg), Komitat in Ungarn, am rechten Donauufer zwischen dem Plattensee und der Drau, hat 6531 qkm (118,6 QM.) Areal mit (1881) 307,448 meist ungarischen, kath. Einwohnern. Es wird von zahlreichen kleinen Flüssen bewässert, ist sehr fruchtbar und im Süden an der Drau teilweise sumpfig; 1/3 des Gebiets bedeckt Wald. Sitz des Komitats, das nach dem alten Schlosse Somogyvár benannt ist und von der Donau-Draubahn, der Linie Stuhlweißenburg-Kanizsa und der Fünfkirchen-Barcser Bahn durchschnitten wird, ist Kaposvár. Somorrostro, kleiner Ort in der span. Provinz Viscaya, 10km nordwestlich von Bilbao, berühmt wegen seiner reichen Somosierra, Dorf in der span. Provinz Madrid, am Südabhang des gleichnamigen Gebirges (Fortsetzung der Sierra de Guadarrama), historisch merkwürdig durch das siegreiche Gefecht Napoleons I. gegen die Spanier 30. Nov. 1808. Somvix ("Oberdorf", rätoroman. Sumvigel), Ort im schweizer. Kanton Graubünden, am Vorderrhein, 880 m ü. M. gelegen, zum Bezirk Vorderrhein gehörig, mit (1880) 1235 Einw. Gegenüber öffnet sich das alpine, vom Somvixer Rhein durchströmte Val S. in das Hauptthal; es bildet den Zugang zu dem (nicht fahrbaren) Paß Greina. Son (Sona), Fluß in Britisch-Indien, entspringt in Zentralindien am Gebirgsstock des Amarkantak und fließt in nordöstlicher Richtung dem Ganges zu, den er oberhalb Patna nach einem Laufe von 748 km erreicht. Im Unterlauf ist er schiffbar und seit 1871 durch einen bei Dehri vollendeten Querdamm, wodurch fünf Kanäle gespeist werden, zur künstlichen Überflutung seiner Ufer eingerichtet. Sonate (ital. sonata, suonata), ein in der Regel aus drei oder vier abgeschlossenen, aber durch innere Verwandtschaft unter sich verbundenen Sätzen bestehendes Tonwerk von ganz bestimmter Form, zunächst für ein Soloinstrument, namentlich Klavier, Cello, Flöte, Violine, Orgel etc., bestimmt, jedoch, als Duo, Trio, Quartett etc., auch auf mehrere Instrumente und, als Symphonie, sogar auf großes Orchester übertragen. Der erste Satz ist der speziell für die S. charakteristische und sie von der Suite, Serenade etc. unterscheidende; seine Form ist die darum speziell so genannte Sonatenform. Er beginnt entweder mit einer langsamen Einleitung (Grave, Largo) oder gleich mit dem Hauptthema (Hauptsatz) in bewegtem Tempo (Allegro), von welchem geschlossene, modulierende (nicht in allzufern liegende Tonarten ausschweifende) Gänge zum zweiten Thema (Nebensatz, Seitensatz) überleiten, das zwar in gleichem Tempo, aber in längern Notenwerten, gesangartiger gehalten ist. Steht der Hauptsatz in Dur, so pflegt der Seitensatz auf der Tonart der Dominante zu stehen; steht er in Moll, so kommt die Parallel-Durtonart oder Durtonart der kleinen Sexte (z. B. bei A moll: F dur) oder auch eine verwandte Molltonart in Anwendung. Entweder schließt nun der erste Teil hiermit ab, oder es folgt noch ein kleiner Schlußsatz, der zum ersten Thema zurückführt. Die Repetition (Reprise) der den ersten Teil des Sonatensatzes konstituierenden Themata ist durchaus für die Form charakteristisch, und Abweichungen sind selten und bedeuten ein Zerbrechen der Form (Beethoven). Der nun folgende zweite Teil (Durchführungssatz) besteht ausschließlich in Verarbeitung des vorausgegangenen thematischen Materials (selten bringt er noch ein selbständiges Thema) und leitet ohne Wiederholung durch den sogen. Rückgang zum dritten Teil über. Dieser bringt wieder das Hauptthema in der Haupttonart, führt jedoch diesmal (mit oder ohne Gang) den Seitensatz und etwanigen Schlußsatz gleichfalls in der Haupttonart oder gleichnamigen Molltonart ein und beschließt entweder hiermit das Tonstück, oder es folgt ihm noch ein besonderer Anhang (coda), der hier meistens etwas länger ausgeführt ist als im ersten Teil. Bildungen wie die der ersten Sätze der sogen. Mondscheinsonate (Op. 27, Cis moll) oder der As dur-Sonate (Op. 26) von Beethoven haben mit diesem Schema nichts zu thun. Beiden Sonaten fehlt der eigentliche erste Satz; sie beginnen mit dem langsamen, der in der Regel der zweite ist. Charakteristikum des zweiten Satzes ist die langsame Bewegung (nur ausnahmsweise vertauschen der langsame Satz und das gleich zu besprechende Scherzo ihren Platz). Seine Form kann eine sehr verschiedenartige sein. Ist er wie der erste mit zwei kontrastiernden Themata ausgestattet, so ist das bewegtere das zweite; die Reprise und Durchführung fallen weg, dagegen erscheint gern das Hauptthema dreimal, meist mit immer gesteigerter Figuration. Oft begnügt sich der Tonsetzer mit der Liedform, d. h. der Themataordnung I-II-I. Sehr beliebt ist auch die Variationenform für den zweiten Satz. Die Tonart des zweiten Satzes ist meist die der Unterdominante. Der dritte Satz bringt Menuett oder Scherzo, gewöhnlich wieder in der Haupt- oder doch in einer eng verwandten Tonart. In ältern Sonaten fehlt Menuett oder Scherzo gänzlich, so daß man gleich vom zweiten zum letzten Satz, dem Finale, gelangt. Dieser steht bei durchschnittlich schneller Bewegung immer in der Haupttonart, verwandelt sie aber nicht selten aus Moll in Dur. Seine Form ist entweder die Sonatenform, in der Regel ohne Reprise, aber mit Durchführung, oder eine weit ausgesponnene Rondoform mit mehr als zwei meist kurzen Themata. In seltenen Fällen läuft er in eine Fuge aus. Beethoven handhabt die Form sehr frei und beschränkt sich manchmal auf nur zwei Sätze und zwar nicht nur in der kleinen S. (Sonatine), bei der das fast die Regel ist, sondern auch in groß und ernst angelegten Werken (Op. 53, 54, 78, 90, 101, 111). Geschichte. Sonata ("Klingstück") ist ursprünglich, d. h. als die Anfänge einer selbständigen Instrumentalmusik sich entwickelten (gegen Ende des 15. Jahrh.), eine ganz allgemeine Bezeichnung für Instrumentalstücke und der Gegensatz von Cantata ("Singstück"). Die ältesten Komponisten, welche den Namen S. gebrauchten, waren Giovanni Croce (1580) und Andrea Gabrieli, dessen "S. a 5 istromenti" (1586) leider nicht mehr zu finden sind. Dagegen sind uns einige Sonaten von seinem Neffen Giovanni Gabrieli erhalten (I597 und 1615). Diese ältesten Sonaten sind Stücke für mehrere Instrumente (Violinen, Violen, Zinken und Posaunen), und ihr Schwerpunkt liegt in der Entfaltung harmonischer Fülle. Ihre praktische Bestimmung war die, einem kirchlichen Gesangswerk als Einleitung vorausgeschickt zu werden, die S. tritt in der Folge (völlig gleichbedeutend mit Symphonia) als Einleitung der Kantate auf. Gegen Ende des 17. Jahrh. begann man die Sonata da chiesa (Kirchensonate) von der Sonata da camera (Kammersonate) zu unterscheiden. Die letztere schied die Blasinstrumente aus und wurde schließlich die Prärogative der Violine (Biber, Corelli), ja die alte Art der für die Kirche bestimmten S. wurde gleichfalls nach Art der Kammersonate zugestutzt und nur, statt mit Cembalo, mit der Orgel begleitet. Neben beiden bestand die vielstimmige, besonders mit Blasinstrumenten besetzte S. fort für Tafelmusik und ähnliche weltliche Bestimmungen. Diese Sonaten, auch die Corellischen und Biberschen, haben mit der neuern Sonatenform noch wenig mehr gemeinsam als die Zusammensetzung aus mehreren Teilen von verschiedener Bewegungsart, welche bereits I. Gabrieli seinen letzten Sonaten gegeben hatte. Corelli schrieb sie viersätzig: Adagio, Allegro, Adagio, Allegro. Die Übertragung des Namens S. auf Klavierwerke ähnlicher Gestaltung ist das Werk Johann Kuhnaus (s. d.). Die letzte Vollendung der Form der S., namentlich ihres charakteristischen ersten Satzes, erfolgte durch Domenico Scarlatti, J. S. Bach, Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn, Mozart und Beethoven. Die Umbildung des Stils der S. ist nichts derselben Eigentümliches, sondern geht parallel mit der Entwickelung der Instrumentalmusik und insbesondere des Klavierstils überhaupt, welcher nach J. S. Bach allgemein, aber schon früher in ziemlich ausgedehntem Maß eine freiere (homophone) Setzweise erfuhr. Die Form der S. wurde durch Haydn, Mozart und Beethoven auf die Komposition für verschiedene Ensembles (Violine und Klavier, Klavier, Violine und Cello, Streichtrio, Streichquartett etc.) und für Orchester (Symphonie) übertragen. Nach Beethoven haben die Form der S. mit besonderm Glück Franz Schubert, Mendelsohn, Rob. Schumann und in neuester Zeit Johannes Brahms, Joachim Raff, Anton Rubinstein, I. Rhein- Sonatine - Sonett. berger und Robert Volkmann behandelt. Vgl. Marx, Kompositionslehre, Tl. 3 (5. Aufl., Leipz. 1868); Faißt, Beiträge zur Geschichte der Klaviersonate (in der "Cäcilia", Bd. 25 u. 26, Mainz 1847); Bagge, Geschichtliche Entwickelung der S. (Leipz. 1880). Sonatine, s. v. w. kleine Sonate, leichtverständlich und leicht zu spielen; der erste Satz der S. hat entweder keine oder nur eine sehr kurze Durchführung, die Zahl der Sätze ist meist 2 oder 3 (vgl. Sonate). Soncino (spr. ssontschino), Dorf in der ital. Provinz Cremona, Kreis Crema, unweit des Oglio, hat ein altes Schloß, bekannt durch die Gefangenschaft und den Tod (1259) des Statthalters Ezzelino, Seidenbau und (1881) 3965 Einw. Sond., bei botan. Namen Abkürzung für W. Sonder, Apotheker in Hamburg (Algen, Kapflora). Sonde (Specillum), dünnes, rundes, 12-28 cm langes Stäbchen, gewöhnlich aus Stahl oder Silber, an der Spitze abgerundet oder mit einem Knöpfchen oder Öhr versehen, dient zur Untersuchung von Wunden, Geschwüren etc., zum Einbringen von Scharpie oder Fäden oder als Leitungswerkzeug für schneidende Instrumente, in welchem Fall es der Länge nach gefurcht oder gerinnt ist (Hohlsonde). Im Seewesen ist S. s. v. w. Senkblei. Sonderbund, der Bund der sechs ultramontanen Kantone der Schweiz (1845), der 1847 den Sonderbundskrieg zur Folge hatte. S. Schweiz, S. 762. Sonderburg, Kreisstadt in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, auf der Insel Alsen und am Alsensund, über welchen eine Schiffbrücke zum Festland führt, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein Realprogymnasium, ein Amtsgericht, Eisengießereien, Dampfmahlmühlen, Färbereien, ein Seebad, einen guten Hafen und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbataillon Nr. 86) 5266 fast nur evang. Einwohner. - S. war schon 1253 vorhanden, brannte 1864 während der Belagerung der Düppeler Schanzen teilweise nieder und fiel 29. Juni d. J. mit dem Übergang der Preußen nach Alsen in deren Hände. Die Festungswerke sind neuerdings aufgegeben. Nach S. wird die apanagierte Linie der Herzöge von S. benannt (s. Schleswig-Holstein, S. 524). Sondereigen, gesondertes Privateigentum im Gegensatz zum gemeinschaftlichen oder Gemeineigen. Sondergut (Einhands-, Rezeptiziengut), das Vermögen der Ehefrau, welches sie sich zur freien Verfügung vorbehält (s. Güterrecht etc., S. 949). Sonderland, Johann Baptist, Maler und Radierer, geb. 2. Febr. 1805 zu Düsseldorf und an der Akademie daselbst sowie auf Studienreisen in Paris, Holland und Frankfurt a. M. gebildet, zeichnete sich in seinen Genrebildern durch Reichtum der Erfindung, Lebendigkeit der Darstellung und naiven Humor aus. Unter dem Titel: "Bilder und Randzeichnungen zu deutschen Dichtern" fertigte er eine große Anzahl radierter Blätter sowie auch die Illustrationen zu Reinicks "Malerliedern", zu "Münchhausen" von Immermann etc. In den letzten Jahren seines Lebens wandte er sich ausschließlich der Illustration zu und schuf eine große Zahl von Aquarellkompositionen, Lithographien nach eignen und fremden Originalen, Randzeichnungen etc. Er starb 21. Juli 1878. Sein Sohn Friedrich S., geb. 20. Sept. 1836 zu Düsseldorf ist ebenfalls ein begabter Maler, der besonders im humoristischen Genre hervorragend ist. Sonderling, Schmetterling, s. Aprikosenspinner. Sondernachfolge, s. Rechtsnachfolge. Sondershausen, Haupt- und Residenzstadt des Fürstentums Schwarzburg-S., in der sogen. Unterherrschaft, am Fuß der Hainleite, an der Wipper und der Linie Nordhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Kirchen, ein ansehnliches Residenzschloß mit Antiquitäten- und Naturaliensammlung und schönem Garten, ein Gymnasium, eine Realschule, ein Schullehrerseminar, ein Konservatorium, ein Theater, ein Zeughaus, ein Landeskrankenhaus, Nadelfabrikation, 2 Dampfziegeleien, eine Dampfschneidemühle und (1885) 6336 meist evang. Einwohner. S. ist Sitz der obersten Landesbehörden, eines Landratsamtes und eines Amtsgerichts. Vor der Stadt liegt das Loh, ein Vergnügungsort, und unweit von S. auf der Hainleite das Jagdschloß Possen (s. d.). Sondersieche, s. v. w. Aussätzige, s. Aussatz, S. Sondieren, mit dem Senkblei (Sonde) die Tiefe ergründen; ausforschen, prüfen. Sondrio, ital. Provinz im N. der Lombardei, begreift großenteils das bis 1797 zu Graubünden gehörige Veltlin, wird im N. von der Schweiz, im O. von Tirol und der Provinz Brescia, im Süden von Bergamo und im W. von Como begrenzt und umfaßt 3268, nach Strelbitsky 3123 qkm (56,7 QM.) mit (1881) 120,534 Einw. Das Land besteht der Hauptsache nach aus den Thälern der obern Adda und der Mera, welche von mehreren Gebirgsgruppen der Alpen (Bernina-, Ortler- und Bergamasker Alpen) flankiert werden. Über das Gebirge führen im W. der Splügen, im O. das Stilfser Joch; auch münden hier die Straßen über den Maloja- und Berninapaß. Der Boden ist großenteils Weide und Wald (57,538 Hektar); das bebaute Land bringt Wein (1886: 119,200 hl, doch gute Sorten), etwas Getreide, viel Kartoffeln, Obst etc. hervor; das Mineralreich liefert Eisen, Blei und andre Metalle und Mineralien. Neben dem sehr beschränkten Ackerbau, der Vieh- und Seidenzucht und Holzgewinnung wird etwas Industrie (Seidenfilanden, Baumwollspinnerei, Metallindustrie) und Handel betrieben. Durch die Eisenbahnen Colico-Sondrio und Colico-Chiavenna in Verbindung mit der Dampfschiffahrt am Comersee ist die Provinz in neuester Zeit dem Weltverkehr näher gerückt worden. Von Bedeutung sind endlich die ausgezeichneten Mineralquellen (vor allen die zu Bormio). Doch genügen die vorhandenen Erwerbsquellen nicht, so daß viele Bewohner alljährlich auswärts Beschäftigung suchen müssen. Die gleichnamige Hauptstadt, malerisch an der Mündung des Mallero in die Adda und an der Bahn Colico-S. gelegen, hat ein königliches Lyceum und Gymnasium, eine technische Schule, ein Gewerbeinstitut, eine städtische Bibliothek, ein Nationalkonvikt, ein großes Krankenhaus, ein schönes Theater, ein ehemaliges Kloster (jetzt Traubenkuranstalt), Ruinen eines Schlosses, Seidenindustrie, Töpferei (aus dem im Val Malenco gebrochenen Lavezstein), Handel und (1881) 3989 Einw. S. ist Sitz eines Präfekten. Sonett (ital., Klanggedicht), kleines Gedicht von bestimmter Form, bestehend aus 14 (in der Regel iambischen) Zeilen, von denen die ersten 8 und die letzten 6 miteinander reimen und zwar so, daß die 8 ersten, in zwei Strophen von je 4 Zeilen zerfallend (Quaternarien oder Quatrains), nur zwei Reime haben, welche je viermal anklingen und in dem Verhältnis der Reimumschlingung zu einander stehen Songarei - Sonnborn. (abba abba), die 6 letzten dagegen, in zwei Strophen von je 3 Zeilen zerfallend (Terzinen), mit zwei oder auch drei Reimklängen beliebig wechseln können (cdc ded, cde cde, cde dce etc.). Das S. ist eine ebenso schöne wie kunstvolle, aber auch schwierige Form für die reflektierende Lyrik, weil sie nicht nur einen bedeutenden Reichtum an Reimen erfordert, sondern auch die innere Gedankenordnung sich genau den Abteilungen anschmiegen soll, nicht bloß so, daß mit der 4., 8. und 11. Zeile eine Sinnpause eintreten muß, sondern die Art des Gedankenvortrags soll auch mit jeder neuen Strophe eine neue Wendung nehmen. Unbedingt verpönt ist namentlich das Herüberziehen des Satzes aus der 8. in die 9. Zeile. Hervorgegangen aus der provencalischen Poesie, fand das S. in der Mitte des 13. Jahrh. in die italienische Poesie Aufnahme. Die erste regelmäßige Gestalt gab ihm Fra Guittone von Arezzo, die höchste Vollendung Dante und Petrarca; im übrigen ist die Zahl der italienischen Sonettendichter unendlich. In Frankreich ward das S. erst im 16. Jahrh. wieder aufgenommen, aber als Bouts rimés zum leeren Witz- und Reimspiel herabgewürdigt. Auch in England, wohin es durch Howard Graf Surrey verpflanzt ward, war es eine Zeitlang Modeform (Shakespeare). In Spanien haben sich Boscau, Garcilaso de la Vega, Mendoza etc., in Portugal namentlich Camoens als Meister des Sonetts ausgezeichnet. In der deutschen Poesie finden sich Anklänge an das S. bereits bei Walther von der Vogelweide. Eigentlich eingeführt ward es zuerst von Weckherlin und Opitz (in Alexandrinern) und unter dem Namen Klanggedicht bald mit Vorliebe (Gryphius, P. Fleming etc.) bearbeitet. Später geriet es wieder in Vergessenheit, bis es durch Bürger und dann durch die romantische Schule von neuem aufgenommen und mit Eifer kultiviert wurde. Treffliche deutsche Sonette haben Schlegel, Goethe, Rückert, Platen, Chamisso, Herwegh, Geibel, Strachwitz u. a. geliefert. Sonettenkranz ist eine Reihe von 15 Sonetten, von denen 14 durch ihre Anfangs- oder Endzeilen das 15., das sogen. Meistersonett, bilden. Vgl. Tomlinson, The sonnet, its origin, structure etc. (Lond. 1874); Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung (Leipz. 1884); Lentzner, Über das S. in der englischen Dichtung (Halle Songarei, Land, s. Dsungarei. Songhay, Negerstamm, s. Sonrhai. Songka (Sangkoi oder Roter Fluß), Hauptfluß der franz. Kolonie Tongking (Hinterindien), entspringt mit drei westlichern und einer östlichen Quelle in den Südabhängen der die chinesische Provinz Jünnan durchziehenden hohen Gebirgskette. In China heißt er Hongkiang, bei Laokai tritt er über die Grenze, bleibt wie zuvor noch 140 km von Bergen eingefaßt und bildet zahlreiche Stromschnellen. Später wird er ruhiger, nimmt rechts den Hellen Fluß und links den Klaren Fluß auf und spaltet sich unterhalb in zahlreiche Arme, von denen die linksseitigen mit dem Thaibinh oder Bakha durch drei künstliche Kanäle und andre Wasseradern in Verbindung stehen, so daß hier ein mächtiges Delta gebildet wird, und ergießt sich in den Meerbusen von Tongking. An einem Arm des Thaibinh liegt Haiphong, der Haupthafen des Gebiets. Der S. wurde zuerst 1870 von Dupuis von der chinesischen Stadt Manghao bis zu seinem Eintritt in die Ebene und 1872 aufwärts bis Jünnan hinein befahren. Auch der Klare Fluß ist bis zur chinesischen Grenze, der Schwarze Fluß eine große Strecke aufwärts für leichte Fahrzeuge befahrbar. Am rechten Ufer des S., 175 km von der Mündung, liegt die Hauptstadt Hanoi, die im 8. Jahrh. noch am Meer gelegen haben soll, ein Beweis für die rasche Deltabildung des Flusses. Sonica (franz.), wird in Hasardspielen von einer Karte gesagt, die beim ersten Aufschlagen über Gewinn und Verlust entscheidet; im weitern Sinn s. v. w.. sogleich, zu rechter Soninke, Negerstamm, s. Serechule. Sonklar, Karl, Edler von Innstädten, österreich. Militär und Geograph, geb. 2. Dez. 1816 zu Weißkirchen in der damaligen Militärgrenze, besuchte 1829-32 die mathematische Schule in Karansebes, an welcher er eine Zeitlang auch Lehrer war, stand 1839-48 als Infanterieoffizier in Agram, Graz und Innsbruck und benutzte seinen Aufenthalt in Graz dazu, Studien über Physik und Chemie an der dortigen Universität zu machen, wogegen er von Innsbruck aus weitreichende Wanderungen in den Alpen machte. Von 1848 bis 1857 lebte er als Erzieher des Erzherzogs Karl Viktor in Schönbrunn, wirkte seit 1857 als Lehrer der Geographie an der Militärakademie in Wiener-Neustadt, aus welcher Stellung er 1872 als Generalmajor in den Ruhestand trat und seinen Aufenthalt in Innsbruck nahm, wo er 10. Jan. 1885 starb. Seine ersten Schriften: "Über Führung einer Arrieregarde" (1844), "Über die Heeresverwaltung der alten Römer im Frieden und Krieg etc." (Innsbr. 1847), waren rein militärischen Charakters; später aber wandte er sich der Geographie zu und hat auf dem Gebiet der Orographie die größten Erfolge aufzuweisen. Als Anhänger K. Ritters war er bestrebt, die Ursachen der Erscheinungen, welche unmittelbar zu beobachten er seit 1857 jährlich Reisen in die Alpen (1870 nach Ungarn, 1875 nach Italien) unternahm, aufzuspüren und darzulegen. Als Frucht dieser Einzelforschungen veröffentlichte er: "Reiseskizzen aus den Alpen und Karpathen" (Wien 1857); "Die Gebirgsgruppe der Hochschwab" (das. 1859); "Die Ötzthaler Gebirgsgruppe" (Gotha 1860, mit Atlas); "Die Gebirgsgruppe der Hohen Tauern" (Wien 1866); "Die Zillerthaler Alpen" (Gotha 1877). Sein in mehrfacher Hinsicht grundlegendes Hauptwerk ist aber die "Allgemeine Orographie oder Lehre von den Reliefformen der Erdoberfläche" (Wien 1872). Noch veröffentlichte er außer verschiedenen Lehrbüchern der Geographie, die ebenfalls besonderes Gewicht auf die Darstellung des Erdreliefs legen: "Die Überschwemmungen" (Wien 1883) und bearbeitete für die vom Deutschen u. Österreichischen Alpenverein herausgegebene "Anleitung zur wissenschaftlichen Beobachtung auf Reisen" den Teil "Die Orographie u. Topographie, Hydrographie und Gletscherwesen" (Münch. 1879). In der Kunstlitteratur versuchte er sich durch eine "Graphische Darstellung der Geschichte der Malerei" (Wien 1853). Sonn., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für P. Sonnerat (spr. ssonn'ra), geb. 1749, Reisender, gest. 1814 in Paris (Zoologie, Botanik). Sonnabend (d. h. der Abend vor dem Sonntag), der siebente Tag der Woche im christlichen Kalender, der Sabbat im jüdischen Kalender. An die letztere Bedeutung erinnern die Namen Samstag im Deutschen, samedi im Französischen u. a., wogegen sich die römische Bezeichnung dies Saturni (Saturnustag), im plattdeutschen Zaturdag, Saterdag sowie im englischen Saturday erhalten hat. Sonnblick, Berg, s. Rauriser Thal. Sonnborn, Landgemeinde im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Kreis Mettmann, an der Wupper Sonne (Entfernung, Parallaxe, Größe, Oberfläche). und an den Linien Neuß-Schwelm und Düsseldorf-Schwelm der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, mechanische Weberei, eine Tapetenfabrik, Kalksteinindustrie, Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen und (1885) 7543 meist evang. Einwohner. Sonne (hierzu Tafel "Sonne"), der Zentralkörper des Planetensystems, zu dem die Erde gehört, an Volumen und Masse weitaus der größte unter den Körpern dieses Systems und für sie alle Quelle von Licht und Wärme. [Entfernung von der Erde, Parallaxe.] Da die Erde sich in einer Ellipse um die im Brennpunkt stehende S. bewegt, so ist die Entfernung beider Himmelskörper voneinander veränderlich, wie sich schon aus den zwischen 32' 36'' und 31' 32'' schwankenden Werten des scheinbaren Halbmessers der S. ergibt. Die mittlere Größe dieser Entfernung ist eins der wichtigsten Elemente der Astronomie, denn sie bildet die Einheit, in welcher man die Entfernungen der Weltkörper zunächst ermittelt. Man bezeichnet sie gewöhnlich mit den Namen Sonnenweite, Sonnenferne oder auch Erdweite. Dem dritten Keplerschen Gesetz zufolge verhalten sich die dritten Potenzen der mittlern Entfernungen zweier Planeten von der S. wie die Quadrate ihrer Umlaufszeiten. Sind daher die letztern durch Beobachtung bekannt, so kann man das Verhältnis zwischen den mittlern Entfernungen berechnen. Ebenso läßt sich die Entfernung derjenigen Fixsterne, bei denen die Bestimmung der jährlichen Parallaxe (s. d.) gelungen ist, in Erdweiten angeben. Um nun die Größe einer Erdweite in geographischen Meilen oder Kilometern zu finden, muß die Parallaxe der S. bekannt sein. Diese kann man aber, ihrer Kleinheit wegen, nicht direkt durch Beobachtung von Sonnenhöhen an verschiedenen Punkten der Erde finden; man bestimmt sie vielmehr indirekt, indem man die Parallaxe und Entfernung der Planeten Mars und Venus in ihrem geringsten Abstand von der Erde durch Beobachtung ermittelt. Dom. Cassini leitete zuerst aus den Beobachtungen des Mars zur Zeit seiner Opposition eine Parallaxe von 25'' ab, und da die Entfernung des Mars von der Erde zur Zeit der Beobachtung 0,4 von der Entfernung der Erde von der S. betrug, so ergab sich daraus die Sonnenparallaxe = 0,4.25'' oder 10'', was eine Entfernung der S. von 20,700 Erdhalbmessern gibt. Statt des Mars kann man auch die Venus in ihrer Erdnähe beobachten. Dieselbe kehrt uns dann ihre dunkle Seite zu und ist nur sichtbar, wenn sie vor der Sonnenscheibe vorübergeht, wenn ein sogen. "Durchgang der Venus durch die S." stattfindet. Halley machte zuerst (1677) auf die Wichtigkeit der Venusdurchgänge für die Bestimmung der Sonnenparallaxe aufmerksam und schlug eine hierzu geeignete Beobachtungsmethode vor (1691 u. 1716). Seitdem sind alle Venusdurchgänge (9. Juni 1761, 2. Juni 1769, 8. Dez. 1874 und 6. Dez. 1882) mit größter Sorgfalt beobachtet worden. Aus den Beobachtungen von 1761 und 1769 hat Encke den Wert der Sonnenparallaxe zu 8,57116'' bestimmt, was eine Entfernung der S. gleich 24,043 Erdhalbmessern oder 20,682,000 geogr. Meilen gibt. Bis Anfang der 60er Jahre galt dieser Wert als der zuverlässigste. Eine neue Berechnung von Powalky, bei welcher genauere Werte für die Längen einiger Beobachtungsorte benutzt wurden, gab für die Sonnenparallaxe den größern Wert 8,855''. Ferner berechnete Newcomb aus den Beobachtungen des Mars zur Zeit seiner Opposition 1862, die nach einem von Winnecke entworfenen Plan auf zahlreichen Sternwarten angestellt wurden, den Wert 8,848''. Später hat Galle aus Oppositionsbeobachtungen des Planeten Flora, der im Oktober und November 1873 sich der Erde bis auf 0,87 Sonnenweiten näherte, den Wert 8,873'' berechnet, fast übereinstimmend mit der Zahl 8,879, welche Puiseux aus den französischen Beobachtungen des Venusdurchganges von 1874 abgeleitet hat. Leverrier hatte früher aus den Störungen der Venus den Wert 8,95'' berechnet, und ähnliche Werte, sämtlich größer als der Enckesche, sind von Hansen, Delaunay und Plana aus gewissen Ungleichheiten der Mondbewegung gefunden worden. Endlich kann man die Sonnenparallaxe auch finden, wenn man die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von astronomischen Beobachtungen bestimmt und die sogen. Lichtgleichung, d. h. die Zeit, in welcher das Licht von der S. zur Erde gelangt, oder auch den Aberrationswinkel (s. Aberration des Lichts) kennt. Nach den neuesten Versuchen von Newcomb beträgt aber die Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum 299,860 km, und daraus ergibt sich mit Nyréns Wert der Aberrationskonstanten (s. Aberration) eine Sonnenparallaxe von 8,794'', entsprechend einer Entfernung der S. von 149,61 Mill. km. Da eine Bearbeitung der sämtlichen Beobachtungen der Venusdurchgänge von 1874 und 1882 zur Zeit noch nicht vorliegt, so bedient man sich gewöhnlich des Newcombschen Wertes 8,85'' für die Sonnenparallaxe. Hiernach beträgt die mittlere Entfernung der S. 23,307 Erdhalbmesser = 148,670,000 km = 20,036,000 geogr. Meilen. Das Licht braucht 8 Min. 18 Sek. zur Zurücklegung dieses Wegs. Da die Exzentrizität der Erdbahn ungefähr 1/60 beträgt, so wird die Entfernung im Perihel um etwa 1/3 Mill. Meilen verkleinert, im Aphel um ebensoviel vergrößert. [Scheinbare und wahre Größe.] In mittlerer Entfernung erscheint der Sonnenhalbmesser unter einem Winkel von 16' 1,8'' oder 961,8''; daraus berechnet sich der wahre Durchmesser der S. = (961,8)/(8,85) = 108,556 Erddurchmessern = 1,387,600 km = 187,000 geogr. Meilen, also ungefähr 1 4/5 mal so groß als der Durchmesser der Mondbahn. Ein Bogen auf der Mitte der S., der uns unter einem Winkel von 1'' erscheint, hat eine Länge von 720 km, und selbst der feinste Spinnwebenfaden eines Mikrometers verdeckt noch gegen 200km. Die S. hat 11,800 mal soviel Oberfläche und 1,279,000 mal soviel Volumen als die Erde, 600 mal soviel als alle Planeten zusammen. Ihre Masse ist das 319,500 fache von der Erdmasse, mehr als das 700 fache aller Planetenmassen. Die mittlere Dichte aber ist nur 0,253 oder ungefähr 1/4 von der unsrer Erde, also 1,4 von der des Wassers. Da die Schwerkraft an der Oberfläche eines Himmelskörpers, abgesehen von den Wirkungen der Zentrifugalkraft, proportional ist dem Produkt aus mittlerer Dichte und Durchmesser, so ist dieselbe auf der S. 108,6.0,253 = 27,5 mal so groß als bei uns, und während ein Körper auf der Erde 4,9 m in der ersten Sekunde fällt, beträgt der Fallraum auf der S. 135 m. [Oberfläche.] Während bei Anwendung mäßiger Vergrößerung die leuchtende Oberfläche der S. , die Photosphäre, glatt und gleichförmig erscheint, erblickt man sie durch Instrumente von großer Öffnung mit starker Vergrößerung bei klarer und ruhiger Luft wie bedeckt mit leuchtenden, in ein weniger helles Netzwerk eingebetteten Körnern. Schon W. Herschel hat dieselben wahrgenommen und als "Runzeln" bezeichnet, später hat sie Nasmyth mit Weidenblättern, Secchi aber mit Reiskörnern verglichen. Sonne (Flecke und Fackeln, Rotation). Langley hat die Photosphäre ein wollig-wolkenartiges Aussehen, aber neben den verwaschen wolkenartigen Gebilden unterscheidet man noch zahlreiche schwache Fleckchen auf hellem Grund, und unter günstigen Umständen lösen sich die wolkenähnlichen Gebilde in eine Menge kleiner intensiv leuchtender Körner auf, die in einem dunklern Medium suspendiert erscheinen. Die erwähnten Fleckchen haben jetzt das Aussehen von Öffnungen oder Poren, entstanden durch Abwesenheit der weißen Wolkenknoten und Durchscheinen des dunklern Grundes; der Durchmesser beträgt bei den deutlicher wahrnehmbaren 2-4 Bogensekunden. Die hellen Knötchen oder Reiskörner Secchis bestehen nach Langley aus Anhäufungen kleiner Lichtpunkte von ungefähr 1/3'' Durchmesser. Janssen hat Photographien der S. bis zu einem Durchmesser von 30cm und mehr dargestellt, die unter der Lupe sehr deutlich die granulierte Beschaffenheit der Photosphäre zeigen. An Stellen, wo die Granulationen am deutlichsten ausgeprägt sind, besitzen die Elemente alle eine mehr oder minder kugelförmige Gestalt, und das um so mehr, je geringer ihre Größe ist. Der Durchmesser dieser Kugeln ist sehr verschieden, von wenigen Zehnteln der Bogensekunde bis zu 3 und 4''. Die ganze Oberfläche der Photosphäre erscheint in eine Reihe von mehr oder minder abgerundeten, oft fast geradlinigen, meist an Vielecke erinnernden Figuren abgeteilt, deren Größe sehr verschieden ist, oft einen Durchmesser bis zu 1' und darüber erreicht. Während nun in den Zwischenräumen dieser Figuren die einzelnen Körner bestimmt und gut begrenzt, obwohl von sehr verschiedener Größe sind, erscheinen sie im Innern wie zur Hälfte ausgelöscht, gestreckt oder gewunden; ja, am häufigsten sind sie ganz verschwunden, um Strömen von leuchtender Materie Platz zu machen, die an die Stelle der Granulationen getreten sind. Janssen hat diese Gestaltung als photosphärisches Netz bezeichnet. [Sonnenflecke, Rotation.] Ferner bemerkt man auf der Sonnenfläche schon bei schwachen Vergrößerungen bald einzelne, bald in Gruppen zusammenstehende dunklere Stellen, sogen. Sonnenflecke. Dieselben wurden zuerst 1610 von Fabricius wahrgenommen, 1611 auch von Galilei und von Scheiner in Ingolstadt entdeckt. Während ersterer die S. mit ungeschütztem Auge beobachtete, wenn sie in der Nähe des Horizonts stand, wandte Scheiner zuerst dunkel gefärbte Blendgläser an. Gegenwärtig polarisiert man auch das Licht im Fernrohr durch Reflexion und kann es dann durch abermalige Reflexion beliebig abschwächen (Helioskop von Merz). Vielfach beobachtet man auch das objektive Sonnenbild, das durch ein Äquatorial auf einer weißen Fläche entworfen wird. Auch wendet man jetzt nach dem Vorgang von Warren de la Rue häufig die Photographie an, um getreue Abbildungen der Sonnenfläche mit ihren Flecken etc. zu erhalten. Fig. 1 der Tafel "Sonne" zeigt den Anblick der S. nach einer Photographie von Rutherfurd in New York 23. Sept. 1870. Außer den Sonnenflecken zeigt dieselbe auch noch nach dem Rand hin helle Adern, sogen. Fackeln, in Silberlicht glänzende Streifen, die schon Galilei beobachtete. Die Sonnenflecke sind von sehr verschiedener Größe, oft nur als dunkle Punkte erkennbar, sogen. Poren, und oftmals 1000 Meilen und mehr im Durchmesser haltend. Schwabe beobachtete im September 1850 einen Fleck von 30,000 Meilen Durchmesser. Große Flecke von mehr als 50'' = 4800 Meilen Durchmesser sind auch mit bloßem Auge sichtbar, wenn man die S. durch dünnes Gewölk oder nahe am Horizont oder auch ein berußtes Glas beobachtet, und es sind solche schon vor Erfindung der Fernröhre, namentlich von den Chinesen, vereinzelt gesehen worden. An den größern Flecken unterscheidet man meist einen dunkeln Kern, den Kernfleck, bisweilen mit noch dunklern Stellen, Dawes' Centra. Diese Kerne sind umgeben mit einem matten, nach der leuchtenden Sonnenfläche gut abgegrenzten Hof oder Halbschatten (penumbra), ungefähr von der grauen Färbung der Mondmeere. Doch sind auch bisweilen rötliche Färbungen beobachtet worden, namentlich hat Secchi größere Flecke wiederholt wie durch einen rötlichen Schleier gesehen. Nicht selten fehlt übrigens die Penumbra, andre Male wieder der Gleich die ersten Beobachter bemerkten, daß die Sonnenflecke sich vom östlichen Rande der S. nach dem westlichen bewegen, und erklärten diese Bewegung richtig durch eine Rotation der S. um eine Achse. Die Bestimmung der Dauer der Rotation ist aber mit Schwierigkeiten verbunden, einesteils wegen der Veränderlichkeit, andernteils wegen der eignen Bewegung der Flecke, die nach Laugier bisweilen über 100m in der Sekunde beträgt. Verhältnismäßig nicht viele Flecke behalten ihre Gestalt so lange, daß man sie während mehrerer Rotationen verfolgen kann; viele ändern von einem Tag zum andern ihre Gestalt teils durch Zerfallen (s. Tafel, Fig. 2), teils durch Zusammenfließen mit andern derart, daß sie nicht wieder zu erkennen sind; andre verschwinden gänzlich, neue erscheinen. Das Auftreten neuer Fleckengruppen wird meist vorher angezeigt durch ausgedehnte helle Fackeln an der gleichen Stelle. Dessen ungeachtet hat man zahlreiche Flecke durch mehrere Rotationen beobachtet. Man findet nun, daß ein Fleck ungefähr 271/2 Tage nach seinem ersten Erscheinen sich wieder am Ostrand zeigt, und daraus ergibt sich, mit Berücksichtigung der Bewegung der Erde, die wahre Dauer einer Rotation der S. zu ungefähr 251/2 Tagen. Die genauere Bestimmung liefert aber für Flecke, die dem Sonnenäquator nahe sind, eine kürzere Dauer als für solche in höhern Breiten. Spörer fand z. B. für 1,5° heliographischer Breite 25,118 Tage, für 24,6° aber 26,216 Tage. Es deutet dies auf eine Bewegung der Flecke parallel zum Äquator. Außerdem aber ändern sich auch die Breiten, es zeigen die meisten Flecke eine Bewegung vom Äquator nach den Polen hin. Spörer vermutet, daß diese Bewegungen mit Winden auf der S. zusammenhängen. Nach seiner Bestimmung beträgt die Rotationszeit der S. 25,234 Tage, der Sonnenäquator ist um 6° 57' geneigt gegen die Ekliptik, und die Länge seines aufsteigenden Knotens ist 74° 36'; Carrington hat 25,38 Tage, 7° 15' und 73° 57' Bei der Rotation der S. zeigen die Flecke, den Regeln der Perspektive entsprechend, gewisse regelmäßige Formveränderungen: wenn ein Fleck sich vom Ostrand aus nach der Mitte der S. bewegt, so wird seine Ausdehnung parallel zum Äquator immer größer; entfernt er sich aber von der Mitte, so wird sie immer kleiner, während gleichzeitig seine Ausdehnung senkrecht zum Äquator ungeändert bleibt. Wilson in Glasgow beobachtete 1769 an einem großen Sonnenfleck, daß die Penumbra, als derselbe in der Mitte der S. stand, links und rechts ungefähr gleich groß, vor- und nachher aber, bei exzentrischer Stellung, allemal auf der dem Rande der S. zunächst liegenden Seite sich am breitesten zeigte. Wilson kam dadurch zu der Ansicht, daß die Penumbra gebildet werde durch die trichterförmig nach unten abfallenden, nur wenig leuchtenden Seitenwände einer Sonne (Korona, Protuberanzen etc.). der Lichthülle der S., durch welche wir deren dunkeln Kern erblicken. Daß der eigentliche Sonnenkörper dunkel sei, hatte schon Dom. Cassini (1671) behauptet; Bode (1776) und später W. Herschel haben der Wilsonschen Hypothese, daß der dunkle Kern der S. zunächst von einer wenig leuchtenden, wolkenähnlichen Hülle umgeben sei, über welche sich die eigentliche Lichthülle ausbreite, allgemein Eingang verschafft. Erst Kirchhoff (1861) machte darauf aufmerksam, daß die leuchtende Hülle der S. unmöglich bloß nach außen Licht und Wärme senden könne, daß vielmehr auch die unter ihr liegende wolkenartige Schicht und der Sonnenkörper selbst längst durch Leitung und Strahlung erwärmt und ins Glühen versetzt worden sein müßten. Aus diesen Gründen ist die Wilsonsche Hypothese aufgegeben worden. Die Sonnenflecke erscheinen nicht an allen Stellen der Sonnenoberfläche in gleicher Häufigkeit. In der Hauptsache sind sie beschränkt auf die Zonen zwischen 10 und 30° heliographischer Breite, die sogen. Königszonen. In der Nähe des Sonnenäquators selbst sind sie nur spärlich vorhanden, und ebenso finden sie sich selten jenseit des 35. Breitengrads. Ferner sind die Sonnenflecke nicht zu allen Zeiten gleich häufig, und es hat zuerst Schwabe 1843 aus seiner seit 1826 fortgesetzten Beobachtung auf eine etwa zehnjährige Periode der Häufigkeit geschlossen. Zu allgemeiner Anerkennung gelangte diese Behauptung namentlich durch die Diskussion älterer Fleckenbeobachtungen durch Wolf 1852. Derselbe fand eine mittlere Dauer der Periode von 11 1/9 Jahren mit Abweichungen von durchschnittlich 1 2/3 Jahren; etwa fünf solcher Perioden bilden wieder eine größere Periode, die durch die Höhe der Fleckenmaxima und die Tiefe der Minima charakterisiert ist. Merkwürdig ist das 1852 von Sabine, Gautier und Wolf erkannte Zusammentreffen der Sonnenfleckenperiode mit derjenigen der erdmagnetischen Störungen und Variationen. Später hat man auch in den Erscheinungen der Nordlichter, des Regenfalls, der Stürme etc. dieselbe Periode zu erkennen geglaubt; auch hatte schon W. Herschel einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Sonnenflecke und der Fruchtbarkeit der einzelnen Jahre zu erkennen geglaubt. Vgl. Hahn, Über die Beziehungen der Sonnenfleckenperiode zu meteorologischen Erscheinungen (Leipz. 1877); Fritz, Die Beziehungen der Sonnenflecke zu den magnetischen und meteorologischen Erscheinungen der Erde (Haarlem 1878). [Korona und Protuberanzen.] Bei totalen Sonnenfinsternissen erscheint der vor der S. stehende Mond rings umgeben mit einem silberglänzenden, wallenden Lichtschimmer, aus dem einzelne, oft wunderbar gekrümmte Strahlengruppen hervorschießen. Es ist dies die sogen. Korona. Außerdem aber hat man auch noch bei diesen Gelegenheiten eigentümliche rosenrote Gebilde am Sonnenrand bemerkt, die bald wie Berge oder Flammen an der S. haften, bald wie Wolken frei schweben, die Protuberanzen (vgl. Tafel "Sonne", Fig. 3). Solche Protuberanzen sind bereits 1733 von Vassenius in Gotenburg beobachtet und abgebildet worden; ihr genaueres Studium beginnt aber erst mit der Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842, wo Arago, Airy, Schumacher u. a. sie wahrnahmen; 1860 wurden sie bereits photographiert, und 1867 glückte es Rziha, bei Ragusa eine Protuberanz während einer zehnzölligen ringförmigen Finsternis zu beobachten. Endlich haben 1868 Lockyer, Janssen, Huggins und Zöllner Methoden angegeben, um diese Gebilde auch bei vollem Sonnenschein zu beobachten. Als Mittel hierzu dient das Spektroskop. Das Sonnenspektrum ist ein kontinuierliches Spektrum, welches von zahlreichen dunkeln (Fraunhoferschen) Linien unterbrochen wird, die genau dieselbe Stelle einnehmen wie die hellen Linien in den Spektren verschiedener Metalldämpfe. Kirchhoff zeigte, daß ein jedes glühende Gas ausschließlich Strahlen von der Brechbarkeit derer schwächt, die es selbst aussendet, so daß die hellen Linien eines glühenden Gases in dunkle verwandelt werden müssen, wenn durch dasselbe Strahlen einer Lichtquelle treten, die hinreichend hell ist und an sich ein kontinuierliches Spektrum gibt. Um also die dunkeln Linien des Sonnenspektrums zu erklären, muß man annehmen, daß die Sonnenatmosphäre einen leuchtenden Körper umhüllt, der für sich allein ein kontinuierliches Spektrum gibt. Die wahrscheinlichste Annahme scheint Kirchhoff die zu sein, daß die S. aus einem festen oder tropfbarflüssigen, in der höchsten Glühhitze befindlichen Kern besteht, der umgeben ist von einer Atmosphäre von etwas niedrigerer Temperatur. Durch das erwähnte Zusammentreffen der Fraunhoferschen mit den hellen Linien in den Spektren gewisser Metalldämpfe ist zugleich die Anwesenheit der letztern in der Sonnenatmosphäre nachgewiesen, und man hat auf diese Weise gefunden, daß Natrium, Calcium, Baryum, Magnesium, Eisen, Chrom, Nickel, Kupfer, Zink, Strontium, Kadmium, Kobalt, Wasserstoff, Mangan, Aluminium, Titan in der Sonnenatmosphäre vorkommen; Wasserstoff und Eisendampf bilden die Hauptgemengteile. Die Sonnenflecke zeigen nach Huggins und Secchi dasselbe Spektrum wie die übrige Sonnenfläche, nur sind die dunkeln Linien breiter; Secchi schließt daraus, daß in ihnen die metallischen Dämpfe sich im Zustand größerer Dichte befinden. Die Protuberanzen aber zeigen ein Linienspektrum mit den hauptsächlichsten Linien des Wasserstoffs und einigen Eisenlinien. Darauf beruht die Möglichkeit, diese Gebilde bei hellem Sonnenschein selbst auf der Sonnenscheibe zu beobachten. Man bringt nämlich im Spektroskop eine größere Anzahl Prismen an, durch welche das Spektrum des störenden Sonnenlichts so vergrößert wird, daß es nicht mehr blendet; dagegen bleibt die Protuberanz im Licht einer der hellen Wasserstofflinien sichtbar, wenn man den Spalt weit öffnet (Lockyer, Zöllner). Man weiß gegenwärtig, daß die Protuberanzen in der Hauptsache aus glühendem Wasserstoff bestehen, der in Massen von mannigfachster Form bis zur Höhe von 1-3', ja in einzelnen Fällen bis über 4' Höhe (23,000 geogr. Meilen) mit rasender Schnelligkeit (über 20 geogr. Meilen in der Sekunde) aufsteigt. Durch die Neigung der obern Teile der Protuberanzen gibt sich eine in den höhern Schichten der Atmosphäre herrschende Strömung nach den Polen kund. Eine Hülle glühenden Wasserstoffgases umgibt auch den ganzen Sonnenkörper, in der Fleckenregion fast zu 6000 Meilen, anderwärts nur etwa zu 1000 Meilen aufsteigend, die sogen. Chromosphäre, welche namentlich in mittlern Breiten zahlreiche haarförmige Hervorragungen zeigt. Die Korona endlich gibt ein kontinuierliches Spektrum mit einigen hellen Linien, darunter einer grünen Eisenlinie, die auch im Nordlichtspektrum auftritt. Zwischen Protuberanzen und Fackeln besteht eine enge Beziehung; es treten durchschnittlich die schönsten Protuberanzen in der Region der Fackeln auf, und Secchi versichert, noch niemals eine einigermaßen glänzende Fackel am Sonnenrand selbst angetroffen zu haben, ohne daselbst zugleich eine Protuberanz oder wenigstens eine höhere Erhebung und Sonneberg - Sonnenberg. einen stärkern Glanz der Chromosphäre zu sehen. Spörer hält die Protuberanzen für Vorläufer später erscheinender Fleckengruppen. Fig. 4-6 auf Tafel "Sonne" zeigen eine Anzahl Protuberanzen: Fig. 4 I eine Protuberanz von 2' (11,500 geograph. Meilen) Höhe 3 Uhr 45 Min., II, III, IV eine andre von 35 bis 40'' (3400-3800 Meilen) Höhe 6 Uhr 45 Min., 55 Min. und 57 Min.; Fig. 5 I 2. Juli 1869, 11 Uhr 35 Min., Höhe 65'' (6300 Meilen), II 4. Juli, 9 Uhr, Höhe 40'' (3800 Meilen), III und IV eine Protuberanz von 50-60'' (4800-5700 Meilen) Höhe 4. Juli, II Uhr 50 Min. und 12 Uhr 50 Min. [Temperatur.] Über die Temperatur, welche auf der Oberfläche der S. herrscht, gehen die Ansichten der Forscher weit auseinander: während Zöllner aus theoretischen Erwägungen über 27,000° C. findet, hat Secchi aus aktinometrischen Messungen 5-6 Mill. Grad als untere Grenze abgeleitet. Aus solchen Messungen haben aber anderseits Pouillet und neuerdings wieder Vicaire und Violle bloß 1500° gefunden. Diese verschiedenen Resultate sind Folge verschiedener Annahmen des Wärmestrahlungsgesetzes, dessen Form uns freilich nur innerhalb ziemlich enger Temperaturgrenzen sicher bekannt ist. Licht- und Wärmestrahlung sind infolge der Absorption in der Sonnenatmosphäre am Rand geringer als in der Mitte der Sonnenscheibe. Secchi fand die Wärmestrahlung am Rand nur halb so groß als in der Mitte, auch am Äquator bedeutender als an den Polen. Langley hat 1874 diese ältern Beobachtungen bestätigt gefunden. Die Flecke strahlen weniger Wärme aus als die benachbarte Sonnenfläche (Henry 1845); doch gibt nach Langley selbst ein Kernfleck noch mehr Wärme als ein gleich großes, hell leuchtendes Randstück. [Theorie der Sonne.] Nach Kirchhoffs Ansicht, die auch von Spörer, Zöllner u. a. in der Hauptsache adoptiert worden ist, besteht die S. aus einem in der höchsten Glühhitze befindlichen Kern, der von einer Atmosphäre von niedrigerer Temperatur umgeben ist. Die Sonnenflecke sind Wolken, die Kernflecke werden durch tiefer liegende dichtere, die Höfe durch darübergelagerte dünnere und ausgebreitetere Wolken gebildet. Zöllner dagegen hält die Kernflecke für Schlackenmassen, die sich auf der glühend flüssigen Sonnenoberfläche durch Abkühlung gebildet haben und sich auch infolge der in der Sonnenatmosphäre erzeugten Gleichgewichtsstörungen von selbst wieder auflösen. Diesen Anschauungen gerade entgegengesetzt, denkt sich Faye die Sonnenmasse als einen gasförmigen, infolge seiner hohen Temperatur in einem Zustand allgemeiner physischer und chemischer Dissociation befindlichen Körper, an dessen durch Strahlung etwas erkalteter Oberfläche sich chemische Verbindungen bilden können, welche aber sofort wieder untersinken und durch neue ersetzt werden; die Lichthülle oder Photosphäre ist daher diese in beständiger Neubildung begriffene Oberfläche. Wird diese Hülle an einer Stelle durch aufsteigende Strömungen unterbrochen, oder werden Teile des Innern an die Oberfläche gebracht, in denen der chemische (Verbrennungs-) Prozeß nicht thätig ist, so haben wir den Anblick eines Sonnenflecks. Während nach diesen und andern Theorien die S. allmählich kälter wird, hat neuerdings William Siemens ("Die Erhaltung der Sonnenenergie", deutsch, Berl. 1885) eine Theorie aufgestellt, nach welcher die von der S. ausgestrahlte Energie derselben beständig wieder zugeführt wird. Vgl. Faye, Sur la constitution physique du soleil (in den "Comptes-rendus" 1865 ff.); Secchi, Die S. (deutsch von Schellen, Braunschw. 1872); Young, Die S. (Leipz. 1883); kürzere Darstellungen von Reis (das. 1869) und Hirsch (Basel 1874). Sonneberg, Kreisstadt im Herzogtum Sachsen-Meiningen, 3 km lang, eng eingeklemmt zwischen Bergen an der Südseite des Thüringer Waldes (der neue Stadtteil liegt in der Ebene), an der Röthen, der Zweigbahn Koburg-S. (Werrabahn) und der Sekundärbahn S.-Lauscha, hat eine schöne neue Kirche im gotischen Stil, eine Wasserheilanstalt, blühende Industrie und (1885) 10,247 Einw. S. ist namentlich berühmt als Mittelpunkt der vielen umliegenden Fabrikorte, in welchen wie in der Stadt selbst die sogen. Sonneberger Spielwaren (aus Holz und Papiermaché), Attrappen, Masken, Glas-, Porzellan- und Eisenwaren geliefert und von hier aus im Wert von jährlich 7,5 Mill. Mk. nach allen Weltgegenden hin versandt werden. Außerdem liefert S. Farben, Schiefertafeln, Schieferstifte, Schleif- und Poliersteine, Lederarbeiten etc. und hat Brauereien, Masse-, Loh- und Schneidemühlen und Ziegelhütten. S. hat ein Amtsgericht und eine Realschule und ist Sitz eines Landratsamtes, eines Forstdepartements und eines Konsulats der Vereinigten Staaten von Amerika. Vgl. Fleischmann, Gewerbe, Industrie und Handel des meiningenschen Oberlandes (Hildburgh. 1876 Sonnefeld, Flecken in Sachsen-Koburg, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht und 1180 Einw.; in der Umgegend Verfertigung von Korbwaren. Sonnemann (eigentlich Saul), Leopold, Journalist, geb. 29. Okt. 1831 zu Höchberg in Unterfranken von jüdischen Eltern, wurde erst Kaufmann, gründete 1856 die in Handelskreisen einflußreiche "Frankfurter Zeitung" und ist seit 1867 alleiniger Eigentümer und Herausgeber derselben. Auch war er Mitbegründer des volkswirtschaftlichen Kongresses und langjähriger Referent über Bankwesen in demselben. 1871-76 und 1878-84 Mitglied des deutschen Reichstags, trat er, der Haltung seiner Zeitung entsprechend, als Vertreter der deutschen Volkspartei meist oppositionell auf, stimmte gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen, unterstützte die Beschwerden der elsässischen Protestler und der Sozialdemokraten und beteiligte sich positiv nur an der Beratung über das Münz- und Bankgesetz sowie über den Zolltarif. Sonnenbad, Bestrahlung des menschlichen Körpers durch die Sonne zu Heilzwecken. Sonnenbahn, s. v. w. Ekliptik (s. d.). Sonnenbaum, s. Retinospora. Sonnenberg, Franz Anton Joseph Ignaz Maria, Freiherr von, Dichter, geb. 5. Sept. 1779 zu Münster, entwarf schon auf dem Gymnasium in Münster nach Klopstocks "Messiade" den Plan zu einem Epos: "Das Weltende" (Bd. 1, Wien 1801), das alle Fehler einer wilden Phantasie, eines regellosen Umrisses und einer schwülstigen Diktion vereinigt. Er studierte die Rechte, doch nicht aus Neigung, lebte späterhin zurückgezogen in Jena und arbeitete hier an einem zweiten Epos: "Donatoa", abermals einem Gemälde des Weltuntergangs, welches dergestalt seine ganze Seele erfüllte, daß er Schlaf und Speise, Umgang und jede Lebensfreude dafür aufopferte. Er endete 22. Nov. 1805 freiwillig in Jena durch einen Sturz aus dem Fenster. Auch in "Donatoa" (Rudolst. 1806, 2 Bde., mit Biographie von Gruber) erscheint S. als ein Nacheiferer Klopstocks. Bei allen Fehlern in Plan und Ausführung zeigen einzelne Stellen eine gewisse Kraft und Hoheit und eine tiefe Innigkeit des Gemüts. Aus seinem Nachlaß erschienen auch "Gedichte" (Rudolst. 1808). Sonnenblume - Sonnenfinsternis. Sonnenblume, s. Helianthus. Sonnenblumenöl, fettes Öl, durch Pressen aus den Samen von Helianthus annuus gewonnen (Ausbeute 15 Proz.), ist hellgelb, schmeckt sehr rein, erstarrt bei -16°, trocknet, dient als Speiseöl, zur Verfälschung des Baumöls, zum Malen etc. Sonnenburg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis Oststernberg, an der Lenze und dem Warthebruch, hat eine evang. Kirche, ein Schloß aus dem 16. Jahrh. (einst Sitz eines Johanniter-Herrenmeisters, jetzt Sitz des neuen preußischen Johanniterordens), ein Johanniterkrankenhaus, eine Strafanstalt, ein Amtsgericht, Seidenweberei, Filzfabrikation, eine Bilderrahmen-, eine Messingstift- und eine Blechemballagenfabrik, Ziegelbrennerei, Dampfmühle und (1885) 6226 meist evang. Einwohner. Sonnendarre, s. Samendarre. Sonnendistel, s. Carlina. Sonnenfackeln, s. Sonne, S. 29. Sonnenfels, Joseph von, Schriftsteller, geb. 1732 zu Nikolsburg in Mähren, besuchte die dortige Schule der Piaristen und wollte Mönch werden, wählte aber den Soldatenstand und diente fünf Jahre im Deutschmeisterregiment zu Klagenfurt und Wien, wo er seine Entlassung nahm. Hierauf beschäftigte er sich in Wien mit Rechtsstudien und arbeitete als Gehilfe bei einem höhern Justizbeamten. Zugleich suchte er die Wiener mit der neuern deutschen Litteratur, die neben und nach den Erzeugnissen der Gottschedschen Schule frisch aufgeschossen war, bekannt zu machen, gründete zu diesem Behuf 1761 eine Deutsche Gesellschaft in Wien, schrieb Wochenblätter ("Der Mann ohne Vorurteile", 1773) und eiferte in gleicher Weise gegen die Versunkenheit der Wiener Bühne, zu deren Reform er durch seine "Briefe über die wienerische Schaubühne" (Wien 1768, 4 Bde.; Neudruck 1884) wesentlich beitrug, wie gegen die Tortur, welche infolge seiner Schrift "Über Abschaffung der Tortur" (Zürich 1775) in ganz Österreich wirklich beseitigt wurde. S. hatte inzwischen (1763) die Professur der politischen Wissenschaften an der Wiener Universität erhalten; später wurde er von der Kaiserin Maria Theresia zum Rat, 1779 zum Wirklichen Hofrat bei der Geheimen böhmischen und österreichischen Hofkanzlei und zum Beisitzer der Studien- und Zensurkommission, endlich 1810 zum Präsidenten der k. k. Akademie der bildenden Künste ernannt. Er starb 25. April 1817. Auch auf dem Gebiet des peinlichen Rechts, der Polizei und des Finanzwesens hat er sich durch Anregung wesentlicher Verbesserungen großes Verdienst erworben. Diesem Zweck dienten namentlich das "Handbuch der innern Staatsverwaltung" (Wien 1798) und besonders die "Grundsätze der Polizei, Handlung und Finanz" (das. 1804, 3 Tle.). Auf der Elisabethbrücke zu Wien wurde seine Statue (von Hans Gasser) errichtet. Seine "Gesammelten Schriften" erschienen Wien 1783-87, 13 Bände. Vgl. W. Müller, Joseph v. S. (Wien 1882); Kopetzky, Joseph und Franz v. S. (das. 1882); v. Görner, Der Hanswurststreit in Wien und Joseph v. S. (das. 1885); Simonson, I. v. S. und seine "Grundsätze der Polizei" (Leipz. 1885). Sonnenferne und Sonnennähe, s. Aphelium. Sonnenfinsternis, Himmelserscheinung, bei welcher die Sonne für eine gewisse Gegend der Erde ganz oder teilweise durch den Mond verdeckt wird. Der Name S. ist insofern unrichtig, als die Sonne nicht verfinstert, wie der Mond bei einer Mondfinsternis, sondern lediglich durch den Mond für das Auge des Beobachters verdeckt wird. Während daher eine Mondfinsternis überall, wo der Mond über dem Horizont steht, in demselben Augenblick und in gleicher Größe gesehen wird, wird eine S. an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedener Form beobachtet. Eine S. kann nur zur Zeit des Neumondes eintreten, und es würde bei jedem Neumond eine solche stattfinden, wenn die Bahn des Mondes mit der Erdbahn in einer Ebene läge. Da aber beide Ebenen einen Winkel von 5° 8' einschließen, so kann eine S. nur eintreten, wenn sich der Mond als Neumond in der Nähe eines Knotens, höchstens 19° 44' von demselben entfernt, befindet. Die verschiedene Größe der Finsternis hängt davon ab, in welchem Teil des Mondschattens sich der Beobachter befindet. Ist in Fig. 1 S der Mittelpunkt der Sonne, M derjenige des Mondes, so ist der kegelförmige Raum ABC der Kernschatten des Mondes; innerhalb desselben ist die Sonne vollständig durch den Mond verdeckt, die S. ist für einen Beobachter in diesem Raum total. Damit eine solche S. eintrete, darf der Mond nicht über 13 1/3° vom Knoten entfernt sein; auch muß der Mond sich nahezu in seiner Erdnähe befinden, denn sonst erreicht die Spitze des Kernschattens die Erde gar nicht. Der Kernschatten ist rings umgeben von dem Halbschatten, dessen kegelförmige Grenze durch die Linien AD und BE angedeutet wird. Ein Beobachter innerhalb dieses Raums sieht nur einen Teil der Sonne und zwar einen um so größern, je näher dem Rand er steht. Ein Beobachter in F, Fig. 2, sieht die Sonne, wie es bei K angegeben ist; die Finsternis ist für ihn (in diesem Augenblick) partiell. Befindet sich ferner der Beobachter auf der Verlängerung der Linie SM, so ist für ihn die Finsternis zentral, der Mondmittelpunkt geht über den Sonnenmittelpunkt weg; vgl. Fig. 3 und 4, wo G den Beobachtungspunkt, L die S. darstellt. In Fig. 3 liegt G im Kernschatten, der Mond Sonnenfisch - Sonnenkultus. größer als die Sonne: die S. ist total. In Fig. 4 aber liegt G jenseit der Spitze des Kernschattens, der Mond erscheint kleiner als die Sonne, und ein leuchtender Ring der letztern umgibt ihn: die S. ist ringförmig. Jede totale S. beginnt und endigt mit einer partiellen. Wenn man eine Finsternis für einen bestimmten Ort schlechthin als partiell bezeichnet, so bedeutet dies, daß auch zur Zeit der stärksten Verdeckung noch ein Teil der Sonne sichtbar ist. Man gibt die Größe einer S. in der Weise an, daß man den scheinbaren Sonnendurchmesser in zwölf gleiche Teile, Zolle genannt, teilt und angibt, wieviel solcher Teile bei der stärksten Verfinsterung bedeckt werden; die S. K in Fig. 2 ist also neunzöllig. Eine totale Finsternis ist nur von kurzer Dauer, denn durch die vereinigte Wirkung der Erdrotation und der Bewegung des Mondes werden schnell andre als die anfänglich getroffenen Punkte der Erde in den Kernschatten des Mondes geführt. Für einen einzelnen Ort und zwar am Äquator kann sie höchstens 8 Minuten währen, und für die ganze Erde ist ihre größte mögliche Dauer 4 Stunden 38 Minuten. Die Zone, innerhalb deren eine S. total ist, kann am Äquator nur eine Breite von etwa 30 Meilen haben (gleich dem Durchmesser des Kernschattens an dieser Stelle); in polaren Gegenden der Erde dagegen kann diese Breite gegen 200 Meilen erreichen. Die Längenausdehnung der Zone der Totalität beträgt nicht selten Tausende von Meilen. Östlich und westlich sowie nördlich und südlich von der schmalen Zone der Totalität liegen diejenigen Gegenden, die von dem Halbschatten des Mondes getroffen werden, in denen also die Finsternis nur partiell und zwar um so unbedeutender ist, je mehr ihr Abstand von jener Zone beträgt. Mit Einschluß der partiellen Finsternis östlich und westlich von der Totalitätszone kann eine S. im äußersten Fall eine Gesamtdauer von etwa 7 Stunden haben. Unmittelbar vor und nach der totalen Finsternis erscheint die Sonne als schmale Sichel, die aber weniger als den Halbkreis umfaßt, weil der Mond größer erscheint als die Sonne. Die Berge und Thäler am Rande des Mondes sind dann selbst bei mäßiger Vergrößerung mit einer sonst nie zu erreichenden Schärfe sichtbar. Während der totalen Finsternis selbst entsteht eine eigentümliche Dunkelheit, der Himmel erscheint grünlichblau, einige der hellern Sterne werden sichtbar; die schwarze Mondscheibe aber ist mit einem lebhaft glänzenden, in heftiger Wallung begriffenen breiten Lichtring, der Korona, umgeben, von welchem gelbe Strahlen ausgehen. Auch gewahrt man am Rande des Mondes die Protuberanzen (vgl. Sonne und Tafel "Sonne"). Partielle Sonnenfinsternisse sind in der Regel nicht von besondern Erscheinungen begleitet; nur wenn mehr als drei Viertel der Sonnenscheibe verfinstert werden, bemerkt man eine Abnahme der Tageshelle. Die Sonnenfinsternisse sind im allgemeinen häufiger als die Mondfinsternisse. Innerhalb 18 Jahren (der von den Chaldäern mit dem Namen Saros belegten Periode von 18 Jahren 11 Tagen = 223 synodischen oder 242 Drachenmonaten) ereignen sich nur etwa 29 Mondfinsternisse, dagegen 40 Sonnenfinsternisse, für einen bestimmten Ort aber nur 9, und unter diesen ist alle 200 Jahre ungefähr eine totale oder ringförmige. Die letztern sind ungefähr gleich selten. - über die Vorausbestimmung der Sonnenfinsternisse durch Rechnung oder Zeichnung vgl. Drechsler, Die Sonnen- und Mondfinsternisse (Dresd. 1858); Oppolzer, Kanon der Finsternisse (hrsg. von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien Sonnenfisch (Zeus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der Stachelflosser und der Familie der Makrelen (Scomberoidei), Fische mit länglich eirundem, hohem, seitlich stark zusammengedrücktem Körper, vorstreckbarem Maul, schwachen, nicht zahlreichen Zähnen, einfacher oder doppelter Rückenflosse, unter oder vor den kleinen Brustflossen stehender Bauchflosse und nackter oder mit kleinen Schuppen bedeckter Haut. Sie bewohnen nur das Meer, besonders in niedern Breiten. Der Heringskönig (Peters-, Christus-, Martinsfisch, Z. faber L.), 1-1,25 m lang und 15-20 kg schwer, mit zwei getrennten Rückenflossen, von denen die erste verlängerte, in Fäden auslaufende Strahlen besitzt, zwei getrennten Afterflossen, welche die Bildung der Rückenflosse bis zu einem gewissen Grad wiederholen, großen Bauch-, kleinen Brustflossen und gabelförmigen Stacheln auf der Bauchschneide, ist im Norden graugelb, im Mittelmeer oft goldfarben, mit einem runden, schwarzen Fleck auf jeder Seite, bewohnt das Atlantische und das Mittelmeer, kommt nicht selten an den englischen Küsten vor, bevorzugt die hohe See, lebt einzeln, folgt aber den Zügen des Pilchards an die Küste, nährt sich von Fischen, Sepien und Krustern und wird seines schmackhaften Fleisches halber seit dem Altertum Sonnenflecke, s. Sonne, S. 29. Sonnengeflecht, s. Plexus. Sonnengläser, Scheiben aus dunkel gefärbtem (London smoke) oder schwach versilbertem Glas, welche bei Beobachtung der Sonne zur Dämpfung des Lichts am Okular des Fernrohrs angebracht werden. Zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis ohne Fernrohr genügt ein Stück über einer Flamme gleichmäßig angerußtes Fensterglas. Sonnengold, Pflanze, s. Helichrysum. Sonnengott, s. Apollon und Helios. Sonnenherde, geheiligte Viehherde des Sonnengottes (Helios). Es gab deren mehrere im Altertum, zu Erytheia, Apollonia und auf Thrinakia. Am bekanntesten ist die letztere durch die Odyssee geworden. Es waren sieben Herden Kühe und sieben Herden Lämmer, jede zu 50 Stück, an denen der Sonnengott seine Freude hatte; als die Gefährten des Odysseus, von Hunger getrieben, einige derselben schlachteten, zürnte Helios unversöhnlich und sendete Unheil. Wahrscheinlich werden durch die 7*50 Kühe und Lämmer die Tage und Nächte des Mondjahrs angedeutet. Auch der Stier des Minos auf Kreta gehörte zu einer S. Der Gigant Alkyoneus hatte die Rinder des Helios von Erytheia weggetrieben; Herakles erlegte ihn. Sonnenjahr, die Zeit eines Umlaufs der Erde um die Sonne, Sonnenkälbchen, s. Marienkäfer. Sonnenkorn, s. Ricinus. Sonnenkultus (Sonnenanbetung), die Verehrung der Sonne als einer Licht und Wärme spendenden Gottheit, von deren Wohlwollen alles Leben auf der Erde abhängt. Bei niedrig stehenden Völkern äußert sich der S. hauptsächlich nur in den Zeremonien, die bei Sonnenfinsternissen zur Verscheuchung des Ungeheuers angewendet werden, welches nach Ansicht derselben die Sonne zu verschlingen droht, gewöhnlichen Gestalt eines Wolfs oder Dämons gedacht, den man ebenso wie den Mondwolf mit Lärm, Geschrei und Bogenschüssen zu verscheuchen sucht. Auf höherer Stufe, die in der kulturgeschichtlichen Entwickelung in der Regel mit der Kupfer- oder Bronzezeit zusammenfällt, fand der mit Opfern und Zeremonien verknüpfte Kultus gewöhnlich in Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Sonnenlehen - Sonnenmikroskop. Anlehnung an ein Sonnenepos statt, in welchem das Lichtprinzip (Surya der Inder, Ormuzd der Perser, Izdubar oder Nimrod der Assyrer, Osiris der Ägypter, Herakles der Phöniker und ältern Griechen, Dionysos der spätern Griechen, Balder der Germanen etc.) im Kampf mit den Mächten der Finsternis (Ahriman, Typhon, Loki etc.) gedacht wurde, bald in Form einer Siegesreise durch die zwölf Himmelszeichen (die zwölf Thaten des Herakles), bald eines Einzelkampfes dargestellt, bei welchem der Sonnengott zeitweise (im Winter) unterliegt, in Fesseln geschlagen, gebunden und geschwächt, auch wohl verstümmelt wird, weil seine Strahlen alsdann keine Kraft haben, aber allmählich wieder erstarkt und über seine Gegner siegt. Als die Hauptfeste dieses Kultus wurden die Zeit der wieder erstarkenden Sonne, das alte Julfest, und das der Sonnenstärke (Mittsommerfest) der germanischen Stämme begangen. Einige Völker feierten auch Klagefeste zur Zeit der verwundeten Sonne oder des absterbenden Naturlebens, die Adonis-, Osiris- und Thammuzfeste der assyrischen, ägyptischen und semitischen Völker, die Dionysien und Bacchusfeste der Griechen und Römer, die sich in Frühlings- und Herbstfeier schieden. Bei manchen Völkern, wie z. B. den Persern, Altmexikanern und Peruanern, fand eine Verschmelzung des Sonnen- und Feuerdienstes (s. d.) statt, und die Sonnenopfer mußten an den Hauptfesten mit neuem oder Notfeuer (s. d.) entzündet werden. In spätern Zeiten wurde der Sonnengott dann auch wohl als Mittler- und Versöhnungsgott gefeiert, namentlich im indischen Agni, im persischen Mithra und griechisch-italischen Dionysos. Vielfach scheint dem ausgebildeten S. ein Mondkultus mit nächtlichen Mysterien und weiblicher Priesterschaft vorausgegangen zu sein, namentlich bei solchen Völkern, wo das Mutterrecht (s. d.) galt und Frauen an der Spitze der Gemeinwesen standen (Amazonenstaaten). Ein solcher Kultus findet sich noch heute unter ähnlichen Verhältnissen bei wilden Völkern Afrikas und Amerikas, und da Ähnliches in der alten Welt stattgefunden, so erklärt sich, weshalb die Sonnengottheiten zugleich als Schützer des Vaterrechts und Unterdrücker der Amazonen galten, namentlich Apollon, Herakles, Perseus und andre Sonnenkämpfer. Vgl. Dupuis, L'origine de tous les cultes (Par. 1795, 3 Bde.; neue Ausg. 1835-37). Sonnenlehen, ehedem Bezeichnung für Besitzungen, die in niemandes Lehen, vielmehr im vollen Eigentum der Besitzer standen, bei welchen aber die Sonne als Lehnsherrin fingiert Sonnenmaschine, eine Kraftmaschine zur Umsetzung der von der Sonne gespendeten Wärme in mechanische Arbeit. Der Gedanke, die Sonnenwärme zur Arbeitsleistung heranzuziehen, ist alt; doch war erst nach der Ausbildung der mechanischen Wärmetheorie eine Beurteilung der von einer solchen Maschine zu erwartenden Leistung möglich. Nach Versuchen von Pouillet, Herschel und Ericsson beträgt die nutzbar zu machende Wärmemenge der Sonne pro Quadratmeter der Erdoberfläche zwischen dem Äquator und dem 43. Breitengrad etwa 10 Kalorien pro Minute (1 Kalorie oder Wärmeeinheit ist die zur Erwärmung von 1 kg Wasser um 1° C. erforderliche Wärmemenge), also 1/6 Kalorie pro Sekunde. Da nun 1 Kalorie einer Arbeitsmenge von 426 Meterkilogramm gleichwertig ist, so erhält man pro Quadratmeter 1/6*426=71 Meterkilogramm pro Sekunde oder 71/75 = 0,95 Pferdekräfte. Um die erforderlichen Temperaturen zu erzielen, muß die Sonnenwärme mittels großer Reflektoren konzentriert werden, wozu sich nach Provostaye und Desains Silberspiegel am besten eignen, welche 92 Proz. der auffallenden Wärme zurückstrahlen. Ferner ist es nötig, den mit der Sonnenwärme zu heizenden Körpern (Dampfkesseln, Heiztöpfen) eine möglichst gut wärmeabsorbierende Oberfläche zu geben (nach Melloni absorbieren mit Lampenruß geschwärzte Metallflächen unter Glasbedeckung die Wärmestrahlen am besten). Die bisher zur Verwertung der Sonnenwärme benutzten Maschinen sind Heißluft- oder Dampfmaschinen. Ericssons S. besteht aus einer Heißluftmaschine (s. d.), deren Heiztopf in dem Brennpunkt eines paraboloidisch gestalteten Brennspiegels liegt. Mouchot heizt einen Dampfkessel mittels Sonnenstrahlen, indem er ihn in Gestalt von kupfernen, mit Ruß überzogenen und von einer Glasglocke überdeckten Röhren in den linearen Fokus eines trichterförmigen, aus versilberten Blechplatten gebildeten Reflektors stellt. Der ganze Apparat ist auf einem Gelenksystem so angebracht, daß er mit seiner Achse leicht dem Lauf der Sonne folgen kann. Dieser Kessel lieferte mit einem Sonnenrezeptor von 3,8 qm Bestrahlungsfläche zur Winterzeit in Algier 5100 Lit. Dampf von normalem Druck = 3,1 kg Dampf, welcher ca. 2000 Kalorien enthält, so daß pro Minute und pro Meter Bestrahlungsfläche 2000/60.3,8 = 8 2/3 Kalorien oder 87 Proz. der angegebenen 10 pro Quadratmeter Fläche disponibeln Kalorien durch Dampfbildung nutzbar gemacht wurden, während der Rest durch unvollständige Reflexion und Absorption verloren ging. Eine mit dem Kessel betriebene kleine Dampfmaschine leistete eine Arbeit von 8 Meterkilogramm pro Sekunde oder 8/75 = ungefähr 1/9 Pferdekraft, während nach obigen Angaben in der auf 3,8 qm Fläche fallenden Sonnenwärme 3,8.0,95 = 3,6 Pferdekräfte disponibel sind, so daß nur 8.100/75.3,6 = 3 Proz. der Sonnenwärme ausgenutzt werden. Demnach wären für eine S. von nur 1 Pferdekraft 9.3,8 = 35 qm und für eine S. von 100 Pferdekräften 3500 qm Bestrahlungsfläche erforderlich. Dieses ungünstige Resultat rührt jedoch nicht von der Wärmeübertragung her, die ja 87 Proz. der Wärme nutzbar macht, sondern ist in der Natur der Dampfmaschine begründet, welche auch in der besten Ausführung nur etwa 5-6 Proz. der Wärme eines Brennmaterials in Arbeit verwandeln kann, während alle übrige Wärme teils durch Strahlung, teils durch den Schornstein, zum größten Teil jedoch durch den abziehenden Dampf, bez. das Kondensationswasser verloren geht. Solange es daher keine Maschine gibt, welche die Wärme bedeutend besser ausnutzt als die Dampfmaschine, wird die S. schwerlich, auch nicht in den für sie günstigsten Tropenländern, eine nennenswerte Verwendung finden Sonnenmesser, s. v. w. Heliometer (s. d.). Sonnenmikroskop, Vorrichtung, um vergrößerte Bilder sehr kleiner Gegenstände auf einem Schirm, für viele Zuschauer gleichzeitig sichtbar, zu entwerfen. Sein wesentlichster Teil ist eine in die Röhre e (s. Figur, S. 35) bei d eingeschraubte Konvexlinse von kurzer Brennweite, welche von einem kleinen, gewöhnlich zwischen zwei Glasplatten gefaßten und bei cc etwas außerhalb der Brennweite der Linse d festgeklemmten Gegenstand auf einem Schirm ein riesiges Bild entwirft. Da die Lichtmenge, welche von dem kleinen Gegenstand ausgeht, sich auf die im Verhältnis enorm große Fläche des Bildes verteilt, so begreift man, daß der Gegenstand sehr hell erleuchtet sein muß, wenn das Bild nicht zu lichtschwach Sonnenorden - Sonnenthal. ausfallen soll. Die starke Beleuchtung des Gegenstandes wird bewirkt durch eine große Konvexlinse a am Ende des weiten Rohrs, welches den Hauptkörper des Instruments ausmacht; dieselbe sammelt unter Beihilfe der kleinern Linse b die zur Beleuchtung bestimmten Lichtstrahlen aus dem kleinen Gegenstand. Eine Zahnstange mit Trieb dient dazu, den Objektträger cc in den Brennpunkt der Beleuchtungslinsen einzustellen, eine andre hat den Zweck, durch Verschiebung der Fassung de das Bild genau auf den Schirm zu bringen. Zur Beleuchtung wird entweder Sonnenlicht benutzt, indem man die Vorrichtung als eigentliches "S." in die Öffnung eines Fensterladens einsetzt und ihm durch einen Spiegel (Heliostat, s. d.) die Sonnenstrahlen zuführt; oder man beleuchtet das Mikroskop mit elektrischen. oder mit Drummondschem Kalklicht (s. Knallgas), für welche Fälle man ihm die überflüssigen Namen photoelektrisches Mikroskop und Hydrooxygenmikroskop (Knallgasmikroskop) beigelegt Sonnenorden, 1) Argentinischer S., Stifter und Stiftungszeit unbekannt; das Ordenszeichen besteht in einer goldenen Medaille, welche die Sonne, umgeben von einem Lorbeerkranz, zeigt. - 2) Persischer Sonnen- und Löwenorden, 1808 von Schah Feth Ali gestiftet unter dem Namen Nishan-i-Schir-u-Khorschid für Zivil- und Militärverdienst, erhielt seine Organisation nach dem Muster der französischen Ehrenlegion von Ferukchan und hat fünf Klassen. Die Großkreuze tragen einen achtstrahligen silbernen, brillantierten Stern, in der Mitte von einer dreifachen Perlenreihe umgeben, das Bild des schwerttragenden Löwen, stehend für Perser, liegend für Ausländer, mit der aufgehenden Sonne; die zweite Klasse den siebenstrahligen Stern; die dritte Klasse mit sechs Strahlen um den Hals; die vierte die Dekoration mit fünf Strahlen und einer Rosette im Knopfloch und die fünfte die fünfstrahlige Dekoration ohne Rosette. Blau, Rot oder Weiß ist die Farbe des Bandes für die Perser, Grün für die Ausländer. Sonnenparallaxe, s. Parallaxe u. Sonne, S. 28. Sonnenrauch, s. Herauch. Sonnenring, s. Hof, S. 604 f. Sonnenrisse, das Aufreißen der Rinde von Bäumen im Frühling auf der Südseite, hervorgerufen durch die starke Erwärmung und Austrocknung durch die Sonne, wahrscheinlich nach vorangehenden Spätfrösten. Sonnenröschen, s. Helianthemum. Sonnenrose, s. Helianthus. Sonnenscheibe, geflügelte (Tebta), ein in der ägyptischen Architektur häufig angewandtes Symbol des Gottes Horos von Apollinopolis magna (Edfu). Es findet sich zumeist über den Thüren und Thoren der Tempel gleichsam als Abwehr des Bösen ausgemeißelt. Um die Scheibe winden sich gewöhnlich zwei Uräusschlangen, die Ober- und Unterägypten symbolisieren (s. Abbild.). Die spätere Zeit hat die Bedeutung, welche der geflügelten S. in den Kämpfen des Horos gegen Seth beigelegt wurde, in einer Sage weiter ausgebildet. Sonnenschein, Franz Leopold, Chemiker, geb. 13. Juli 1817 zu Köln, erlernte daselbst die Pharmazie, errichtete in den 30er Jahren in Berlin ein kleines Laboratorium und bereitete in Gemeinschaft mit einem Arzt andre Apotheker auf das Staatsexamen vor. Gleichzeitig studierte er Chemie und habilitierte sich 1852 als Privatdozent. Er widmete sich speziell der analytischen Chemie und entfaltete eine sehr ausgedehnte praktische Thätigkeit, durch welche er ein Ansehen gewann wie kaum ein Chemiker vor ihm. Viele technische Unternehmungen verdankten ihm hauptsächlich ihren Erfolg. Die analytische und die gerichtliche Chemie förderte er durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Er starb 26. Febr. 1879 als Professor an der Universität in Berlin. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Anleitung zur chemischen Analyse" (Berl. 1852, 3. Aufl. 1858); "Anleitung zur quantitativen chemischen Analyse" (das. 1864); "Handbuch der gerichtlichen Chemie" (2. Aufl. von Clafsen, das. 1881) und "Handbuch der analytischen Chemie" (das. 1870-71, 2 Bde.). Sonnenscheinautograph, s. Insolation. Sonnenstein, s. Adular, Bernstein (S. 785), Korund und Sonnenstein, Schloß, s. Pirna. Sonnensteine, s. Gräber, prähistorische. Sonnenstich (Insolation, Heliosis), im weitern Sinn alle Krankheitserscheinungen, welche durch anstrengende Bewegungen bei hoher Wärme auftreten (s. Hitzschlag); im engern Sinn eine Reihe von Erregungszuständen, Delirien mit Selbstmordideen, welche bei marschierenden Soldaten in den Tropen unter Einwirkung direkter Sonnenstrahlung beobachtet worden sind und als Wirkung der strahlenden Wärme auf das Gehirn aufgefaßt werden. Vgl. Jacubasch, S. und Hitzschlag (Berl. 1879). Sonnensystem, die Gesamtheit der Weltkörper, welche sich um die Sonne als Zentralkörper bewegen, mit Einschluß der Sonne selbst. Vgl. Karte "Planetensystem". Sonnentafeln, astronom. Tafeln, welche den Himmelsort der Sonne für den Mittag jedes Tags angeben. Große Verdienste um Herstellung guter S. erwarb sich der italienische Astronom Carlini, dessen Werk (Mail. 1810) von Bessel durch Korrektionstafeln noch mannigfach verbessert worden ist (1827). Ältere Tafeln besitzen wir von Lacaille, Mayer, Zach (1804) und Delambre (1805); die genaueren sind gegenwärtig die von Hansen und Olufsen (Kopenh. 1853) und Leverrier (Par. 1858). Sonnentag, s. Sonnenzeit. Sonnentau, Pflanzengattung , s. Drosera. Sonnentaugewächse, s. Droseraceen. Sonnenthal, Adolf von, Schauspieler, geb. 21. Dez. 1834 zu Pest, mußte infolge plötzlicher Verarmung seiner Eltern das Schneiderhandwerk ergreifen, wandte sich später, seiner Neigung folgend und von Dawison ermuntert und einigermaßen vorbereitet, zur Bühne und debütierte 1851 zu Temesvár als Phöbus im "Glöckner von Notre Dame". 1852 ging er nach Hermannstadt, von hier 1854 nach Graz und im Winter 1855-56 nach Königsberg, wo er mit solchem Erfolg auftrat, daß Laube ihm ein Engagement am Wiener Burgtheater antrug. Hier trat er im Mai 1856 Sonnentierchen - Sonnenzeit. zum erstenmal (als Mortimer) auf, wurde nach drei Jahren auf Lebenszeit engagiert und entwickelte sich unter Laubes Leitung zu einem der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. 1881 gelegentlich seines 25jährigen Dienstjubiläums durch Verleihung des Ordens der Eisernen Krone in den Adelstand erhoben, wurde er 1884 zum Oberregisseur ernannt und fungierte seit dem Abgang des Direktors Wilbrandt (Juni 1887) bis Ende 1888 als artistischer Leiter der Anstalt. Sonnenthals eigentliche Stärke liegt im Schauspiel und im Lustspiel; als Darsteller sogen. Salonrollen nimmt er unbestritten den ersten Platz ein. Aus seinem vielseitigen Repertoire sind Ahasver, Hamlet, Narciß, Mortimer, Graf Waldemar, Lord Rochester ("Waise von Lowood"), Fürst Lübbenau ("Aus der Gesellschaft"), Fox, Bolz, Ringelstern, Posa, Raoul Gérard ("Aus der komischen Oper"), Gesandtschaftsattaché, Marcel de Prie ("Wildfeuer"), König ("Esther"), auch Faust, Tell u. a. hervorzuheben. S. hat auch einige französische Bühnenstücke, z. B. den "Marquis von Villemer", gewandt und wirksam übertragen. Sonnentierchen, s. Rhizopoden (2). Sonnenuhr, eine Vorrichtung, welche die Zeit angibt mittels der Lage des Schattens, den ein von der Sonne beschienener, zur Weltachse paralleler Stab (Gnomon oder Weiser) auf eine in der Regel ebene Fläche, das Zifferblatt, wirft. Nicht selten bezeichnet man auch die ganze S. mit dem Namen Gnomon (s. d.). Die einfachste S. ist die Äquinoktialuhr. Bei ihr ist die Ebene, auf welche der Schatten fällt, senkrecht zum Stab, also parallel zur Ebene des Äquators, und da die Sonne bei ihrer scheinbaren täglichen Bewegung sich parallel zu dieser Ebene bewegt, so rückt der Schatten um ebensoviel Grade auf der Ebene weiter als die Sonne am Himmel; es entspricht einer jeden Stunde ein Winkel von 15°. Man erhält das Zifferblatt, wenn man um den Punkt, in welchem der Stab besestigt ist, einen Kreis schlägt, denselben in 24 gleiche Teile teilt und die Radien nach den Teilungspunkten zieht; dreht man nun noch die Ebene so, daß der eine Radius in die Ebene des Meridians zu liegen kommt, so fällt auf ihn der Schatten des Stabes mittags, auf die beiden benachbarten vormittags 11 und nachmittags 1 Uhr etc. Bei der Horizontaluhr liegt das Zifferblatt horizontal; die Stundenlinie 12 Uhr liegt auch hier in der Ebene des Meridians, aber die Winkel, welche die übrigen Stundenlinien mit dieser ersten einschließen, sind nicht der Zeit proportional, sondern wenn t diesen Winkel für die Aquinoktialuhr bedeutet (also t = 15° für 1 Uhr, 30° für 2 Uhr), so findet man für die geographische Breite ^|phi| den entsprechenden Winkel u der Horizontaluhr mittels der Gleichung tan u = sin ^|phi|. tan t. Man kann diesen Winkel auch einfach konstruieren (s. Figur). Man mache OA = 1, AM = sin ^|phi| (z. B. für Berlin = 0,798, weil ^|phi| = 52° 30'), errichte AB rechtwinkelig auf O M und mache Winkel AMC = t; dann ist Winkel AOC = u. Die Vertikaluhr hat ihr Zifferblatt in einer vertikalen Ebene, die im einfachsten Fall von O. nach W. geht; die Stundenlinie 12 Uhr liegt in der Ebene des Meridians, und den Winkel u, den irgend eine andre Stundenlinie mit der mittägigen einschließt, berechnet man aus dem entsprechenden Winkel t der Äquinoktialuhr mittels der Formel tan u = cos ^|phi| . tan t. Man kann demnach u auch auf die in der Figur erläuterte Art konstruieren, wenn man AM = cos ^|phi| (für Berlin = 0,609) macht. Äquinoktial- und Horizontaluhren geben alle Stunden an, solange die Sonne scheint; bei den erstern fällt der Schatten im Sommerhalbjahr auf die obere, im Winterhalbjahr auf die untere Seite des Zifferblatts, weshalb auch der Stab nach beiden Seiten hin gehen muß. Eine Vertikaluhr der beschriebenen Art gibt aber nur die Zeit von früh 6 bis abends 6 Uhr an. Übrigens geben die Sonnenuhren nicht die im bürgerlichen Leben übliche mittlere Zeit, sondern die wahre Sonnenzeit (s. d.) an. Bei den neuern hemisphärischen Sonnenuhren zeigt ein schattenwerfendes Fadenkreuz das ganze Jahr hindurch die Sonnenzeit auf der in einer halben Hohlkugel angebrachten Teilung an. Vgl. Littrow, Gnomonik (2. Aufl., Wien 1838); Goring, Die S. (Arnsb. 1864); Vidal, La gnomonique (Par. 1876); Mollet, Gnomonique graphique (7. Aufl., das. 1884). Sonnenvogel (Pekingnachtigall, Leiothrix luteus Scop.), Sperlingsvogel aus der Familie der Lärmdrosseln (Timaliidae Gray), von der Größe der Kohlmeise, oberseits olivengraubraun, am Kopf gelblich, Kinn und Kehle orange, unterseits gelblichweiß, an den Seiten graubräunlich, an den Flügeln schwarz mit orange und am Schwanz braun und schwarz, mit braunen Augen, korallenrotem Schnabel und fleischbraunen Füßen, bewohnt dichte Wälder im Himalaja zwischen 1500 und 2500 m Höhe und in Südwestchina, nährt sich von allerlei Kerbtieren, Früchten und Sämereien, ist sehr munter, hat einen ansprechenden Gesang, legt 3-4 bläulichweiße, rot getüpfelte Eier und wird in China und Indien seit langer Zeit, jetzt auch bei uns vielfach als Stubenvogel gehalten und gezüchtet. S. Tafel "Stubenvögel". Sonnenweite, die mittlere Entfernung der Erde von der Sonne, 148,670,000 km oder 20,036,000 geogr. Meilen; sie bildet die Einheit, nach der man häufig die Entfernungen im Sonnensystem Sonnenwende, Name einiger Pflanzen, s. Cichorium und Heliotropium. Sonnenwenden (Solstitien, Solstitial- oder Sonnenstillstandspunkte), die zwei um 180° voneinander entfernten Punkte der Ekliptik, welche am weitesten, nämlich 23° 271/2', vom Äquator entfernt sind. Der nördlich vom Äquator gelegene ist der Anfangspunkt des Sternzeichens des Krebses und heißt die Sommersonnenwende oder das Sommersolstitium, weil der Durchgang der Sonne durch denselben den Anfang des astronomischen Sommers der nördlichen Erdhalbkugel bezeichnet; der südliche dagegen, der Anfangspunkt des Steinbocks, wird die Wintersonnenwende, das Wintersolstitium, genannt, weil dort die Sonne zu Anfang des astronomischen Winters steht. Mit dem Namen S. (Solstitien) bezeichnet man auch die Zeitpunkte, in denen die Sonne durch diese Punkte geht; die durch die letztern gelegten Parallelkreise des Himmels heißen Wendekreise. Vgl. Ekliptik. Sonnenwendfeier, s. Johannisfest. Sonnenzeit, die durch die scheinbare tägliche Bewegung der Sonne bestimmte Zeit im Gegensatz zur Sternzeit, deren Grundlage der Sterntag (s. Tag) bildet. Der wahre Sonnentag oder die Zeit zwi- Sonnenzirkel - Sonntag. schen zwei aufeinander folgenden Kulminationen der Sonne muß etwas länger sein als der Sterntag, weil die Sonne unter den Fixsternen von W. nach O. geht; denn kulminiert heute die Sonne gleichzeitig mit einem Fixstern, so wird sie morgen, wenn der letztere wieder kulminiert, noch etwas östlich vom Meridian stehen und diesen erst später erreichen. Die Bewegung der Sonne in ihrem Parallelkreis bildet die Grundlage für die Bestimmung der wahren S. Es ist wahrer Mittag, wenn die Sonne im Meridian steht; nachmittags 1 Uhr, 2 Uhr etc., wenn die Sonne in ihrem Parallelkreis 15°, 30° etc. westlich vom Meridian steht. Diese wahre S. wird von den Sonnenuhren angegeben. Die Dauer eines wahren Sonnentags ist aber im Lauf eines Jahrs veränderlich, weil die Sonne nicht alle Tage um dasselbe Stück am Himmel nach O. rückt; am größten, 24 Stunden 0 Minuten 30 Sekunden, ist sie 23. Dez., am kleinsten, 23 Stund. 59 Min. 39 Sek., Mitte September. Diese Ungleichförmigkeit hat zwei Ursachen. Einmal bewegt sich die Erde in ihrer elliptischen Bahn mit veränderlicher Geschwindigkeit, in der Sonnennähe rascher als in der Sonnenferne; dem entsprechend ist auch die scheinbare Bewegung der Sonne in der Ekliptik ungleichförmig. Ferner sind aber auch die verschiedenen Stücke der scheinbaren Sonnenbahn (Ekliptik) ungleich geneigt gegen den Äquator. In der Nähe der Solstitialpunkte liegt sie parallel zum Äquator, in den Äquinoktien schneidet sie denselben unter 231/2°; an den letztern Punkten wird daher das Vorrücken nach O. (die Vergrößerung der Rektaszension) nur einen Bruchteil der scheinbaren Belegung in der Ekliptik betragen, während in den Solstitien beide Bewegungen gleich sind. So wie die Sonnentage, sind auch die einzelnen Stunden von ungleicher Länge. Deshalb eignet sich die wahre S. nicht für die Zwecke des bürgerlichen Lebens; man kann auch keine mechanischen Uhren herstellen, welche dieselbe angeben. Andernteils würde es unzweckmäßig sein, im bürgerlichen Leben nach Sternzeit zu rechnen, da der Anfang des Sterntags bald auf den Tag, bald auf die Nacht fällt. Deshalb rechnet man nach mittlerer Zeit. Die Sonne braucht, um in der Ekliptik vom Frühlingspunkt bis wieder zu demselben Punkt zu gelangen (tropisches Jahr) 366,2422 Sterntage; sie selbst geht in dieser Zeit einmal weniger durch den Meridian als ein beliebiger Fixstern, und man teilt daher diesen Zeitraum in 365,2422 gleich lange Abschnitte, die man mittlere Tage nennt, und deren jeder wieder in 24 gleich lange Standen zu 60 Minuten zu 60 Sekunden zerfällt. Da 365,2422 mittlere Tage = 366,2422 Sterntagen sind, so ist 1 mittlerer Tag = 1 Tag 3 Min. 56,55 Sek. Sternzeit und 1 Sterntag = 1 Tag weniger 3 Min. 55,91 Sek. mittlerer Zeit. Viermal im Jahr, nämlich 15. April, 14. Juni, 31. Aug. und 24. Dez., fällt die wahre S. mit der mittlern Zeit zusammen; in den Zwischenzeiten ist abwechselnd die eine oder die andre voraus. Den Unterschied beider nennt man die Zeitgleichung. Man gibt dieselbe in mittlerer Zeit an und zwar positiv, wenn man sie zur wahren Zeit addieren muß, um die mittlere zu finden, negativ, wenn sie zu subtrahieren ist. Gibt also eine Sonnenuhr nachmittags 4 Uhr 30 Min. an, und ist die Zeitgleichung +12 Min., so ist es nach mittlerer Zeit um 4 Uhr 42 Min.; wäre aber die Zeitgleichung -12 Min., so hätte man erst 4 Uhr 18 Min. mittlere Zeit. Die astronomischen Jahrbücher geben die Zeitgleichung für den wahren Mittag eines bestimmten Meridians (das Berliner "Astronomische Jahrbuch" für den Meridian von Berlin) von Tag zu Tag an. Statt dessen findet man in den meisten Kalendern die mittlere Zeit im wahren Mittag verzeichnet, die man durch Addition (bez. Subtraktion) der Zeitgleichung zu 12 Uhr erhält; statt Zeitgleichung +12 Min. 30 Sek. findet man also mittlere Zeit im wahren Mittag 12 Uhr 12 Min. 30 Sek. Weitere Zahlenangaben erscheinen hier unnötig; nur die größten Werte, welche die Zeitgleichung im Lauf des Jahrs erreicht, mögen noch erwähnt werden, + 14 Min. 34 Sek. - 3 Min. 53 Sek. am 12. Febr., 14. Mai, + 6 Min. 12 Sek. - 16 Min. 18 Sek. am 26. Juni, 18. Nov. Mit der Zeitgleichung im Zusammenhang steht noch der Umstand, daß die Zeiten des Auf- und Unterganges der Sonne, die in unsern Kalendern verzeichnet sind, nicht gleich weit von mittags 12 Uhr abstehen. So findet man z. B. für Leipzig 1. Juli den Sonnenaufgang um 3 Uhr 50 Min. früh und den Untergang 8 Uhr 17 Min. abends angegeben; das Mittel aus beiden Zeiten ist 12 Uhr 31/2 Min. mittags. Dies ist aber annähernd die Zeit des wahren Mittags (12 Uhr 3 Min. 33 Sek.). Ganz genau gleich weit vom wahren Mittag entfernt sind übrigens die Momente des Auf- und Unterganges nicht wegen der ungleichen Bewegung der Sonne in der Ekliptik. Vgl. Förster, Ortszeit und Weltzeit (Berl. Sonnenzirkel, s. Kalender, S. 383. Sonnewalde, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis Luckau, hat eine Dampfbrauerei und (1885) 1152 Einw. Dabei das Schloß S. des Grafen von Solms. Sonnino, Dorf in der ital. Provinz Rom, Kreis Frosinone, in den Volsker Bergen gelegen, mit (1881) 3200 Einw., Geburtsort des Kardinals Antonelli, war früher ein berüchtigtes Räubernest und wurde deshalb 1819 teilweise zerstört. Sonntag (Dies Solis), der Tag der Sonne (althochd. Sunnentac, altnord. Sunnudaga, engl. Sunday, niederländ. Sondag, schwed. Sondag, dän. Sondag), im Brauch der Kirche der erste Tag der Woche und als Tag des Herrn (dies dominicus oder dominica, woraus das franz. dimanche, das ital. domenica, das span. und portug. domingo gebildet worden ist) zugleich der wöchentliche Ruhe- und Feiertag der Christen. Wiewohl sich im Neuen Testament kein bestimmtes Gebot für denselben findet (doch vgl. 1. Kor. 16, 2; Offenb. 1, 10; Apostelgesch. 20, 7), ward er schon im nachapostolischen Zeitalter als Auferstehungstag Christi neben dem jüdischen Sabbat gefeiert, und zwar als Freudentag. Mit dem Aufgeben der Heilighaltung des Sabbats trug man viele der auf diesen bezüglichen Anschauungen auf den S. über; doch datieren förmliche Verbote irdischer, nicht ganz dringender Geschäfte an Sonntagen von seiten der weltlichen Obrigkeit erst aus der Zeit Konstantins d. Gr., und Kaiser Leo III. (717-741) untersagte endlich jegliche Arbeit an diesem Tag. Die Reformatoren wollten den S., ohne Berufung auf ein göttliches Gebot, bloß der Zweckmäßigkeit wegen beobachtet wissen. Dagegen hat schon Beza die Ansicht vertreten, daß der S. eine göttliche Einsetzung und an die Stelle des jüdischen Sabbats getreten sei, und so hat sich auf reformiertem Gebiet, besonders in England, Schottland und Nordamerika, die strengste Form der Sonntagsfeier bis auf den heutigen Tag erhalten, selbst wenn die bezüglichen Gesetze nicht mehr aufrecht erhalten werden. In Sonntagsbuchstabe - Sonometer. Frankreich dagegen ist seit der großen Revolution der Unterschied zwischen Sonn- und Wochentagen thatsächlich aufgehoben worden. Auch in Italien sind alle auf Nichtbeobachtung der Feiertage gesetzten Strafen gesetzlich beseitigt. Die neuere Gesetzgebung in Deutschland, namentlich in Preußen, ist von dem durch die Humanität gebotenen Gesichtspunkt ausgegangen, daß der Staat alle offiziellen Amtshandlungen am S. zu untersagen, bei seinen eignen Unternehmungen die Sonntagsarbeit zu vermeiden und die Tagelöhner, Dienstboten und Fabrikarbeiter gegen die Forderungen ihrer Herren vor Sonntagsarbeit zu schützen hat. Die deutsche Gewerbeordnung (§ 136) verbietet die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern an Sonn- und Festtagen; auch können die Gewerbtreibenden die Arbeiter an Sonn- und Festtagen zum Arbeiten nicht verpflichten (§ 105). Auch die evangelische Kirche hat neuerdings ihre Aufmerksamkeit wieder auf diesen Punkt gelenkt und ist dabei vornehmlich dem Mißbrauch des Sonntags zu Vergnügungen und Ausschweifungen entgegengetreten. Ein "internationaler Kongreß für Sonntagsruhe" tagte 1877 in Genf, 1879 in Bern. Die jetzt noch gewöhnlichen Namen der Sonntage kommen teils von den Festen her, denen sie folgen, teils von den Anfangsworten der alten lateinischen Kirchengesänge oder Kollekten, welche meistens aus den Psalmen entlehnt waren. Unsre Kalendersonntage sind: 1) ein S. nach Neujahr, der jedoch nur in solchen Jahren eintritt, in welchen Neujahr auf einen der vier letzten Wochentage fällt; 2) zwei bis sechs Sonntage nach Epiphania (s. d.); 3) die Sonntage Septuagesimä, Sexagesimä und Estomihi (Ps. 71, 3); 4) die Fastensonntage Invokovit (Ps. 91, 15), Reminiscere (Ps. 25, 6), Okuli (Ps. 25, 15), Lätare (Jes. 66, 10), Judika (Ps. 43, 1) und der Palmsonntag (s. d.); 5) sechs Sonntage nach Ostern: Quasimodogeniti (1. Petr. 2, 2), Misericordias Domini (Ps. 23, 6, oder 89, 2), Jubilate (Ps. 66, 1), Kantate (Ps. 96, 1), Rogate (Matth. 7, 7) und Exaudi (Ps. 27, 7); 6) die Trinitatissonntage, deren Anzahl von dem frühern oder spätern Eintritt des Osterfestes abhängt und höchstens 27 beträgt; 7) die vier Adventsonntage (s. Advent); 8) ein S. nach Weihnachten, welcher nur dann eintritt, wenn das Weihnachtsfest nicht auf den Sonnabend oder S. fällt. Vgl. Litteratur bei Kirchenjahr; ferner: Henke, Beiträge zur Geschichte der Lehre von der Sonntagsfeier (Stendal 1873); Zahn, Geschichte des Sonntags, vornehmlich in der alten Kirche (Hannov. 1878); Rauschenbusch, Der Ursprung des Sonntags (Hamb. 1887); Grimelund, Geschichte des Sonntags (Gütersl. 1889); Lammers, Sonntagsfeier in Deutschland (Berl. 1882); "Gesetze und Verordnungen, betreffend die Ruhe an Sonn- und Feiertagen" (das. 1886); über die Sonntagsfeier vom Standpunkt der Gesundheitslehre die Schriften von Schauenburg (das. 1876) und Niemeyer (das. 1877). Sonntagsbuchstabe, s. Kalender, S. 383. Sonntagsschulen, dem Wortlaut nach jede Schule, in welcher am Sonntag unterrichtet wird, was vielfach in den Fortbildungsschulen (s. d.) der Fall ist. Vorzugsweise bezeichnet man aber mit dem Namen S. solche Anstalten, in welchen die Jugend des niedern Volkes durch freiwillige Lehrer und Lehrerinnen der gebildeten Stände im religiösen Interesse unterrichtet wird. Solche Schulen gründete schon der Erzbischof Karl Borromeo von Mailand (gest. 1584), und andre hervorragende Männer der katholischen Kirche, namentlich J. B. de La Salle, Stifter der christlichen Schulbrüder, folgten ihm darin. Doch blieben diese Bestrebungen vereinzelt. Dagegen erwachte im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in England und Schottland ein begeisterter Eifer für die Gründung von S., welcher sich in alle Länder der angelsächsischen Zunge, besonders nach Nordamerika, verbreitet hat. Nach einigen sollen die ersten englischen S. von den Töchtern des Geistlichen More zu Hanham bei Bristol, namentlich von der auch als Schriftstellerin bekannten Hannah More, gegen 1780 eingerichtet worden sein. Gewöhnlich wird Robert Raikes, ein reicher Buchdrucker in Gleucester (geb. 1735, gest. 1811), als erster Gründer der S. genannt. Er gründete 1781 (1784) eine Sunday School in seiner Vaterstadt und gab die Anregung zu der von William Fox gestifteten London Sunday School Society (1785), welche in kurzer Zeit außerordentliche Erfolge aufzuweisen hatte. In Deutschland entstand 1791 eine Sonntagsschule in München; 1799 gründete Professor Müchler in Berlin eine solche für Knaben, 1800 der jüdische Menschenfreund Samuel Levi eine solche für Mädchen. Der Eifer für die S. nahm in evangelisch-kirchlichen Kreisen seit 1864 noch einmal lebhaften Aufschwung durch die Bemühungen des Amerikaners Albert Woodruff aus Brooklyn sowie seiner deutsch-amerikanischen Freunde Bröckelmann aus Heidelberg und Professor Schaff aus New York, nachdem schon 1857 die Versammlung der Evangelischen Allianz in Berlin auf diese bezeichnende Form englischer Kirchlichkeit von neuem die Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Da in Deutschland die Ergänzung des öffentlichen Schulunterrichts durch private Wohlthätigkeit im allgemeinen nicht Bedürfnis ist, haben die S. hier mehr Wesen und Namen der Jugendgottesdienste angenommen. An S. aller Art waren 1888 in Deutschland nach glaubhafter Angabe 30,000 Lehrer und Lehrerinnen unter etwa 230.000 Kindern thätig. Sonometer (Audiometer), ein von Hughes angegebener Apparat zur Bestimmung der Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs, besteht aus einem Mikrophon (ein vertikal stehendes Kohlenstäbchen, das mit seinen zugespitzten Enden zwei mit Klemmschrauben versehene Kohlenstückchen berührt), welches auf dem Sockel einer Pendeluhr steht und in den Schließungsbogen einer Batterie aus drei Daniellschen Elementen eingeschaltet ist; der galvanische Strom durchfließt ferner zwei etwa 30 cm voneinander entfernte, miteinander parallele Drahtrollen, deren eine mit einem Draht von 100 m, die andre mit einem Draht von 9 m Länge umwickelt ist. Zwischen diesen beiden Rollen, auf einem Stab verschiebbar, befindet sich eine dritte, auf welcher gleichfalls ein Draht von 100 m Länge aufgewunden ist, dessen Enden mit einem Telephon verbunden sind. Die Drähte der beiden ersten Rollen sind so gewickelt, daß sie in der mittlern Ströme von entgegengesetzter Richtung induzieren. Verschiebt man die mittlere Rolle so lange, bis die in ihr induzierten entgegengesetzten Ströme gleiche Stärke besitzen, so heben sie sich auf, und in dem Telephon wird das Ticken der Uhr nicht gehört. Diese Stellung wird als Nullpunkt bezeichnet und der Abstand zwischen demselben und der ersten Rolle auf dem Stab in 200 gleiche Teile (Grade) eingeteilt. Verschiebt man nun die mittlere Rolle gegen die erste hin, so hört man das Ticken der Uhr im Telephon zuerst schwach und bei weiterer Verschiebung immer stärker. Versuche an verschiedenen Personen lehrten, daß beim ersten Grade das Ticken nur von einem äußerst empfindlichen Gehörorgan wahrgenommen Sonor - Sontag. werden kann; die mittlere Empfindlichkeit des menschlichen Ohrs entspricht den Graden 4-10; Personen, welche bei der Rollenstellung 200 den Schlag der Uhr nicht hören, müssen als absolut taub angesehen werden. Sonor (lat.), helltönend, wohlklingend. Sonora, der nordwestlichste Staat der Republik Mexiko, am Kalifornischen Meerbusen, umfaßt 197,973 qkm (3595,4 QM.). Die Küstengegend ist meist flach und im NW. so sandig, daß selbst die Viehzucht unmöglich wird; das Innere aber besteht aus Gebirgsland, dicht bewaldet, von fruchtbaren Thälern durchzogen und reich an Mineralschätzen. Die wichtigsten Flüsse sind der Yaqui, der Mayo und der S., von denen die beiden erstern das ganze Jahr durch Wasser haben, der Sonora aber sich in den sandigen Ebenen von Siete Cerritos verliert. Das Klima ist auch an der Küste gesund; nur in der Nähe von den Sümpfen von Santa Cruz kommen Wechselfieber vor. Von Juni bis zum August bläst gelegentlich der Viento caliente. Im Innern trifft man alle Extreme der Temperatur, und in den höher gelegenen Gegenden friert es vom November bis zum März. Die Bevölkerung betrug 1882: 115,424 Seelen, zum großen Teil Indianer, den Stämmen der Yaqui, Mayo, Seri, Papayo, Opata und Apatschen angehörig. Ackerbau ist fast überall nur bei künstlicher Berieselung möglich, ergibt dann aber reichen Ertrag an Mais, Weizen, Zuckerrohr, Bohnen, Baumwolle, Kaffee, Tabak, Indigo etc. Wein und alle Arten von Obst gedeihen vortrefflich. Auch die Viehzucht ist von Bedeutung. Die Austern- und Perlenfischerei wird mit Erfolg getrieben. Der Bergbau beschäftigte 1878: 5600 Menschen und ergab einen Ertrag von 1,640,272 Pesos, vornehmlich Gold und Silber. Außerdem findet man aber auch Kupfer, Eisen (im N.), Graphit (bei San José de la Pimas) und Steinkohlen (Santa Clara). Die Industrie beschränkt sich auf Baumwollfabrikation (4 Fabriken), Hut- und Schuhmacherei, Seifensiederei etc. Hauptartikel der Ausfuhr sind Edelmetalle, Erze, Häute und Hüte. Hauptstadt ist Hermosillo, wichtigster Hafen Guaymas. S. Karte "Mexiko". - Die sonorischen Sprachen bilden nach den Untersuchungen Professor Buschmanns einen weitverzweigten Sprachstamm, der nicht allein in S., sondern im ganzen nördlichen Mexiko sowie im südlichen Arizona und Kalifornien herrscht; auch die Sprache der Schoschonen oder Schlangenindianer im Felsengebirge, der Juta in Utah u. a. gehören zu demselben. Vgl. Buschmann, Die Spuren der aztekischen Sprache im nördlichen Mexiko; Derselbe, Die Zahlwörter in den sonorischen Sprachen (in den "Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften", Berl. 1859 u. 1867). Sonrhai (Songhay), Negerstamm im westlichen Sudân, zu beiden Seiten des mittlern Niger, bildete ehemals ein großes Reich, welches 1009 den Islam annahm, unter dem Sultan Askia, einem der größten afrikanischen Eroberer, mächtig erweitert, zu Ende des 15. Jahrh. das ganze innere Nordafrika bis östlich zum Tschadsee umfaßte, Garo zur Hauptstadt hatte und 1592 durch die Marokkaner zerstört wurde. Zu ihm gehörte auch Timbuktu. Nach Barth besitzen die S. feinere, edlere Züge von kleinern Umrissen, die Gestalten sind schlank, die Beine wadenlos. Die Sprache der S. ist neuerdings von Barth und Lepsius, ausführlicher von Fr. Müller ("Grundriß der Sprachwissenschaft", I, 2, Wien 1877) dargestellt, der sie für völlig isoliert hält. Sonsonate, Stadt im zentralamerikan. Staat Salvador, am Rio Grande, in reizender, aber von Erdbeben oft heimgesuchter Gegend, hat lebhaften Handel und (1878) 5127 Einw. Eisenbahnen verbinden die Stadt mit den Häfen Acajutla und Libertad. S. wurde 1524 von Pedro de Alvarado gegründet. Sontag, 1) Henriette, Gräfin Rossi, Opernsängerin, geb. 3. Jan. 1806 zu Koblenz, wo ihre Eltern als Schauspieler wirkten, erhielt ihre musikalische Ausbildung im Konservatorium zu Prag, debütierte daselbst in ihrem 15. Jahr als Prinzessin in "Johann von Paris" mit großem Erfolg, ging darauf mit ihrer Mutter nach Wien, wo sie an der Deutschen und Italienischen Oper mitwirkte, ward 1824 am neuen Königstädter Theater in Berlin engagiert und bald darauf zur Hof- und Kammersängerin ernannt. Zwei Jahre später trat sie ihre erste Reise nach Paris an, wo sie einen unbeschreiblichen Enthusiasmus erregte und 1827 für zwei Jahre Engagement annahm. Nachdem sie sich 1828 insgeheim mit dem Grafen Carlo Rossi, damals Geschäftsträger des sardinischen Hofs im Haag, verheiratet hatte, trat sie nur noch als Konzertsängerin auf, besuchte als solche Petersburg und Moskau und kehrte dann über Hamburg nach den Niederlanden zurück, wo bald darauf die öffentliche Bekanntmachung ihrer Heirat erfolgte. Bedeutende Vermögensverluste veranlaßten sie, 1849 zur Bühne zurückzukehren, und der Zauber ihrer Persönlichkeit, die ungeschmälerte Frische und Lieblichkeit ihrer Stimme verschafften ihr überall den frühern Beifall. 1853 unternahm sie eine Kunstreise nach Amerika und feierte auch hier die glänzendsten Triumphe, starb aber 17. Juni 1854 in Mexiko an der Cholera. Ihr Leichnam ward im Kloster Marienthal bei Ostritz in der sächsischen Lausitz beigesetzt. In ihrer Blütezeit besaß Frau S. neben der äußersten Reinheit, Klarheit und Biegsamkeit der Stimme eine unübertreffliche Leichtigkeit, Sauberkeit und Anmut des Vortrags. Sie erschütterte nicht durch imponierende Stimmfülle, bezauberte aber durch die Grazie ihres Gesanges, besonders in Koloraturen, welche sie größtenteils mit halber Stimme, aber mit der vollkommensten Deutlichkeit vortrug. Namentlich im Sentimentalen und Scherzhaften war sie unvergleichlich. Gundling hat ihr Jugendleben zu dem Kunstroman "Henriette S." (Leipz. 1861, 2 Bde.) benutzt. In der Selbstbiographie ihres Bruders sind zahlreiche sie betreffende biographische Einzelheiten enthalten. 2) Karl, Schauspieler, Bruder der vorigen, geb. 7. Jan. 1828 zu Dresden, begann seine Bühnenlaufbahn 1848 am dortigen Hoftheater, war 1851-52 am Hofburgtheater in Wien thätig und folgte dann einem Ruf nach Schwerin, wo er sieben Jahre lang die ersten Helden- und Bonvivantrollen spielte. Im J. 1859 wurde er in Dresden, 1862 in Hannover angestellt, wo er sich ausschließlich dem Lustspiel widmete; seit 1877 gibt er nur Gastrollen, die ihn wiederholt auch nach Nordamerika führten. 1885 siedelte er nach Dresden über. S. versteht seinen Lebemännern und sogen. Chargen so drollige Züge zu verleihen, daß sie eine unwiderstehliche Wirkung ausüben. Zu seinen bedeutendsten Rollen gehören Doktor Wespe, Orgon ("Tartüffe"), Petrucchio, Bolingbroke, Königsleutnant, auch Nathan, Karlos u. a. S. hat sich auch als Schriftsteller versucht; er veröffentlichte das Theaterstück "Frauenemanzipation" (Hannov. 1875), das die Runde über alle Bühnen machte, und ein sehr rückhaltlos urteilendes autobiographisches Werk unter dem Titel: "Vom Nachtwächter zum türkischen Kaiser" (3. Aufl., Hannov. 1876), das Veranlassung zu seiner Entlassung aus dem Verband des hannoverschen Hoftheaters (1877) wurde. Sonthofen - Sophie. Sonthofen, Flecken und Bezirksamtshauptort im bayr. Regierungsbezirk Schwaben, an der Iller und der Linie Immenstadt-Oberstorf der Bayrischen Staatsbahn, 742 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, ein Hüttenwerk, Baumwollweberei, sehr besuchte Viehmärkte und (1885) 1819 Einw. Nordöstlich erhebt sich der Grünten (s. Sontra, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Rotenburg, am Flüßchen S. und an der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn, 242 m ü.M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, Branntweinbrennerei, Preßhefenfabrikation, Schlauchweberei, Molkerei, Schwerspatmüllerei und (1885) 1945 Einw. Vgl. Collmann, Geschichte der Bergstadt S. (Kassel 1863). Sontschi, chines. Stadt, s. Kutschun. Sonus (lat.), Schall, Klang. Soodbrot, s. Ceratonia. Soole, s. Sole. Soonwald, s. Hunsrück. Soor, s. Schwämmchen. Soor (Sohr, Sorr), Dorf südwestlich von Trautenau im nordöstlichen Böhmen, ist durch zwei preußische Siege berühmt geworden. Friedrich d. Gr. schlug hier 30. Sept. 1745 mit 19,000 Mann die Österreicher und Sachsen, welche, 32,000 Mann stark, vom Prinzen Karl von Lothringen befehligt wurden; einem beabsichtigten Überfall der letztern auf das preußische Lager von den Höhen von Burkersdorf aus kam Friedrich durch einen Angriff auf diese zuvor, erstürmte sie und sicherte sich dadurch den Rückzug durch das Gebirge nach Schlesien. Bei dem zweiten Gefecht von Trautenau (s. d.), 28. Juni 1866 gegen Gablenz, ward das Dorf von der 1. preußischen Gardedivision unter General Hiller v. Gärtringeu erstürmt. Vgl. Kühne, Das Gefecht bei S. ("Kritische Wanderungen" Heft 4 u. 5, 2. Aufl., Berl. 1887). Soorpilz, s. Oidium. Soovar, Ort, s. Sovar. Sopha, s. v. w. Sofa. Sopher (hebr., "Schreiber"), in älterer Zeit Schriftgelehrter, heutzutage der Gesetzrollen-, Tefillin- und Mesusotschreiber in größern jüdischen Sophia (griech.), Weisheit. Sophie (Sophia), weiblicher Name. Unter den fürstlichen Trägern desselben sind hervorzuheben: [Hannover.] 1) Kurfürstin von Hannover, geb. 14. Okt. 1630 im Haag als zwölftes Kind des flüchtigen "Winterkönigs", Friedrichs V. von der Pfalz, und der Elisabeth Stuart, fühlte sich im Haus ihrer kaltherzigen Mutter höchst unglücklich, begab sich daher zu ihrem Bruder Karl Ludwig, nachdem derselbe 1648 die Kurpfalz zurückerhalten hatte, nach Heidelberg und vermählte sich 1658 mit dem Herzog Ernst August von Hannover, der 1692 Kurfürst ward. Hochmütigund hartherzig, verfolgte sie ihre Schwiegertochter Sophie Dorothea von Celle (s. S. 2) mit unversöhnlichem Haß und führte deren gerichtliche Scheidung herbei. Seit 23. Okt. 1698 Witwe, ward sie als Enkelin König Jakobs I. 22. März 1701 zur Erbin von England erklärt, und nach ihrem Tod (8. Juni 1714) bestieg ihr ältester Sohn, Georg Ludwig, 31. Okt. 1714 den Thron von Großbritannien. Mit ihren pfälzischen Verwandten führte sie einen sehr lebhaften Briefwechsel, so mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig (hrsg. von Bodemann in den "Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven", Bd. 26, Leipz. 1885), und ihrer Nichte Elisabeth Charlotte von Orléans (hrsg. von Bodemann, das., Bd. 37, 1888; s. Elisabeth 3). Ihre Memoiren gab Köcher heraus (das., Bd. 4, 1879). 2) S. Dorothea, bekannt als Prinzessin von Ahlden, geboren im Herbst 1666, war die einzige Tochter und Allodialerbin des Herzogs Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle und der Eleonore d'Olbreuse (s. d.) und wurde 1682 mit dem Erbprinzen Georg Ludwig von Hannover (später als Georg I. König von England) vermählt. Vortrefflich gebildet und sehr schön, vermochte sie doch nicht, ihren Gemahl, der den Haß seiner Mutter, der Herzogin Sophie, gegen S., die Tochter der d'Olbreuse, geerbt hatte, zu fesseln. Nachdem sie ihm einen Sohn, den nachmaligen König Georg II., und eine Tochter, Sophie Dorothea (die spätere Gemahlin König Friedrich Wilhelms I. von Preußen, s. unten 5), geboren, sah sie sich nicht nur von ihm oft rauh behandelt, sondern auch von der Mätresse ihres Schwiegervaters Ernst August, der Gräfin von Platen, im geheimen verfolgt. Denn da der Zweck der Heirat, die Vereinigung Celles mit Hannover, nun gesichert war, legten der Kurfürst Ernst August und seine Gemahlin Sophie ihrem Haß gegen ihre Schwiegertochter keine Zügel mehr an. Unvorsichtige Bevorzugung des Grafen Philipp Christoph von Königsmark (s. d. 2), der am Hof ihres Vaters als Page aufgewachsen war, gab dem hannöverschen Hof den Vorwand, S. eines anstößigen Verhältnisses mit Königsmark zu beschuldigen. Als S. den Vater nicht für eine Lösung ihrer Ehe gewinnen konnte, verabredete sie für den 2. Juli 1694 mit Königsmark die Flucht nach Wolfenbüttel zu ihrem Verwandten, dem Herzog Anton Ulrich. Am Abend des 1. Juli wurde Königsmark, als er aus den Zimmern der Prinzessin kam, von dazu bestellten Leuten ermordet und sein Leichnam im Schloß verborgen, die Prinzessin aber hieraus verhaftet. Da sie jeden Versuch, eine Aussöhnung mit ihrem Gemahl herbeizuführen, von sich wies, wurde die Ehe 28. Dez. 1694 gelöst und die Prinzessin auf das Schloß Ahlden verbannt, wo sie, allerdings unter Beobachtung der ihr gebührenden Rücksichten, bis zu ihrem 13. Nov. 1726 erfolgenden Tod gefangen gehalten wurde. Daß sie ihrem Gatten die Treue gebrochen, ist durchaus nicht erwiesen worden und ihr Briefwechsel mit Königsmark, den Palmblad herausgab, gefälscht. Vgl. Schaumann, S. Dorothea, Prinzessin von Ahlden, und Kurfürstin Sophie von Hannover (Hannov. 1879). [Österreich.] 3) Erzherzogin von Österreich, geb. 27. Jan. 1805, Tochter des Königs Maximilian I. Joseph von Bayern und Zwillingsschwester der Königin Maria von Sachsen, vermählte sich 1824 mit dem Erzherzog Franz Karl von Österreich und starb 28. Mai 1872. S. war die Mutter des jetzigen Kaisers von Österreich, Franz Joseph, und einflußreiche Gönner in der ultramontanen Bestrebungen. [Preußen.] 4) S. Charlotte, Königin von Preußen, "die philosophische Königin", geb. 20. Okt. 1668 auf Schloß Iburg bei Osnabrück, Tochter des Herzogs, spätern Kurfürsten Ernst August von Hannover und der Sophie 1), lebte längere Zeit in Paris bei ihrer Tante, der berühmten Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte, wo sie feine Sitte und Geschmack für Kunst sich aneignete, während sie im Umgang mit Leibniz, dem Freund ihrer Mutter, ihren lebhaften Geist auch in religiösen und philosophischen Problemen übte, wurde 8. Okt. 1684 mit dem Kurprinzen Friedrich von Brandenburg, spätern König Friedrich I., vermählt, dem sie nach seinem Regierungsantritt 1688 seinen einzigen Sohn (den König Friedrich Wilhelm I.) gebar, lebte am Hof ihres verschwenderischen und eiteln Gemahls der Pflege der Künste und Wissenschaften, für welche sie auch Leib- Sophienkirche - Sophokles. niz nach Berlin zog, und erbaute sich in Lietzow das Schloß Charlottenburg, wo sie einen eignen Hofhalt hattet starb 1. Febr. 1705 in Hannover auf einer Reise nach den Niederlanden. Vgl. Varnhagen v. Ense, Biographische Denkmale, Bd. 4 (3. Aufl., Leipz 1872). 5) S. Dorothea, Königin von Preußen, geb. 16. März 1687, Tochter von Sophie 2) und des Königs Georg I. von England und Nichte der vorigen, ward 28. Nov. 1706 mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen vermählt, dem sie 24. Jan. 1712 als dritten Sohn (die zwei ersten starben früh) Friedrich d. Gr., dann noch mehrere Kinder gebar. Eifrig bemüht, die Beziehungen zwischen Preußen und Hannover-England noch fester und inniger zu knüpfen, kam sie wiederholt mit dem von Österreich beherrschten Gemahl in Konflikt, namentlich als sie, um die englischen Heiraten des Kronprinzen und der Prinzessin Wilhelmine zu stande zu bringen, heimlich mit dem englischen Hofe verhandelte, und hatte von dem Jähzorn und der rauhen Härte des Königs viel zu leiden. Nach dessen Tod (31. Mai 1740) lebte sie im Schloß Monbijou in Berlin und starb 28. Juni 1757. [Rußland.] 6) S. Alexejewna, russ. Großfürstin, geb. 27. Sept. 1657, Tochter des Zaren Alexei Michailowitsch aus dessen erster Ehe mit Maria Miloslawskij und daher Halbschwester Peters d. Gr., machte sich nach dem Tode des Zaren Feodor III. 1682 durch einen Aufstand der Strelitzen zur Regentin für ihre Brüder, den blödsinnigen Iwan und den unmündigen Peter, die gemeinschaftlich den Thron bestiegen. Ihre Regentschaft währte von 1682 bis 1689. Sie maßte sich gegen das Ende dieses Zeitraums den Titel einer "Selbstherrscherin" an. Es mußte zu einem Konflikt zwischen ihr und Peter kommen. Derselbe ließ sie endlich 1689 in das Jungfrauenkloster zu Moskau bringen, wo sie 14. Juli 1704 starb. Sophienkirche, s. Konstantinopel, S. 29. Sophisma (griech.), Trugschluß, ein Schluß, den man mittels der Kunst der Sophistik zieht. Sophisten (griech.), zur Zeit des Perikles und Sokrates eine Klasse von Philosophen, welche den Unterricht in der Philosophie nicht als Sache der freien Mitteilung trieben, sondern denselben, meist von Ort zu Ort reisend, um Geld erteilten. Die Sophistik, welche Platon und Aristoteles als die Kunst, mit Hintansetzung ernsten wissenschaftlichen Sinnes den leeren Schein des Wissens zu erregen, bezeichnen, entwickelte sich zunächst aus dem Streben, dem Gedanken und der Sprache durch Biegsamkeit und Gewandtheit für politische Zwecke die möglichste Kraft, nicht sowohl der Überzeugung als der Überredung, zu geben. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Philosophie beruht vorzugsweise darauf, daß sie in ihrem übrigens durch mannigfache Kenntnisse und zum Teil durch glänzende Talente unterstützten Streben, die Haltbarkeit alles durch Überlegung zu erreichenden Wissens durch die Überlegung selbst zu untergraben und die Festigkeit sittlicher Überzeugung aufzulösen, für Sokrates und seine Nachfolger die Veranlassung wurden, die Probleme der Wissenschaft tiefer aufzufassen, als es bisher geschehen war. Die S. waren meist Lehrer der Rhetorik, erniedrigten aber die Redekunst zu bloßer Deklamation ebenso für wie wider jeden beliebigen Gegenstand. Je ausschließlicher sich die Sophistik dieser Richtung hingab, um so mehr verfiel sie in ein gehaltloses, nur auf Beifall und Gewinn gerichtetes Wesen und endigte mit frivoler Ableugnung jeder sittlichen Verbindlichkeit und mit spottender Ableitung des Guten und Gerechten aus dem gebietenden Belieben der Mächtigen. Wissenschaftlich knüpften die einen, wie Gorgias (s. d.), an die eleatische Schule, die andern, wie Protagoras (s. d.), an die Heraklitische an. Jene gaben den Eleaten darin recht, daß das Viele nicht, aber darin unrecht, daß das Eine sei; denn wäre dies, so müßte es irgendwo sein. Dann aber wäre es nicht das Einzige: also sei überhaupt Nichts (metaphysischer Nihilismus). Diese stimmten mit den Herakliteern darin überein, daß alle Dinge veränderlich seien, gingen aber dadurch über dieselben hinaus, daß auch das Wissen veränderlich sei: also gebe es überhaupt kein Wissen (logischer Nihilismus). Die berühmtesten S. außer Gorgias und Protagoras waren: Prodikos, Hippias, Thrasymachos, Kritias u. a. Vgl. Wecklein, Die S. (Würzb. 1866). Sophistik (Sophisterei, griech.), die Kunst der Sophisten im schlimmen Sinn des Wortes; dann überhaupt die Kunst, durch Zweideutigkeiten, trügerische Schlüsse (Sophismen) und halb wahre Argumente Scheinbeweise herzustellen; s. Sophisten. Sophokles, der gefeiertste tragische Dichter des griech. Altertums, geb. 496 v. Chr. im attischen Kolonos, Sohn des Sophillos, des wohlhabenden Besitzers einer Waffenfabrik, erhielt eine sorgfältige Bildung in den musischen Künsten und soll 480 den Siegesreigen nach der Schlacht bei Salamis angeführt haben. Gleich bei seinem ersten Auftreten als tragischer Dichter im Alter von 28 Jahren (468) gewann er den Sieg über den 30 Jahre ältern Äschylos, um fortan den ersten Rang in der Tragödie bis in sein hohes Alter zu behaupten. Er hat über 20 mal den ersten, nie aber den dritten Preis erhalten. Anders als Euripides beteiligte er sich am politischen Leben und bekleidete mehrere Ämter; so war er 440 mit Perikles Befehlshaber der Flotte gegen Samos. Daß er im hohen Alter von seinem Sohn Iophon, der gleichfalls als Tragiker geachtet war, wegen Unfähigkeit, sein Vermögen zu verwalten, vor Gericht gezogen sei, aber durch Vorlesung seines "Ödipus auf Kolonos" seine völlige Freisprechung erwirkt habe, scheint eine unbegründete Sage zu sein, wie sich auch mancherlei Sagen an seinen 405 erfolgten Tod, der nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen seinem Leben entsprechend ein schöner war, und sein Begräbnis anknüpften. Auf seinem Grab stand eine Sirene als Sinnbild des Zaubers der Poesie. Die Athener errichteten ihm später, wie Äschylos und Euripides, ein ehernes Standbild im Theater. S. galt schon im Altertum für den Vollender und Meister der Tragödie. Er erweiterte die dramatische Handlung durch Einführung eines dritten Schauspielers und durch die Beschränkung des Chors, dem er anderseits eine kunstreichere Ausbildung gab, wie er auch sein Personal auf 15 Mitglieder vermehrte. Indem er die Komposition der Äschyleischen Tetralogie (s. d.) verließ, gestaltete er jede Tragödie zu einem einheitlichen Kunstwerk mit einer in sich abgeschlossenen Handlung, die er im einzelnen aufs kunstvollste motivierte, namentlich aus dem Charakter der handelnden Personen. Ganz besonders zeigt sich seine Kunst in der scharfen, bis ins einzelnste sorgfältig durchgeführten Charakteristik der Personen, in der er die Mitte hält zwischen der übermenschlichen Erhabenheit des Äschylos und der Neigung des Euripides, das gewöhnliche Leben zu kopieren. Mit dem erstern hat er die tiefe Frömmigkeit gemein, die jedoch bei ihm auf einer erheblich mildern Anschauung von der Stellung der Götter zu den Menschen beruht. Die dem Wesen des S. eigentümliche Anmut zeigt sich auch in der Sprache, deren Süßigkeit von den Alten allgemein gerühmt Sophonias - Sopran. wird, und die in ihrer edlen Einfachheiten der Mitte zwischen dem großartigen Pathos des Äschylos und der Glätte und dem rhetorischen Schmuck des Euripides steht. S. gehört zu den fruchtbarsten Dichtern. Außer Päanen, Elegien, Epigrammen und einer prosaischen Schrift über den Chor hat er 123-130 Dramen verfaßt, von denen uns über 100 durch Titel und Bruchstücke bekannt, aber nur 7 vollständig erhalten sind: "Aias", "Antigone", "König Ödipus", "Ödipus auf Kolonos", "Elektra", "Trachinierinnen" (Tod des Herakles), "Philoktetes". Dieselben gehörten, mit Ausnahme der "Trachinierinnen", unter die berühmtesten des S. Von ihnen wurde "Antigone" 442, "Philoktet" 410, "Ödipus auf Kolonos" erst nach dem Tode des Dichters von seinem gleichnamigen Enkel 401 auf die Bühne gebracht; die Abfassungszeit der übrigen ist nicht genau bekannt. Namentlich die "Antigone" und der "Ödipus auf Kolonos" wurden in neuester Zeit durch deutsche Übersetzungen und die Musikbegleitung von Mendelssohn-Bartholdy für die moderne Bühne bearbeitet und seit 1841 (zuerst in Berlin) mit Beifall aufgeführt. Gesamtausgaben, außer der Editio princeps, einer Aldina (Vened. 1502), besorgten namentlich Brunck (Straßb. 1786-89, 4 Bde.), Erfurdt (Leipz. 1802-11, 6 Bde.; Bd. 7 von Heller u. Döderlein, 1825; kleinere Ausg. von G. Hermann, 3. Aufl., das. 1830-51, 7 Bde.), Schneider (Weim. 1823-30, 10 Bde.), Wunder (4., zum Teil 5. Ausg., Leipz. 1847-1879, 2 Bde.), Dindorf (3. Aufl., Oxf. 1860, 8 Bde.; auch in dessen "Poetae scenici graeci", 5. Aufl., Leipz. 1869), Schneidewin u. Nauck (zum Teil schon 9. Aufl., Berl. 1880, 7 Bde.), Nauck (das. 1868), Bergk (neue Aufl., Leipz. 1868), Wolff und Bellermann (5 Stücke, zum Teil in 4. Aufl., das.). Von Bearbeitungen einzelner Stücke sind hervorzuheben: "Aias" von Lobeck (3. Aufl., Berl. 1866), M. Seyffert (das. 1866); "Antigone" von Böckh (mit Übersetzung, neue Ausg., Leipz. 1884), Meineke (Berl. 1861), M. Seyffert (das. 1865), Schmidt (Jena 1880); "König Ödipus" von Elmsley (Cambr. 1811, Leipz. 1821), Herwerden (Utr. 1866); "Ödipus auf Kolonos" von Reisig (Jena 1820), Elmsley (Oxf. 1823, Leipz. 1824), Mineke (Berl.1864); "Philoktetes" von Buttmann (das. 1822) und M. Seyffert (das. 1867); "Elektra" von O. Jahn (3. Aufl. von Michaelis, Bonn 1882); "Trachinierinnen" von Blaydes (Jena 1872). Die Fragmente der übrigen Stücke des S. sind gesammelt von Nauck in "Fragmenta tragicorum graecorum" (2. Aufl., Leipz. 1889). Ausgaben der Scholien zu sämtlichen Stücken besorgten Elmsley und Dindorf (3. Aufl., Oxf. 1860) und Papageorg (Leipz. 1888). Ein treffliches "Lexicon Sophocleum" hat Ellendt (2. Aufl. von Genthe, Berl. 1872, 2 Bde.) veröffentlicht, ein gleiches auch Dindorf (Leipz. 1871). Von den Übersetzungen der Sophokleischen Dramen nennen wir die von Solger (3. Aufl., Berl. 1837, 2 Bde.), Donner (10. Aufl., Leipz. 1882), Thudichum (3. Aufl., das. 1875), Hartung (das. 1853), Minckwitz (neue Aufl., Stuttg. 1869), W. Jordan (Berl. 1862, 2 Bde.), Viehoff (Hildburgh. 1866), Scholl (Stuttg. 1869-71), Bruch (Bresl. 1879), Prell-Erckens (Leipz. 1883), Wendt (Stuttg. 1884, 2 Bde.) und Türkheim (das. 1887, 2 Bde.). Wilbrandt veröffentlichte "Ausgewählte Dramen des S. und Euripides, mit Rücksicht auf die Bühne bearbeitet" (Nördlingen 1866). Eine berühmte Statue des Dichters, ein griechisches Originalwerk von höchstem Kunstwert (in Terracina aufgefunden), befindet sich im Lateran zu Rom. Vgl. Lessing, Leben des S. (in dessen Werken); Schöll, S., sein Leben und Wirken (Frankf. 1842); Patin, Études sur les tragiques grecs, Bd. 2: Sophocle (5. Aufl., Par. 1877). Sophonias, s. Zephanja. Sophonisbe (Sophonibe), Tochter des karthag. Feldherrn Hasdrubal, Sohns des Gisgo, ausgezeichnet durch Schönheit, Geist und Vaterlandsliebe, ward früh mit Masinissa (s. d.) verlobt, aber dann mit König Syphax von Numidien vermählt, um denselben für Karthago zu gewinnen. Nach der Niederlage und Gefangennahme des Syphax (203 v. Chr.) fiel sie Masinissa in die Hände, der sich sofort mit ihr vermählte, um sie der Gewalt der Römer zu entziehen; als aber Scipio, den Einfluß der unversöhnlichen Feindin Roms auf Masinissa fürchtend, ihre Auslieferung forderte, trank sie heldenmütig den ihr von Masinissa gereichten Giftbecher. Vielfach dramatisch behandelt, so von Lohenstein (1666), Hersch (1859), Geibel (1873), Roeber (1884) u. a. Sophora L., Gattung aus der Familie der Papilionaceen, Bäume und Sträucher, selten Kräuter, in den tropischen und gemäßigten Gegenden der Alten und Neuen Welt, mit unpaarig gefiederten Blättern, weißen, gelben, selten violetten Blüten in endständigen Trauben oder Rispen und mehr oder weniger gestielten, rosenkranzartigen, dickschaligen, nicht aufspringenden Hülsen. S. japonica L.; ein hoher Baum mit fein gefiedertem Laub, 11-13 unterseits graugrün behaarten Blättchen mit krautartiger Borste, endständigen Blütenrispen, weißlichen Blüten und etwas fleischiger Hülse, wächst in China und Japan und wird bei uns in Gärten kultiviert. Das sehr feste Holz enthält einen stark riechenden, scharfen Stoff, der bei Verwundungen mancherlei Übel hervorrufen kann; auch wirken alle Teile des Baums purgierend. In China kultiviert man ihn in großem Maßstab, weil die getrockneten Blüten (Waifa) zum Gelb- und Grünfärben benutzt werden. - S. tinctoria, s. Baptisia. Sophron, griech. Mimendichter, aus Syrakus, älterer Zeitgenosse des Euripides, verfaßte prosaische Dialoge in dorischem Dialekt, teils ernsthaften, teils spaßhaften Inhalts, welche Szenen des Volkslebens aufs treueste schilderten. Trotz der prosaischen Form wurden seine Mimen von den Alten als Dichtungen betrachtet. Platon, durch den sie in Athen zuerst bekannt wurden, schätzte sie überaus und benutzte sie zur dramatischen Einkleidung seiner Dialoge; Theokrit nahm sie in seinen Idyllen zum Vorbild, und auch die Grammatiker schenkten ihnen wegen ihrer volkstümlichen Sprachformen besondere Beachtung. Die Dürftigkeit der erhaltenen Bruchstücke (zuletzt gesammelt von Botzon, Marienburg 1867) verstattet weder von Inhalt noch Ausführung eine Anschauung. Vgl. die Schriften von Grysar (Köln 1838), Heitz (Straßb. 1851) und Botzon (Lyck 1856). Sophronisten (griech.), Sittenmeister, bei den Griechen Beamte, welche das sittliche Verhalten der Jünglinge in den Gymnasien zu überwachen hatten. Sophrosyne (griech.), s. v. w. weise Mäßigung, eine der vier Haupttugenden der Platonischen Ethik und zwar diejenige, welche sich auf die Begierden der sinnlichen Natur des Menschen bezieht. Sopor (lat.), s. Schlafsucht. Sopran (ital. Soprano, lat. Supremus, Discantus, Cantus, franz. Dessus. engl. Treble), die höchste aller Gattungen der Singstimmen, von der Altstimme dadurch verschieden, daß ihr Schwerpunkt nicht wie bei dieser in dem sogen. Brustregister, sondern in der Kopfstimme liegt. Der S. ist entweder eine Sopranschlüssel - Sorben. Knaben- oder Kastratenstimme; die grausame, naturwidrige Kastration (s. d.) erzeugte Sopranstimmen von dem Timbre der Knabenstimme und der mächtigen Lungenkraft des Mannes. In der päpstlichen Kapelle und auch anderweit wurden statt der Kastraten, die nur zeitweilig zugelassen wurden, und statt der Knaben, welche die schwierige Mensuraltheorie nicht schnell genug zu erlernen vermochten, im 15.-17. Jahrh. sogen. Falsettisten (Tenorini, Alti naturali) zur Ausführung der Sopranparte verwendet, die darum verhältnismäßig tief geschrieben wurden, um die Stimmen nicht allzu schnell zu ruinieren. Der Normalumfang des Soprans ist vom (eingestrichenen) c' bis zum (zweigestrichenen) a''; das Brustregister erstreckt sich auf die Töne von f' oder fis' abwärts, die Kopfstimme beinahe auf den ganzen Umfang, höchstens versagen c' und d'. Es sind also dann die Töne d' bis fis' beiden Registern gemein, d. h. können auf beide Weise hervorgebracht werden. Bis zum a'' läßt sich so ziemlich jede normale Sopranstimme ausdehnen, hohe Soprane singen bis c''', phänomenale bis fis''', g''', ja c'''' (z. B. Lucrezia Agujari, gest. 1783). Vgl. Mezzosopran. Sopranschlüssel, s. v. w. Diskantschlüssel. Sopratara (ital.), s. Tara. Sora, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Caserta, am Garigliano, Bischofsitz, mit Seminar, Gewerbeschule, Resten von Mauern des antiken S. und der mittelalterlichen Burg Sorella, Tuchfabrikation, Papiermühlen und (1881) 5411 Einw. Sorácte (jetzt Monte Sant' Oreste), berühmter Berg, 45 km nördlich von Rom, die höchste Spitze eines sich zwischen der Via Flaminia und dem Tiber hinziehenden Bergrückens. Auf seinem Gipfel stand im Altertum ein berühmter Tempel des Apollon (daher dessen Beiname Soranus), dem daselbst Feste seltsamer Art gefeiert wurden. Am Abhang des Bergs befanden sich warme Quellen; an seinem Fuß lag ein Heiligtum der Feronia. Der S. ist 692 m hoch und gewährt besonders mit Schnee bedeckt einen pittoresken Anblick (candidus Soractes bei Horaz). Karlmann, der Bruder Pippins, gründete 748 am Ostabhang des S. das Kloster des heil. Silvester. Sorano, Ortschaft in der ital. Provinz Grosseto, mit Mineralquellen und (1881) 1217 Einw. Dazu gehört Sovana (Soana), ein vormals bedeutender, aber schon seit langer Zeit wegen des ungesunden Klimas verlassener Ort, mit Bistum (Sitz in Pitigliano) und großer Kathedrale, Geburtsort Papst Gregors VII. In der Nähe zahlreiche etruskische Gräber und die Trümmer des alten Saturnia. Soranus, Beiname des Apollon (s. Soracte). Sorata, Revado de (Ilampu), nächst dem Aconeagua höchster Berg des amerikan. Kontinents, erhebt sich als vulkanischer Kegel auf der östlichen Umwallung (Cordillera Real) der Hochebene von Bolivia in Südamerika, im O. des Titicacasees, und überragt das Plateau um 2700 m, indem er bis 6544 m aufsteigt. Sorau, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Knotenpunkt der Linien Sommerfeld-Iegnitz, S.-Sagan und S.-Kottbus der Preußischen Staatsbahn, 160 m ü. M., besteht aus dem Schloßbezirk, mit dem alten Schloß (von 1207) und dem daneben erbauten neuen Schloß (von 1716, jetzt Lokal der Behörden) nebst der Peterskirche (um 1200 erbaut), und der eigentlichen Stadt. Von hervorragenden Gebäuden sind zu nennen: die evangelische Hauptkirche (aus dem 14. Jahrh., 1870 restauriert), die Schloß- und Klosterkirche (1728 neugebaut) und die Gräbigerkirche (seit 1874 den Altlutheranern eingeräumt), das Rathaus, das Krankenhaus und das Waldschloß (von 1557). Öffentliche Plätze sind: der Kaiserplatz mit dem Kriegerdenkmal und der Bismarckplatz. Die Bevölkerung beträgt (1885) 13,665 Seelen, meist Evangelische, welche Tuch-, Leinwand- und Damastweberei, Färberei, Druckerei, Wachslicht-, Ziegel- u. Drainröhrenfabrikation, Porzellanmalerei, Kunst- und Handelsgärtnerei betreiben. Für den Handelsverkehr befinden sich dort eine Handelskammer und eine Reichsbanknebenstelle. S. hat ein Gymnasium, eine Webschule, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, eine Irrenanstalt und ein Waisenhaus. In der Umgegend zahlreiche Braunkohlengruben. - S. ist wendischen Ursprungs und erhielt 1260 Stadtrecht. Damals gehörte es den Burggrafen von Dewin, 1355 kam es an die Burggrafen von Biberstein, welche auch die Umgebung der Stadt, die Herrschaft S., erwarben. Diese fiel, nachdem sie 1490-1512 zu Sachsen gehört hatte, nach dem Aussterben der Burggrafen von Biberstein 1551 an König Ferdinand I. von Böhmen, der sie 1557 nebst der Herrschaft Triebel an den Bischof von Breslau, Balthasar von Promnitz, verkaufte. Der letzte Sprößling dieses Hauses überließ beide 1765 gegen eine Leibrente von 12,000 Thlr. an Kursachsen, von dem sie 1815 an Preußen kamen. Vgl. Worbs, Geschichte der Herrschaft S. und Triebel (Sor. 1826); Saalborn, Beiträge zur Geschichte von S. (das. 1876, 2) Stadt, s. Sohrau. Sorauer, Paul, Botaniker, geb. 9. Juni 1839 zu Breslau, erlernte daselbst die Gärtnerei, hörte gleichzeitig botanische Vorlesungen, ging zu weiterer praktischer Ausbildung nach Berlin, Brüssel, Paris und London, lebte ein Jahr in Donaueschingen und studierte dann 1864-68 in Berlin Naturwissenschaft, besonders Botanik. Er arbeitete als Assistent in Karstens pflanzenphysiologischem Institut und widmete seine Untersuchungen von nun an ausschließlich der Phytopathologie. Er begann Vorlesungen über diese Disziplin am landwirtschaftlichen Institut in Berlin, ging aber bald als Assistent zu Hellriegel in Dahme und folgte 1871 einem Ruf an das pomologische Institut in Proslau. Hier errichtete er die erste dem Gartenbau speziell gewidmete botanische Versuchsstation und suchte namentlich die bis dahin fast unbeachtet gebliebenen nicht parasitären Krankheiten der Pflanzen zu erforschen. Er schrieb: "Handbuch der Pflanzenkrankheiten" (2. Aufl., Berl. 1887, 2 Bde.; dazu der "Atlas", 1887 ff.); "Die Obstbaumkrankheiten" (das. 1878); "Untersuchungen über die Ringelkrankheit und den Rußtau der Hyazinthen" (Leipz. 1878); "Die Schäden der einheimischen Kulturpflanzen durch Schmarotzer etc." (Berl. Sorben (Sorbenwenden), slaw. Volk, welches im 6. Jahrh. n. Chr. das Gebiet zwischen Saale und Elbe in Besitz nahm. Schon im 7. Jahrh. den Franken unterthan, fielen die S. 631 unter ihrem Herzog Dervan ab und schlossen sich an Samo von Böhmen an. Nicht Karl d. Gr., der 782 ein Heer gegen sie aussandte, sondern erst Heinrich I. gelang um 928 ihre völlige Unterwerfung; auf ihrem Gebiet entstanden die Marken Zeitz und Merseburg, während das nördliche Sorbenland zur Mark Lausitz geschlagen wurde. Unter Otto I. brach sich das Christentum unter den S. allmählich Bahn, besonders seitdem die Bistümer Merseburg und Zeitz 968 als Mittelpunkte der Mission gegründet worden waren. Die S. verschmolzen teils mit den deutschen Einwanderern, teils zogen sie sich in die jetzigen beiden Lausitzen zurück, wo sie noch heute die ländliche Bevölkerung bilden. Über die Sprache der S. s. Wendische Sprache. Sorbett - Sorby. Die Haupterzeugnisse ihrer Litteratur findet man verzeichnet in den "Jahrbüchern für slawische Litteratur" (hrsg. von Jordan, Leipz. 1843-48; fortgesetzt von Schmaler, Bautz. Sorbett (arab.), s. Scherbett. Sorbonne, die altberühmte Theologenschule in Paris, deren Gründung auf Robert von Sorbon (gest. 1274), den Hofkaplan Ludwigs des Heiligen, zurückgeführt wird; die Bestätigungsbulle Clemens' IV. datiert von 1268. Ursprünglich ein Alumnat für arme Studierende der Theologie, gelangte die S. (welchen Namen die Anstalt erst seit dem 14. Jahrh. erhielt) durch berühmte Lehrer, welche an ihr wirkten, sowie durch reiche Ausstattung gegenüber andern ähnlichen Kollegien zu immer größerm Ansehen. In ihrem Haus fanden regelmäßig die Sitzungen der theologischen Fakultät der Pariser Universität statt, so daß es seit dem Ende des 15. Jahrh. üblich wurde, diese Fakultät selbst mit dem Namen S. zu bezeichnen. An diesen Namen knüpfen sich daher die wichtigsten Entscheidungen, welche vom Mittelalter bis zur Neuzeit für Gestaltung des Katholizismus in Frankreich ausschlaggebend waren. Aber als Vorkämpferin des Gallikanismus (s. d.) und Feindin des Jesuitenordens, dessen Einführung in Frankreich (1562) sie vergeblich zu verhindern suchte, verlor die S. allmählich an Einfluß und Ansehen in dem selben Maß, als die Macht der Päpste wuchs. Vollends war es um ihren Ruhm geschehen, als sie sich im Sinn beschränkter Orthodoxie in einen erbitterten Kampf mit den freisinnigen Schriftstellern des 18. Jahrh. einließ (vgl. Voltaires "Tombeau de la S."). Durch die Dekrete der Nationalversammlung von 1789 und 1790 wurden ihre ausgedehnten, prächtigen Gebäude (1635-53 vom Kardinal Richelieu errichtet) als Nationalgut eingezogen, 1808 aber der neuen kaiserlichen Universität wieder übergeben. Jetzt bilden sie den Mittelpunkt des Quartier latin und beherbergen die theologische, die historisch-philologische und die naturwissenschaftliche Fakultät der Pariser Universität. Vgl. Duvernet, Histoire de la S. (deutsch, Straßb. 1792, 2 Bde.); Franklin, La S. (2. Aufl., Par. 1875); Méric, La S. et son fondateur (das. 1888). Sorbus L. (Eberesche), Gattung aus der Familie der Rosaceen, Bäume von mittlerer Höhe, häufiger Sträucher, mit einfachen, gelappten oder gefiederten Blättern, in einfachen oder zusammengesetzten Trauben- oder Scheindolden stehenden Blüten und beerenartiger Apfelfrucht mit dünnhäutigen Fruchtfächern. I. Apfelbeersträucher (Adenorrhachus Dec.), Sträucher mit einfachen, auf der Mittelrippe oft mit Drüsen besetzten Blättern, einfachen Doldentrauben, weißen, an der Basis nicht bewimperten oder behaarten Blumenblättern, fünf Griffeln. Rotfrüchtiger Apfelbeerstrauch (S. arbutifolia L.), in Nordamerika, 1-2 m hoher Strauch mit aufrecht abstehenden Zweigen, länglich ovalen, unterseits behaarten Blättern und roten, behaarten Früchten, färbt sich im Herbst intensiv rot, wird als Zierstrauch angepflanzt. Ein Bastard dieser Art mit S. Aria ist S. heterophylla Rchb., mit sehr veränderlichen, ganzen, eingeschnittenen, meist mehr oder weniger gefiederten, unterseits graufilzigen Blättern, vielblütigen Doldentrauben und schwarzroten Früchten. II. Ebereschen (Aucuparia Med.), Sträucher und Bäume mit gefiederten Blättern, zusammengesetzten, rispenartigen Doldentrauben, an der Basis mit einigen abfallenden Härchen besetzten Blumenblättern, zwei oder drei Griffeln und glatten Früchten. S. aucuparia L. (gemeine Eberesche, Vogelbeerbaum, Quitzstrauch), ein mittelhoher Baum mit gefiederten, wenigstens auf der Unterseite lange Zeit wollig behaarten Blättern, gesägten Blättchen, weißen, unangenehm riechenden Blüten und roten Früchten, wächst in Europa und Nordasien bis in die subarktische Zone, im Süden auf dem St. Gotthard bis zur Grenze der Fichte. Die Eberesche gehört zu unsern schönsten Gehölzen und eignet sich trefflich zu Anpflanzungen in Gärten und an Wegen. Das ziemlich harte Holz wird von Tischlern, Büchsenschäftern und Wagnern benutzt; die Früchte dienen zum Vogelfang (aucupium, daher der Name), besonders für Drosseln (Drosselbeere), auch als Futter für Federvieh und Schafe, zur Darstellung von Äpfelsäure, Branntwein, Essig etc. III. Mehlbirn (Aria Host.), Sträucher und Bäume mit einfachen, unten filzigen Blättern, Blüten in Doldentrauben, zurückgeschlagenen Blumenblättern, wolligen Griffeln und Früchten. S. Aria Crtz. (gemeine Mehlbirn, Mehlbaum, weißer Elsbeerbaum, Alzbeere, Arlesbeere), ein 9-12 m hoher Baum mit rundlichen oder länglichen, doppelt gesägten oder eingeschnittenen, unterseits weißfilzigen Blättern, in verästelten Doldentrauben stehenden, weißen Blüten und rundlichen, rotorangen, punktierten, süß säuerlichen Früchten, findet sich in Mittel- und Südeuropa und im Orient, in der untern Alpenregion bis 1700 m, nördlich bis zum Harz, liefert Nutzholz; er wird in mehreren Varietäten in den Gärten kultiviert. Ein Bastard mit S. torminalis ist S. latifolia Pers., mit länglich breiteiförmigen, am Rand lappigen, gesägten, unterseits graufilzigen Blättern, großer, filziger Doldentraube und ovalrunden, rotorangen, gelb punktierten Früchten. IV. Elsbeerbäume (Torminaria Ser.), Bäume mit gelappten, unbehaarten Blättern, Doldentrauben, flachen, etwas bärtigen Blumenblättern, zwei Griffeln, unbehaarten Früchten. S. torminalis L. (Elsebeerbaum, Atlasbeerbaum), ein mittelhoher Baum mit eirunden, tief und ungleich gelappten, ungleich scharf gesägten, unbehaarten Blättern, filziger Doldentraube, weißen Blüten und graubraunen, weiß punktierten Früchten, ist in Mitteleuropa einheimisch, bei uns nördlich bis zum Harz, liefert genießbare Früchte u. Nutzholz (Atlasholz). V. Speierling (Cormus Spach), mit gefiederten Blättern, an der Basis wolligen Blumenblättern und fünf meist einsamigen, im Querdurchschnitt spitzen Fruchtfächern. S. domestica L. (Speierling, Sperber-, Spierlingsvogelbeere), ein großer Baum mit gefiederten Blättern, gesägten, unterseits meist weißlich behaarten Blättchen, kleinen Blüten in endständiger Doldentraube und birn- oder apfelförmigen, orangegelben Früchten, welche durch Liegen weich und wohlschmeckend werden, wächst in Italien, Frankreich und dem westlichen Nordafrika, wird in Süddeutschland in Gärten kultiviert und findet sich bei uns verwildert bis zum Harz. Sorby, Henry Clifton, Naturforscher, geb. 10. Mai 1826 zu Woodbourne bei Sheffield, widmete sich naturwissenschaftlichen Studien auf seinem Gut Broomfield bei Sheffield und erreichte bedeutende Erfolge namentlich durch Anwendung mikroskopischer Forschungen auf physikalische Gegenstände und physikalischer Methoden aus geologische Probleme. Er wies zuerst auf die mikroskopische Untersuchung der Kristalle und Gesteine und auf die Wichtigkeit derselben für theoretische Schlußfolgerungen hin und veröffentlichte seine ersten darauf bezüglichen Arbeiten 1858 im "Quarterly Journal of the Geological Society". Er wandte auch zuerst die Spektralanalyse Sordid - Soria. bei mikroskopischen Untersuchungen an und konstruierte ein Spektroskop zur Analyse gefärbter Flüssigkeiten, welches seitdem weite Verbreitung gefunden hat. Sordid (lat.), schmutzig, unflätig, geizig; Sordidität, schmutziges Wesen, Geiz. Sordino (ital.), s. Dämpfer. Sordo (ital.), musikal. Bezeichnung: gedämpft. Sordun, Name eines im 17. Jahrh. gebräuchlichen Holzblasinstruments und einer veralteten Orgelstimme von gedämpftem Klang. Soredien (griech.), s. Flechten, S. 353. Sorel, Stadt in der britisch-amerikan. Provinz Quebec, am St. Lorenzstrom, an der Mündung des Richelieu, hat Handel, Fischerei und (1881) 5791 Einw. Sorel, 1) (Soreau) Agnes, die Geliebte König Karls VII. von Frankreich, geboren um 1409 zu Fromenteau in Touraine von adligen Eltern, kam als Ehrendame der Herzogin von Anjou, Isabella von Lothringen, 1431 (also erst nach dem Tode der Jungfrau von Orléans) an den französischen Hof und fesselte durch ihre Schönheit und Geistesbildung den König so sehr, daß er sie zur Ehrendame der Königin ernannte und ihr das Schloß Beauté an der Marne schenkte, daher ihr Name Dame de Beauté. Obwohl sie ihren Einfluß auf den König nie mißbrauchte und selbst die Achtung der Königin genoß, hatte sie doch viel von der Roheit des Dauphins, nachmaligen Königs Ludwig XI., zu leiden. Nachdem sie seit 1442 zu Loches in der Zurückgezogenheit gelebt, ließ sie die Königin wieder an den Hof kommen. Um dem König stets nahe zu sein, begab sie sich nach dem Schloß Masmal la Belle, wo sie aber schon 9. Febr. 1450 starb. Sie hinterließ dem König drei Töchter. Vgl. Steenackers, Agnes S. et Charles VII (Par. 1868). 2) Albert, franz. Schriftsteller, geb. 13. Aug. 1842 zu Honfleur (Calvados), war 1866 im Auswärtigen Ministerium angestellt, begleitete 1870 die Delegation nach Tours und Bordeaux, ward 1872 Professor der diplomatischen Geschichte in Paris und 1876 Generalsekretär des Präsidiums des Senats. Außer vielen Artikeln in der "Revue des Deux Mondes" und andern Zeitschriften schrieb er die Romane: "La grande falaise" (1872) und "Le Docteur Egra" (1873) und die historischen Werke: "Le traité de Paris du 20 nov. 1815" (1873); "Histoire diplomatique de la guerre franco-allemande" (1875, 2 Bde.); "Laquestion d'Orient au XVIII. siècle" (1878); "Essais d'histoire et de critique" (1882); "L'Europe et la Révolution française" (1885-87, 2 Bde.); "Montesquieu" (1887), und in Gemeinschaft mit Funck-Brentano: "Précis du droit des gens" (2. Aufl. 1887). Soresina, Stadt in der ital. Provinz Cremona, an der Eisenbahn von Treviglio nach Cremona, hat Seiden- und Weinkultur, Bereitung von Senf und Konfitüren, Handel und (1881) 6765 Sorex, Spitzmaus. Sorèze (spr. ssorähs), Flecken im franz. Departement Tarn, Arrondissement Castres, pittoresk durch Lage und Bauart und berühmt durch ein Collège der Benediktiner, mit (1881) 1348 Einw. In der Nähe eine große Stalaktitengrotte und das Bassin von St.-Ferréol des Canal Sorgh, Hendrik Martensz, niederländ. Maler, geboren um 1611 zu Rotterdam, war dort Schüler des Willem Buyteweck und starb daselbst um 1670. Er hat biblische Darstellungen in genrehafter Auffassung (z. B. die Anbetung der Hirten, in Petersburg, die Parabel vom Weinberg des Herrn, in Dresden) und Genrebilder aus dem Volksleben (Fisch- und Gemüsemärkte, Interieurs mit Figuren), aber auch Marinen und Flußufer gemalt, die zum Teil den Einfluß von C. Saftleven zeigen und sich durch Feinheit der Färbung und Lebendigkeit der Darstellung auszeichnen. Sorghum Pers. (Mohrenhirse), Gattung aus der Familie der Gramineen, in wärmern Ländern heimische große, breitblätterige Gräser mit markigem Stengel, reichverzweigten, derbästigen Rispen mit elliptischen bis kugelig elliptischen Ährchen, lederigen, schwach behaarten, an der Spitze gezähnelten, selten begrannten Hüllspelzen, tief ausgerandeten, begrannten oder grannenlosen Deckspelzen und mehligen Samen. S. vulgare Pers. (Mohren-, Moorhirse, Kafferkorn, Negerkorn, Durrha, Dari, Dara, Doura [S. tartaricum]), einjähriges Gewächs mit knotig gegliedertem, bis 5 m hohem Halm, eirund-ovaler, zusammengezogener, fast kolbenförmiger Rispe und braunen, braunroten oder schwarzen Spelzen, stammt vielleicht aus Indien, kam zu Plinius' Zeit nach Europa, im 13. Jahrh. nach Italien und im 16. Jahrh. als sarazenische Hirse nach Frankreich. Sie wird jetzt als Charakterpflanze Afrikas an der West- und Ostküste, in der Nordhälfte bis Timbuktu, in Abessinien bis 2500 m ü. M. als Brotkorn gebaut, auch in Polen, Ungarn, Dalmatien, Portugal, Italien, in Arabien, Ostindien und Turkistan in mehreren Varietäten kultiviert. In Afrika liefert sie unter allen Brotfrüchten die reichsten Erträge. Man bereitet aus den Körnern auch Grütze, ein berauschendes Getränk und Essig und verarbeitet sie in Belgien, Irland, Schottland in den Brennereien; außerdem dienen sie, wie auch die Halme mit den Blättern, als Viehfutter; aus den entkernten Blütenrispen macht man die sogen. Reisbesen (Besenkraut). S. saccharatum Pers. (Zuckermoorhirse, Himalajakorn), 3-3,75 m hoch, mit quirlästiger Rispe mit überhängenden Ästen, aus Ostindien und Arabien stammend, wird in China, Südafrika und dem südlichen Nordamerika sehr ausgedehnt kultiviert. 1857 importierte man nach Amerika den ersten Samen, und 1863 waren schon 250,000 Acres mit S. (Imphee) bebaut, aus dessen Stengeln man Zucker gewann. Als indisches Futter-Sorgho (indisches Korn) wurde die Pflanze auch bei uns zum Anbau als Grünfutter empfohlen; sie gibt hohen Ertrag, ist aber unsicherer als Mais und verlangt heiße Sommer zu ihrem Gedeihen. Vgl. Collier, S., its culture etc. (Lond. 1884). Sorgues (spr. ssorgh), Flecken im franz. Departement Vaucluse, Arrondissement Avignon, am gleichnamigen Fluß, welcher seinen Ursprung in der wasserreichen Quelle Vaucluse (s. d.) hat und nach 40 km langem Lauf in den Rhône mündet, und an der Eisenbahn Lyon-Marseille (Abzweigung nach Carpentras) gelegen, hat Weinbau, Seidenspinnerei, Fabrikation von chemischen Produkten und (1881) 2977 Einw. Soria, span. Provinz in der Landschaft Altkastilien, grenzt im N. an die Provinz Logroño, im O. an Saragossa, im Süden an Guadalajara, im W. an Segovia u. Burgos und hat ein Areal von 10,318 qkm (187,4 QM.). Das Land ist im ganzen ein Hochplateau, welches im N. von Berggruppen des Iberischen Gebirgssystems (darunter Pico de Urbion, 2252 m, Sierra del Moncayo, 2349 m), im südlichen Teil von den Ausläufern des Kastilischen Scheidegebirges eingeschlossen wird. Das Zentrum der Provinz bildet das Becken des obern Duero, welcher hier den Rituerto und Ucero aufnimmt. Einige Wasserläufe im östlichen Teil, darunter der Jalon, fließen dem Ebro zu. Im N. finden sich große Kiefernwaldungen, sonst aber herrscht Mangel an Bäumen, dafür jedoch sehr reicher Graswuchs auf den öden Hochflächen. Das Klima ist Soria - Sosh. in den Thälern mild, auf den Gebirgen rauh. Die sehr spärliche, arme Bevölkerung betrug 1878: 153,652 Seelen, demnach nur 15 pro QKilometer (1886 auf 162,000 Seelen geschätzt). Die wichtigsten Produkte sind: Schafe, Pferde, Maulesel, Getreide, Wein (geringe Qualität), Öl, Flachs und Hanf; das Mineralreich bietet wohl Erze, welche aber nicht abgebaut werden, dann Salz und Gips. Hauptbeschäftigung bildet Vieh-, besonders Schafzucht, daneben kommen höchstens noch Weberei und Gerberei in Betracht. Die Südostecke der Provinz wird von der Spanischen Ostbahn (Madrid-Saragossa) durchschnitten. Die Provinz umfaßt fünf Gerichtsbezirke (darunter Burgo de Osma und Medinaceli). - Die gleichnamige Hauptstadt, rechts am Duero, mit zinnengekrönten Mauern umgeben und von einem hochgetürmten Schloß überragt, hat (1886) 5834 Einw. u. ist Sitz des Gouverneurs. Soria, Fabrikstadt im mexikan. Staat Guanajuato, bei Celayo, hat eine Baumwollspinnerei u. -Weberei und eine Kasimirfabrik. Soriano, Departement des südamerikan. Staats Uruguay, 9223 qkm (151,2 QM.) groß mit (1885) 24,988 Einw., am Uruguay, ist malerisch gelegen und hat viel Viehzucht (Schafe, Rinder). Hauptstadt ist Mercedes am Rio Negro, 30 km oberhalb dessen Mündung in den Paraguay, mit 4000 Einw.; der älteste Ort aber ist Soriano, an der Mündung des genannten Flusses, 1624 gegründet, mit 600 Einw. Soriano nel Cimino (spr. tschi-), Dorf in der ital. Provinz Rom, Kreis Viterbo, am Fuß des Monte Cimino, hat Ringmauern und (1881) 4601 Einw. Soringaöl (Sorinjaöl), s. Behenöl. Soristan, s. v. w. Syrien. Sorites (griech., Kettenschluß), ein aus mehreren Schlüssen zusammengesetzter Schluß, dessen Erfindung gewöhnlich dem Eubulides zugeschrieben wird. Derselbe entsteht, indem zwei Schlüsse enthymematisch, d. h. durch Hinweglassung entweder des Ober- (Aristotelischer S.) oder des Untersatzes (Goclenianischer S.), abgekürzt und so verbunden werden, daß sie alle einen gemeinschaftlichen Schlußsatz erhalten; z. B.: die Gestirne sind Körper; alle Körper sind beweglich; alles Bewegliche ist veränderlich; alles Veränderliche ist vergänglich: also sind die Gestirne vergänglich (Krug). Sorlingues (spr. ssorlängh), s. Scillyinseln. Sorö, dän. Amt auf der Insel Seeland, 1475 qkm (26,8 QM.) mit (1880) 87,509 Einw. Die gleichnamige Hauptstadt in schöner Lage am Sorösee und an der Eisenbahn von Kopenhagen nach Korsör, mit berühmter Akademie und (1880) 1464 Einw. Die Akademie (jetzt gelehrte Schule und Erziehungsanstalt), eine der reichsten Stiftungen des Landes, wurde 1586 aus den Einkünften der 1161 hier gegründeten Cistercienser-Mönchsabtei gestiftet und 1822 neu organisiert. Von den großartigen alten Klostergebäuden ist nur noch die Kirche (mit den Grabmälern mehrerer dänischer Könige und Ludwig Holbergs) vorhanden. Sörö, norweg. Insel an der Küste des Nördlichen Eismeers, unweit der Stadt Hammerfest, 971 qkm (17,6 QM.) groß. Sorocaba, Stadt in der brasil. Provinz São Paulo, am gleichnamigen Nebenfluß des Tieté, in fruchtbarer Gegend, hat vielbesuchte Maultier-, Pferde- und Rindviehmärkte und 3000 Einw. 5 km nördlich davon liegen die Eisenhütten von Ipanema. Soroki (Ssoroki), Kreisstadt im russ. Gouvernement Bessarabien, rechts am Dnjestr, hat 2 Kirchen und (1885) 11,876 Einw., welche Handel mit Tabak, Wein und Getreide treiben. An der Stelle von S. stand einst Olchionia, ein Handelsplatz der Genuesen. Im Bukarester Traktat 1812 kam S. an Rußland. Sorr, Dorf in Böhmen, s. Soor. Sorrénto, Stadt in der ital. Provinz Neapel, Kreis Castellammare, in reizender Lage auf der Nordseite der Halbinsel von S., welche den Golf von Neapel von dem von Salerno trennt, an der landschaftlich schönen Straße von Castellammare nach Massa, von Orangen- und Olivenhainen, Wein-, Obst- und Maulbeerpflanzungen umgeben, ist Sitz eines Erzbischofs, hat Reste von römischen Bauwerken, eine Kathedrale, ein Seminar, Seebäder, Schiffahrt und Handel (in der Marina von S. sind 1886: 91 Schiffe mit 38,025 Ton. angelaufen), Seidenindustrie, Fabrikation von Holzmosaikwaren und (1881) 6089 Einw. Die schöne Lage und das herrliche Klima machen es zum Lieblingsaufenthalt der Fremden auch im Sommer (zahlreiche Hotels und Villen). Einen malerischen Anblick gewährt die Küste ringsumher durch ihre jäh niederstürzenden, 30-60 m hohen Felswände mit Höhlen und tiefen Einkerbungen. Die Umgebung der Stadt enthält zahlreiche schöne Punkte (wie das ehemalige Kloster Deserto, der Arco naturale, die Punta della Campanella etc.). S., im Altertum Surrentum, war eine uralte, anfänglich etruskische Stadt Kampaniens, später römische Kolonie und ist Geburtsort Torquato Tassos, welchem hier ein Denkmal errichtet worden ist. Sört (Saird), Hauptort eines Liwa im asiatisch-türk. Wilajet Bitlis, zwischen dem Bitlis Su und dem östlichen Tigris (Schatt), ist Sitz eines nestorianischen Bischofs, hat einige Moscheen und 5000 Einw. Sorte (franz.), Art, Gattung, besonders von Waren oder Geld; Sortenzettel, s. Bordereau. Sortes ("Lose"), bei den Römern Losorakel, von denen sich besonders die zu Antium, Cäre und Präneste großen Ansehens erfreuten. Die letztern wurden geleitet durch den Willen der Fortuna Primigenia (s. d.) und bestanden aus sieben eichenen, mit alten Schriftzügen versehenen Stäbchen, welche, nachdem der Befragende sich mit Gebet und Opfer an die Göttin gewendet hatte, ein Knabe mischte, um sodann eins davon zu ziehen. Mit Unrecht führen den Namen S. Praenestinae einige inschriftlich erhaltene Prophezeiungen (vgl. Preller-Jordan, Römische Mythologie, Bd. 2, S. 190). S. nannte man dann auch die als Prophezeiungen verwendeten Stellen eines Buches (z. B. der Bibel), welche durch Aufschlagen ermittelt wurden, oder auch auf Blätter geschriebene Verse (namentlich des Vergil), die man Sortie (franz., spr. ssortih), Ans-, Weggang; Ausfall, Ausfallthor; s. de bal, leichter Damenumhang. Sortieren (franz.), nach Sorten ordnen. Sortiment (franz. assortiment), Sammlung von Gegenständen derselben Gattung, aber von den verschiedensten Arten, besonders in gehöriger Abstufung der Güte (vgl. Assortiment); Sortimentshandel, s. Buchhandel, S. 574. Sortita (ital.), die Eintrittsarie der Primadonna in der italienischen Oper früherer Zeit, auf welche die Komponisten großen Fleiß verwandten, um sie zu einer dankbaren und brillanten Nummer zu gestalten. Sorus (lat.), Fruchthäufchen, s. Farne, S. 51. Sosandra, mutmaßlicher Beiname der Aphrodite, von welcher Kalamis (s. d.) eine berühmte Statue (auf der Akropolis zu Athen) gemacht hatte. Sosh (Ssosh), Nebenfluß des Dnjepr in Rußland, durchfließt die Gouvernements Smolensk und Mohilew und ist durch seine Schiffbarkeit für den Handel Sosier - Sottie. Sosier (Sosii), Name einer Buchhändlerfirma im alten Rom, zur Zeit des Augustus, welche einen großen, von Horaz rühmend erwähnten Betrieb hatte; deshalb typischer Name für angesehene Buchhändler. Sosiphanes, griech. Tragiker der sogen. Pleias, aus Syrakus, lebte um 300 v. Chr. und soll 73 Tragödien geschrieben haben, von denen aber nur geringe Fragmente (bei Nauck: "Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz. 1889) erhalten Sositheos, griech. Tragiker der sogen. Pleias, aus Alexandria in Troas, lebte um 280 v. Chr. zu Athen und Alexandria in Ägypten und gilt als Wiederhersteller des Satyrspiels. Von seinen Dramen sind nur spärliche Fragmente erhalten (bei Nauck: "Tragicorum graecorum fragmenta", 2. Aufl., Leipz. Sosna (Ssosna), Fluß im russ. Gouvernement Orel, fließt zwischen waldlosen, steilen Ufern hin und mündet von rechts in den Don; 220 km lang. Sosniza (Ssosniza), Kreisstadt im russ. Gonvernement Tschernigow, unweit der Mündung der Ubeda in die Desna, hat 5 Kirchen, ein Stadtkrankenhaus und (1885) 6774 Einw., welche sich vornehmlich mit Ackerbau und Tabaksanpflanzung beschäftigen. Ursprünglich eine Stadt des Tschernigower Fürstentums, stand S. lange unter polnischer Herrschaft, bis es 1686 die Russen wieder in Besitz nahmen. Sóso, afrikan. Stadt, s. Saria. Sosos, griech. Mosaikkünstler, der wahrscheinlich zur Zeit der Attaliden zu Pergamon thätig war. Dort befand sich sein berühmtes Werk mit den vier trinkenden oder sich sonnenden Tauben auf dem Rand eines Wassergefäßes, aus natürlichen Steinen zusammengesetzt, wovon sich eine römische Nachbildung im kapitolinischen Museum zu Rom Sospel (ital. Sospello), Stadt im franz. Departement Seealpen, Arrondissement Nizza, in einem tiefen Thal an der Bevera und an der Straße zum Col di Tenda, hat Reste alter Befestigungen und (1881) 3097 Einw. Sospirante (ital.), seufzend. Sospiro (ital., franz. soupir, "Seufzer"), in der Notenschrift s. v. w. Viertelpause. Sospita (auch Sispita, Sospes, Sispes, "Erretterin, Heilbringerin"), Beiname besonders der Juno, als welche sie namentlich in Lanuvium, aber auch in Rom verehrt wurde, angethan mit Ziegenfell, welches ihr zugleich als Helm und als Panzer diente, gebogenen Schnabelschuhen, Schild und Spieß. Eine vorzügliche Statue derselben enthält das vatikanische Museum zu Rom. Sospität (lat.), Wohlsein, Wohlstand. Sostenuto (ital.), s. v. w. gehalten, eine Tempobezeichnung, die etwa mit Andante oder Adagio übereinstimmt, zu welchen beiden es auch als Zusatz Sotades, griech. Dichter, aus Maroneia in Thrakien, lebte in Alexandria unter Ptolemäos Philadelphos (um 280 v. Chr.) und soll auf Geheiß des Königs, dessen Ehe mit seiner leiblichen Schwester Arsinoe er verspottet hatte, ersäuft worden sein. Er verfaßte im ionischen Dialekt und einem eigentümlichen nach ihm benannten Metrum (Sotadeen, Grundschema: ^^^^^^^^^^^^^^) boshafte Spottgedichte und mythologische Travestien zum Teil unzüchtigen Inhalts, welche auf mündlichen Vortrag unter mimischer Tanzbegleitung berechnet waren. Diese sogen. Sotadische Dichtgattung fand zahlreiche Nachahmer. Vgl. Sommerbrodt, De phlyacographis Graecorum (Bresl. 1875). Soetbeer (spr. söt-), Adolf, deutscher Nationalökonom, geb. 23. Nov. 1814 zu Hamburg, studierte Philologie, wurde infolge seiner Schrift "Des Stader Elbzolls Ursprung, Fortgang und Bestand" 1840 Bibliothekar der Kommerzbibliothek und 1843 Sekretär und Konsulent der Kommerzdeputation in Hamburg. Die Universität Kiel ernannte ihn zum Ehrendoktor der Rechte. 1872 siedelte er nach Göttingen über, wo er zum Honorarprofessor und Geheimen Regierungsrat ernannt wurde. S. hat seit vielen Jahren eifrig für eine deutsche Münzreform auf Grundlage der Goldwährung gewirkt; auch der Münzgeschichte, der Statistik der Flußschiffahrt, den Handelsverträgen widmete er ein reges Interesse. Er übersetzte Mills "Politische Ökonomie" (4. Ausg., Leipz. 1881, 3 Bde.), schrieb Kommentare zum deutschen Münzgesetz und dem deutschen Bankgesetz (Erlang. 1874-76) und veröffentlichte außerdem: "Edelmetallproduktion und Wertverhältnis zwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerikas" (Gotha 1879) und "Materialien zur Erläuterung und Beurteilung der wirtschaftlichen Edelmetallverhältnisse und der Währungsfrage" (2. Ausg., Berl. 1886). Soteira (griech., "Retterin"), Name der Göttinnen, welche als Schützerinnen eines Landes galten, z. B. der Artemis in Korinth, der Athene in Athen. Soter (griech., "Erhalter, Retter"), Beiname aller Stadt und Land beschützenden Götter, des Zeus, Helios, Apollon, Dionysos, Asklepios, Poseidon, Herakles etc.; auch Beiname vieler Könige und Kaiser. Soteriologie (griech.), die Lehre von Christus als dem Erlöser (Soter). Sothisperiode (Hundssternperiode), s. Periode. Sotnie (russ.), bei den Kosaken s. v. w. Kompanie oder Eskadron; Sotnik, der Kommandant einer S. Soto, 1) (Sotus) Dominico de, gelehrter kathol. Theolog, geb. 1494, war Dominikaner, beteiligte sich 1545-47 am Konzil von Trient, war 1547-50 Beichtvater Karls V. und lebte später zu Salamanca, wo er 1560 starb. Unter seinen Schriften ward namentlich die "De justitia et jure" (Salam. 1556) dadurch berühmt, daß sie dem Volk das Recht vindiziert, einen tyrannischen Fürsten abzusetzen. Auch bekämpfte S. als einer der ersten den Negerhandel. 2) Hernando de, span. Seefahrer, geboren um 1496 zu Villanueva in Estremadura, machte erst Entdeckungsreisen auf Cuba, ward Gouverneur von Santiago de Cuba, erbaute das 1528 von französischen Seeräubern zerstörte Havana wieder, begleitete dann 1532 Pizarro auf seiner Unternehmung gegen Peru und kundschaftete das Land aus, zeigte sich human und mild und suchte vergeblich Atahualpas Hinrichtung zu hindern, unternahm 1539 die Eroberung Floridas und kam auf einer seiner Expeditionen 25. Juni 1542 um. Vgl. Garcilaso de la Vega, Historia del adelantado H. de S. (Madr. 1723). Sotteville (spr. ssott'wil, S. lès Rouen), Dorf im franz. Departement Niederseine, links an der Seine, Rouen gegenüber, an der Eisenbahn Paris-Le Havre, hat Eisenbahnwerkstätten der Ostbahn, Baumwollspinnerei und -Weberei, Fabriken für Chemikalien, Seilerwaren, Öl, Seife etc. und (1886) 13,628 Einw. Sottíe (franz. sotie, von sot, "Narr"), Narrenspiel, Name einer Art dramatischer Possen oder Satiren, welche wie die Moralitäten und Farcen den Anfangszeiten des französischen Dramas angehörten, und deren Personen Narren waren. Sie wurden von den Enfants sans souci (s. d.), dann auch von den Mitgliedern der Bazoche (s. d.) aufgeführt und zeichneten sich besonders durch die Plumpheit ihrer Rollen und kühn tadelnde Sprache aus. Seit Gringore (s. d.), Sottise - Söul. der viele solcher Stücke schrieb, meist mit typischen Narrenfiguren, wie le prince Sot, la mère Sotte etc., wurden sie ausgeführter und erhielten eine politisch- oder kirchlich-satirische Zuspitzung. In der ersten Hälfte des 17. Jahrh. verschwanden die Sottien allmählich von der Bühne wie von der Straße. In Deutschland, wohin sich dieselben von Frankreich aus auch verbreiteten, verschmolzen sie mit den Fastnachtsspielen (s. d.). Sottise (franz.), Albernheit; beleidigende Rede. Sottovoce (ital., spr. ssottowohtsche), mit gedämpfter Stimme, halblaut. Sou (franz., spr. ssu. früher Sol), franz. Kupfermünze, ehedem die Basis der französischen Münzrechnung, 20 Sous = 1 Livre; jetzt das 1/20-Frank- oder 5-Centimesstück. Soubise (spr. ssubihs'), Zwiebelpüree; à la S., mit Zwiebelpüree. Soubise (spr. ssubihs'), altes franz. Geschlecht, dessen Güter und Titel 1575 durch die Verheiratung der Erbtochter des Hauses, Catherine de Parthenay, mit dem Vicomte René II. von Rohan auf das Geschlecht der Rohans übergingen. Merkwürdig sind die beiden aus dieser Ehe entsprossenen und als Kriegshäupter der Hugenotten berühmten Söhne: der Herzog Henri von Rohan (s. d.) und Benjamin von Rohan, Baron von Frontenai, als Erbe seiner Mutter Herr von S., geb. 1583. Er focht schon unter Moritz von Oranien in den niederländischen Feldzügen und schloß sich 1615 der Partei des Prinzen Condé an. In den Religionskriegen, die unter Ludwig XIII. 1621 wieder begannen, führte er das Kommando über die Hugenotten in den Provinzen Poitou, Bretagne und Anjou mit vieler Umsicht und bewies besondere Tapferkeit bei der Verteidigung von St.-Jean d'Angely, mußte aber 1622 vor der feindlichen Übermacht nach La Rochelle zurückweichen. S. bemächtigte sich darauf der Inseln Ré und Oleron (Anfang 1625) sowie in dem Hafen Blavet an der bretagnischen Küste der königlichen, aus 15 großen Schiffen bestehenden Flotte. Dagegen mißlang seine Expedition nach der Landschaft Médoc. Am 15. Sept. 1625 schlug ihn der Herzog von Montmorency auf der Höhe der Insel Ré und vertrieb ihn aus Oleron. S. unternahm darauf eine zweite Reise nach England, wo er Karl I. bewog, nacheinander drei ansehnliche Flotten dem bedrängten La Rochelle zu Hilfe zu schicken; gleichwohl fiel dies letzte Bollwerk der Hugenotten. Obschon in den Frieden vom 29. Juni 1629 eingeschlossen, blieb S. dennoch in England, um von hier aus die Sache der Protestanten zu fördern. Er starb 9. Okt. 1642 in London, ohne Kinder zu hinterlassen. Die Güter und Titel des Hauses S. erbte einer seiner Seitenverwandten, François von Rohan. Ein Nachkomme dieses letztern war Charles von Rohan, Prinz von S., Pair und Marschall von Frankreich, geb. 16. Juli 1715; er begleitete Ludwig XV. als dessen Adjutant in den Feldzügen von 1744 bis 1748 und nötigte 1746 Mecheln zur Kapitulation, infolgedessen er 1748 zum Maréchal de Camp und 1751 zum Gouverneur von Flandern und Hennegau ernannt wurde. Bei Beginn des Siebenjährigen Kriegs mit dem Kommando über ein Korps von 24,000 Mann betraut, eroberte er Wesel, besetzte Kleve und Geldern und vereinigte sich mit der deutschen Reichsarmee, um Sachsen von den Preußen zu säubern. In Gotha aber im September von Seydlitz beim Diner im Schloß überfallen, ergriff er eiligst die Flucht, und 5. Nov. erlitt er bei Roßbach eine schimpfliche Niederlage. Gleichwohl verlieh ihm Ludwig XV. das Portefeuille des Kriegsministers und sandte ihn 1758 mit dem Herzog von Broglie wieder auf den Kriegsschauplatz in Deutschland. Wiewohl zwischen beiden fortwährende Eifersucht herrschte, errangen sie 10. Okt. 1758 bei Lutternberg doch einen Sieg, infolge dessen Hessen in ihre Hände fiel. S. erhielt daher den Marschallsstab und behielt das Kommando bis zum Friedensschluß von 1763. Nach dem Tode der Pompadour fand er eine ebenso starke Stütze an der Dubarry. Als Ludwig XV. starb, war er der einzige von den Hofleuten, welcher den Leichnam bis zu seiner Bestattung nicht verließ; dieser Zug der Ergebenheit bewog Ludwig XVI., S. die Stelle im Ministerrat zu lassen. Er starb 4. Juli 1787, und mit ihm erlosch die Linie von Rohan-S. Soubrette (franz., spr. ssu-), Rollenfach der französischen und deutschen Bühne. Eigentlich Zofe, Kammerjungfer, mit dem Nebenbegriff der List und Verschmitztheit, bezeichnet S. jetzt eine muntere oder komische jugendliche Mädchenrolle und ist besonders in der modernen Operette u. Posse zu Bedeutung gelangt. Souche (franz., spr. ssuhsch), "Stumpf" am Stammregister oder Juxtabuch (s. d.). Souches (spr. ssuhsch), Louis Rattuit, Graf von, kaiserlicher Feldherr, geb. 1608 zu La Rochelle als Sohn eines protestantischen Edelmanns, verließ Frankreich nach dem Hugenottenkrieg 1629 und begab sich erst in schwedische, dann in kaiserliche Kriegsdienste, zeichnete sich im Dreißigjährigen Krieg, insbesondere als tapferer Verteidiger Brünns gegen die Schweden (1645), dann gegen die Türken aus, eroberte 1664 Neutra, kämpfte bei St. Gotthardt mit, ward Kammerherr, Hofkriegsrat und Feldmarschallleutnant, befehligte 1674 die Kaiserlichen in den Niederlanden, schadete aber den Unternehmungen der Verbündeten durch sein verdächtiges, aus seinem Starrsinn und seiner Unbotmäßigkeit erklärliches Zaudern, namentlich in der Schlacht bei Senesse, so daß er abberufen wurde, und starb 1682 in Mähren. Soufflé (franz., Omelette soufflée), Eierauflauf. Soufflet (franz., spr. ssufla, Blasebalg), faltige Seitenwände an Koffern etc., welche die Vergrößerung des Raums ermöglichen. Souffleur (franz., spr. ssuflör, "Einblaser"), am Theater diejenige Person, welche, unter einem in der Mitte des Proszeniums auf dem Podium angebrachten Kasten sitzend, während der Vorstellung das Stück aus dem Buch abliest, um dem Gedächtnis der Schauspieler zu Hilfe zu kommen. Soufflieren, einem das zu Sagende zuflüstern, den S. Soufflot (spr. ssufloh), Jacques Germain, franz. Architekt, geb. 1713 zu Irancy bei Auxerre, studierte in Rom, erbaute dann in Lyon das Hospital und ging 1750 zum zweitenmal nach Italien. Nach seiner Rückkehr begann er sein Hauptwerk, die Kirche Ste.-Geneviève in Paris (jetzt Panthéon), deren großartige Kuppel zu den schönsten der Welt gehört. Er erbaute auch die Sakristei und die Schatzkammer von Notre Dame in Paris und starb 1781 daselbst. Souffrance (franz., spr. ssufrangs), Leiden; auch s. v. w. streitiger Posten (in einer Rechnung). Souillac (spr. ssnják), Stadt im franz. Departement Lot, Arrondissement Gourdon, an der Dordogne, mit Handelsgericht, schöner Kirche (12. Jahrh.), Gewehrfabrik, Gerberei, Färberei und (1881) 2749 Einw. Söul, Hauptstadt des Königreichs Korea, am rechten Ufer des Hanflusses, 45 km (nach dem Stromlauf 120 km) von dessen Mündung in das Gelbe Meer, unter 37° 31' nördl. Br. und 127° 19' östl. L. v. Gr., hat 150,000, mit Einschluß der weithin sich erstreckenden Soulagieren - Soult. Vorstädte 300,000 Einw. Von Ausländern zählte man 1887: 619 (300 Chinesen, 263 Japaner, 26 Amerikaner, 11 Deutsche, 8 Engländer etc.). Die eigentliche Stadt liegt 5 km vom Fluß, in einem Becken, das auf drei Seiten von Höhen eingefaßt wird, an denen die Stadtmauer hinläuft, durch welche vier den Haupthimmelsrichtungen entsprechende Thore führen. Im Zentrum der Stadt steht ein hölzerner Turm, dessen Glocke das Zeichen zum Öffnen und Schließen der Thore gibt. Die Straßen sind eng und schmutzig, nur drei können von Wagen benutzt werden; die Häuser sind niedrig und ärmlich, auch die auf weiten, von Mauern umschlossenen Plätzen erbauten Wohnungen der Vornehmen kaum besser. Die weiten Plätze sind öde; einen Garten besitzt nur der König, dessen Palastgebäude mit großem Exerzierplatz, Teichen etc. 2,6 qkm bedecken und von einer 12 m hohen Mauer eingefaßt werden, durch welche drei Thore führen. S. ist Residenz des Königs und Sitz der Regierung sowie der diplomatischen Vertreter Deutschlands, Englands, Japans, Chinas, Rußlands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die Industrie war früher weit bedeutender; nennenswerte Produkte sind: Seide, Papier, Matten, Fächer, Dachziegel, Tabak, Bürsten. Soulagieren (franz., spr. ssulasch-), erleichtern, helfen, erquicken; Soulagement (spr. ssulaschmáng), Linderung, Unterstützung, Erleichterung. Soulary (spr. ssu-), Josephin, eigentlich Joseph Marie, franz. Dichter, geb. 23. Febr. 1815 zu Lyon, trat schon mit 16 Jahren in das Militär, wo er bis 1836 blieb. Schon von hier aus schickte er an den "L'Indicateur de Bordeaux" seine poetischen Versuche mit der Unterschrift "S. grenadier". 1840 erhielt er bei der Präfektur des Rhônedepartements eine Anstellung. Seine Dichtungen sind: "A travers champs" (1838); "Le chemin de fer" (1839); "Les Éphémères" (2 Serien, 1846 und 1857); "Sonnets humoristiques" (Lyon 1857), welche J. Janins Bewunderung erregten; "Les Figulines" (1862); "Les diables bleus" (1870); "Pendant l'invasion"(1871); "La chasse aux mouches d'or" (1876); "Les rimes ironiques" (1877), ein Lustspiel in Versen: "Un grand homme qu'on attend" (1879) und "Promenade autour d'un tiroir" (1886). Eine Sammlung seiner "OEuvres poetiques" erschien 1872-83 in 3 Bänden. Vgl. Mariéton, Jos. S. et la Pléiade lyonnaise (Par. 1884). Soulié (spr. ssu-), Melchior Frédéric, franz. Novellist und Bühnendichter, geb. 23. Dez. 1800 zu Foix, war eine Zeitlang Advokat, sodann Steuerbeamter, später Dirigent einer Tischlerei und erhielt endlich eine Stelle als Unterbibliothekar am Arsenal. Mit dem Jahr 1829 warf er sich ganz in die Romantik und lieferte nun eine lange Reihe von Dramen und Melodramen, von denen aber nur das Shakespeare nachgeahmte Trauerspiel "Roméo et Juliétte", die Schauspiele: "Clotilde" und "La closerie des genêts" bemerkenswert sind. Andre erschienen gesammelt als "Drames inconnus (1879, 4 Bde.). Von seinen meist auf Erfolg beim großen Publikum berechneten historischen und sonstigen Romanen sind hervorzuheben: "Les deux cadavres". "Le magnétiseur", "Le vicomte de Breziérs", "Le comte de Toulouse", hauptsächlich aber "Le lion amoureux" und "Les mémoires du diable", sorgfältige psychologische Studien, welche durch dramatische Lebendigkeit, phantastische Situationen und blühenden Feuilletonstil das Publikum fesselten. S. starb 23. Sept. 1847 in Bièvre bei Paris. Vgl. Champion, Fréd. S. (Par. 1847). Soulouque (spr. ssuluhk), Faustin, als Faustin I. Kaiser von Haïti, geb. 1782 als Negersklave im Distrikt Petit Goyave auf der Insel Haïti, erhielt 1793 nach Aufhebung der Sklaverei seine Freiheit, wurde 1804 Bedienter des Generals Lamarre, später dessen Adjutant, 1810 unter dem Präsidenten Pétion Leutnant, 1820 unter Boyer Hauptmann. 1843 zum Obersten befördert und dann zum General und Oberbefehlshaber der Präsidialgarde ernannt, erhielt er 1846 die Kommandantur von Port au Prince und ward 1. März 1847 vom Senat zum Präsidenten der Republik erwählt, wiewohl er weder lesen noch schreiben konnte. Im höchsten Grad argwöhnisch und besonders die über seine Unwissenheit und seinen Aberglauben spottenden Mulatten fürchtend, schürte er den Haß des schwarzen Pöbels gegen die Mulattenbourgeoisie und ließ unter dem Vorwand einer Verschwörung derselben vom 16. April 1848 an in Port au Prince ein viertägiges Blutbad unter denselben anrichten. Darauf votierte die Repräsentantenkammer 3. Dez. 1848 dem Diktator ihren Dank, daß er das Vaterland und die Verfassung gerettet habe. Ein Feldzug gegen die "rebellischen Mulatten" von San Domingo im März 1849 endete mit einem schmählichen Rückzug. Gleichwohl veranstaltete man im August 1849 zu Port au Prince eine Petition an die Kammern, wodurch das haïtische Volk aus Dankbarkeit S. den Kaisertitel übertrug; der Senat willigte ein, und zu Weihnachten 1850 ließ er sich als Faustin I. öffentlich als erblicher Kaiser krönen. Eine nochmalige feierliche Krönung erfolgte 18. April 1852. Sein Hofstaat wurde nach französischem Muster kopiert, und auch seine Staatseinrichtungen waren eine Karikatur der Napoleonischen. Nach seiner Thronbesteigung stiftete er zwei Orden, nämlich den Orden des heil. Faustin für Militärpersonen und den Ehrenlegionsorden für Zivilisten. Seine wiederholten Versuche, San Domingo zu unterwerfen, scheiterten kläglich. Im Innern herrschte er verschwenderisch und grausam, so daß die Erbitterung gegen ihn schließlich allgemein wurde. Als General Geffrard 22. Dez. 1858 zu Gonaïves die Republik proklamiert hatte und S. gegen ihn auszog, ging der größte Teil seiner Truppen zu den Insurgenten über. Am 15. Jan. 1859 wurde S. in seiner Hauptstadt Port au Prince durch Verrat gefangen; doch schonte man sein Leben und ließ ihn nach Jamaica übersiedeln. Nach dem Sturz Geffrards 1867 erhielt er die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat und starb 4. Aug. d. J. in Petit Goyave. Soult (spr. ssult), Nicolas Jean de Dieu, Herzog von Dalmatien, franz. Marschall, geb. 29. März 1769 zu St.-Amans la Bastide (Tarn) als Sohn eines Landmanns, trat 1785 als Gemeiner in das Regiment Royal-Infanterie, ward 1791 Offizier, bald darauf Kapitän und zeichnete sich unter Custine und Hoche aus. 1794 zum Brigadegeneral ernannt, focht er 1796 und 1797 am Main und Rhein, befehligte 1799 eine Brigade in der Avantgarde unter Lefebvre bei der Donauarmee und erwarb sich hierauf als Führer einer Division besonders in der Schlacht von Stockach (25. März) hohen Ruhm. Dafür zum Divisionsgeneral ernannt und zu der Armee in der Schweiz unter Masséna versetzt, unterwarf er die widerspenstigen kleinen Kantone, überfiel, während Masséna die Russen schlug, die Österreicher und verfolgte auch die russischen Heerestrümmer. 1800 übernahm er unter Massénas Oberkommando den Befehl über den rechten Flügel der italienischen Armee und wurde, bei einem Ausfall aus Genua schwer Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Soultz - Soust de Borkenfeldt. wundet, gefangen. Nach der Schlacht von Marengo in Freiheit gesetzt, erhielt er den Oberbefehl in Piemont, wo er mit kluger Mäßigung die ausbrechenden Aufstände zu dämpfen wußte. 1802 wurde er zum Generalobersten der Konsulargarde ernannt und befehligte von 1803 bis 1805 die Truppen im Lager von Boulogne. Bei Napoleons I. Thronbesteigung ward er zum Marschall erhoben. 1805-1807 befehligte er das 4. Armeekorps bei Austerlitz, Jena und Eylau. Nach dem Tilsiter Frieden zum Herzog von Dalmatien ernannt, erhielt er 1808 das Kommando der Zentralarmee in Spanien. Er bestand hier 16. Juni 1809 gegen das britische Heer den blutigen Kampf bei Coruña, überschritt Anfang März den Minho und trieb das britisch-portugiesische Heer bis Porto zurück. An Jourdans Stelle zum Generalstabschef der Armee in Spanien ernannt, schlug er 12. Nov. 1809 die spanische Armee bei Ocaña, nahm 1810 Sevilla und trieb die Spanier nach Cadiz zurück. Am 11. März 1811 eroberte er Badajoz und lieferte 16. Mai den Engländern und Portugiesen die Schlacht bei Albuera. 1813 übernahm er in der Schlacht bei Großgörschen an Bessières' Stelle das Kommando über die Gardeinfanterie und befehligte bei Bautzen das Zentrum, ward aber dann wieder nach Bayonne geschickt, um Wellingtons weiterm Vordringen Schranken zu setzen. Er drang Ende Juli von neuem in Spanien ein, ward aber bei Cubiry (27. Juli) mit großem Verlust zurückgeschlagen. Ein zweiter Versuch des Vordringens (Ende August) endete mit seiner Niederlage bei Irun und seinem Rückzug nach Bayonne. Obwohl er 27. Febr. 1814 die Schlacht bei Orthez verlor, lieferte er Wellington noch 10. April mit kaum 20,000 Mann die blutige Schlacht von Toulouse. Erst am 12. räumte er Toulouse und schloß, indem er sich zugleich dem König von Frankreich unterwarf, am 19. einen Waffenstillstand. Er wurde von Ludwig XVIII. zum Gouverneur der 13. Militärdivision, 3. Dez. 1814 aber an General Duponts Stelle zum Kriegsminister ernannt. Als Napoleon 1. März bei Fréjus landete, dankte S. ab; er zog sich auf ein Landgut bei St.-Cloud zurück, erschien erst nach mehrmaliger Aufforderung bei Napoleon und übernahm 11. Mai die Stelle eines Generalstabschefs. Er befand sich in den Schlachten von Ligny und Waterloo an Napoleons Seite, übernahm, als dieser in Laon die Armee verließ, das Oberkommando derselben und leitete den Rückzug bis Soissons. Durch die königliche Ordonnanz vom 12. Jan. 1816 aus Frankreich verbannt, ging er nach Düsseldorf. 1819 erhielt er die Erlaubnis zur Rückkehr und ward sei 1821 wieder unter den Marsch allen aufgeführt und 1827 zum Pair erhoben. Von Ludwig Philipp 18. Nov. 1830 zum Kriegsminister ernannt, behauptete er sich beinahe vier Jahre (bis 1834) auf seinem Posten und erhielt auch im Mai 1832 die Präsidentschaft im Kabinett. Im Mai 1839 übernahm er nach Molés Sturz von neuem das Präsidium im Kabinett zugleich mit dem Portefeuille des Auswärtigen, doch scheiterte dieses liberale Ministerium schon im Januar 1840 an der Dotationsfrage. Nach Thiers' Rücktritt ließ sich S. 29. Okt. 1840 nochmals zur Übernahme des Portefeuilles des Kriegs und der Präsidentschaft bewegen, legte aber 1846 ersteres und 1847 letztere nieder und ward zum Maréchal général de France ernannt. Er starb 26. Nov. 1851 auf seinem Schloß in St.-Amans. Seine wertvolle Gemäldesammlung, die er in den spanischen Feldzügen zusammengeraubt, trug bei der Versteigerung fast 11/2 Mill. Frank ein. S. war ohne höhere Bildung, besaß aber um so mehr natürlichen Scharfblick, große Bravur und glühenden Ehrgeiz. Er galt für den besten Taktiker unter Napoleons Generalen. Die 1816 geschriebenen Memoiren des Marschalls gab sein Sohn heraus (I. Teil: "Histoire des guerres de la Révolution", 1854, 3 Bde.). Vgl. Combes, Histoire anecdotique de Jean de Dieu S. (Par. 1870). - Sein Sohn Hector Napoléon S., Herzog von Dalmatien, geb. 1801, diente unter der Restauration im Generalstab und betrat 1830 die diplomatische Laufbahn. Er war erst französischer Gesandter in den Niederlanden, dann zu Turin und bekleidete seit 1844 dieselbe Stelle zu Berlin. Vor der Februarrevolution Mitglied der Zweiten Kammer, trat er 1850 in die Legislative und verfocht hier die Sache der Orléans. Nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 trat er ins Privatleben zurück und starb 31. Dez. 1857. Des Marschalls Bruder, Pierre Benoît S., geb. 20. Juli 1770 zu St.-Amans, schwang sich in den Kriegen der Republik und des Kaiserreichs ebenfalls zu höhern Chargen empor und starb als Generalleutnant 7. Mai 1843 in Tarbes. Soultz, Stadt, s. Sulz. Soumet (spr. ssuma), Alexandre, franz. Dramatiker, geb. 8. Febr. 1788 zu Castelnaudary, folgte frühzeitig seiner Neigung zur Poesie und begründete seinen Ruhm 1814 durch die rührende Elegie "La pauvre fille". Er besang nacheinander das Kaiserreich, die Restauration und die Juliregierung und wurde von allen belohnt; 1815 erhielt er von der Akademie Preise für die Gedichte: "La découverte de la vaccine" und "Les derniers moments de Bayard", trat 1824 in die Akademie und starb 30. März 1845 als Bibliothekar in Compiègne. Am meisten berühmt ist er wegen seiner Tragödien und Epen. In der Mitte stehend zwischen Klassizität und Romantizismus, hat er eine gewisse Mittelmäßigkeit nie überschritten; doch wußte er sich durch kluges Eingehen auf die Ideen und den Geschmack seiner Zeit großen Erfolg zu sichern. Von seinen Tragödien sind zu nennen: "Clytemnestre" und "Saül" (1822), Jeanne d'Arc" (1825), "Élisabeth de France" (1828, eine lächerliche Bearbeitung von Schillers "Don Karlos"), "Une fête de Néron" (1829) und einige andre, an denen seine Tochter mitgearbeitet hat. Unter seinen Epen ist bemerkenswert "La divine épopée" (1840, 2 Bde.; 2. Aufl. 1841), die ab er weit hinter ihrem Vorbild, der "Göttlichen Komödie", zurückbleibt. Das Thema ist die Erlösung der Hölle durch Christus, aber die Gedankenarmut sucht er durch wilde Phantasien und abgeschmackte Ungeheuerlichkeiten zu verdecken. Einzelnes Gute findet sich in dem Epos "Jeanne d'Arc" (1845). Außerdem schrieb er: "L'incrédulité", Gedicht (1810); "Les scrupules littéraires de Madame de Staël" (1814) u. a. Souper (franz., spr. ssupeh), Abend-, Nachtessen; soupieren, zu Abend essen. S. de Candide, Gastmahl, bei dem die Gäste betrunken gemacht werden, um dann im Spiel etc. ausgeplündert zu werden (nach Voltaires "Candide", 2). Soupir (franz., spr. ssupihr. "Seufzer"), s. Sospiro. Source (franz., spr. ssurs), Quelle, Ursprung. Sourdeval (spr. ssurd'wall), Marktflecken im franz. Departement Manche, Arrondissement Mortain, an der Bahnlinie Montsecret-S., hat Granitbrüche, Fabrikation von Metallwaren, Papier etc., Pferdehandel und (1881) 1534 Einw. Sous bande (franz., spr. ssu bangd), unter Kreuz- oder Soust de Borkenfeldt, Adolphe van, belg. Dichter und Kunsthistoriker, geb. 6. Juli 1824 zu Brüssel, Soutache - Southey. gest. 23. April 1877 als Chef der Abteilung für die schönen Künste im Ministerium des Innern daselbst. Von seinen Dichtungen, welche der vlämischen Bewegung in seinem Vaterland wie der Wiedergeburt des Deutschen Reichs galten, sind zu nennen: "Rénovation tlamande", "Venise sauvée" und "L'année sanglante" (Lond. 1871, unter dem Pseudonym Paul Jane; deutsch von Dannehl, Bresl. 1874); von seinen kunstgeschichtlichen und kunstkritischen Büchern: "Études sur l'état présent de l'art en Belgique" (1858) und "L'école d'Anvers". Soutache (franz., spr. ssutásch), Litzenbesatz; soutachieren, mit Litzenbesatz verzieren. Soutane (franz., spr. ssu-), ein von den katholischen geistlichen nicht im Amt getragener, langer, eng anliegender Rock mit engen Ärmeln, von oben bis unten durch dicht gesetzte Knöpfe verschlossen, bei Kardinälen hochrot, bei Bischöfen und Hausprälaten des Papstes violett, beim Papst weiß, bei allen übrigen Geistlichen schwarz; von derselben Farbe der dazu gehörende Gürtel. Die erst angehenden Kleriker pflegen die kürzere Soutanelle zu Soutenieren (franz., spr. ssu-), (aufrecht) halten, stützen, unterstützen; bewähren, behaupten. Souterrain (franz., spr. ssuterrang), das zum Teil in den Erdboden versenkte Geschoß eines Hauses, zu Wohnungen, Geschäfts- und Wirtfchaftsräumen dienend. Im ersten Fall muß es eine lichte Höhe von mindestens 2,6 m besitzen, wovon 1,6 m über dem Erdboden sich befinden müssen; auch soll es nach Süden oder SO. gelegen und zum Schutz gegen Bodenfeuchtigkeit mit Isolierschichten versehen sein. Souterraine, La (spr. ssuterrähn), Stadt im franz. Departement Creuse, Arrondissement Guéret, an der Sedelle und der Eisenbahn Orléans-Limoges, in einer an römischen Ruinen und vorhistorischen Denkmälern reichen Gegend, mit befestigtem Thor, einer Kirche aus dem 12. Jahrh., Fabrikation von Holzschuhen und Faßdauben, Tuch, Bierbrauerei, Handel mit Vieh, Wein und Likör und (1881) 2978 Einw., von denen namentlich viele als Maurer periodisch Southampton (spr. ssauthammt'n), Stadt in Hampshire (England), auf einer durch den Zusammenfluß des Itchin und Test gebildeten Halbinsel, im Hintergrund der Southampton Water genannten, 16 km tiefen Bucht, an deren Mündung die Insel Wight liegt. Von den alten Stadtmauern sind noch Reste und ein Thor (Bargate) übrig, aber die Stadt hat sich bedeutend über dieselben ausgedehnt. Unter den gottesdienstlichen Gebäuden ist die normännische St. Michaeliskirche die älteste; ihr schlanker Turm dient den Seefahrern als Merkmal. Das Spital Domus Dei, aus der Zeit Heinrichs III., ist eins der ältesten Englands. S. besitzt im Hartley Institution eine Schule für Wissenschaft und Kunstgewerbe mit Museum (seit 1872), eine Seeschule und die Zentralstelle der großbritannischen Landesaufnahme (Ordnance Survey Office). Im N. liegen zwei Parke, in deren einem ein Denkmal des geistlichen Liederdichters Watts steht, der, ebenso wie der Seeliederdichter Dibdin, hier geboren wurde. Die Bevölkerung der Stadt ist rasch gewachsen; sie betrug 1831 erst 19,324, 1881 aber 60,051 Seelen. Die Industrie beschränkt sich fast nur auf Maschinen- und Schiffbau. S. ist vorwiegend Handelsstadt, und seine trefflichen Docks (25,5 Hektar Wasserfläche) lassen zu jeder Zeit die größten Schiffe zu. Es ist Haupthafen für den Postdampferverkehr mit Ostindien (die Peninsular and Oriental Company hat ihre Werfte hier), mit Afrika, Südamerika und Westindien, der Iberischen Halbinsel und durch Vermittelung der Bremer Dampfer auch mit Nordamerika. Zum Hafen gehörten 1887: 328 Schiffe (100 Dampfer) von 73,970 Ton. Gehalt. Den Wert der Einfuhr schätzte man im genannten Jahr auf 6,719,110 Pfd. Sterl., den der Ausfuhr auf 2,640,935 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. In der Nähe Southamptons liegt die malerische Ruine von Netley Abbey (s. d.) und gegenüber der von Wilhelm dem Eroberer angelegte New Forest. Vgl. Davies, History of S. (1883). South Bend (spr. ssauth), Stadt an der Nordgrenze des nordamerikan. Staats Indiana, am schiffbaren St. Josephsfluß, mit zahlreichen Mühlen, dem katholischen Notre Dame-Collège und (1880) 13,280 Einw. Southcott (spr. ssauth-), Johanna, Schwärmerin, die einige Zeit in London die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Geb. 1750, gab sie sich 1801 für das in der Offenbarung Johannis (12, 1) erwähnte Sonnenweib aus und betrieb nebenbei einen gewinnreichen Handel mit Siegeln, welche die Kraft haben sollten, die ewige Seligkeit zu verleihen. Schon über 60 Jahre alt, behauptete sie 1814, mit dem wahren Messias schwanger zu sein, und fand mit dieser Behauptung bei Tausenden Glauben, der selbst dadurch nicht bei allen Anhängern (Neuisraeliten, Sabbatianer) erschüttert ward, daß sie 27. Dez. starb, ohne überhaupt schwanger gewesen zu sein. Vgl. Fairburn, The life of J. S. (Lond. 1814). Southend (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in der engl. Grafschaft Essex, links an der Mündung der Themse, mit 2 km langer Landebrücke und (1881) 7979 Einw. Southey (spr. ssauthí), Robert, engl. Geschichtschreiber und Dichter, als solcher zur "Seeschule" zu zählen, geb. 12. Aug. 1774 zu Bristol, Sohn eines Leinwandhändlers, besuchte die Westminsterschule, die er aber nach vier Jahren wegen eines Artikels gegen die körperliche Züchtigung auf englischen Schulen, den er in der von ihm begründeten Zeitschrift "Flagellant" erscheinen ließ, verlassen mußte. Er studierte in Oxford Theologie, ohne als Unitarier Aussicht auf ein Kirchenamt zu haben. Seine exzentrischen Ansichten führten ihn mit Coleridge zusammen, dessen Plan, in Amerika einen freien Staat zu gründen, seinen Beifall fand. Die ihn damals beherrschenden Ideen spiegeln sich in der Tragödie "Wat Tyler", die ohne seine Zustimmung veröffentlicht, von ihm selbst später verworfen ward, wie er überhaupt bald von den Extremen zurückkam. Ein Band Gedichte (1794) machte keinen Eindruck, mehr das Epos "Joan of Arc", das von reicher Phantasie, aber auch von jugendlicher Überspannung zeugt. In Bristol hielt er, um sein Leben zu fristen, geschichtliche Vorträge, bis ihn sein Oheim im November 1795 mit sich nach Lissabon nahm. Vor der Abreise vermählte sich S. heimlich mit Miß Fricker. Nach sechs Monaten kehrte er zurück und widmete sich in London dem Rechtsstudium und angestrengter litterarischer Thätigkeit. 1800 finden wir ihn wieder in Portugal, dann aber lebte er in Greta bei Keswick in Cumberland, nur 1802 als Sekretär des Kanzlers der Schatzkammer von Irland, Carry, etwa auf Jahresfrist abwesend. 1807 erlangte er eine Staatspension und wurde 1813 poet-laureate. Seit 1839 infolge einer Lähmung bewußtlos, starb er 21. März 1843. Seine litterarische Thätigkeit ist bewunderungswürdig: er schrieb 109 Bände und 52 Artikel zum "Annual Review", 3 zum "Foreign Quarterly", 94 zum "Quarterly Revier", und stets machte er umfassende Studien zu seinen Arbeiten. Das 1801 veröffentlichte epische Gedicht "Thalaba, the destroyer" ist eins South Paß City - Souvestre. arabische Erzählung in reimlosen Versen (deutsch zum Teil von Freiligrath); 1804 folgten: "Metrical tales", 1805 "Madoc", eine wallisische Sage behandelnd; 1810 "The curse of Kehama", seine größte Dichtung, eine auf Hindusagen beruhende phantastische Erzählung; 1814 "Roderick, the last of the Goths", ein wieder in Blankversen abgefaßtes Gedicht, das die Zerstörung des Westgotenreichs durch die Araber besingt. Unter Southeys kleinern Gedichten zeichnen sich die Balladen aus (z. B. "Mary, the maid of the inn"); als Hofpoet verherrlichte er im "Carmen triumphale" Wellingtons Siege und dichtete Oden aus den Prinz-Regenten und die alliierten Monarchen. Die "Vision of judgment" (1821) ward von Byron, der darin das Haupt der "satanischen Schule" heißt, schonungslos gegeißelt. Bedeutend ist S. als Biograph und Geschichtschreiber. Stilistisch vollendet ist das oft aufgelegte "Life of Nelson" (1813; deutsch, Stuttg. 1837), dem sich "Lives of the British admirals" (4 Bde.) und "Life of Vesley" (1820; deutsch, Hamb. 1841) anreihen. Auch hinterließ er eine "History of Brazil" (1810-19, 3 Bde.) und eine "History of the Peninsular war" (1823-28, 2 Bde.) sowie religiöse, soziale und politische Schriften. Hierher gehören: "The book of the church" (3. Aufl. 1825), "Letters from England by Don Manuel Espriella" (1807, 3 Bde.), "Colloquies on the progress and prospects of society" (1829, 2 Bde.); ferner: "The Doctor", die beste seiner Prosaschriften, voll scharfsinniger Gedanken und Bemerkungen (1834-37, 5 Bde.; neue Ausg. 1856), und "Omniana" (1812, 2 Bde.). Die Diktion ist überall klar und kräftig; Parteilichkeit und starke Subjektivität wirken indessen oft störend. Endlich gab er die "Select works of British poets from Chaucer to Jonson" (1836) sowie Umarbeitungen mittelalterlicher Romane (z. B. "Amadis of Gaul", 1803, 4 Bde.) heraus. Southeys "Poetical works" erschienen gesammelt in 11 Bänden London 1820, in 10 Bänden 1854, in 1 Band l863. Vgl. "Life and correspondence of R. S." (hrsg. von seinem Sohn Charles Cuthbert S., neue Ausg. 1862, 6 Bde.), seinen Briefwechsel mit Karoline Bowles (1881) und die Biographien Southeys von Browne (Lond. 1859), Dowden (das. 1880) und Dennis (Boston 1887). South Paß City (spr. ssauth paß ssitti), Hauptort des Bergbaubezirks am Sweetwater (Nebenfluß des Platte) im nordamerikan. Territorium Wyoming, beim 2280 m hohen Southport (spr. ssauth-), beliebtes Seebad in Lancashire (England), 25 km nördlich von Liverpool (das "englische Montpellier"), mit allen Annehmlichkeiten für Badegäste, als Wintergarten, Aquarium, Landungsbrücke (1 km lang), großer Markthalle, Konzertsaal etc. und (1881) 32,206 Einw. Dicht dabei Birkdale mit 8706 Einw. Southsea (spr. ssauth-ssih), Vorstadt von Portsmouth (s. d.), der Insel Wight gegenüber, mit Fort, wird als Seebad viel Southwark (spr. ssáthärk), Stadtteil Londons, der City gegenüber, mit der ihn vier Brücken verbinden, hat (1881) 99,252 Einw. (als parlamentarischer Wahlbezirk aber 221,946). In ihm liegen die bemerkenswerte St. Saviour's-Kirche, die Zentralstation der Londoner Feuerwehr, die Hopfen- und Malzbörse, die Brauerei von Barclay u. Perkins etc. Southwell (spr. ssauth-), Stadt in Nottinghamshire (England), mit Kathedrale und (1881) 2866 Einw. Southwold (spr. ssauth-), Flecken in der engl. Grafschaft Suffolk, mit (1881) 2107 Einw. Auf der Reede bei S. (der sogen. Solebai) 7. Juni 1672 Seeschlacht zwischen der englischen Flotte unter dem Herzog von York (nachmaligem König Jakob II.) und der holländischen unter de Ruyter. Soutien (franz., spr. ssutjang), Stütze, Unterstützung, Rückhalt; im Militärwesen s. v. w. Unterstützungstrupp, die hinter einer ausgeschwärmten Schützenlinie geschlossen zurückbleibende Truppenabteilung, welche nach Erfordernis in das Schützengefecht einzugreifen hat; s. auch Sicherheitsdienst. Soutmann (spr. saut-), Peter, niederländ. Maler und Kupferstecher, geboren um 1590 zu Haarlem, bildete sich bei Rubens in Antwerpen, nach dessen Gemälden und Zeichnungen er eine Anzahl von Radierungen (vier Jagden, der wunderbare Fischzug, das Abendmahl nach Leonardo da Vinci) fertigte, und welchem er auch bei der Ausführung seiner Bilder half, und soll von 1624 bis 1628 als Hofmaler des Königs in Polen thätig gewesen sein. Seit 1628 war er wieder in Haarlem ansässig, wo er eine Werkstatt von Kupferstechern gründete, die unter seiner Leitung nach eignen und fremden Zeichnungen, besonders nach Rubens, stachen. S. selbst schloß sich in Haarlem mehr dem Frans Hals an, in dessen Art er mehrere Bildnisse und Schützenstücke malte und dekorative Malereien im Huis ten Bosch im Haag ausführte. Er starb 16. Aug. 1657. Souvenir (franz., spr. ssuw'nihr), Andenken, Geschenk zum Andenken; auch s. v. w. Notizbuch. Souveraind'or (spr. ssuwerän-), früher für die österreich. Niederlande geprägte Goldmünze, 221/4 Karat sein, im Wert von 14,224 Mk. Souverän (franz. souverain, v. mittellat. superanus, "zuoberst befindlich"), höchst, oberst, oberherrlich, unabhängig. So spricht man von einem souveränen Urteil, von welchem es keine Berufung an ein höheres Gericht gibt; einem souveränen Heilmittel, das unfehlbar gegen ein bestimmtes Leiden wirkt; von souveräner Verachtung etc. Namentlich aber wird im Staats- und Völkerleben der Inhaber der höchsten Gewalt im Staat, welche von keiner andern Macht abhängig ist, als S. und jene höchste Machtvollkommenheit (Staatshoheit) selbst als Souveränität bezeichnet; daher Souveränitätsrechte, s. v. w.. Hoheitsrechte (s. Staat). Vgl. Suzeränität. Souvestre (spr. ssuwéstr), Emile, franz. Roman- und Bühnendichter, geb. 15. April 1806 zu Morlaix (Finistère), ließ sich 1836 dauernd in Paris nieder, machte sich zuerst durch Schilderungen der Bretagne: "Le Finistère en 1836", "La Bretagne pittoresque" (1841), bekannt und lieferte dann eine große Anzahl Romane, auch Dramen und Vaudevilles, welche ein reiches Talent für Beobachtung, aber wenig Erfindungskraft bekunden. In seinen Romanen tritt die -philosophierende oder moralisierende (d. h. die den Gegensatz zwischen arm und reich in sozialistischer Schärfe hervorhebende) Richtung zu stark hervor. Hervorzuheben sind davon: "Riche et pauvre" (1836); "Les derniers Bretons" (1837); "Pierre et Jean" (1842) "Les Réprouvés et les Élus" (1845); "Confessions d'un ouvrier" (1851); die von der Akademie gekrönten: "Un philosophe sous les toits". "Au coin du feu" und "Sous latonnelle" (1851); "Le memorial de famille" (1854). Seine dramatischen Dichtungen, wie "Henri Hamelin", "L'oncle Baptiste", "La Parisienne", "Le Mousse" etc., bilden den Gegensatz zu Scribes Stücken, indem sie nicht, wie diese, die reichen, sondern vorwiegend die besitzlosen Klassen als Hauptrepräsentanten der Moral darstellen. Noch sind seine geistvollen "Causeries historiques et lit- Souvigny - Sozialdemokratie. téraires" (1854, 2 Bde.) zu erwähnen. S. starb 5. Juli 1854 in Paris. Eine Gesamtausgabe seiner auch teilweise ins Deutsche übersetzten Werke erschien in der "Collection Lévy" (60 Bde.). Souvigny (spr. ssuwinji), Stadt im franz. Departement Allier, Arrondissement Moulins, an der Eisenbahn Moulins-Montluçon, mit alter gotischer Kirche (früher Begräbnisort der Fürsten von Bourbon), Glasfabrikation, Weinbau und (1881) 1943 Einw. Souza (spr. ssusa), Adelaïde Marie Emilie, Gräfin von Flahaut, dann Marquise von S., geborne Filleul, franz. Schriftstellerin, geb. 14. Mai 1761 zu Paris, heiratete 1784 den Grafen Flahaut, floh, nachdem derselbe 1793 guillotiniert worden, mit ihrem Sohn (dem nachherigen Adjutanten Napoleons I. und spätern General Flahaut) nach England und ward dort durch Mangel zur Schriftstellerei getrieben. So entstanden ihre "Adèle de Sénanges" (Lond. 1794, 2 Bde.) und der Roman "Émile et Alphonse" (Hamb. 1799, 3 Bde.). Nach ihrer Rückkehr nach Paris heiratete sie 1802 den portugiesischen Gesandten José Maria de S.-Botelho, der sich durch Herausgabe einer Prachtausgabe der "Lusiaden" (Par. 1817) um die Litteratur seines Vaterlandes verdient gemacht hatte. Es erschienen darauf nacheinander: "Charles et Marie" (1802); "Eugène de Rothelin" 1808, 2 Bde.); "Eugène et Mathilde" (1811, 3 Bde.); "Mademoiselle de Tournon" (1820, 2 Bde.); "La comtesse de Fargy" (1823, 4 Bde.) u. a. S. starb 16. April 1836 in Paris. Man rühmt ihren Schriften treffende Schilderung der Leidenschaften, gute Beobachtung, klaren und geistreichen Stil und äußerste Delikatesse in Situationen und Worten nach. Ihre "OEuvres complètes" erschienen 1811-22, 6 Bde.; Auswahl 1840 u. öfter. Sóvár (Soóvár, Salzburg), Dorf im ungar. Komitat Sáros, südlich von Eperies, mit (1881) 1307 slowakischen und deutschen Einwohnern, großem Salzsiedewerk, Forst- und Bergamt. Der Sóvárer Gebirgszug der Karpathen erstreckt sich zwischen der Tarcza und Topla von Bartfeld in südlicher Richtung bis an die Tokayer Berge (die Hegyalja). Vgl. Gesell, Geologische Verhältnisse des Steinsalzbergbaugebiets von S. (Pest 1886). Sovereign (spr. ssowwerin), seit 1816 ausgeprägte brit. Goldmünze, = 1 Pfund Sterling (s. d.). Sovrano, frühere lombardisch-venez. Goldmünze von 40 Lire austriache, = 28,4548 Mk. Sow., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für James Sowerby (s. d.). Sowerby (spr. ssauerbi), zwei aneinander stoßende Städte (S. und S. Bridge), im westlichen Yorkshire (England), am Calder, südwestlich von Halifax, mit Baum- und Kammwollspinnerei, chemischen Fabriken, Wachstuchfabrikation und (1881) 14,903 Einw. Sowerby (spr. ssauerbi) James, Naturforscher und Maler, geb. 21. März 1757 zu London, besuchte die königliche Akademie, widmete sich dann aber den Naturwissenschaften, speziell der Botanik und Malakozoologie. Er starb 25. Okt. 1822 in Lambeth. Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: "Coloured figures of English Fungi" (Lond. 1797-1809, 3 Bde. u. Supplement); "English botany" (das. 1790-1814, 36 Bde. mit 2592 kolorierten Tafeln; Supplement 1831 ff.; 3. Aufl. von Syme, 1863-72, 11 Bde.); "Mineral conchology" (das. 1841, 6 Bde.; deutsch von Desor und Agassiz). Die letzten beiden großen Werke setzte sein Sohn James de Carle S., geb. 1787, gest. 1854, fort. Dieser gab auch heraus: "The ferns of Great Britain" (mit Johnson, Lond. 1855); "The fern-allies" (das. 1856); "Grasses of Great-Britain" (das. 1857-58, neue Ausg. 1883); "British wild flowers" (mit Johnson, das. 1863; neue Ausg. 1882); "Useful plants of Great Britain" (das. 1862). Sein zweiter Sohn, George Brettingham S., geb. 1788 zu London, gest. 1854, schrieb "The genera of recent and fossil shells" (Lond. 1820-24, 2 Bde. mit 264 kolorierten Tafeln); auch beteiligte er sich mit Vigors und Horsfield an der Herausgabedes "Zoological Journal". Dessen gleichnamiger Sohn, geb. 1812, gleichfalls ein bedeutender Konchyliolog, schrieb: "Conchological illustrations" (Lond. 1841-45, 6 Bde.); "Conchological manual" (das. 1839, neue Ausg. 1852); "Thesaurus conchyliorum" (das. 1842-70, 30 Tle.); "Popular British conchology" (das. 1853); "Illustrated index of British shells" (das. 1859, 2. Aufl. 1887) etc. Sowinski, Leonard, poln. Dichter und Litterarhistoriker, geb. 1831 zu Berezowka in Podolien, studierte zu Kiew, verbrachte später sechs Jahre in der Verbannung zu Kursk, lebte seit 1868 in Warschau; starb 23. Dez. 1887 auf dem Gut Statkowce in Wolhynien. In seinen lyrischen Gedichten (Posen 1878, 2 Bde.) bekundet S. schwungvolle Phantasie. Weniger Anklang fand sein Trauerspiel "Na Ukrainie" (Wien 1873). Mit seiner großen "Geschichte der polnischen Litteratur" (Wilna 1874-78, 5 Bde.; die ersten Bände mit Benutzung der Vorträge von Professor Zdanowicz) hat sich S. eine der ersten Stellen unter den polnischen Literarhistorikern erworben. Soyaux (spr. ssoajoh), Hermann, Botaniker und Reisender, geb. 4. Jan. 1852 zu Breslau, erlernte die Gärtnerei, studierte 1872 Botanik in Berlin und war 1873-76 als Mitglied der Loango-Expedition in Westafrika für die Deutsche Afrikanische Gesellschaft thätig. 1879 ging er im Auftrag des Wörmannschen Hauses in Hamburg nach Gabun, um dort Kaffeeplantagen anzulegen, kehrte 1885 nach Berlin zurück und trat in den Dienst des Deutschen Kolonialvereins, für den er 1886 nach Südbrasilien ging, um die dortigen Verhältnisse zu studieren. Er nahm dort den untern Camaquam auf, in dessen Nähe eine deutsche Kolonie (San Feliciano) gegründet werden sollte, und kehrte dann nach Deutschland zurück. Er schrieb: "Aus Westafrika" (Leipz. 1879, 2 Bde.) und "Deutsche Arbeit in Afrika" (das. 1888). Soyeuse (spr. ssoajöhs'), vegetabilische Seide, s. Soyons amis, Cinna! (franz., spr. ssoajóng-samih, ssinna!), "Laß uns Freunde sein, Cinna." Citat aus Corneilles "Cinna", Akt 5, Szene 3. Sozialaristokratie, s. Aristokratie. Sozialdemokratie, diejenige sozialistische Richtung und Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einem demokratischen Staat erstrebt, um die sozialistischen Ideen und Forderungen verwirklichen zu können. Der Begründer der S. ist der Franzose Louis Blanc (s. d. und Sozialismus). Die von ihm in den 40er Jahren in Paris gegründete Arbeiterpartei war die erste sozialdemokratische. Dieselbe erlangte vorübergehend einen Einfluß auf die Politik in Frankreich dadurch, daß zwei ihrer Führer, L. Blanc und Albert, nach der Februarrevolution 1848 Mitglieder der provisorischen Regierung wurden; sie wurde mit andern radikalen Parteien in der Junischlacht 1848 besiegt. In Deutschland war der von F. Lassalle (s. d.) 23. Mai 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein die erste Organisation der S. Der einzige statutarische Zweck dieses Vereins, der sich zu dem sozialistischen Sozialdemokratie (Entwickelung in Deutschland). Lassalles bekannte, war die "friedliche und legale" Agitation für das damals noch nicht in Deutschland bestehende allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Abstimmung. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, welcher unter der Präsidentschaft Lassalles nur einige tausend Mitglieder zählte und nach Lassalles Tod (31. Aug. 1864) unter unbedeutenden Führern (Bernhard Becker, Försterling, Mende, Tölcke u. a.) sich in verschiedene, sich gegenseitig bekämpfende Parteien spaltete, gelangte erst zu größerer Bedeutung, seit das von Lassalle geforderte Wahlgesetz 1867 durch Bismarck das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes geworden war und der begabte Litterat J. B. v. Schweitzer 1867 die Leitung übernahm. Als Führer der Lassalleaner in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt, vertrat v. Schweitzer dort mit andern Sozialdemokraten die Sache der S. Schon unter seiner Präsidentschaft wurde das ökonomische und politische Programm des Vereins erweitert. In dem Verein vertraten Hasenclever und Hasselmann eine radikalere Richtung, diese siegte, und 1871 wurde v. Schweitzer als ein bezahlter Agent der preußischen Regierung verdächtigt und aus dem Verein gestoßen. Unter der Führung jener beiden Männer nahm die Mitgliederzahl, nachdem inzwischen das Wahlgesetz für den Norddeutschen Bund auch das für das Deutsche Reich geworden war, in kurzer Zeit enorm zu (1873 hatte der Verein schon über 60,000 Mitglieder und in 246 Orten Lokalvereine), wurde aber auch das ökonomische und politische Parteiprogramm radikaler (Ausdehnung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle Staats- und Gemeindewahlen auf alle Altersklassen vom 20. Jahr ab, Abschaffung der stehenden Heere, Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer progressiven Einkommensteuer mit Freilassung der Einkommen unter 500 Thlr. und mit einem Steuerfuß von 20-60 Proz. für Einkommen über 1000 Thlr., Abschaffung der Gymnasien und höhern Realschulen, Unentgeltlichkeit des Unterrichts in allen öffentlichen Lehranstalten etc.). Hauptblatt des Vereins war der Berliner "Sozialdemokrat". Die Forderungen und ganze Art der Agitation näherten sich immer mehr dem Programm und der Agitationsweise einer zweiten sozialdemokratischen Partei, welche unter dem Einfluß von Karl Marx und der internationalen Arbeiterassociation im August 1869 Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründet hatten. In der internationalen Arbeiterassociation war seit 1866 die erste internationale und zugleich eine radikale und revolutionäre sozialdemokratische Partei entstanden (s. über deren Programm, Organisation und Agitation die Art. Internationale und Sozialismus). Liebknecht und Bebel, Anhänger der Internationale, setzten, nachdem sie sich lange vergeblich bemüht hatten, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in das Lager der Internationale hinüberzuführen, auf einem allgemeinen Arbeiterkongreß in Eisenach im August 1869 die Gründung einer zweiten Partei, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, durch, welche sich ausdrücklich als deutscher Zweig der Internationale konstituierte. Die neue Partei, vortrefflich organisiert und dirigiert (Hauptorgan der Leipziger "Volksstaat"), entfaltete namentlich seit Anfang der 70er Jahre eine außerordentliche Rührigkeit, im Mai 1875 vereinigte sie sich mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein auf dem Kongreß in Gotha (22.-27. Mai) zur sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Das Parteiprogramm (s. d. im Art. Sozialismus), ein radikal-sozialistisches, stimmte in allen wesentlichen Punkten mit dem frühern Eisenacher Programm von 1869 überein. Der "Volksstaat" (später "Vorwärts") wurde das Hauptorgan. Die Partei nahm bei der fast vollen Freiheit, die man ihr gewährte, einen großen Aufschwung. Nach dem Jahresbericht von 1877 verfügte sie über 41 politische Preßorgane mit 150,000 Abonnenten, außerdem über 15 Gewerkschaftsblätter mit etwa 40,000 Abonnenten und ein illustriertes Unterhaltungsblatt, "Die Neue Welt", mit 35,000 Abonnenten. Ein Hauptagitationsorgan waren die besoldeten, redegewandten Agitatoren (1876: 54 ganz besoldete, 14 zum Teil besoldete) und die nicht besoldeten "Redner" (1876. 77). Bei den Reichstagswahlen stimmten für sozialdemokratische Kandidaten 1871: 124,655, 1874: 351,952, 1877: 493,288 (s. unten). Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre, mit diabolischem Geschick wurden in ihrer Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, welche zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen mußte, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis 31. März 1881 gültige Reichsgesetz vom 21. Okt. 1878 "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S." Es wollte verhindern die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation, insbesondere Bestrebungen sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Art, welche, auf den Umsturz der bestehendem Rechts- oder Gesellschaftsordnung gerichtet, diesen direkt bezwecken oder in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen, gefährdenden Weise zu Tage treten. Es verbot bei Strafe daher Vereine, Versammlungen, Druckschriften dieser Art sowie die Einsammlung von Beiträgen zu diesen Zwecken; Personen, welche sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machen, können aus bestimmten Landesteilen oder Orten ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. kann aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden. Auch kann über Bezirke und Orte, in welchem durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erscheint, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 bis zum 30. Sept. 1884, dann bis 30. Sept. 1886, hierauf bis 30. Sept. 1888 und darauf nochmals bis 30. Sept. 1890 verlängert. Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990, 1887: 763,128); aber es hat die in hohem Grad gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. In der deutschen S. sonderte sich seit 1878 immer entschiedener unter der Führung von Most und Hasselmann eine radikale Anarchistenpartei ab, deren Hauptorgan 1879 die von Most in London herausgegebene "Freiheit" wurde, und deren Mitglieder auch in Deutschland und Österreich eine Reihe von Attentaten gegen Beamte und von Raubmorden Soziale Frage - Sozialismus. ausführten. Das Hauptorgan der deutschen S. und der ihr verbündeten internationalen S. wurde der seit Oktober 1879 in Zürich erscheinende "Sozialdemokrat". Zu einer definitiven Spaltung zwischen den Anarchisten und der sogen. gemäßigten, aber noch immer radikalen und revolutionären Bebel-Liebknechtschen Partei kam es auf dem Kongreß in Wyden (Schweiz) im August 1880, auf dem aber auch die "gemäßigte" Richtung aus dem Gothaer Programm in dem Satz, daß die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln ihre Ziele erstreben wolle, das Wort "gesetzlichen" strich. Das radikale sozialistische Programm, wie es in den statutarischen Bestimmungen und Kongreßbeschlüssen der Internationale und in dem Gothaer Programm von 1875 festgesetzt wurde, ist im wesentlichen das Programm der Sozialdemokraten in allen Ländern, wo die S. besteht und organisiert ist, und dies ist außer in Deutschland heute namentlich in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Dänemark und in Nordamerika der Fall. Vgl. Mehring, Die deutsche S. (3. Aufl., Brem. 1879); weitere Litteratur bei Internationale und Sozialismus. Soziale Frage, s. Arbeiterfrage. Soziale Republik, der von den Sozialdemokraten angestrebte Freistaat mit Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise und jeglichen Klassenunterschiedes. S. Sozialdemokratie. Sozialismus (lat.), nach dem in der Wissenschaft noch heute üblichsten, auch in der deutschen Gesetzgebung und im großen Publikum herrschenden Sprachgebrauch die Bezeichnung für eine bestimmte Richtung, ein bestimmtes System zur Lösung der Arbeiterfrage (s. d.). Dieser S. unterscheidet sich scharf von dem Kommunismus (s. d.), obschon er mit demselben manche Grundanschauungen teilt, namentlich den Glauben an die unbedingte Lösung dieser Frage, die ausschließliche Zurückführung der für sie in Betracht kommenden Übelstände auf verkehrte menschliche Einrichtungen und die Forderung einer gänzlichen Umgestaltung des Wirtschaftsorganismus, der Rechtsordnung und des Staatswesens der Kulturvölker, nach welcher unter Beseitigung der individuellen wirtschaftlichen Freiheit die Gesamtheit die Verantwortlichkeit und Sorge für die ökonomische und soziale Lage der Einzelnen zu übernehmen habe. Die ihm eigentümlichen, von allen andern sozialpolitischen Richtungen (s. Arbeiterfrage) verschiedenen Anschauungen und praktischen Forderungen haben sich erst allmählich in der Geschichte des S. klarer und schärfer herausgebildet. Dieselben sind heute folgende: der Kernpunkt der sozialen Frage ist ihm die ungerechte Verteilung der Güter, und diese führt er vorzugsweise auf die Einrichtung des privaten Grundeigentums und Erbrechts und auf die freie individualistische und kapitalistische Produktionsweise mit der Trennung von Unternehmern und Lohnarbeitern, mit dem Eigentum der erstern an den Produktionsmitteln und der Herrschaft des "ehernen Lohngesetzes" über die letztern zurück. Er vertritt die falsche Ansicht der ältern englischen Nationalökonomen, daß allein die Arbeit Werte erzeuge, und behauptet, daß infolge jener Ursachen die bisherige Vermögensbildung und die heutige Verteilung der neu produzierten Güter auf einer Ausbeutung der Lohnarbeiter durch Unternehmer, Grundeigentümer und Kapitalisten, mit andern Worten der Nichtbesitzenden durch die besitzende Klasse beruhe. Diese ungerechte Verteilung ist ihm die wesentliche Ursache des Proletariats und aller andern Übelstände in den untern Volksklassen. Beseitigung dieser Übelstände erwartet er nicht wie der Kommunismus von der völligen Gleichheit aller, aber doch von einer sehr starken Ausgleichung der ökonomischen und sozialen Unterschiede und von einer gesellschaftlichen Verfassung, in welcher allein die Arbeit einen Anspruch auf Einkommen und Vermögen gibt. Das Einkommen soll nur noch Arbeitsertrag sein. Bekämpft wird deshalb das private Grundeigentum, das Erbrecht und die Kapitalrente (Kapitalzins und Kapitalgewinn). Jene beiden Rechtsinstitutionen sollen durch Gesetz, diese Einkommensart soll durch eine neue Organisation der Produktion: die sozialistisch-genossenschaftliche ("kollektivistische") Produktionsweise, abgeschafft werden. Das Wesen dieser besteht darin, daß nur noch in genossenschaftlichen Kollektivunternehmungen in planmäßiger Regelung (Beseitigung der Lohnarbeit und soziale Organisation der Arbeit) produziert wird, in welchen das Eigentum an den Produktionsmitteln (Grundstücken und Kapitalien) Kollektiveigentum der Gesellschaft ist und der Ertrag nur an die Arbeiter und gerecht verteilt wird (Beseitigung des Einkommens aus Kapital und Grundstücken und des "ehernen Lohngesetzes"). Diese Umwandlung der bisherigen Produktionsweise in die sozialistische und die planmäßige Regelung der letztern soll durch den Staat geschehen. Die Manchesterschule (s. d.) bezeichnet als S. jede direkte Mitwirkung des Staats zur Lösung der sozialen Frage, insbesondere jede staatliche Maßregel, welche zum Schutz der Arbeiter die persönliche Freiheit in der Gestaltung der Arbeitsvertragsverhältnisse einschränkt. Daher kam es, daß, als Anfang der 70er Jahre Professoren der Nationalökonomie eine solche Mitwirkung des Staats forderten, Vertreter der Freihandelsschule (H. B. Oppenheim u. a.) ebendiese Forderungen sozialistische und, weil dieselben von den Inhabern akademischer Katheder ausgingen, letztere Kathedersozialisten (s. d.) nannten. Andre nennen noch allgemeiner S. jede Richtung, welche für die Volkswirtschaft im Gegensatz zu dem Individualismus (s. d.) das soziale Prinzip betont und für die Wirtschaftspolitik als Ausgangspunkt und Ziel nicht das Individuum mit ihm zugeschriebenen Trieben und Rechten (wie es die naturrechtliche Wirtschaftstheorie oder der Smithianismus thut), sondern die Gesellschaft nimmt. Im folgenden ist von dem S. im obigen Sinn die Rede. Als eine selbständige Wirtschaftstheorie ist dieser S. ein Produkt des 19. Jahrh.; als sein Begründer gilt mit Recht der französische Graf Saint-Simon, der auch zuerst die Lösung der sozialen Frage als die große Aufgabe der modernen Gesellschaft hinstellte. Die Vertreter des S. stimmen in den oben erwähnten allgemeinen Grundanschauungen überein, im einzelnen aber gehen sie in ihren Ansichten wie in ihren Forderungen wieder weit auseinander, so daß man deshalb verschiedene sozialistische Systeme oder Theorien (insbesondere die des Saint-Simonismus, von Ch. Fourier, L. Blanc, F. Lassalle, K. Marx) unterscheidet. Saint-Simon (s. d. 2) hat seine sozialistischen Anschauungen nicht zu einem geschlossenen System entwickelt. Das geschah erst durch seine Schüler (die Saint-Simonisten), vor allen durch den hervorragendsten derselben, Bazard (s. d.). Dieselben nannten nach ihrem Lehrer und Meister dies System den Saint-Simonismus. Die soziale Frage betrachten sie nicht nur als eine ökonomische, sondern ebensosehr als eine moralische, religiöse und politische, da es sich in ihr um eine Reform aller Verhältnisse des Volkslebens Sozialismus (Saint-Simon, Fourier, Louis Blanc). handle. Von der Ansicht ausgehend, daß die Arbeit die Quelle aller Werte sei, sehen sie das Hauptunrecht in Staat und Gesellschaft darin, daß der nützlichste Stand, der der Arbeiter (industriels), den letzten Rang einnehme, zum weitaus größten Teil mißachtet, in traurigster Lage und politisch ohne Einfluß sei. Es sei deshalb eine neue Organisation der Gesellschaft zu bilden, in welcher die Klasse der Besitzenden und der "légistes" (Beamten, Gelehrten, Advokaten) wie die militärische Gewalt dem arbeitenden Teil der Gesellschaft untergeordnet sei, so daß an die Stelle der bisherigen feudalen Organisation des Staats eine "industrielle" trete, die zugleich das ideale Ziel Saint-Simons erreiche, "allen Menschen die freieste Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu sichern". Erziehung und Ausbildung sollen auf der Grundlage einer neuen Religion, eines neuen Christentums der Bruderliebe und werkthätigen Moral, die wirtschaftliche Thätigkeit durch eine Änderung der Rechtsordnung umgestaltet werden. Um eine gerechte volkswirtschaftliche Verteilung herbeizuführen, müsse die Arbeit zum einzigen Eigentumstitel gemacht und eine Verteilung nach dem Prinzip organisiert werden: "Jedem nach seiner Fähigkeit, und jeder Fähigkeit nach ihren Werken". Vor allem sei das Erbrecht der Blutsverwandtschaft abzuschaffen und durch ein Erbrecht des Verdienstes zu ersetzen. Die Güter der Einzelnen sollten nach ihrem Tode der Gesamtheit zufallen, der Staat als Vertreter derselben der Erbe sein und nun die ihm anfallenden Güter denjenigen zuweisen, die sie am besten zum Wohl des Ganzen gebrauchen würden. Außerdem sollten Staatsbanken zur leichtern Gewährung eines billigen Kredits gegründet werden. Der Unterricht sollte ein unentgeltlicher, öffentlicher und zwar der allgemeine theoretische ein gleicher für alle (mit besonderer Berücksichtigung der moralischen Ausbildung), der professionelle aber ein den individuellen Fähigkeiten entsprechender sein. - Die Saint-Simonisten haben später die Bazardsche Erbrechtsreform auf die Forderung hoher progressiver Erbschaftssteuern und Aufhebung des Erbrechts in den weitern Verwandtschaftsgraden beschränkt. Gleichzeitig mit Saint-Simon, aber völlig unabhängig von ihm, entwickelte Ch. Fourier (s. d.) ein sozialistisches System, das durch seine Schüler, besonders durch V. Considérant (s. d.), um die Mitte der 30er Jahre in Frankreich allgemeiner bekannt wurde. Im Gegensatz zu Saint-Simon konstruierte er seine neue sozialistische Gesellschaftsordnung bis ins einzelne. Er stützt dieselbe auf eine eigentümliche wissenschaftlich unhaltbare Psychologie und auf eine eingehende Kritik der ökonomischen Zustände seiner Zeit, die neben vielem Falschen wertvolle Wahrheiten enthält. Diese Zustände erscheinen ihm von Grund aus schlecht, weil die große Masse des Volkes, durch eine kleine Zahl ausgebeutet, eine elende Existenz führe und keine Freude an der Arbeit und am Dasein haben könne. Er findet es völlig verkehrt, daß die Produktion eine individualistische (in Einzelunternehmungen) mit freier Konkurrenz sei. Durch die Existenz der vielen kleinen Unternehmungen finde eine ungeheure Verschwendung in der Benutzung der Arbeitsmittel und -Kräfte statt; würde nur in großen genossenschaftlichen Unternehmungen produziert, so könnte mit gleichem Aufwand viel mehr produziert und bei gerechter Verteilung ein höheres Genußleben für die Arbeiter herbeigeführt werden. Sie bewirke weiter eine solche Ausdehnung der Arbeitsteilung, daß die meisten Menschen keine Abwechselung bei der Arbeit hätten und diese dadurch, statt zu einer Freude, zu einer Last und für viele zu einer unerträglichen Last und Qual werde. Sie veranlasse endlich auch die Existenz einer großen Zahl an sich völlig überflüssiger Kaufleute und dadurch eine unnötige Verteurung der Produkte. Fourier findet ebenso die bestehende Art der Konsumtion in den Einzelwirtschaften völlig unwirtschaftlich. Er fordert deshalb eine genossenschaftliche Produktion und Konsumtion in großen Verbänden, die, etwa 300-400 Familien umfassend, möglichst alle Genußmittel für die Mitglieder herstellen, jedenfalls Landwirtschaft und Gewerbe betreiben, in einem großen Gebäude (Phalanstère) alle ihre Wohnungen und Arbeitsräume einrichten, in wenigen Küchen die Speisen für alle bereiten und zugleich für die Vergnügungen und den Unterricht sorgen. Er entwirft den Plan dieser sozialen Wirtschaftsorganismen, von ihm Phalangen genannt, im einzelnen und sucht nachzuweisen, daß sie, richtig organisiert, eine Garantie dafür bieten, daß jeder durch seine Arbeit die Mittel erlange, ein behagliches Genußleben zu führen, dabei an derselben Frende habe und für alle aus der freien naturgesetzlichen Entfaltung der Triebe die Harmonie der Triebe sich ergebe, die nach Fouriers Philosophie die Glückseligkeit der Menschen sei. Die Gründung der Phalangen soll aber nicht durch staatlichen Zwang, sondern durch den freien Willen der Einzelnen erfolgen. Fourier trug sich mit der überspannten Hoffnung, daß, wenn nur erst eine Phalange gebildet worden, die Phalangen sich allmählich über die ganze Welt verbreiten würden. Fourier stellte zuerst die Abschaffung der Lohnarbeit und Gründung großer Produktiv- und Konsumgenossenschaften als die Panacee für die soziale Frage auf. Eine neue Ausbildung erfuhr der S. durch Louis Blanc (s. d.), zuerst in dessen kleiner Schrift über "Die Organisation der Arbeit" (1839). Auch er will die Lohnarbeit durch Produktivgenossenschaften beseitigen. Aber seine Produktivgenossenschaften sind wesentlich andrer Art als die Fourierschen Phalangen, und die Gründung derselben fordert er vom Staat. Wie bei dem bisherigen Wirtschaftssystem der große Unternehmer den kleinen, das große Kapital das kleine unterdrücke, so könne der Staat, als der größte Kapitalist, durch die Gründung von größern Unternehmungen als die bestehenden in der Form von Produktivgenossenschaften alle, auch die größten Unternehmer allmählich konkurrenzunfähig machen und so ohne Zwang und Gewalt der höchste Ordner und Herr der Produktion werden. Wenn dies geschehen, habe er es in der Hand, durch die Regelung der innern Organisation dieser Genossenschaften und der Art der Ertragsverteilung den arbeitenden Klassen die genügende materielle Existenz zu sichern. Louis Blanc denkt sich dann die Entwickelung für die gewerbliche Produktion in drei Stadien. In dem ersten gründe der Staat die Ateliers sociaux für die verschiedenen Industriezweige, zunächst als Staatsunternehmungen; nach einiger Zeit aber wandle er sie um in reine Produktivgenossenschaften, überlasse die Verwaltung den Mitgliedern und beschränke sich nur auf die gesetzliche Regelung der Organisation und der Gewinnverteilung. Diese Genossenschaften würden sofort die bessern Arbeitskräfte an sich ziehen und mit geringern Kosten produzieren, zumal wenn sie gleichzeitig große Konsumgenossenschaften errichten würden. Die bestehenden Unternehmungen würden gezwungen werden, entweder den Betrieb einzustellen, oder sich in solche Genossenschaften umzuwandeln. In dem zweiten Stadium sollen dann, damit keine Konkurrenz unter den Genossenschaften entstehe, die Sozialismus (Lassalle, Karl Marx). nossenschaften gleichartiger Produktionszweige sich zu größern Genossenschaften associieren, bis in jedem nur eine Landesgenossenschaft existiere. Im dritten associieren sich auch diese, so daß schließlich eine große Produktivgenossenschaft produziere, deren Organisation und Gewinnverteilung das Staatsgesetz regele. Eine Reform der Erziehung (mit obligatorischem und unentgeltlichem Unterricht) würde diese Entwickelung sichern. Um auch die Landwirtschaft zu reformieren, soll das Erbrecht der Seitenverwandten fortfallen, an ihrer Stelle soll die Gemeinde erben und mit dem ihr so anfallenden Vermögen ähnlich verwaltete landwirtschaftliche Produktivgenossenschaften gründen. Da von der herrschenden Gesellschaft mit monarchischer Staatsform eine Lösung dieser Aufgaben nicht zu erwarten sei, so müsse zunächst der Staat in eine sozialdemokratische Republik umgewandelt werden, in welcher die untern Klassen, im Besitz der Herrschaft, dann auf dem vorgezeichneten Weg vorgehen könnten. Diese Ideen wurden in den 40er Jahren das Programm der französischen Sozialisten, an deren Spitze Louis Blanc stand. Er ist der Gründer der Sozialdemokratie, d. h. derjenigen Partei, welche für die Klasse der Lohnarbeiter die Herrschaft in einer demokratischen Republik erstrebt, um im Besitz dieser Herrschaft das sozialistische Programm zu verwirklichen. Modifiziert wurde dies Programm durch die Beschlüsse des Arbeiterparlaments, welches 1848 nach der Februarrevolution, von der provisorischen Regierung einberufen, im Palais Luxembourg unter dem Vorsitz von Louis Blanc tagte. Nach denselben sollte ein eignes Ministerium (ministère du progrès) die sozialistische Reform herbeiführen: zunächst die Bergwerke und Eisenbahnen für den Staat ankaufen, das Versicherungswesen in Staatsanstalten zentralisieren, große Warenhallen und Vorratshäuser zu entgeltlicher Benutzung errichten, die französische Bank in eine Staatsbank umwandeln und mit dem Reinertrag aus diesen Geschäften industrielle und landwirtschaftliche Genossenschaften nach dem Plan Louis Blancs mit einigen Abänderungen desselben gründen. Zur Beseitigung einer verderblichen Konkurrenz sollte für alle Produkte durch gesetzliche Feststellung des auf die Kosten zu schlagenden Gewinns ein Normalpreis vorgeschrieben werden. Eine andre Modifikation gab dem Blancschen S. Ferdinand Lassalle (s. d.). Er betrachtet die soziale Frage als Einkommensfrage, hervorgerufen durch die ungerechte Verteilung des Ertrags der Unternehmungen infolge des "ehernen Lohngesetzes" der freien Konkurrenz, nach welchem der Lohn stets um einen Punkt oszilliere, bei welchem er den Arbeitern nur die notdürftig Befriedigung der Existenzbedürfnisse gestatte. Die Lösung sieht er in der Beseitigung dieser Lohnregulierung und Abschaffung der Lohnarbeit durch Produktivassociationen mit Hilfe des Staats. Aber dieser soll nicht, wie Louis Blanc will, dieselben gründen und ihre Organisation wie die Art der Gewinnverteilung bestimmen, sondern der Staat soll nur freiwillig sich bildende mit seinem Kredit unterstützen, wobei er zur Wahrung seines Interesses sich die Genehmigung der Statuten und eine Kontrolle der Geschäftsführung vorbehalten könne. Darin stimmt Lassalle wieder mit Louis Blanc überein, daß, um diese Staatsunterstützung zu erreichen, der Arbeiterstand sich zum herrschenden im Staat machen müsse. Er wähnte, daß die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Abstimmung demselben in Deutschland zu dieser Herrschaft verhelfen würde, und forderte deshalb die deutschen Arbeiter auf, ihre ganze Agitation zunächst nur auf dieses Ziel zu richten. Derjenige, der in neuerer Zeit den S. eigentlich allein in umfassender Weise und wirklich wissenschaftlich zu begründen versucht, ihm zugleich die radikalste Ausdehnung gegeben hat, ist Karl Marx (s. d.). In seinem Hauptwerk: "Das Kapital", sucht er nachzuweisen, daß die Verteilung in der bisherigen Volkswirtschaft eine durchaus ungerechte sei, denn das Kapital entstehe und vermehre sich nur dadurch, daß es einen möglichst großen Teil des Arbeitsprodukts in sich aufsauge; die Arbeit, nicht das Kapital setze dem Produkt Wert zu, der Arbeiter leiste stets mehr, als ihm im Lohn vergolten werde, der ihm nicht bezahlte Mehrwert seiner Leistung aber falle dem Eigentümer der Produktionsmittel zu und vermehre das Kapital. Marx folgert daraus die Ungerechtigkeit eines Einkommens aus Kapital- und Grundbesitz. Weiter sucht er zu erweisen, daß aus der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise die sozialistisch-kooperative notwendig entstehen müsse. Zunächst würden in dem freien Konkurrenzkampf die Produktionsmittel sich in den Händen einer immer kleinern Anzahl konzentrieren, dadurch aber der Zustand für die Arbeiter endlich so unerträglich werden, daß dieselben, ihre Macht benutzend, die wenigen Expropriateure einfach expropriieren und, geschult und organisiert durch den bisherigen kapitalistischen Produktionsprozeß, auf der Grundlage gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln in den schon bestehenden großen Unternehmungen weiter produzieren, den Ertrag derselben, entsprechend seiner ökonomischen Natur als Arbeitsertrag, aber fortan nur nach Maßgabe der Arbeitsleistungen verteilen würden. Besser indes sei es, diesen Expropriations- und Produktionsumwandlungsprozeß zu beschleunigen. Die praktischen Konsequenzen hat dann der Agitator Marx gezogen und in den Beschlüssen der von ihm gegründeten und geleiteten internationalen Arbeiterassociation (vgl. Internationale) sowie in dem Programm der heutigen deutschen Sozialdemokratie, dessen geistiger Urheber er ist, zum Ausdruck gebracht. Von diesen Beschlüssen sind für die sozialistischen Bestrebungen insbesondere charakteristisch die der Kongresse in Brüssel und Basel. Auf dem Kongreß in Brüssel (1868) wurde die Abschaffung des Kapitaleinkommens und der Grundrente, die Gründung von Produktivgenossenschaften mit Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln und von besondern Kreditanstalten für dieselben, die Umwandlung aller Transportanstalten in Staatsanstalten, aller Bergwerke, Wälder und landwirtschaftlichen Grundstücke in Staatseigentum, mit Überweisung der letztern an Arbeitergesellschaften zur Benutzung, in das Programm aufgenommen. Der Kongreß in Basel (1869) sprach sich für die Abschaffung des privaten Grundeigentums und für die Bebauung des Bodens durch solidarisierte Gemeinden sowie für die Abschaffung des Erbrechts aus. Das sozialistisch-politische Programm der deutschen Sozialdemokratie (sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands) lautet nach der Fassung des Gothaer Kongresses von 1875: "1) Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Sozialismus (Rodbertus; Umsturzbestrebungen in der Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrags. Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle andern Klassen nur eine reaktionäre Masse sind. 2) Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (die hier ursprünglich im Programm enthaltenen Worte: 'mit allen gesetzlichen Mitteln' wurden später gestrichen) den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen. Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtheit entsteht. 3) Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staats: a) Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer, obligatorischer Stimmabgabe aller Staatsangehörigen vom 20. Lebensjahr an für alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. d) Direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. c) Allgemeine Wehrhaftigkeit, Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. d) Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken. e) Rechtsprechung durch das Volk; unentgeltliche Rechtspflege. f) Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat; allgemeine Schulpflicht; unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten; Erklärung der Religion zur Privatsache." Das Programm enthält außerdem noch eine Reihe von Forderungen, die indes ausdrücklich als Forderungen "innerhalb der heutigen Gesellschaft" bezeichnet werden und nicht mehr spezifisch sozialistische sind. Mit diesem Programm stimmt im wesentlichen überein das Programm des Parti ouvrier socialiste révolutionnaire français von 1880, welches die Basis der gegenwärtigen sozialistischen Bewegung in Frankreich ist und in der Hauptsache auch von den spanischen und italienischen Sozialisten angenommen wurde, ebenso das Programm der sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika von 1877 (weiteres hierüber bei Zacher, s. Litteratur). In Deutschland entstand Mitte der 70er Jahre neben der Sozialdemokratie vorübergehend eine konservative sozialistische Richtung, der sogen. Staatssozialismus, deren politischer Grundgedanke ein Bündnis der Monarchie mit dem vierten Stand war, um die vermeintliche Herrschaft der Bourgeoisie und des Kapitals zu brechen, die berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse durch eine sozialistische Organisation der Volkswirtschaft zu befriedigen und damit zugleich die Machtstellung der Monarchie zu befestigen. Das unklare sozialistische Programm (s. dasselbe in Nr. 23 des "Staatssozialist" vom 1. Juni 1878) dieser Richtung, die wenige Anhänger fand, und deren Hauptvertreter unter andern Pastor R. Todt ("Der radikale deutsche S. und die christliche Gesellschaft. Aufl., Wittenb. 1878) und der Schriftsteller Rudolf Meyer waren (Organ: "Der Staatssozialist. Wochenschrift für Sozialreform", 1877 ff.), stützt sich auf die sozialistischen Anschauungen von J. K. Rodbertus (s. d.), der die Berechtigung eines Einkommens aus Besitz, der "Rente" (Grundrente wie Kapitalrente), bestritt und den Kernpunkt der sozialen Frage in dem angeblichen "Gesetz" sah, daß, wenn der Verkehr in Bezug auf die Verteilung der Nationalprodukte sich selbst überlassen bleibe, bei steigender Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit der Lohn der arbeitenden Klassen ein immer kleinerer Teil des Nationalprodukts werde, daß der relative Lohn der Arbeit in dem Verhältnis sinke, als sie selbst produktiver werde, und daß folglich die Kaufkraft der Mehrzahl der Gesellschaft immer kleiner werde. Die Lösung der Frage erblickte Rodbertus darin, daß den Arbeitern ein mit der steigenden nationalen Produktivität mitsteigender Arbeitslohn gesichert würde, und er glaubte, dieselbe - ohne daß man dem Grund- und Kapitaleigentum von seinem heutigen Grundrenten- und Gewinnbetrag etwas fortnehme, sondern nur verhindere, daß auch für alle Zukunft, wie bisher, das Plus einer steigenden nationalen Produktion der Grundrente und dem Kapitalgewinn zuwachse - durch eine Reihe von Vorschlägen gefunden zu haben, deren wichtigste sind: der Staat solle zunächst für jedes "Gewerk" einen normalen Zeitarbeitstag und einen normalen Werkarbeitstag festsetzen und den Lohnsatz für den letztern mit periodischen Revisionen bestimmen, bez. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter seiner Autorität festsetzen lassen. Sodann soll "der normale Werkarbeitstag zu Werkzeit oder Normalarbeit erhoben und nach solcher Werkzeit oder Normalarbeit (nach solcher in sich ausgeglichener Arbeit) nicht bloß der Wert des Produkts jedes Gewerks normiert, sondern auch der Lohn in jedem Gewerk als Quote dieses nach Normalarbeit berechneten Produktwerts fixiert und bezahlt werden". In der Geschichte der sozialistischen Agitation ist die Phase des friedlichen, doktrinären S. und die des gewaltsamen, praktischen S. zu unterscheiden. In jener, welcher die Thätigkeit Saint-Simons und Fouriers und ihrer Schüler angehört, war die Bewegung eine wesentlich theoretische und friedliche. Jene Sozialisten erhofften auf friedlichem Weg die allmähliche Verwirklichung ihrer Ansichten. Sie wandten sich deshalb nur an die Gebildeten, nicht an diejenigen Klassen, deren Besserung sie wollten, und wenn auch ihre Äußerungen nicht frei waren von Anklagen gegen die bestehenden Einrichtungen und Zustände, so enthielten sie doch nur selten Anklagen gegen Personen und gegen die besitzenden Klassen. Diesen friedlichen Charakter verliert aber die sozialistische Agitation seit Louis Blanc und im Verlauf der Zeit mehr und mehr. Neue sozialistische Systeme und Forderungen werden aufgestellt nicht mehr als wissenschaftliche Theorien, sondern als Programme praktischer Agitationsparteien. Die Vertreter derselben wenden sich nun mit ihren Lehren direkt an die untern Volksklassen, um sie zum S. zu bekehren und für dessen Durchführung zu gewinnen; sie werden Arbeiteragitatoren. Ein Hauptmittel ihrer Agitation wird es, bei den untern Klassen die Gefühle der Erbitterung und des Hasses nicht bloß gegen die bestehenden Zustände des öffentlichen Lebens, sondern auch gegen die Träger der Staatsgewalt und gegen die besitzenden Klassen zu erzeugen. Das ökonomische sozialistische Programm wurde hiermit ein radikaleres, und da es durch den Staat verwirklicht werden sollte, wurde die Bewegung eine politische. Da man sich sagen mußte, daß die bestehenden Staaten die sozialistischen Wünsche nicht erfüllen würden, wurde die Erlangung der Herrschaft im Staat für die Lohnarbeiterklasse in das Programm aufgenommen und das praktische Ziel. Die sozialistische Soziallast - Spach. Partei wurde eine sozialdemokratische. Naturgemäß gesellten sich nun weitere politische Forderungen (betreffend die Verfassung des Staats, das Wahlrecht, das Gerichts-, Schul- und Militärwesen etc.) hinzu, und wie das ökonomische wurde auch das politische Programm, namentlich seit der Gründung der Internationalen Arbeiterassociation, immer radikaler. Man machte auch kein Hehl daraus, daß allein die Revolution der Sozialdemokratie zum Sieg verhelfen könne, und sprach es offen aus, daß man nicht zaudern würde, zu diesem Mittel zu greifen, wenn man nur die Möglichkeit des Gelingens sähe. Daher entstand nun eine Art der Agitation, die nur die Vorbereitung zur Revolution war. Und deshalb ist diese Partei auch die Gegnerin einer starken, mächtigen Staatsgewalt in den bestehenden Staaten, deshalb bekämpft sie vor allem das stehende Heer, deshalb ihre ausgesprochene Feindschaft gegen die Religion, nicht bloß gegen die Kirche. Der ganze Charakter, den die Bewegung angenommen, zwang und zwingt die Staaten zu einem entschiedenen Vorgehen gegen dieselbe, wie es das Deutsche Reich in dem Gesetz vom 21. Okt. 1878 (s. Sozialdemokratie) und andre Staaten in andrer Weise gethan haben. In neuester Zeit ist in der Sozialdemokratie eine noch radikalere Richtung in den Anarchisten hervorgetreten, die, ohne ein neues sozialistisches Programm aufzustellen, den sofortigen Umsturz alles Bestehenden mit allen nur möglichen Mitteln will, inzwischen aber die Beseitigung der Gegner durch Mord empfiehlt (s. Anarchie). Vgl. außer den im Art. "Kommunismus" (S. 990) angegebenen Werken von Stein, Sudre, Hildebrand, Marlo, Schäffle, Meyer: L. Reybaud, Études sur les réformateurs (6. Aufl., Par. 1849, 2 Bde.); E. Jäger, Der moderne S. (Berl. 1873); Derselbe, Geschichte des S. in Frankreich (das. 1876, Bd. 1); Schuster, Die Sozialdemokratie (2. Aufl., Stuttg. 1876); Mehring, Die deutsche Sozialdemokratie (3. Aufl., Brem. 1879); v. Scheel, Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Schäffle, Quintessenz des S. (8. Aufl. 1885); E. de Laveleye, Le socialisme contemporaine (4. Aufl., Par. 1889; deutsch, Tübing. 1884); Zacher, Die rote Internationale (Berl. 1884); Kleinwächter, Grundlagen und Ziele des sogen. wissenschaftlichen S. (Innsbr. 1885); Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland (Bresl. 1885); Zander, Die sozialpolitischen Gesetze des Deutschen Reichs (Kattowitz 1887); Dawson, German socialism (Lond. 1888); Semler, Geschichte des S. und Kommunismus in Nordamerika (Leipz. 1880); "S. und Anarchismus in England und Nordamerika während der Jahre 1883-86" (Berl. 1887); v. Scheel, S. und Kommunismus, in Schönbergs "Handbuch der politischen Ökonomie" (2. Aufl., Tübing. 1885, Bd. 1, S. 107 ff.); Schönberg, Gewerbliche Arbeiterfrage (ebenda, Bd. Soziallast (Societätslast), Genossenschaftssteuer, in süddeutschen Gemeinden eine Steuer, welche zur Abwendung besonderer Nachteile oder zur Erreichung besonderer Vorteile einzelner Einwohner oder Besitzer oder einzelner Klassen von solchen bestimmt ist. Vgl. Gemeindehaushalt, S. 68. Sozialpolitik, der Inbegriff der auf Besserung der sozialen Verhältnisse, vorzüglich auf Regelung der Arbeiterfrage, gerichteten Bestrebungen und Maßregeln, insbesondere derjenigen des Staats. Während der Sozialismus die gesellschaftliche Verfassung von Grund aus ändern will, hält die heutige praktische S. an der gegebenen sozialen und Eigentumsordnung grundsätzlich fest und will auf deren Boden durch die Arbeiterschutzgesetzgebung (s. Fabrikgesetzgebung), durch die Arbeiterversicherung (s. d.), durch entsprechende Steuerverteilung, Verwaltungsmaßnahmen verschiedener Art etc. die Lage der untern Klassen verbessern und die durch Privateigentum und freien Wettbewerb sich bildenden Klassengegensätze mildern. In diesem Sinn wirkt der Verein für S., welcher 1872 zu Eisenach gegründet wurde und bis zur Neuzeit für Vorbereitung von seither in Gesetzgebung und Verwaltung eingetretenen Änderungen thätig gewesen ist (vgl. Kathedersozialisten). Über die verschiedenen sozialpolitischen Richtungen der Gegenwart s. Arbeiterfrage. Sozomenos, Salamanes Hermias, Kirchenhistoriker, geboren um 400 n. Chr. bei Gaza in Palästina, trat als Sachwalter in Konstantinopel auf und starb nach 443. Er schrieb unter Benutzung des Sokrates eine Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebios (von 323 bis 439), herausgegeben von Valesius (Par. 1668) und Hussey (Lond. 1860 u. 1874 ff.). Sozopolis (türk. Sizebolu), Stadt in Ostrumelien, an der Südseite des Golfs von Burgas, mit guter Reede, auf einem Vorgebirge, Sitz eines griechischen Erzbischofs, hat ca. 2000 griech. Einwohner, welche Handel (vorzüglich mit Holz) treiben; hieß im Altertum und bis 430 n. Chr. Apollonia. Sp., auch Spach, bei botan. Namen für Eduard Spach, geb. 1801 zu Straßburg, gest. 1879 als Oberaufseher der Herbarien des Jardin des plantes in Paris. Spaa (Spa), Flecken in der belg. Provinz Lüttich, Arrondissement Verviers, in waldiger Gebirgsgegend, an der Staatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat Fabrikation von lackierten Holzwaren (bois de Spa), Wollkratzen und Spindeln, Gerbereien, Eisenhämmer, Hochöfen, eine höhere Knabenschule und (1887) 7278 Einw., ist aber namentlich berühmt durch seine Mineralquellen, von denen die stärkste (Pouhon) in der Stadt, 15 außerhalb derselben liegen. Die wichtigsten der letztern sind: Géronstère, Sauvenière, die beiden Tonnelets, Groesbeck, Barisart, Nivesé und Marie-Henriette. Sie besitzen eine Temperatur von 9-10° C. und gehören zu den alkalisch-eisenhaltigen Säuerlingen, weshalb sie namentlich gegen Hypochondrie, Hysterie, Verschleimung, Magenleiden, Nervenschwäche empfohlen und jährlich von 11-12,000 Kurgästen aus allen Weltgegenden, insbesondere aus England, besucht werden. S. besitzt daher auch viele prächtige Gebäude, mit allem Komfort eingerichtete Gasthäuser, glänzende Etablissements für Vergnügungen und reizende Spaziergänge. Das Wasser des Pouhon wird unter dem Namen Spaawasser weithin versendet. Vgl. Scheuer, Traité des eaux de S. (2. Aufl., Brüssel 1881). Spaargebirge, Höhenzug auf dem rechten Elbufer bei Meißen in Sachsen, 199 m hoch. Hier wird der beste Meißener Wein gebaut. Spaccaforno, Stadt in der ital. Provinz Syrakus (Sizilien), Kreis Modica, mit (1881) 8588 Einw. In der Nähe das sogen. Troglodytenthal (Valle d'Ispica) mit vielen oft in drei Geschossen übereinander in den Fels gehauenen, teilweise sehr schwer zugänglichen Höhlen, welche der ursprünglichen Bevölkerung wahrscheinlich zu Wohnungen Spaccio (ital., spr. spattscho), Absatz, Vertrieb. Spach (spackig), vor Trockenheit geborsten (Holz). Spach, Ludwig Adolf, elsäss. Geschichtsforscher, geb. 27. Sept. 1800 zu Straßburg, studierte daselbst Spachtel - Spalato. 1820-23 die Rechte, ward dann Erzieher in Paris, Rom und der Schweiz, 1840 Archivar des Departements Niederrhein und daneben 1848-54 Schriftführer des protestantischen Direktoriums und 1872 Honorarprofessor an der Universität. Er starb 16. Okt. 1879 in Straßburg. Er schrieb: "Histoire de la Basse-Alsace" (1859); "Lettres sur les archives départementales du Bas-Rhin" (Straßb. 1861); "Inventaire sommaire des archives départementales du Bas-Rhin" (das. 1863 ff., 3 Bde.). Seine zahlreichen kleinern Arbeiten (darunter die "Biographies alsaciennes", 3 Bde.) erschienen gesammelt als "OEuvres choisies" (Nancy 1869-71, 5 Bde.). In deutscher Sprache veröffentlichte er: "Moderne Kulturzustände im Elsaß" (Straßb. 1872-74, 3 Bde.); das Drama "Heinr. Waser" (das. 1875); "Zur Geschichte der modernen französischen Litteratur" (das. 1877); "Dramatische Bilder aus Straßburgs Vergangenheit" (das. 1876, 2 Bde.). Unter dem Pseudonym Louis Lavater verfaßte er mehrere Romane: "Henri Farel" (1834), "Le nouveau Candide" (1835), "Roger de Manesse" (1849). Vgl. Kraus, Ludw. S. (Straßb. Spachtel, s. v. w. Spatel. Spack, s. v. w. Steinsalz, s. Salz, S. 236. Spada (ital.), Schwert, Degen. Spada, Palast in Rom, s. Rom, S. 908. Spadicifloren (Kolbenblütler), Ordnung im natürlichen Pflanzensystem unter den Monokotyledonen, charakterisiert durch einen meist kolbenförmigen Blütenstand, der häufig von einem großen Hüllblatt umgeben ist und zahlreiche kleine Blüten trägt, welche gewöhnlich eingeschlechtig, ein- oder zweihäusig sind und kein oder doch kein blumenkronartig gefärbtes Perigon besitzen; die Samen enthalten Endosperm, welches den kleinen, geraden Keimling umgibt. Die Ordnung besteht aus den Familien: Aroideen, Pandaneen, Cyklantheen, Palmen und Spadille (franz., spr. -dihj), die höchste Trumpfkarte im L'hombrespiel (Pik-As) und in dem diesem nach gebildeten Solospiel (Eichel-Ober). Spadix (lat.), Kolben, s. Blütenstand, S. 80. Spado (lat.), ein Verschnittener, Eunuch. Spagat (Spaget, v. ital. spaghetto), in Österreich, Bayern etc. s. v. w. Kanzleibindfaden. Spagirisch (ital.), s. v. w. alchimistisch. Spagniolgeschmack, s. Firnewein. Spaguolette (ital., spr. spanjo-), spanischer Drehriegel, Riegelstange am Fenster; auch s. v. w. spanische Zigarrette. Spaguoletto (spr. spanjo-), Maler, s. Ribera. Spagnuólo (spr. spanj-), Maler, s. Crespi 3). Spahi (türk., pers. Sipahi, "Krieger, Heer"), in Mittelasien der dem Fürsten zur Stellung von Soldaten verpflichtete Adel, welche Bezeichnung später auf die Soldaten selbst überging, woraus die englischen Sepoys (s. d.) entstanden. S. hießen in der Türkei die von den Lehnsträgern zu stellenden Reiter, später war es die Bezeichnung der irregulären türkischen Reiterei, welche gleichzeitig mit den Janitscharen (s. d.) entstand und den Kern der türkischen Reiterei bildete. S. heißen die 4 französischen Reiterregimenter, von denen 3 zu 6 Eskadrons in Algerien und 1 zu 3 Eskadrons in Tunis stehen. Sie wurden um 1834 aus Eingebornen gebildet und sind heute organisiert und bewaffnet wie die übrige französische Kavallerie, aber von französischen Offizieren befehligt. Spaichingen, Oberamtsstadt im württemberg. Schwarzwaldkreis, an der Prim und der Linie Rottweil-Immendingen der Württembergischen Staatsbahn, 659 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein Gewerbemuseum, ein Amtsgericht, ein Revieramt, ein Hauptsteueramt, Zigarren-, Trikot-, Schuh- und Holzwaren- und Uhrenfabrikation, Klavier- und Orgelbau, Buchdruckerei, Bierbrauerei und (1885) 2441 meist kath. Einwohner. Nahebei der Dreifaltigkeitsberg mit Wallfahrtskirche. Spalatin, Georg Burkhardt, Beförderer der Reformation, geb. 1484 zu Spalt im Bistum Eichstätt (daher sein Name), lag seit 1499 in Erfurt, gleichzeitig mit Luther, humanistisch-philosophischen Studien ob, ward 1502 Magister zu Wittenberg, studierte dann in Erfurt noch die Rechte und Theologie, wurde 1509 Erzieher von Johann Friedrich, dem nachherigen Kurfürsten von Sachsen, 1514 ernannte ihn Friedrich der Weise zu seinem Hofkaplan, dann zu seinem Geheimschreiber und zum Bibliothekar an der Universität Wittenberg. S. war seitdem der vertrauteste Diener des Kurfürsten, den er fast zu allen Reichstagen begleitete, und dessen Beziehungen zu Luther er fast ausschließlich vermittelte; seine nicht hoch genug anzuschlagenden Verdienste um die deutsche Reformation sind bisher noch viel zu wenig gewürdigt. Johann der Beständige, der ihn ebenso wie sein Vorgänger zu schätzen wußte, ernannte ihn 1525 zum Ortspfarrer und Superintendenten von Altenburg. 1530 begleitete S. den Kurfürsten zum Augsburger Reichstag. Von 1527 bis 1542 entwickelte er eine bedeutende Thätigkeit bei der Organisation der evangelischen Kirche der sächsischen Lande. Er starb 16. Jan. 1545 in Altenburg. S. schrieb die Biographien von Friedrich dem Weisen (hrsg. von Neudecker und Preller, Weim. 1851) und Johann dem Beständigen; "Christliche Religionshändel oder Religionssachen", von Cyprian irrig "Annales Reformationis" (Leipz. 1718) genannt, und eine Geschichte der Päpste und Kaiser des Reformationszeitalters. Seine meist im Archiv zu Weimar liegenden Briefe sind noch ungedruckt. Vgl. J. Wagner, G. S. und die Reformation der Kirchen und Schulen in Altenburg (Altenb. 1830); Seelheim, G. S. als sächsischer Historiograph (Halle 1876); Burkhardt, Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schulvisitationen von 1524 bis 1545 (Leipz. 1879). Spálato (slaw. Spljet), Stadt in Dalmatien, halbmondförmig auf der Südseite einer Halbinsel im Grund einer Bucht des Adriatischen Meers gelegen, die schönste und volkreichste Stadt des Landes, teilt sich in die Altstadt, die Neustadt und vier Vorstädte. Öffentliche Plätze sind: der Domplatz (Piazza del Tempio) und der Herrenplatz. Die Stadt ist reich an antiken Baudenkmälern. Den ganzen Raum der Altstadt nahm der umfangreiche Palast des Kaisers Diokletian ein, von dessen südlicher Fronte namentlich ein 125 m langes Peristyl mit Vestibulum erhalten ist (s. Tafel "Baukunst VI", Fig. 12 u. 13), welches gegenwärtig den Domplatz bildet. Die an demselben gelegene Kathedrale (das ehemalige Diokletianische Mausoleum), ein wohlerhaltener römischer Gewölbebau, bildet außen ein mit korinthischen Säulen geziertes Achteck, innen eine Rotunde mit Kuppel. Beim Eingang steht eine ägyptische Sphinx, und neben dem Dom erhebt sich ein imposanter Glockenturm aus dem 15. Jahrh. Der gegenüberstehende Äskulaptempel dient jetzt als Taufkapelle und ist gleichfalls sehr gut erhalten. Außerdem sind die Trümmer der Diokletianischen Wasserleitung bemerkenswert. Auf der Ostseite der Stadt erhebt sich das Fort Grippi. S. zählt (1880) mit den Vorstädten 14,513 Einw. Der Hafen ist etwas versandet und wird Spalding - Spaltbarkeit. durch einen Damm gegen die Südwinde geschützt. 1886 sind daselbst 1814 beladene Schiffe mit 286,366 Ton. eingelaufen. Die Stadt treibt Wein-, Öl- und Gemüsebau, Fabrikation von Likören (Rosoglio und Maraschino), Seiler- und Teigwaren, Seife, Ziegeln, Kalk und Zement, ferner Schiffbau, Küstenschiffahrt, lebhaften Handel mit Wein und Vieh sowie auch Durchfuhrhandel und Niederlagsverkehr nach Bosnien und der Herzegowina. S. besitzt eine Gasanstalt, eine Filiale der Österreichisch-Ungarischen Bank, 2 Lokalbanken und ist der Ausgangspunkt der Dalmatischen Eisenbahn nach Siveric mit Abzweigung nach Sebenico. Es ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, eines Kreis- und Bezirksgerichts, einer Finanzbezirksdirektion, eines Hauptzoll- und Hauptsteueramtes, eines Hafenkapitanats, einer Handels- und Gewerbekammer, eines deutschen Konsuls, eines Bischofs (bis 1807 Erzbischofs) und Kathedralkapitels und hat 8 Klöster, ein Diözesanseminar, ein Obergymnasium, eine Oberrealschule, Knaben- und Mädchenschule, Lehr- und Erziehungsanstalt der Barmherzigen Schwestern, Kinderbewahranstalt, ein Krankenhaus, Findelhaus, Theater, Museum für Altertümer (insbesondere die Ausgrabungen aus Salonä enthaltend). Am Fuß des Bergs Marian (170 m, schöner Überblick) sind zu Bädern benutzte kalte Schwefelquellen. - In den oben erwähnten Kaiserpalast zog sich Diokletian nach seiner Abdankung zurück. Als im 6. und 7. Jahrh. das benachbarte Salonä (s. d.) zerstört worden war, bauten sich dessen Einwohner innerhalb der Residenz Diokletians an, und so entstand eine kleine Stadt, welche anfangs Palatium, dann Spalatium (Salonae Palatium) hieß, woraus dann der Name S. entstand. Die um die Mitte des 17. Jahrh. errichteten Festungswerke sind bis auf das Fort Grippi unter der französischen Herrschaft abgetragen worden. Vgl. Lanza, Dell' antico palazzo di Diocleziano in S. (Triest 1855); Hauser, S. und die römischen Monumente Dalmatiens (Wien 1883). Spalding, Stadt in Lincolnshire (England), am schiffbaren Welland, Hauptort des "Holland" genannten Distrikts der Fens (s. d.), hat lebhaften Handel mit Wolle, Vieh und Kohlen und (1881) Spalding, 1) Johann Joachim, protest. Theolog, geb. 1. Nov. 1714 zu Tribsees in Schwedisch-Pommern, ward 1749 Prediger zu Lassahn, 1757 erster Prediger zu Barth, 1764 Propst an der Nikolaikirche in Berlin und später auch Oberkonsistorialrat, in welcher Stellung er für religiöse Aufklärung wirkte, bis ihn 1788 das Wöllnersche Religionsedikt (s. d.) veranlaßte, seine Stelle niederzulegen. Er starb 26. März 1804 in Berlin. Unter seinen Schriften sind als typisch für seine Zeit noch heute hervorzuheben: "Gedanken über den Wert der Gefühle in dem Christentum" (Leipz. 1761, 5. Aufl. 1785); "Über die Nutzbarkeit des Predigtamts" (1772, 3. Aufl. 1791). Seine Autobiographie erschien Halle 1804. 2) Georg Ludwig, Philolog, Sohn des vorigen, geb. 8. April 1762 zu Barth, vorgebildet in Berlin, studierte seit 1780 in Göttingen und Halle, ward 1787 Professor am Grauen Kloster und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin und starb 7. Juni 1811 in Friedrichsfelde bei Berlin. Er schrieb: "Vindiciae philosophorum megaricorum" (Halle 1792), gab Demosthenes' "In Midiam" (Berl. 1794; neubearbeitet von Buttmann, das. 1823) heraus und machte sich namentlich um Quintilian verdient ("Quintiliani opera", Leipz. 1798-1816, 4 Bde.; Bd. 5 von Zumpt, 1829; Bd. 6: "Lexicon" von Bonnel, 1834). Vgl. Walch, Memoria Spaldingii (Berl. Spalier (franz. espalier, ital. spaliéra, Baumgeländer), Latten- und Drahtwerk, woran Weinstöcke und Obstbäume in die Breite gezogen und mit den Ästen und Zweigen angebunden werden; wird gewöhnlich an sonnigen Wänden angebracht. Am besten benutzt man hierzu verzinkten Eisendraht, der durch verzinkte Eisenstützen festgehalten, durch sogen. Drahtspanner (s. d.) angezogen, bez. (über Winter) nachgelassen wird. Spalierbaum, s. Obstgarten, S. 312. Spallanzani, Lazzaro, Naturforscher, geb. 12. Jan. 1729 zu Scandiano im Herzogtum Modena, studierte zu Bologna Naturwissenschaft, ward 1756 Professor zu Reggio, später in Modena und Pavia, bereiste die Schweiz, den Orient und einen Teil Deutschlands und starb 11. Febr. 1799 in Pavia. Er lieferte 1785 in seiner Arbeit über die Zeugung den experimentellen Nachweis der Befruchtung der Eier durch die Samenkörper, machte auch Untersuchungen über die Reproduktion und die Fortpflanzung der Frösche, über die Infusionstierchen, über einen eigentümlichen Sinn der Fledermäuse, über die Wirkung des Magensafts und den Blutkreislauf und beschrieb die naturhistorischen Merkwürdigkeiten der von ihm bereisten Länder. Er schrieb: "Opuscoli di fisica animale e vegetabile" (Mod. 1780, 2 Bde): "Viaggi alle due Sicilie ed in alcune parti degli Apennini" (Pavia 1792, 6 Bde.; deutsch, Leipz. 1795, 4 Bde.); "Expériences pour servir à l'histoire de la génération des animaux et des plantes" (Genf 1786). 1889 wurde ihm in Scandiano ein Denkmal errichtet. Spalmadores (Kujun-Adassi, "Schaf-Inseln"), kleine türk. Inselgruppe in der gleichnamigen Meerenge zwischen der Insel Chios und der Westküste von Kleinafien (im Altertum Spalmeggio (spr. -meddscho), ein Nebel, s. Bora. Spalt, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, Bezirksamt Schwabach, an der Fränkischen Rezat u. der Linie Georgensgmünd-S. der Bayrischen Staatsbahn, 362 m ü. M., hat 3 Kirchen, Bierbrauerei, starken Hopfenbau und (1885) 2060 meist kath. Einw. Spaltbarkeit der Mineralien, die Eigenschaft, in bestimmten Richtungen geringere Grade der Kohärenz zu besitzen als in den übrigen dazwischenfallenden Richtungen, so daß selbst bei unbedeutender Größe trennender Kräfte senkrecht zu diesen Richtungen der Minima der Kohärenz Spaltbarkeitsflächen (Blätterdurchgänge) erzeugt werden können. Die Flächen, welche durch die S. erzeugt werden, stehen im engsten Zusammenhang mit den morphologischen Eigenschaften der Mineralien und gehören ausnahmslos einer Figur an, die demselben Kristallsystem zuzuzählen ist, in welchem die betreffende Spezies kristallisiert. So ist der tesseral kristallisierende Bleiglanz in drei aufeinander senkrechten Richtungen, den sechs Würfelflächen entsprechend, spaltbar, der tesserale Flußspat in vier (oktaedrischen) Richtungen, der hexagonale Kalkspat nach den Flächen eines Rhomboeders und zwar derart, daß diese durch Spaltung erhaltenen Formen, abgesehen von der Zugehörigkeit zum gleichen System, von der äußern Begrenzung der Individuen unabhängig ist. So erhält man durch Zertrümmerung von Kalkspat Rhomboeder, sei der Kristall selbst ein Rhomboeder oder ein Skalenoeder oder eine hexagonale Säule. Diesem Zusammenhang zwischen Spaltungsform und Kristallsystem entsprechend, können zu Blättchen teilbare Mineralien (monotome) nicht dem tesseralen System angehören, da in diesem eine der Monotomie entsprechende Kristallform (ein Flächenpaar) Spaltfrüchte - Spangenberg. nicht möglich ist. Aus gleichem Grund können quadratisch oder hexagonal kristallisierende Mineralien nur senkrecht zur kristallographischen Hauptachse (optischen Achse) monotom spaltbar sein, während in dem rhombischen und den klinoedrischen Systemen Monotomie nach mehr denn einer Richtung möglich ist. Die Leichtigkeit, charakterisierende Formen selbst bei äußerlich mangelnder Gesetzmäßigkeit der Begrenzung darstellen zu können, macht die S. für die Bestimmung der Mineralspezies sehr wertvoll. Spaltfrüchte (Schizocarpia), s. Frucht, S. 755. Spaltfüßer (Entomostraca), s. Krebstiere, Spalthufer, s. v. w. Wiederkäuer. Spaltöffnungen (Stomata), s. Epidermis. Spaltpilze, s. Pilze I., S. 68. Spaltschnäbler (Fissirostres), nach Cuvier u. a. Familie aus der Ordnung der Sperlingsvögel, mit kurzem, dreieckigem, flachem, bis weit hinter die Augen gespaltenem Schnabel. Hierher gehört die Gattung Schwalbe u. a. Spaltung (Kirchenspaltung), s. Schisma. Spampanaten (ital.), Aufschneidereien. Spanböden, s. v. w. Sparterie, s. Geflechte. Spandau (Spandow), Stadt (Stadtkreis) und Festung im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, am Einfluß der Spree in die Havel und an den Linien Berlin-Buchholz und Berlin-Lehrte der Preußischen Staatsbahn, 32 m ü. M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche (unter jenen die Nikolaikirche aus dem 14. Jahrh.), ein Gymnasium, ein Amtsgericht, eine Militärschießschule, ein Krankenhaus, 2 Hospitäler, ein Militärlazarett, ein Zentralfestungsgefängnis, Geschützgießerei, Pulver-, Munition- und Gewehrfabrikation, eine Artilleriewerkstatt, ein Feuerwerkslaboratorium (sämtlich Staatsanstalten), einen großen Pferdemarkt und (1885) mit der Garnison (4. Gardereg. zu Fuß, 3. Gardegrenadierreg., 2 Bat. Gardefußartillerie und ein Trainbat. Nr. 3) 32,009 meist evang. Einwohner. Durch zahlreiche Neubauten und die Anlage von detachierten Forts ist S. zum Schutz von Berlin in eine Festung ersten Ranges umgewandelt. In der Citadelle steht der Juliusturm mit dem deutschen Reichskriegsschatz (s. d.). - S., eine der ältesten Städte der Mittelmark, empfing schon 1232 Stadtrecht und war später mehrfach Residenz der Kurfürsten von Brandenburg. Nachdem es schon 1319-50 mit einer Mauer umgeben war, wurden die Festungswerke 1626-48 verstärkt und 1842 bis 1854 zeitgemäß umgebaut. 1631-34 wurde S. von Georg Wilhelm den Schweden eingeräumt, 25. Okt. 1806 von Beneckendorf an die Franzosen übergeben. Am 26. April 1813 ergab es sich nach kurzer Blockade dem preußischen General v. Thümen. Vgl. Krüger, Chronik der Stadt und Festung S. (Spand. 1867); Kuntzemüller, Geschichte der Stadt und Festung S. (das. 1881). Spandrille, in der Baukunst ein Zwickel zwischen einem Bogen und dessen rechtwinkeliger Einfassung (s. vorstehende Spange, Nadel, Schmucknadel (s. Fibel), ursprünglich zur Befestigung des Mantels oder Gürtels dienend; dann auch im weitern Sinn für Brosche, Armband etc. gebraucht. Über vorhistorische Spangen s. Metallzeit. Spangenberg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Melsungen, an der Pfiefe und der Linie Treysa-Leinefelde der Preußischen Staatsbahn, 264 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Zigarren- und Peitschenfabrikation, Ziegeleien und (1885) 1676 Einw. Dabei das gleichnamige Bergschloß, das zur kurhessischen Zeit als Staatsgefängnis benutzt wurde, jetzt aber leer steht. S., ursprünglich einem Zweig der Herren v. Treffurt gehörig, wurde 1347 hessisch. Spangenberg, 1) August Gottlieb, der zweite Stifter der Evangelischen Brüderunität, geb. 1704 zu Klettenberg in der Grafschaft Hohenstein, ward auf der Universität Jena gebildet und 1732 Adjunkt der theologischen Fakultät zu Halle sowie Inspektor des dortigen Waisenhauses. Nachdem er 1743 aus Halle auf Befehl des Königs vertrieben war, schloß er sich der Brüdergemeinde an, machte mehrere Missionsreisen in Europa und Amerika, wurde 1762 nach Zinzendorfs Tode dessen Nachfolger als Bischof und starb 18. Sept. 1792 in Berthelsdorf. Er schrieb das "Leben Zinzendorfs" (Barby 1772, 2 Bde.) und "Idea fidei fratrum, oder kurzer Begriff der christlichen Lehre in der Brüdergemeinde" (das. 1779). Vgl. Ledderhose, Leben Spangenbergs (Heidelb. 1846); Knapp, Beiträge zur Lebensgeschichte Spangenbergs (1792; hrsg. von Frick, Halle 2) Ernst Peter Johannes, gelehrter Jurist, geb. 6. Aug. 1784 zu Göttingen, studierte daselbst die Rechte, habilitierte sich 1806, trat aber dann zur richterlichen Laufbahn über und ward 1811 Generaladvokat bei dem kaiserlichen Gerichtshof zu Hamburg, 1814 Assessor bei der Justizkanzlei in Celle, 1816 Hof- und Kanzleirat an diesem Gerichtshof, 1824 Oberappellationsgerichtsrat und 1831 Beisitzer des königlichen Geheimratskollegiums zu Hannover. Er starb 18. Febr. 1833 in Celle. Während der westfälischen Herrschaft schrieb er mehrere auf das französische Recht bezügliche Werke, wie die "Institutiones juris civilis Napoleonei" (Götting. 1808) und den "Kommentar über den Code Napoléon" (das. 1810-1811, 3 Bde.). Von seinen übrigen zahlreichen Schriften nennen wir: "Einleitung in das Römisch-Justinianeische Rechtsbuch" (Hannov.1817); "Die Minnehöfe des Mittelalters" (Leipz. 1821); "Beiträge zu den deutschen Rechten des Mittelalters" (Halle 1822); "Jakob Cujas" (Leipz. 1822); "Juris romani tabulae negotiorum sollemnium" (das. 1822); "Die Lehre von dem Urkundenbeweise" (Heidelb. 1827, 2 Abtlgn.). Von Strubes "Rechtlichen Bedenken" besorgte S. eine neue Ausgabe (Hannov. 1827-28, 3 Bde.), wie er auch Hagemanns "Praktische Erörterungen aus allen Teilen der Rechtsgelehrsamkeit" (Bd. 8-10, 1829-37) fortsetzte. Noch sind von ihm zu erwähnen: "Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben für sämtliche Provinzen des hannoverschen Staats bis zur Zeit der Usurpation" (Hannov. 1819-25, Tl. 1-3 und Tl. 4 in 4 Abtlgn.); "Neues vaterländisches Archiv" (Lüneb. 1822-32, 22 Bde.); "Kommentar zur Prozeßordnung für die Untergerichte des Königreichs Hannover" (Hannov. 1829-1830, 2 Abtlgn.); "Das Oberappellationsgericht in Celle" (Celle 1833). 3) Louis, Maler, geb. 1824 zu Hamburg, war anfangs Architekt und Eisenbahntechniker und wid- Spangenhelm - Spanien. mete sich erst nach 1845 der Landschafts- und Architekturmalerei in München bei E. Kirchner und in Brüssel. Nach längern Studienreisen durch Frankreich, England, Italien und Griechenland ließ er sich 1857 in Berlin nieder. Seine Landschaften, deren Motive teils Norddeutschland, teils Griechenland und Italien entlehnt sind, zeichnen sich durch großartige und strenge Auffassung mit Neigung zum Stilisieren und bei meist ernster Stimmung aus. Die hervorragendsten derselben sind: Akrokorinth, die Akropolis von Athen, Bauernhof in Oldenburg, der Regenstein im Harz, norddeutscher Eichenwald, Neptuntempel und Basilika in Pästum, Theater des Herodes Atticus in Athen, Motiv aus dem Engadin, Torfmoor in Holstein. In der technischen Hochschule zu Charlottenburg hat er eine Reihe von Wandgemälden mit berühmten Baudenkmälern des Altertums ausgeführt. 4) Gustav, Maler, Bruder des vorigen, geb. 1. Febr. 1828 zu Hamburg, hatte 1844 den ersten Zeichenunterricht bei H. Kauffmann in Hamburg, besuchte 1845-48 die Gewerbe- und Zeichenschule in Hanau unter Th. Plissier, lebte 1849-51 in Antwerpen, wo er die Akademie jedoch nur kurze Zeit besuchte, und ging 1851 nach Paris, wo er bei Couture und dem Bildhauer Triqueti arbeitete, sich aber vorwiegend durch das Studium der Meister der deutschen Renaissance (Dürer und Holbein) bildete. Nachdem er noch ein Jahr in Italien zugebracht (1857-1858), ließ er sich in Berlin nieder, wo er als Professor lebt. Von seinen frühern Bildern sind zu nennen: das geraubte Kind, der Rattenfänger von Hameln, St. Johannisabend in Köln, Walpurgisnacht. Seinen Ruf begründete S. jedoch erst durch seine Historienbilder, die im Anschluß an die altdeutschen Meister sich durch klare Komposition, Korrektheit der Zeichnung und fleißige Durchführung des Einzelnen auszeichnen. Luthers Hausmusik, Luther als Junker Georg, Luther die Bibel übersetzend (1870, Berliner Nationalgalerie), Luther und Melanchthon, Luther im Kreise seiner Familie musizierend und Luthers Einzug in Worms sind die Hauptbilder dieser Reihe. Den Höhepunkt seines Schaffens erreichte er in dem tief ergreifenden Zug des Todes (1876, in der Berliner Nationalgalerie), mit Figuren in der Tracht der Renaissance, welcher ihm die große goldene Medaille einbrachte. Hinter diesem Hauptwerk blieben seine spätern Schöpfungen (am Scheideweg, das Irrlicht, die Frauen am Grab Christi) an Tiefe der Empfindung und Gedankeninhalt zurück. Für das Treppenhaus der Universität Halle führte er einen Cyklus von die vier Fakultäten versinnlichenden Wandgemälden aus, wofür er 1888 zum Ehrendoktor der Philosophie promoviert wurde. 5) Paul, Maler, geb. 26. Juli 1843 zu Güstrow (Mecklenburg), bildete sich an der Akademie zu Berlin, bei Professor Stesseck daselbst und bei Stever in Düsseldorf, dann ein Jahr lang in Paris, machte Reisen nach Spanien und Italien und ließ sich 1876 in Berlin nieder, wo er als Porträtmaler thätig ist und namentlich in Damenbildnissen durch geschicktes Arrangement und glänzende koloristische Behandlung des Stofflichen Hervorragendes leistet. Spangenhelm, s. Helm, S. 363. Spangrün, s. Grünspan. Spanheim, 1) Ezechiel, namhafter Staatsmann und Rechtsgelehrter, geb. 7. Dez. 1629 zu Genf, wo sein Vater Friedrich S. (gest. 1648 in Leiden) Professor der Theologie war, studierte hier und in Leiden, wurde 1651 Professor der Beredsamkeit in seiner Vaterstadt und Mitglied des Großen Rats, später Erzieher der Söhne des Kurfürsten von der Pfalz, mit denen er Italien u. Sizilien bereiste. 1665 wurde er kurpfälzischer und zugleich brandenburgischer Resident in England, trat dann ganz in die Dienste des Kurfürsten von Brandenburg, ging 1680 als außerordentlicher Gesandter nach Paris, wo er neun Jahre verweilte, und ward dann zum Staatsminister ernannt. Er nahm 1697 teil an den Friedensverhandlungen zu Ryswyk und ging darauf von neuem als Gesandter nach Paris, 1702 als außerordentlicher Gesandter nach London, wo er 7. Nov. 1710 starb. S. besaß eine umfassende Gelehrsamkeit im Gebiet der Staaten- und Rechtsgeschichte und im Münzwesen des Altertums. Seine Hauptwerke sind: die "Dissertationes de usu et praestantia numismatum antiquorum" (beste Ausgabe, Lond. u. Amsterd. 1706-16, 2 Bde.) und die Schrift "Orbis romanus" (Lond. 1704, Halle 1728). Wegen der sachlichen Erläuterungen sind seine Ausgaben des Julianus (Leipz. 1696) und Kallimachos (Utr. 1697, 2 Bde.) sowie die französische Übersetzung der "Imperatores" des Julianus (beste Ausg., Amsterd. 1728) schätzenswert. Auch lieferte er Kommentare zu mehreren Komödien des Aristophanes (Amsterd. 1710). Seine wertvolle Bibliothek wurde von Friedrich I. angekauft und der königlichen Bibliothek in Berlin einverleibt. 2) Friedrich, Kirchenhistoriker, Bruder des vorigen, geb. 1632 zu Genf, studierte in Leiden und erhielt nach Vollendung seiner Studien 1656 eine Professor der Theologie zu Heidelberg, 1670 zu Leiden, wo er 1701 starb. Er hat sich als Polemiker und Forscher im Fach der Kirchengeschichte bekannt gemacht. Seine Werke erschienen, mit Ausnahme der in französischer Sprache geschriebenen, in 3 Bänden (Leid. 1701-1703). Spani, Prospero, ital. Bildhauer, s. Clementi 1). Spanien (hierzu die Karte "Spanien und Portugal", bei den Alten auch Iberien, bei den Griechen Hesperien genannt, span. España, franz. l'Espagne, lat. Hispania), westeuropäisches Königreich, erstreckt sich, den bei weitem größten Teil der Pyrenäischen Halbinsel einnehmend, zwischen 36-43° 47' nördl. Br. und 9° 22' westl. - 3° 20' östl. L. v. Gr. Übersicht des Inhalts. Grenzen, Küsten.................63 Bodengestaltung.................64 Gewässer........................65 Klima...........................65 Vegetation, Tierwelt............66 Areal und Bevölkerung...........66 Bildungsanstalten...............67 Land- und Forstwirtschaft.......68 Bergbau und Hüttenwesen.........70 Industrie.......................71 Handel und Verkehr..............72 Wohlthätigkeitsanstalten........73 Staatsverfassung................73 Verwaltung......................74 Rechtspflege....................74 Finanzen........................75 Heer und Flotte.................75 Wappen, Orden...................75 Geograph.-statist. Litteratur...76 Geschichte......................76 S. grenzt gegen N. an Frankreich (durch die Pyrenäen davon geschieden), an die Republik Andorra und an den Viscayischen Meerbusen, gegen W. an das Atlantische Meer und an Portugal, während es im übrigen vom Atlantischen Ozean und vom Mittelländischen Meer bespült wird. Der nördlichste Punkt Spaniens ist die Estaca de Vares, der westlichste das Kap Toriñana, beide in Galicien, der südlichste die Punta Marroqui bei Tarifa, der östlichste das Kap de Creus. Die größte Ausdehnung von N. nach Süden beträgt 856 und von O. nach W. 1020 km. Die Grenzentwickelung beläuft sich auf 3340 km. Die Nordküste verläuft fast geradlinig, bildet nur zwischen Gijon und Aviles sowie zwischen Rivadeo und La Coruña bedeutendere Vorsprünge gegen N. und zeichnet sich vor den übrigen Küsten des Landes durch Schroff- Karte Spanien und Portugal. Spanien (Bodengestaltung). heit und Unzugänglichkeit aus, indem hier die Gebirge fast überall dicht ans Meer heranrücken. Zugänglich ist sie nur an den Mündungen der Flüsse und der tief in das Land einschneidenden Meeresarme (rias), welche namentlich an der Küste von Galicien häufig auftreten. Auch die Westküste Spaniens trägt im ganzen diesen Charakter; doch ist sie viel zugänglicher als jene, weil hier die Gebirge nur in den Kaps bis an das Meer herantreten und sich im Hintergrund der Rias gewöhnlich Ebenen befinden. Die Süd- und Ostküste läßt dagegen eine Anzahl weiter, flacher Meerbusen und dazwischen befindliche, in felsige Vorgebirge endende Landvorsprünge erkennen, ist also gegliederter als die Nord- und Westküste und durch sichere Häfen zugänglich. Die wichtigsten Buchten der Südküste sind von W. nach O. die Golfe von Cadiz, Malaga und Almeria sowie die Bucht von Cartagena, an der Ostküste die Bai von Alicante und der Golf von Valencia. Bodengestaltung. Was die Bodengestaltung anlangt, so besteht die Pyrenäische Halbinsel zum großen Teil aus einem das Zentrum derselben einnehmenden Plateau oder Tafelland von trapezoidaler Gestalt, das ein Areal von etwa 231,000 qkm (4200 QM.) bedeckt und ringsum von Gebirgen umwallt ist, auch mehrere Gebirgsmassen auf seiner Oberfläche trägt. Dieses zentrale Tafelland gehört ganz und gar zu S. und besteht aus zwei großen Plateaus, einem höhern nördlichen und einem etwas niedrigern südlichen. Ersteres umfaßt die Hochebenen von Leon und Altkastilien, letzteres die von Neukastilien, Estremadura und die nördliche Hälfte von Murcia. Beide Plateaus sind durch einen hohen, von ONO. nach WSW. sich erstreckenden Gebirgszug (Kastilisches Scheidegebirge) größtenteils voneinander geschieden. Nach O. ansteigend, senken sie sich nach W., so daß die Hauptflüsse westlichen Lauf haben, im nördlichen Plateau der Duero, im südlichen der Tajo und Guadiana, zwischen welchen beiden Flüssen sich in der westlichen Hälfte des Plateaus das ziemlich bedeutende Gebirgssystem von Estremadura erhebt. Die Hochebene von Altkastilien und Leon hat eine mittlere Höhe von 810, die von Neukastilien und Estremadura von 784 m. Die vier Abhänge des zentralen Tafellandes zeigen sehr verschiedene Gestaltung. Der steil ins Meer abstürzende Nordabhang wird vom Kantabrischen Gebirge, der westlichen Fortsetzung der Pyrenäen, gebildet und ist sehr schmal. Weit breiter ist der östliche oder iberische Abhang, der in mehreren terrassenartigen Absätzen in die Tiefebene von Aragonien und zum Golf von Valencia abfällt und bloß stellenweise isolierte Gebirgsmassen aufweist. Eine ähnliche, wenn auch weniger deutlich ausgeprägte Terrassenbildung zeigt der südliche oder bätische Abhang, welcher bloß gegen O. (in den Provinzen Murcia und Alicante) bis an die Küste des Mittelmeers herantritt, im übrigen in die Tiefebene Niederandalusiens und zu den Küsten des Atlantischen Meers absinkt. Derselbe wird ganz von den welligen Bergen der Sierra Morena eingenommen, welche sich über die Hochebenen Neukastiliens und Estremaduras nur als niedrige Gebirgskette erhebt. Der westliche oder lusitanische Abhang, der breiteste und eigentümlichste, gehört größtenteils Portugal an. Im ganzen lassen sich sechs voneinander fast unabhängige Gebirgssysteme unterscheiden, nämlich: das pyrenäische System, das iberische System oder das östliche Randgebirge des Tafellandes, das zentrale System oder das Kastilische Scheidegebirge, das Gebirgssystem von Estremadura oder das Scheidegebirge zwischen Tajo und Guadiana, das marianische System oder das südliche Randgebirge des Tafellandes und das bätische System oder die Bergterrasse von Granada (mit der Sierra Nevada, der höchsten Erhebung der Halbinsel). Die eingehendere Beschreibung dieser Gebirgssysteme findet sich in den Artikeln Pyrenäen, Kantabrisches Gebirge, Iberisches Gebirge, Sierra Morena, Sierra Nevada etc. Zwischen dem iberischen und pyrenäischen Gebirgssystem breitet sich das ausgedehnte Ebrobassin oder das iberische Tiefland aus. Dasselbe erstreckt sich von NW. nach SO. und mißt gegen 300 km in der Länge und gegen 150 km in der Breite. Es zerfällt in eine nordwestliche kleinere und eine südöstliche größere Abteilung, welche, durch Höhenzüge voneinander getrennt, bei Tudela ineinander übergehen. Während das obere Bassin ein eigentliches Plateau bildet, dessen tiefste Punkte noch eine absolute Höhe von mehr als 300 m haben, trägt das untere Ebrobassin, wenigstens in seiner letzten Hälfte, wo es sich bedeutend erweitert, mehr den Charakter eines Tieflandes, dessen tiefste Punkte, z. B. die Salzseen von Bajaraloz, ungefähr 100 m ü. M. liegen. Beide Bassins enthalten neben höchst fruchtbaren Strecken auch weite öde Steppengebiete. Zwischen dem bätischen und marianischen Gebirgssystem breitet sich das bätische Tiefland oder das Bassin des Guadalquivir aus, welches sich von ONO. nach WSW. erstreckt, 330 km lang und bis 90 km breit ist und ebenfalls in zwei Hauptabteilungen zerfällt: das kleine Becken des obern Guadalquivir und das fünfmal so große Bassin des mittlern und untern Guadalquivir. Während jenes ein entschiedenes Plateau ist, das sich bis 475 m ü. M. erhebt und nicht tiefer als bis 160 m herabsinkt, bildet das letztere oder Niederandalusien ein Flachland, welches durch den Jenil in zwei ungleiche Stücke geteilt wird. Das östliche kleinere Stück, die Campiña de Cordova bildet eine hügelige Fläche mit bis über 130 m ansteigenden Punkten; das restliche größere, die Ebene von Sevilla, ein eigentliches Tiefland, dessen Boden sich nirgends über 80 m ü. M. erhebt. Das Bassin des Ebro und das des Guadalquivir sind alte Meeresgolfe und daher mit brackischen mitteltertiären Ablagerungen erfüllt. Durch jenes werden die Pyrenäen (s. d.) mit ihrem Terrassenabfall nach Katalonien und Aragonien, durch dieses die Gebirge von Granada mit der Sierra Nevada in der Art vom Hauptkörper des spanischen Hochlandes getrennt, daß dieselben nur an ihren Enden mit ihm durch Berg- und Plateaulandschaften in Verbindung stehen. Was die geognostische Beschaffenheit des Landes betrifft, so spielen die plutonischen Eruptivgesteine und die ältern oder primären Sedimentärgesteine eine hervorragende Rolle, namentlich in der südwestlichen Hälfte der Halbinsel, wo Granit, Gneis und andre kristallinische Gesteine, Thonschiefer und Grauwacke fast ausschließlich vorherrschen, während in der nordöstlichen Hälfte die jüngern Sedimente vorwiegend sind. Nur in der Pyrenäenkette und längs der Küste von Katalonien (zwischen dem Golf von Rosas und Barcelona) treten Gneis und kristallinische Sedimentärgesteine wieder in bedeutender Mächtigkeit auf. Unter den sekundären Sedimenten erscheinen die Glieder der Kreide-, der jurassischen und der Triasperiode am meisten verbreitet. Die Kreideformation umfaßt namentlich den größten Teil der Kantabrischen Kette, der Pyrenäischen Terrasse und den Nordrand des nördlichen Tafellandes und tritt Spanien (Gewässer, Klima). außerdem am Ost- und Südrand des Plateaus von Altkastilien und im westlichen Teil des zentralen Gebirgssystems sowie im nordwestlichen Randgebirge der Terrasse von Granada auf. Die ältern Sekundärformationen, wie die Gesteine der Steinkohlenformation, treten nur in geringem Umfang und zerstreut auf. Gleichwohl besitzt S. so gewaltige Steinkohlenbecken, daß, wenn dieselben gehörig aufgeschlossen wären, das Land nicht nur keiner fremden Kohlen mehr bedürfte, sondern sogar bedeutende Mengen ausführen könnte. Am meisten ist die Steinkohlenformation in Asturien, Leon und Altkastilien entwickelt. Eine ungeheure Verbreitung haben dann wieder die tertiären und diluvialen Ablagerungen, die nicht nur den bei weitem größten Teil der beiden Zentralplateaus, sondern auch die Becken des Ebro, des Guadalquivir, des mittlern Guadiana und des untern Tajo erfüllen. Diese Ablagerungen enthalten sehr viel Salz. Vulkane, aber schon seit vorgeschichtlicher Zeit erloschen, finden sich vereinzelt, z. B. bei Rio Tinto, Ciudad Real in der Mancha, Gerona etc. Sehr verbreitet, besonders in der südwestlichen Hälfte (z. B. Estremadura), sind Eruptionen der verschiedenartigsten Porphyre und Grünsteine, daher auch das häufige Vorkommen metamorphosierter Gesteine, im SW. namentlich metamorphischer Schiefer. Über den Reichtum Spaniens an Erzen und Mineralien s. den Abschnitt "Bergbau und Hüttenwesen" (S. 70). In hydrographischer Hinsicht zerfällt das Land in das Gebiet des Atlantischen Ozeans und das des Mittelmeers, welch letzterm sein östliches Dritteil angehört. Die Wasserscheide zwischen beiden Gebieten beginnt auf den Parameras von Reinosa am Südrand der Kantabrischen Kette, wo die Quellbäche des Ebro und des in den Duero sich ergießenden Pisuerga nicht 10 km weit voneinander entfernt auf einer vollkommen ebenen Fläche entspringen, und endigt an der Meerenge von Gibraltar, indem sie über den Kamm des iberischen Gebirgszugs (Sierra de la Demanda, Pico de Urbion, Sierra del Moncayo, die Parameras von Molina) bis zur Sierra de Albarracin läuft, dann das Plateau von Neukastilien schneidet und über die Sierra de Alcaraz und das Gebirge von Segura auf die Plateaus der Terrasse von Granada übergeht, deren östliches Randgebirge ihr letztes Stück bildet. Der westlichen Abdachung zum Atlantischen Ozean gehören an: der Duero, Tajo, Guadiana und Guadalquivir, der östlichen zum Mittelmeer der Ebro. Unter den zahlreichen Küstenflüssen zeichnen sich die der Nordküste dadurch aus, daß sie trotz ihrer unbedeutenden Länge in ihrem untersten Lauf schiffbar sind. Die beträchtlichsten sind von O. nach W.: Bidassoa, Orio, Deva, Nervion, Besaya, Nalon, Navia, Rivadeo, Landrone, Mandeo und Allones. Die Flüsse der Westküste sind zwar länger, doch meist gar nicht schiffbar; die bedeutenden sind: der Tambre, Ulla und besonders der Minho (Miño). Die Südküste hat zwar viele Flüsse, doch nur einen einzigen im untersten Lauf schiffbaren, nämlich den Guadalete; außerdem verdienen noch der Odiel und Rio Tinto Erwähnung sowie zwischen der Meerenge von Gibraltar und dem Kap Palos: der Guadiaro, Guadalhorce, Rio de Almeria, Almanzora. Auch die lange Ostküste hat nur zwei schiffbare Küftenflüsse aufzuweisen, den Segura und Llobregat. Nächstdem sind zu nennen: der Jucar, Turia oder Guadalaviar, Millares (Mijares), Tordera, Ter und Fluvia. Größere Seen gibt es nur an der Süd- und Südostküste, nämlich die Strandseen Albusera und Mar Menor und die Laguna de la Janda in der Nähe der Meerenge von Gibraltar. Kleinere Seen sind: die wegen ihrer mephitischen Ausdünstung berüchtigte Laguna de la Nava bei Palencia, die salzhaltige Laguna de Zoñar in der bätischen Steppe und die gleichfalls salzige Laguna de Gallocanta im Süden von Daroca am Ostabhang des Tafellandes. Sehr zahlreich sind die Mineralquellen; von 1500, die S. besitzt, sind aber erst etwa 325 untersucht. Die kälteste ist die Schwefelsaline zu Loeches in Neukastilien (15° C.), die heißeste die Fuente de Leon zu Mombuy in Katalonien (70° C.). Die eigentümliche Plastik des Landes hat eine große Verschiedenheit des Klimas zur Folge. Es lassen sich drei klimatische Zonen unterscheiden: eine mitteleuropäische oder kältere gemäßigte Zone, zu welcher der größte Teil der Nordküste, die nördlichen Gegenden der Hochebene von Leon und Kastilien und das Plateau von Alava gehören; eine afrikanische oder subtropische, welche Andalusien bis zur Sierra Morena, Granada, die südöstliche Hälfte von Murcia und den südlichsten Teil von Valencia begreift, und eine südeuropäische oder wärmere gemäßigte Zone, welche alles übrige Land umfaßt. In der mitteleuropäischen Zone haben die Litoral- und tiefer gelegenen Gegenden ein sehr angenehmes Klima, indem die Temperatur selbst im heißesten Sommer nicht leicht über +33° C. steigt, an den kältesten Wintertagen kaum unter -3° sinkt und Frost und Schneefall nur vorübergehend auftreten. Die Atmosphäre ist meist feucht, Regen besonders im Herbst und Frühling häufig. Die Thäler der Nordküste gehören zu den gesündesten Gegenden Europas. Ein ganz andres Klima herrscht auf den Hochflächen des altkastilischen Tafellandes; hier sind heftiger Frost und starker Schneefall schon im Spätherbst keine Seltenheit, und während des Winters ist durch Schneemassen oft wochenlang alle Kommunikation unterbrochen. Im Frühling bedecken kalte Nebel oft tagelang das Land, und im Sommer herrscht glühende Hitze, die selten durch Regen gemäßigt wird. Dabei sind in jeder Jahreszeit Stürme häufig. Erst die von Regengüssen begleiteten Äquinoktialstürme bringen dem Plateauland angenehme Witterung. Von Ende September bis November ist der Himmel fast stets unbewölkt, und die Fluren bedecken sich mit frischem Grün; doch oft schon im Oktober machen Frühfröste diesem zweiten Frühling ein Ende. Einen Gegensatz zu diesem der Gesundheit sehr nachteiligen Klima bieten die innerhalb der südeuropäischen Zone gelegenen Küstenstriche dar, namentlich die Flußthäler Südgaliciens, wo ein gleichmäßiges, mildes Küstenklima herrscht, indem die mittlere Temperatur des Sommers ungefähr +20°, die des Winters +16° beträgt und Frost und Schnee selten, Regen und Tau häufig sind. Die Ebenen und Thäler der Südost- und Ostküste haben im allgemeinen ein dem des südlichen Frankreich entsprechendes, nur wärmeres Küstenklima, doch nicht ohne bedeutende und häufige Temperaturschwankungen. Die afrikanische Zone der Halbinsel ist dadurch ausgezeichnet, daß in ihren Tiefebenen, Küstengegenden und tiefen Thälern Schnee und Frost fast unbekannte Erscheinungen sind, indem die Temperatur höchst selten bis 3° sinkt. Die heißesten Gegenden sind die Südostküste bis Alicante sowie die angrenzenden Ebenen, Hügelgelände und Plateaus von Murcia und Ostgranada. Weit gemäßigter sind die Küstengegenden Niederandalusiens. Der glühend heiße, alle Vegetation versengende Solano (Samum) sucht Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Spanien (Pflanzen- und Tierwelt, Areal und Bevölkerung). häufigsten die südöstlichen Küstenstriche heim. Im übrigen ist das Klima in den niedern Gegenden der afrikanischen Zone ein angenehmes Küstenklima mit einer mittlern Temperatur, die nicht leicht über +24,5° steigt oder unter +12° C. fällt. Der eigentliche Frühling beginnt hier Ende Februar und dauert an der Küste bis Mitte Mai, im Innern bis Anfang Juni. Während des Sommers vertrocknet auch hier die Vegetation, wie auch die Äquinoktialregen einen zweiten Frühling hervorzaubern, welcher aber nicht schnell verfließt, wie im Plateauland, sondern durch den minder blütenreichen Winter, fast die angenehmste Jahreszeit jener Gegenden, in den eigentlichen Frühling übergeht. Die Ebenen und Küstengegenden der afrikanischen Zone haben folglich acht Monate Frühling und vier Monate Sommer. Was die eigentlichen Gebirgsgegenden anlangt, so lassen sich hier fünf Regionen unterscheiden: die untere oder warme (bis 800 m) mit 27-17° mittlerer Temperatur, die Bergregion (800-1600 m) mit 16-9°, die subalpine Regton (1600-2000 m) mit etwa 8-4°, die alpine Region (2000-2500 m) mit 3°-0, die Schneeregion (2500-3500 m) mit einer mittlern Jahrestemperatur von wahrscheinlich unter 0. In den Pyrenäen findet sich ewiger Schnee nur in der Zentral- und östlichen Kette, wo die Grenze desselben auf der spanischen Seite bei 2780 m liegt. In der Sierra Nevada, dem höchsten Gebirge Spaniens, nimmt man die Schneelinie am Nordabhang bei 3350, am Südabhang bei 3500 m an, weshalb hier bloß die höchsten Gipfel, und auch diese sparsam, mit ewigem Schnee bedeckt sind. Pflanzen- und Tierwelt. Die Verschiedenheit des Klimas und der Bodengestaltung hat eine große Mannigfaltigkeit der Flora und Fauna zur Folge. Hinsichtlich des Charakters der Vegetation zerfällt S. in folgende fünf Vegetationsregionen: 1) die nördliche oder mitteleuropäische mit mitteleuropäischer Flora (Eichen, Buchen, edle Kastanien, Erlen, Ulmen, Obst- und Walnußbäume, Getreide- und Gemüsebau; Weinbau nur in günstigen Lagen); 2) die peninsulare oder zentrale (Alpen- und Pyrenäenpflanzen, Heiden mit Cistineen, Thymian und andern Labiaten, Ginster, Centaureen, Disteln, Artemisien, hier und da ausgedehnte Nadelwälder sowie Bestände von immergrünen Eichen und Kastanien); 3) die westliche oder atlantische, im N. mit vorwiegend mitteleuropäischer, im S. mit bereits an Afrika erinnernder Vegetation (Ölbaum, Orangen-, Feigen- und Mandelbaum, Weinbau, Lorbeer, Cypresse, Agave, indische Feige, Dattel- und Zwergpalme, Johannisbrotbaum, Cistusheiden mit Myrten, Pistazien und andern immergrünen Sträuchern; in der Bergregion Eichen, Kastanien, Wacholder, Obstbau, Alpentristen); 4) die östliche oder mediterrane (Labiatenheiden und öde Steppen, Gehölze von immergrünen Eichen und von Kiefern, Ölbaum, Wein-und Weizenbau, Maulbeer-, Feigen- und Mandelbaum, Pfirsisch- und Aprikosenbaum, Walnußbaum, Mais, Hanf, Flachs; im Süden Orangen-, Johannisbrotbaum, Dattel- und Zwergpalme, Artischocken- und Melonenbau, in den sumpfigen Niederungen Reis); 5) die südliche oder afrikanische Region bis zur Höhe von ca. 630 m, charakterisiert durch das Vorherrschen solcher Pflanzen, welche Nordafrika, Sizilien, Ägypten, Syrien, Kleinasien etc. eigentümlich sind, und durch die Kultur subtropischer und tropischer Gewächse (Zuckerrohr, Baumwolle, Batate, Kochenillekaktus etc.). Nicht minder mannigfaltig und ausgezeichnet ist die Tierwelt, die außer Arten der unter entsprechender Breite gelegenen Länder Europas und außer einer Menge der Halbinsel eigentümlicher zahlreiche Vertreter der Fauna Afrikas, ja selbst des Orients und Innerasiens aufweist. Die europäische Zone, im allgemeinen der mitteleuropäischen Vegetationsregion entsprechend, wird charakterisiert durch mitteleuropäische Tiere (darunter der Wolf, Siebenschläfer, Schneehase, die Gemse, Wildkatze, der Pyrenäensteinbock, der Bartgeier, Aasgeier etc.). Die mittlere oder südeuropäische Zone, die zentrale westliche und östliche Vegetationsregion umfassend, weist ein buntes Gemisch europäischer und afrikanischer Tierformen (Pantherluchs, Genettkatze, Ichneumon, südliche Geier-, Adler- und Falkenarten, Schrei- und Klettervögel etc., zahlreiche Schmetterlinge, Skorpione etc.) auf. Die südliche oder afrikanische Zone zeigt viele echt afrikanische Tierformen (darunter der nordafrikanische Affe am Gibraltarfelsen, das Dromedar, afrikanische Vögel, Chamäleon etc.) neben andern nur im südlichsten Europa vorkommenden oder auch S. eigentümlichen (spanischer Steinbock auf der Sierra Nevada, spanischer Hase, Flamingo etc.). Bevölkerungsverhältnisse. Das Areal von S. und zwar des europäischen Mutterlandes mit Einschluß der Balearen und der Kanarischen Inseln sowie der nordafrikanischen Besitzungen beträgt 504,552 qkm (9163,6 QM.). Die Bevölkerung bezifferte sich nach dem letzten Zensus vom 31. Dez. 1877 auf 16,634,345 Einw., deren Verteilung auf die einzelnen Provinzen aus nebenstehender Tabelle ersichtlich ist. Die Vermehrung der spanischen Bevölkerung ist eine sehr schwache; sie belief sich gegenüber der im J. 1857 vorgenommenen ersten ordentlichen Volkszählung, welche 15,464,340 Einw. ergab, 1877 nur auf 1,170,005 Seelen oder pro Jahr kaum auf 0,4 Proz. Der Grund liegt, abgesehen von den vielfachen Kriegen, welche S. im Innern und in den Kolonien zu bestehen hatte, in einer beträchtlichen Auswanderung, insbesondere nach Südamerika und nach Algerien (Provinz Oran). Für Ende 1886 wurde die Bevölkerung mit 17,358,404 Einw. berechnet. Bemerkenswert in der Verteilung der Bevölkerung ist, daß die Dichtigkeit derselben vom Zentrum gegen die Peripherie hin zunimmt. Die schwächste relative Bevölkerung weisen die Provinzen Ciudad Real und Cuenca auf (13 und 14 Einw. auf das QKilometer), am dichtesten bevölkert (über 100 Einw. auf das QKilometer) sind Barcelona und Pontevedra. Nach dem Geschlecht entfallen auf je 1000 männliche Personen 1044 weibliche. Nach dem Geburtsland waren von der (1877) anwesenden Bevölkerung geboren: in S. 16,591,796, in Frankreich 17,657, in Portugal 7941, in Großbritannien 4771, in Italien 3497, in Deutschland Die spanische Nation ist ein Gemisch verschiedener Völkerschaften. Zu den alten Iberern gesellten sich anfangs Kelten, dann Phöniker und Karthager, hierauf Römer, dann Goten; später mischten sich Juden, Berber und Araber (diese insbesondere in Andalusien, Murcia und Valencia), endlich auch Neger (aus Marokko und weiterher) bei. Die herrschende Sprache ist die kastilische; daneben wird das Katalonische (ein dem Provençalischen verwandtes Idiom) in Katalonien, Valencia und den Balearen, das Baskische (in den baskischen Provinzen und in Navarra) und das Galicische (welches sich dem Portugiesischen sehr nähert) gesprochen. Die spanische Sprache ist übrigens als Weltsprache in Mittel- und Südamerika stark verbreitet und gewinnt dadurch immer wachsende Bedeutung. Spanien (Volkscharakter, geistige Kultur). Areal Spaniens. Provinzen QKilometer QMeilen Ende 1877 Ende 1886 auf 1 qkm Alava . . 3045 55,3 93538 99034 33 Albacete. . 14863 269,9 219058 221894 15 Alicante . . 5660 102,8 411565 423808 75 Almeria . . 8704 158,1 349076 358486 41 Avila . . 7882 143,2 180436 193565 25 Badajoz. . 21894 397,6 432809 469952 21 Barcelona . 7691 139,7 836887 861212 112 Burgos . . 14196 257,8 332625 351293 25 Caceres . . 19863 360,8 306594 329707 17 Cadiz¹ . . 7342 133,3 429206 433516 59 Castellon . 6465 117,4 283981 298965 46 Ciudad Real 19608 356,1 260358 285341 15 Cordova . . 13727 249,3 385482 406059 30 Coruña . . 7903 143,5 596436 623575 79 Cuenca . . 17193 312,3 236253 245112 14 Gerona . . 5865 106,5 299702 309992 53 Granada . 12768 231,9 479066 480594 38 Guadalajara 12113 220,0 201288 207030 17 Guipuzcoa . 1885 34,2 167207 181673 97 Huelva . . 10138 184,1 210447 227116 22 Huesca . . 15149 275,1 252239 263634 17 Jaen. . . 13480 244,8 423025 436184 32 Leon ... 15377 279,3 350210 378098 25 Lerida . . 12151 220,7 285339 290856 24 Logroño . . 5041 91,6 174425 179897 36 Lugo ... 9881 179,5 410810 429430 43 Madrid . . 7989 145,1 594194 590065 74 Malaga. . 7349 133,5 500322 522376 71 Murcia . . 11537 209,5 451611 462039 40 Navarra. . 10506 190,8 304184 321015 30 Orense . . 6979 126,8 388835 399552 57 Oviedo . . 10895 197,9 576352 596856 55 Palencia . 8434 153,2 180771 190724 23 Pontevedra. 4391 79,8 451946 467289 106 Salamanca 12510 227,2 285695 311428 25 Santander . 5460 99,2 235299 248753 46 Saragossa . 17424 316,5 400587 401386 23 Segovia . . 6827 124,o 150052 160111 23 Sevilla . . 14062 255,4 506812 526864 37 Soria . . 10318 187,2 153652 162555 16 Tarragona . 6490 117,9 330105 345601 53 Teruel . . 14818 269,1 242165 250823 17 Toledo . . 15257 277,1 335038 357886 23 Valencia . 10751 195,3 679046 692245 64 Valladolid . 7569 137,5 247458 261254 35 Viscaya . . 2165 39,3 189954 204043 94 Zamora . . 10615 192,8 249720 274312 26 Zusammen : 492230 8939,9 16061860 16733200 34 Balearen . 5014 91,o 289035 311652 62 Kanarische Inseln 7273 132,1 280974 311030 43 Spanien: 504517 9163,o 6631869 17355882 34 In Nordafrika² 35 0,6 [ 2476 2522 72 Totalsumme: 504552 9163,6 16634345 17358404 34 1 Mit Ceuta. - 2 Ohne Ceuta, welches zu Cadiz gehört. Die Kolonien oder überseeischen Besitzungen (s. Karte "Kolonien" mit Tabelle), nur noch ein geringer Überrest von den unermeßlichen Gebieten, welche S. einst beherrschte, umfassen zur Zeit in Amerika: QKilom. QMeilen Einw. Cuba. ........ 118833 2158,13 1521684 Puerto Rico ...... 9315 169,17 754313 Philippinen ...... 293726 5334,37 5559020 Sulu-Inseln . ..... 2456 44,60 75000 in Ozeanien : Marianen ....... 1140 20,72 8665 Karolinen ....... 700 12,71 22000 Palau ... 750 13,62 14000 in Afrika (Guinea): Fernando Po, San Juan etc. 2200 39,95 68656 Zusammen: 429120 7793,27 8023383 Die Spanier sind im allgemeinen ein körperlich wohlgebildetes Volk, meist mittlerer Statur, hager, mit schwarzem Haar. Die Frauen zeichnen sich durch feurige Augen und anmutiges Wesen aus, entwickeln sich sehr frühzeitig, altern aber auch bald. Der Spanier ist nüchtern, mäßig, mutig, voll Nationalstolz, aber auch rachgierig, bigott und träge. Nationalkleid der Männer ist der rund geschnittene, den ganzen Körper umhüllende spanische Mantel (capa), das der Frauen die Mantilla, welche mit einem Kamm am Kopf befestigt und über der Brust gekreuzt wird. Die vorherrschende Farbe der Kleidung ist die schwarze. Im übrigen wechselt die Tracht in den einzelnen Provinzen bedeutend. Die höhern Stände haben gegenwärtig meist die französische Mode angenommen. Hauptvergnügen sind der Tanz, der mit Gesang oder Kastagnetten, Tamburin und Guitarre begleitet wird, und die Stiergefechte. Was die Konfession betrifft, so waren 16,603,959 Katholiken, 6654 Protestanten, 4021 Israeliten, 9645 Rationalisten, 271 Mohammedaner, 209 Buddhisten etc. Nach der Staatsverfassung gilt die römisch-katholische Religion als Staatskirche; doch darf niemand wegen seiner Konfession und wegen der Ausübung seines Kultus, sofern die christliche Moral nicht darunter leidet, behelligt werden. Für die Leitung der geistlichen Angelegenheiten der katholischen Kirche gibt es in S. 9 Erzbischöfe (zu Toledo, Primas von S., Burgos, Granada, Santiago, Saragossa, Sevilla, Tarragona, Valencia und Valladolid) und 45 Suffraganbischöfe. Bischöfliche Jurisdiktion übt auch der Patriarch von Indien aus, indem derselbe Generalvikar des Heers und der Flotte ist. Der unterstehende Klerus beziffert sich mit ca. 40,000 Weltgeistlichen, 800 Mönchen und 13,000 Nonnen. Eigentliche Mönchsklöster bestehen nicht mehr, da dieselben bereits 1841 gesetzlich aufgehoben wurden. Es sind nur 41 Häuser solcher religiöser Orden geblieben, welche sich der Heranbildung von Missionären, dem Jugendunterricht oder der Krankenpflege widmen. Protestantische Gemeinden gibt es 60. Bildungsanstalten. In Bezug auf die geistige Kultur steht das spanische Volk trotz seiner Begabung wegen des mangelhaften Volksunterrichts noch auf einer tiefen Stufe, was darin seine Erklärung findet, daß bis 1808 das öffentliche Unterrichtswesen ganz in den Händen des Klerus war. Für den Elementarunterricht bestehen (1881) 29,828 Volksschulen. Der Schulbesuch ist obligatorisch. Während 1797 nur 393,126 Kinder die Volksschule besuchten, stieg diese Zahl allmählich, namentlich infolge der gesetzlichen Reformen der Jahre 1838, 1847 und 1857, auf 663,711 im J. 1848, auf 1,046,558 im J. 1861 und auf 1,769,608 im J. 1881. Normalschulen bestehen zur Heranbildung von Lehrern 47, für Lehrerinnen 29. Zu den Sekundärschulen gehören die seit 1845 anstatt der frühern Lateinschulen bestehenden Institute (institutos de segunda enseñanza), in welchen in einem sechsjährigen Kursus die humanistischen und Realstudien betrieben werden. Solcher Institute gibt es 61 mit ca. 35,000 Schülern. Neben ihnen bestehen die Colegios, Privatvorbereitungsschulen zu den Universitäts- und Spezialstudien. Universitäten hat S. 10: zu Madrid, Barcelona, Granada (jede mit 5 Fakultäten, für Philosophie und Litteratur, exakte Wissenschaften, Pharmazie, Medizin, Rechte), zu Salamanca, Sevilla, Valencia (jede mit 4 Fakultäten, die obigen ohne Pharmazie), Santiago und Saragossa (je 3 Fakultäten, erstere für Medizin, Pharmazie und Rechte, letztere für Philosophie, Medizin und Rechte), Valladolid (2 Spanien (Landwirtschaft). täten, für Medizin und Rechte), Oviedo (eine Fakultut, für Rechte). Alle Universitäten zählen zusammen 475 Professoren und Dozenten und gegen 16,000 Studierende. Mit 7 Universitäten ist je eine Notariatsschule verbunden. Höhere technische Lehranstalten sind: eine Architekturschule, eine Schule für Handel und Industrie und eine Ingenieurschule für Wege-, Kanal- und Hafenbau in Madrid; ferner eine Schule für industrielle Technik in Barcelona. Zu den Fachschulen gehören: die theologischen Seminare in den Bischofsitzen, die königliche Schule für Diplomatik in Madrid, die neun nautischen Schulen, die königliche Agrikulturschule in Madrid, die königliche Forstingenieurschule im Escorial, die landwirtschaftliche Schule in Cordova, die Lehranstalten für Tierheilkunde in Madrid, Cordova, Leon und Saragossa, die königliche Bergwerksingenieurschule in Madrid, die Steigerschule in Almaden, die königliche Schule der schönen Künste, die Nationalschule für Musik und Deklamation (beide in Madrid), die Provinzialschulen für schöne Künste in Barcelona, Sevilla, Valencia und Valladolid, die Akademien für den Generalstab in Madrid, für die Artillerie zu Segovia, für das Ingenieurkorps in Guadalajara, für die Kavallerie in Valladolid, die allgemeine Militärakademie in Toledo, die Seeschule in Ferrol. Zu den Beförderungsmitteln der intellektuellen Bildung gehören außerdem acht Akademien (davon sieben zu Madrid) und die öffentlichen Bibliotheken, von denen die Nationalbibliothek zu Madrid und die des Escorial die hervorragendsten sind. Die bedeutendsten historischen und Kunstsammlungen sind: die königliche Rüstkammer, das königliche Münz- und Antiquitätenkabinett, das königliche Museum für Gemälde und Skulpturen, das Nationalmuseum für Gemälde und das naturhistorische Museum, sämtlich zu Madrid. Botanische Gärten sind zu Madrid und Valencia, ein astronomisch-meteorologisches Observatorium besitzt Madrid. Land- und Forstwirtschaft etc. Unter den Nahrungszweigen der Bevölkerung von S. nimmt der Betrieb der Landwirtschaft die erste Stelle ein. Dabei steht aber die Bodenbehandlung noch auf einer sehr unbefriedigenden Stufe. Die Düngung ist eine ganz primitive, und auch in Bezug auf landwirtschaftliche Geräte und Betriebsart haben die Erfahrungen und Verbesserungen der Neuzeit fast gar keinen Eingang gefunden. Zu Anfang des 19. Jahrh. war noch ein sehr großer Teil vom Grund und Boden im Besitz der Toten Hand, d. h. des Klerus, der Gemeinden, der milden Stiftungen und des Staats. Der Verkauf der Kirchengüter wurde bereits 1820 und 1841 angeordnet sowie durch das Gesetz vom 1. Mai 1855 bestätigt, welches überhaupt allen Grundbesitz und alle Grundzinsen der Toten Hand der Veräußerlichkeit unterwirft. Die Bauern sind persönlich frei und teils Eigentümer ihrer in der Regel kleinen Grundstücke, teils Erbpachter. Der produktive Boden umfaßt im ganzen 79,6 Proz. der Gesamtfläche, und zwar kommen 33,8 Proz. auf Äcker und Gärten, 3.7 auf Weinland, 1,6 auf Olivenpflanzungen, 19,7 auf natürliche Wiesen und Weiden und 20,8 Proz. auf Wald. Der Boden bedarf in S. zur Ertragsfähigkeit in der Regel künstlicher Bewässerung, zu welchem Behuf großartige Anlagen teils durch die Regierung, teils durch Vereine, teils durch große Grundbesitzer und Kommunen hergestellt worden sind; gleichwohl machen die bewässerten Ländereien nur einen kleinen Teil der produktiven Bodenfläche aus. Am besten angebaut ist der Boden in den Provinzen Palencia, Pontevedra, Coruña, Valladolid und Barcelona, am wenigsten in den Provinzen Oviedo, Huelva, Almeria und Santander. Die spanischen Staatsökonomen unterscheiden in S. sieben Kulturregionen, nämlich die Region des Zuckerrohrs, der Orangen, des Ölbaums, des Weinstocks, der Cerealien, der Wiesen und Triften, der Heiden. Der Getreidebau ist zwar fast überall ein wichtiger Zweig der Landwirtschaft, am bedeutendsten aber auf den Ebenen beider Kastilien, in Leon und im Guadalquivirbecken. Die jährliche Getreideproduktion beläuft sich bei einer guten Mittelernte auf nachfolgende Weizen ..... 61142000 hl Hafer ...... 4481000 hl Roggen ..... 11629000 hl Mais ....... 13173000 hl Gerste ..... 27792000 hl Reis ....... 1212000 hl Am meisten wird Weizen gebaut, Roggen und Gerste besonders in den nördlichen, Mais in den südlichen Provinzen. In letztern kommen an verschiedenen Orten, aber vereinzelt, Reisfelder vor, während sie in der Provinz Valencia eine Hauptnahrungsquelle bilden. Einen Exportartikel bildet Weizenmehl, insbesondere für die Provinz Valladolid. Der Anbau von Kartoffeln ist minder bedeutend (18,3 Mill. hl Ertrag), jener von Hülsenfrüchten dagegen sehr ausgedehnt, indem Erbsen und Bohnen eine Lieblingsspeise der Spanier bilden und in großen Mengen als Feldfrüchte gezogen werden (Ertrag an Kichererbsen 2,354,000hl). Kein Staat in Europa produziert so mannigfache Arten von Gemüse wie S., wo die gartenmäßige Kultur insbesondere in der Provinz Valencia betrieben wird. Außer den gewöhnlichen Küchengewächsen werden kultiviert: spanischer Pfeffer, der Liebesapfel (Lycopersicum esculentum) im großen, die Wassermelone, die Schlangengurke, der Kalebassenkürbis, stellenweise die tropische Batate (Batatas edulis) und die Erdnuß (Cyperus esculentus). Die verbreiterten Gartengewächse sind: Kohl, Salat, Zwiebeln, Knoblauch, Gurken, Artischocken, Erdbeeren. Gemüse und Gartenfrüchte geben auch einen nicht unbedeutenden Exportartikel ab. Die Runkelrübe kennt man dagegen nur als Viehfutter. Die Handelsgewächse des Landes sind: Hanf (am besten in Granada und Murcia), Flachs, Waid, Safran, Süßholz, Zuckerrohr, welches an der südlichen und östlichen Küste, namentlich in der Provinz Malaga, gebaut wird, und zwar infolge gesetzlichen Schutzes in steigendem Maß, Raps in den nördlichen Provinzen, Kümmel in der Mancha; ferner Senf, Mohn, Sesam, Rizinus und andre Ölpflanzen. Die Baumwollstaude, welche noch vor 30 Jahren einen Ausfuhrartikel für die Balkarischen Inseln bildete, wird gegenwärtig fast gar nicht mehr kultiviert. Der Tabaksbau ist untersagt. Espartogras (s. d.), das im Süden Spaniens unweit der Seeküste ohne irgend eine Pflege reichlich wächst, wird zu verschiedenen Flechtwerken, Seilen, Lauftüchern, Bundschuhen etc. sowie zur Papierfabrikation verwendet und in großen Mengen exportiert (jährlich ca. 400,000 metr. Ztr.). Ein wichtiger Zweig der Bodenkultur ist die Fruchtbaumzucht. Neben den mitteleuropäischen Obstarten, Wal- und Haselnüssen findet man die schönsten Kastanienwälder und die verschiedenartigsten Südfrüchte (Orangen, Zitronen, Granaten, Feigen, Mandeln, Datteln, Johannisbrot, indische Feigen, Bananen) nicht nur längs der Küste und in den südlichen Provinzen, sondern auch in den warmen Flußthälern des Nordens. Die Südfrüchte sowie die Wal- und Haselnüsse bilden einen ergiebigen Ausfuhrartikel. 1886 wurden an Orangen 816,666, Zitronen 73,493, Mandeln 27,730 und Haselnüssen 40,090 metr. Ztr. ex- Spanien (Viehzucht, Jagd, Fischerei, Forstwesen). portiert. Ausgedehnte Landstriche sind namentlich im Süden der Olivenkultur eingeräumt, welche einen wichtigen Exportartikel liefert. Doch steht das spanische Öl wegen schlechter Behandlung der Frucht in geringem Preis und wird großenteils erst im Ausland, namentlich in Frankreich, raffiniert. Die Produktion, welche vornehmlich in Andalusien, Murcia, Valencia, Aragonien und Katalonien vertreten ist, ergibt in günstigen Jahren ca. 2,5 Mill. hl Öl; die Ausfuhr beträgt im Durchschnitt der letzten Jahre 250,000 metr. Ztr. In den letzten Jahren hat sich der Anbau von Cacahuetes oder Mani, einer Art Pistazie, aus der ein billiges und brauchbares Öl bereitet wird, zu einem besondern Zweig der landwirtschaftlichen Thätigkeit in der Provinz Valencia herausgebildet. Wichtige Bodenkulturzweige sind noch die in großem Maßstab betriebene Maulbeerbaum- und die Weinkultur. Durch die geographische Lage und durch die klimatischen Verhältnisse begünstigt, bringt das Land die feurigsten Weine in allen Abarten und in großer Menge hervor. Der durchschnittliche Ertrag beläuft sich auf mehr als 20 (1887: 28) Mill. hl. Die berühmtesten Weine sind die andalusischen, insbesondere die von Jeres de la Frontera, Puerto de Santa Maria und Malaga. Der Export dieser Weine geht hauptsächlich nach England und Amerika. Von den katalonischen Weinen sind nur die Sorten von Reus und Tarragona vorzüglich, von den Valenciaweinen die roten Benicarloweine geschätzt. Die Alicantiner Weine sind sehr fein und ziemlich alkoholreich. Die kastilischen Weine, darunter der ausgezeichnete Manchawein (Valdepeñas), werden meist im Inland konsumiert. Die Aragonweine sind am dunkelsten, feinsten und am wenigsten säuerlich. Vorzügliche Weingegenden sind außerdem: Südnavarra, das untere Duerothal, Viscaya, Orense, die Gegend von Plasencia und die Serena in Estremadura, endlich Mallorca (vgl. Spanische Weine). Großen Absatz finden die spanischen Weine seit den letzten Jahren in Frankreich, wo die durch die Reblaus und durch die schlechten Ernten verursachten Ausfälle außer durch italienische auch durch spanische Weine (meist aus den nordöstlichen Provinzen) gedeckt werden. Im ganzen werden jährlich über 7 Mill. hl, davon gegen 6 Mill. nach Frankreich, exportiert. Daneben bilden auch frische Trauben einen Ausfuhrartikel (1886: 192,000 metr. Ztr.). Von Wichtigkeit ist ferner die Kultur der Rosinen, namentlich werden Rosinen aus den Provinzen Alicante (Denia) und Malaga ins Ausland, hauptsächlich nach England und Nordamerika, geführt (1886: 384,460 metr. Ztr.). Die hervorragendsten Futterkräuter sind Luzerne und Esparsette. Eigentliche Wiesen gibt es nur in den nördlichen Provinzen und in den höhern Gebirgsgegenden. Viel ausgedehnter ist das Weideland in solchen Strecken, welche auch zum Ackerbau oder zur Forstkultur geeignet wären, jedoch vorzugsweise zur Zucht von Schafen dienen, wie in Estremadura, Niederandalusien, Aragonien, Altkastilien und Leon. Von großer Bedeutung ist die Viehzucht. Man zählte 1878 in S. 460,760 Pferde, 941,653 Maultiere, 890,982 Esel, 2,353,247 Rinder, 16,939,288 Schafe, 3,813,006 Ziegen, 2,348,602 Schweine. Die früher so berühmte, dann in Verfall geratene Pferdezucht hat einen neuen Aufschwung genommen. Die besten Pferde sind die andalusischen und unter diesen wieder die von Cordova. Indessen reicht die Zahl der gezüchteten Pferde für den Bedarf des Landes nicht aus. Auf die Zucht der Maultiere und Esel, welche nicht nur die bevorzugtesten Haustiere sind, sondern auch in Menge ausgeführt werden, wird große Sorgfalt verwendet. Die Zucht des Rindviehs zerfällt in die der zahmen Rinder und die der zu den Stiergefechten erforderlichen wilden Stiere, welche auf einsamen, hoch gelegenen Triften und in den Gebirgen, namentlich in Navarra, in der Sierra Guadarrama, Sierra Morena und am Guadalquivir, gehegt werden. Das zahme Rindvieh ist nicht sehr groß, aber stark und gut gebaut; das beste wird in den nördlichen Provinzen gezüchtet, wo auch allein Milch-, Butter- und Käsewirtschaft getrieben wird. Die spanische Schafzucht, einst die erste der Welt und Quelle ungeheurer Einkünfte, ist, wenn auch immer noch ansehnlich, von der andrer Länder überflügelt worden und in Abnahme begriffen. Die Ursache hiervon ist besonders darin zu suchen, daß die Regierung behufs der Hebung der Agrikultur 1858 die lästige Bestimmung aufhob, daß von den Grundbesitzern, durch deren Gebiet die Herden (von und nach den Winterquartieren in Estremadura) ziehen, eine Schaftrift von 90 Schritt Breite zu beiden Seiten der Straße freigelassen werden mußte. Gegenwärtig muß, soweit das Wandern mit Schafherden noch besteht, für die Benutzung der Weiden ein Pachtgeld gezahlt werden. Die Mehrzahl der Merinoherden gehört nämlich großen Grundbesitzern von Leon, Altkastilien und Niederandalusien. Der Wollertrag der spanischen Schafe ist zwar sehr gesunken (auf ca. 20 Mill. kg, und zwar nur zum geringern Teil feine und brauchbare Wolle); doch bildet Schafwolle noch immer einen Exportartikel (1886: 92,000 metr. Ztr.). Wichtig ist die Hämmelzucht, vorzüglich für Niederaragonien, wo sich stets Käufer aus ganz S. zusammenfinden. Die Ziegenzucht ist besonders in den Gebirgsgegenden heimisch und Ziegenkäse ein wichtiger Gegenstand des innern Handels, während die Felle in Menge exportiert werden. Schweinezucht wird überall, im größten Maßstab jedoch in Estremadura betrieben. Treffliche Schinken sowie Würste und Borsten gelangen zur Ausfuhr. Schweine- und Ziegenhäute werden in S. allgemein zu Weinschläuchen, welche inwendig ausgepicht werden, verarbeitet. In den Provinzen Murcia und Cadiz kommen auch Kamele (1878: 1597 Stück) vor. Beträchtliche Ausfuhr von Vieh findet nach Portugal und England statt. Von Federvieh werden vornehmlich Hühner, in Estremadura und Andalusien auch Truthühner gezüchtet; von geringem Belang ist die Bienenzucht, von Wichtigkeit dagegen die (früher allerdings noch bedeutendere) Seidenzucht, die namentlich in Valencia und Murcia ihren Sitz hat (s. unten). Die Kochenillezucht (1820 in Südspanien eingeführt) wird jetzt um Malaga und Motril in größerm Maßstab betrieben. Jagd und Fischerei sind in S. frei, doch wird erstere nicht besonders eifrig getrieben; das häufigste Haarwild sind Kaninchen, das meiste Federwild Rebhühner. Der Fang von Thunfischen, Sardinen, Sardellen und Salmen und das Einräuchern derselben beschäftigt an den Küsten von Viscaya, Galicien, Andalusien, Valencia und Katalonien Tausende von Menschen und liefert bedeutende Mengen für den Export. Auch die Korallenfischerei an der Küste von Andalusien hat sich in neuester Zeit gehoben. Die Waldwirtschaft steht in S. noch auf einer niedrigen Stufe. Der Holzboden nimmt zwar über 20 Proz. des gesamten Areals ein; doch sind infolge der Vernachlässigung der Kultur, der unbeschränkten Brennholznutzung, der Schädigung der Wälder durch Hirten und Herden und der planlosen Ausnutzung der Privat- und Staatsforsten nur etwa 9 Proz. noch wirklich mit Holz Spanien (Bergbau und Hüttenwesen). Das wichtigste Nadelholz ist die Kiefer, die vorzüglichsten Laubhölzer sind: die Eiche, Rotbuche, Kastanie, die Rüster und der Ölbaum, welcher besonders in Andalusien ganze Wälder bildet. Nach Gesetz vom 19. Febr. 1859 soll von den Staats-, Kommunal- und Körperschaftsforsten ein Teil (31/2 Mill. Hektar) verkauft, der andre Teil (61/2 Mill. Hektar) aber regelmäßig bewirtschaftet werden. Zu diesem Zweck ist das Land in zehn Forstdistrikte eingeteilt worden; auch besteht eine königliche Forstingenieurschule im Escorial. Sehr gesegnet mit Waldungen ist Katalonien, wo (insbesondere im Monsenygebirge) die gewinnreichsten Holzgattungen, wie Kastanien (zu Faßdauben vorzüglich geeignet), Walnußbäume (zu Holzreifen verwendet) und Korkeichen, am besten gedeihen, welch letztere wegen des Korks, des als Gerbmaterial geschätzten Bastes und des sich zu Kohlen trefflich eignenden Astholzes einen reichlichen Ertrag liesern. Außer in Katalonien findet man diese Baumgattung in Estremadura, Andalusien und Valencia. Die jährliche Produktion an Korkplatten beträgt 520,000 metr. Ztr., der Export von Pfropfen durchschnittlich 1010 Mill. Stück, an Platten und Tafeln 25,000 metr. Ztr. Nebenprodukte der Wälder sind: Sumachrinde (als Gerbmaterial), Ladanbalsam, eßbare Eicheln, Maronen, Beeren, Arzneikräuter etc. Bergbau und Hüttenwesen. S. ist ein an Metallen und Erzen außerordentlich reiches Land und könnte in seinem Bergbau und Hüttenwesen eine Quelle großen Nationalreichtums finden, wenn ersterer rationell betrieben und entsprechend ausgebeutet würde. Das Bergwesen untersteht dem Ministerium für Volkswirtschaft, resp. der bei demselben errichteten Junta für dasselbe. Nach dem Gesetz vom 6. Juli 1859 wurde das Land in 17 Minendistrikte eingeteilt, von denen jeder unter einem königlichen Bergingenieur steht, und in Madrid auch ein Oberbergamt eingerichtet. Laut des genannten Gesetzes hat sich der Staat die Ausbeutung der meisten Bergwerke, sämtlicher Salzbergwerke und Salinen (ausgenommen die in den baskischen Provinzen) reserviert. Durch die finanzielle Notlage wurde indessen die Regierung in neuerer Zeit genötigt, sich des größten Teils des Staatseigentums und so auch des Montanbesitzes zu entäußern, so daß jetzt nur noch die Quecksilbergruben von Almaden und einige Salinen Staatseigentum sind. Im ganzen Land gibt es etwa 6000 Minen aller Art, wozu noch die aus alter Zeit, teilweise von den Römern, zurückgelassenen Schlackenhaufen als Ausbeutungsobjekte kommen. Bei der Gewinnung von Erzen u. Metallen sind über 45,000 Arbeiter beschäftigt. Der Bergbau und Hüttenbetrieb ergaben nach der letzten Erhebung (1883) folgende Mengen: Silber 540 metr. Ztr., Quecksilber 16,670, Roheisen 1,422,240, Kupfer 321,560, Blei 993,120, Zink 68,430, Kohle 10,707,500, Salz 6,750,000, Schwefel 11 1,290 metr. Ztr. Bemerkenswert ist jedoch, daß das Hüttenwesen mit dem Bergbau nicht gleichen Schritt hält, und daß ein großer Teil der gewonnenen Erze nach England und andern Ländern exportiert wird und häufig in verhütteter Form wieder ins Land zurückkehrt. So wurden 1886: 49,2 Mill. metr. Ztr. Erze (davon 41,8 Mill. Eisenerz und 6,7 Mill. Kupfererz) ausgeführt. Was die einzelnen Produktionszweige betrifft, so wird Gold gegenwärtig nur in den Arsenikgruben bei Culera (Katalonien), in kleinern Quantitäten auch aus dem Sande des Flusses Sil gewonnen. Ebenso ist die Produktion von Silber herabgegangen, wenngleich mehrere Bergwerke hierfür bestehen, von welchen jene in den westlichen Abhängen der Sierra Almagrera (Provinz Almeria), die von Hiende la Encina (Provinz Guadalajara) und die von Farena (Provinz Tarragona) die mächtigsten sind. In den Quecksilbergruben von Almaden (12 Minen) sind über 3000 Arbeiter beschäftigt. Der Export beträgt durchschnittlich 11,000 metr. Ztr. An Eisenerz birgt S. in vielen Provinzen, besonders in Viscaya (zu Somorrostro), Guipuzcoa (Irun), Navarra (Lesaca, Vera), Santander, Oviedo und Granada, reiche Schätze, die aber nicht gehörig ausgenutzt werden. Die bedeutendsten Hüttenwerke befinden sich in den Provinzen Viscaya, Navarra, Oviedo, Sevilla, Malaga u. a. An Kupfer besitzt die Provinz Huelva in den Minen von Rio Tinto, Tharsis und andern schon von den Karthagern u. Römern bearbeiteten Bergwerken unerschöpfliche Lager. Die Minen von Rio Tinto (s. d.) wurden 1873 von der spanischen Regierung (um 96 Mill. Frank) an ein Syndikat von Londoner und Bremer Firmen verkauft; Tharsis gehört bereits seit längerer Zeit einer englischen Aktiengesellschaft. Hinsichtlich der Bleiproduktion überragt S. alle andern Staaten Europas. Die Hauptsitze für diesen Bergbau und Hüttenbetrieb sind: die Provinzen Murcia (bei Cartagena 76 Werke mit 150 Hochöfen und 1500 Arbeitern), Almeria (Bleiminen der Sierra Gador, Sierra Almagrera, Alhamilla etc.; 13 Schmelzwerke bei Garrucha) und Jaen (Linares und Baylen). Der Export an metallischem Blei betrug 1886: 1,150,000 metr. Ztr. Für den Zinkbergbau sind die Hauptsitze: die Provinzen Santander, Guipuzcoa, Murcia, Granada, Malaga und Almeria. Die Verhüttung ist von geringem Umfang; die gewonnenen Erze werden größtenteils nach Belgien und andern Ländern exportiert. Die wichtigsten Kohlendistrikte sind in der Provinz Oviedo, dann in Burgos und Soria, Leon und Palencia, Teruel und Santander. Die jährliche Produktion ist von 355,000 metr. Ton. im J. 1861 gegenwärtig auf mehr als 1 Mill. metr. T., größtenteils Steinkohle, gestiegen, wobei immer noch eine überwiegende Einfuhr englischer Kohle (1886: 1,4 Mill. metr. T.) stattfindet. An Salz ist S. überaus reich. Dasselbe ist kein Monopolgegenstand; es gibt zwar staatliche Etablissements dafür, welche in 20 Haupt- und 12 Unteranstalten zerfallen, aber ebensowohl befassen sich mit der Salzgewinnung und zwar aus Seewasser u. aus Bergsalinen viele Private, die aus Anlaß des Betriebs nur der gewöhnlichen Industrialsteuer unterworfen sind. Steinsalzminen gibt es zu Cardona (Provinz Barcelona), Pinoso (Provinz Alicante), Gerry y Villanova (Provinz Gerona), Minglanilla (Provinz Cuenca) u. a. O. Seesalz wird am meisten in den Lagunen der Bai von Cadiz und an den Ufern des untern Guadalquivir ausgebeutet, ferner auf der Insel Iviza, aus den Lagunen von Torrevieja (Provinz Alicante, in der Regie des Staats) etc. Der gesamte Salzexport beträgt jährlich 2,5 Mill. metr. Ztr. Manganerz (Braunstein) wird am meisten in der Provinz Huelva zu Tage gefördert, doch droht es infolge des Raubbaues bald gänzlich zu versiegen. Alaungruben finden sich an vielen Orten; Schwefel wird besonders in Murcia und Ostgranada, Schwefelkies in der Provinz Huelva (namentlich in den schon erwähnten Gruben von Rio Tinto und Tharsis mit fortwährend steigendem Export), Asphalt in der Provinz Alava, Antimon in Saragossa, Ciudad Real und bei Cartagena, außerdem Graphit, Bergöl, Naphtha und Phosphorit (letzteres für die Agrikultur äußerst wichtige Material in 9 Minen der Provinz Caceres mit einer durchschnittlichen Ausbeute von 1,8 Mill. metr. Ztr.) gewonnen. Spanien (Industrie). Die spanische Industrie nimmt zwar noch lange nicht den Platz ein, der ihr in anbetracht der reichen Hilfsquellen und der günstigen kommerziellen Lage des Landes gebührt; doch hat dieselbe in neuester Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen. Die industriellsten Provinzen sind: Barcelona, Gerona, Tarragona, Guipuzcoa und Viscaya, nächst diesen Valencia, Murcia, Alicante, Almeria, Granada, Sevilla, Malaga, Galicien, Asturien, Santander, Madrid und Ciudad Real. Was die einzelnen Industriezweige betrifft, so wird die Verfertigung von Eisen- und Stahlwaren am ausgedehntesten in Katalonien, in den baskischen Landschaften und in den Provinzen Malaga und Sevilla betrieben. Guten Ruf hat das Land in der Erzeugung von Handwaffen, wofür Fabriken zu Toledo, Oviedo und Plasencia (Guipuzcoa) bestehen; berühmt sind insbesondere die Klingen von Toledo. Ein großes Etablissement ist auch die Nationalfabrik zu Trubio (Oviedo) für Eisengußwaren und Artilleriematerial. Neben den Eisenwaren produziert S. viel Kupfer- und Bleiwaren, Messing namentlich zu San Juan de Alcaraz (Provinz Albacete), Bronzewaren zu Barcelona, Eibar (Guipuzcoa) und in Navarra, Schmucksachen und Filigranarbeiten. Der Maschinenbau hat seine Hauptsitze zu Barcelona (4 große Werkstätten mit ca. 1700 Arbeitern), Sevilla, Malaga, Madrid und Valladolid, der Schiffbau zu Barcelona, Cartagena, Cadiz und Santander, die Verfertigung von chirurgischen und Präzisionsinstrumenten zu Madrid. Musikinstrumente, und zwar Pianos, werden zu Barcelona, Sevilla, Saragossa und Valladolid, Guitarren zu Murcia, Streichinstrumente vorzugsweise zu Palma fabriziert. Für Porzellan bestehen zwei Fabriken, für Steingut- und Fayenceerzeugung ein ansehnliches Etablissement zu Sevilla und weitere Unternehmungen in den Provinzen Valencia, Madrid und Castellon. Die Fabrikation feuerfester Thonwaren steht zu Barcelona auf einer Höhe, welche einen nicht unbedeutenden Export nach den Häfen des Mittelmeers bis nach Konstantinopel zuläßt. Eine wichtige Industrie ist auch die Erzeugung von Ziegelfliesen, glasierten Platten und Mosaikfußböden, welche namentlich als Hausindustrie Tausende von Arbeitskräften, insbesondere in der Provinz Valencia, beschäftigt und einen wesentlichen Exportartikel liefert. Hydraulischer Kalk (Zement) wird nur in Guipuzcoa in einer Menge von jährlich ca. 100,000 metr. Ztr. erzeugt. S. liefert gutes Glas in ziemlich großer Menge, aber hauptsächlich nur für den inländischen Bedarf, während der Export nach den Kolonien ein geringer ist; geschliffene Glaswaren werden eingeführt. Die Glasindustrie wird an vielen Orten, insbesondere in Badalona, Murcia, Cadalso (Madrid) und Gijon, betrieben. Die Verarbeitung des Korks zu Pfropfen, Platten und Tafeln bildet einen ergiebigen Industriezweig in der Heimat des Rohstoffs, der Provinz Gerona (Exportwert 1886 über 17 Mill. Pesetas). Tischlerwaren werden zu Madrid und Barcelona verfertigt, ohne daß jedoch in feinern Artikeln die ausländische Industrie vom Markt verdrängt wäre. Bedeutend ist namentlich für die Hausindustrie die Stroh- und Binsenflechterei. Die Lederindustrie Spaniens stand in früherer Zeit auf einer viel höhern Stufe als dies gegenwärtig der Fall ist, obschon das Land noch immer durch die Erzeugung von Saffian und Korduan hervorragt und gewisse Quantitäten von Leder ausführt. Die besten Fabrikate kommen von Cordova, Barcelona, Toledo, Burgos und aus den baskischen Provinzen. Insbesondere ist S. die Heimat der kunstvollsten Riemerartikel (Sättel und Reitzeuge). Die Seidenindustrie, für welche alle klimatischen Bedingungen vorhanden sind, ist durch die Seidenraupenkrankheit sehr beeinträchtigt worden und beschränkt sich gegenwärtig hauptsächlich auf die Provinzen Murcia, Valencia und Sevilla, in welchen übrigens die Seidenspinnerei ein vorzügliches Erzeugnis liefert. Die Produktion an Seidenkokons beträgt etwas über 1 Mill., an Rohseide durchschnittlich 85,000 kg. Die Seidenweberei war in frühern Jahrhunderten blühend und wird gegenwärtig noch, ohne den Bedarf zu decken, fabrikmäßig zu Madrid, Valencia, Barcelona, Granada, Sevilla und Toledo betrieben. Die Schafwollweberei macht große Fortschritte, arbeitet jedoch bloß für den einheimischen Markt, wobei ihr das Ausland Konkurrenz bietet. Der Hauptsitz ist Katalonien, namentlich Barcelona, Tarrasa, Sabadell, Manresa u. a. O. Barcelona zeichnet sich auch in der Fabrikation von Shawls und Möbelstoffen durch gediegene Leistungen aus. Gute Tuche und Flanelle werden in Alcoy, Palencia, Bejar (Provinz Salamanca) etc. erzeugt. Valencia und Murcia liefern Decken aus Streich- und Kammgarn, welche den Bewohnern zur Bekleidung, zum Schmuck und zum Tragen der Utensilien unentbehrlich sind. Verhältnismäßig günstig entwickelt ist die spanische Baumwollindustrie. Während die Spinnerei 1834 erst 600,000 Feinspindeln zählte, hob sich diese Ziffer 1881 auf 1,835,000. Der Baumwollkonsum betrug im Durchschnitt der letzten Jahre 490,000 metr. Ztr. Die größte Bedeutung hat die Baumwollindustrie für Katalonien. Barcelona versteht mit gewebten und bedruckten Stoffen (Indiennes) fast alle spanischen Kolonien. Außerdem ist diese Industrie noch in den baskischen Provinzen, in Malaga, Santander, Valladolid und den Balearen vertreten, obgleich immer noch ein Import (Garne 1886 für 2,1, Gewebe für 11,4 Mill. Pesetas) notwendig ist. Die Flachsspinnerei macht gute Fortschritte. Die Leinweberei arbeitet für die Bedürfnisse des eignen Landes und exportiert nach den Kolonien und Brasilien, wogegen aber auch ein Import aus Großbritannien und Irland stattfindet. Die Sitze dieser Industrie sind: die Landschaften Katalonien, Aragonien, Kastilien, Galicien u. Navarra. Die Espartoweberei, welche in Murcia, Alicante u. a. O. betrieben wird, liefert verschiedene Waren, als: Überzieher für Bergleute, Teppiche, Lauftücher etc. In Leinen- und Hanfgarn fand in den letzten Jahren ein Import von durchschnittlich 42,000 metr. Ztr., an Geweben ein solcher von 6300 metr. Ztr. statt. Färberei und Druckerei sind alte und wichtige Zweige der spanischen Industrie, zumal in Katalonien und in den baskischen Provinzen. Die Spitzenmanufaktur ist gleichfalls sehr alt und im Fortschreiten begriffen; ihre Heimat ist Katalonien. Maschinenspitzen werden zu Barcelona, Mataro u. a. O. erzeugt. Handschuhe liefern Madrid und Valladolid, Wirkwaren Barcelona. Die Industrie in Schuhwaren schwingt sich auf den Balearen sichtlich empor (Export über Barcelona nach den spanischen Kolonien). Für den Konsum der spanischen Landbevölkerung werden auch Schuhwaren aus Hanf (Alpargatas) an vielen Orten gefertigt. Neu aufstrebende Industrien sind die Fächerfabrikation in Valencia und die Knopffabrikation in Madrid. In der Papierfabrikation findet der Maschinenbetrieb immer weitere Verbreitung. Es gibt bereits ca. 40 Papierfabriken (zu Barcelona, Tolosa etc.), während die Zahl der Papiermühlen mit Büttenbetrieb immer mehr abnimmt. Ein Hauptartikel der Spanien (Handel, Schiffahrt). Papierfabrikation ist das Zigarrettenpapier (namentlich in Alcoy). Bedeutend ist die Industrie in Nahrungs- u. Genußmitteln. Es bestehen 18 Raffinerien für Kolonialzucker (Barcelona, Malaga und Umgebung, Granada und Almeria; Produktion jährlich ca. 150,000 metr. Ztr.), zahlreiche Schokoladefabriken, so zu Madrid und Umgebung, Barcelona, Saragossa, Ciudad Real, Leon, Astorga, Oviedo, Malaga etc., mehrere Fabriken für konservierte und kandierte Früchte, einige große Fabriken für Fisch- und Fleischkonserven (in Guipuzcoa und Coruña) und mehrere Unternehmungen für Maccaroni- und Teigwarenerzeugung (in Malaga). Weizenmehl wird von Santander aus nach den spanischen Kolonien verschifft (in den letzten Jahren durchschnittlich 275,000 metr. Ztr.). Erwähnenswert sind ferner: die Spirituserzeugung aus Wein und dessen Rückständen, die Fabrikation von Likören (besonders Anislikör in der Provinz Albacete) und die Bierbrauerei in den größern Städten. Die Tabaksfabrikation ist Staatsmonopol, welches aber seit 1887 verpachtet ist, und beschäftigt große Etablissements zu Madrid, Sevilla, Santander, Gijon, Coruña, Valencia und Alicante. Die erforderlichen Blätter kommen größtenteils aus den überseeischen Kolonien (Cuba, Puerto Rico, Philippinen), teilweise auch aus Deutschland. Doch werden daneben Massen von fremden Zigarren eingeschmuggelt. Endlich sind noch die Zinnobererzeugung, die Fabrikation von Seife (Katalonien und Andalusien, insbesondere Malaga), Kerzen und verschiedenen Chemikalien, die Buchdruckerei und Lithographie (Hauptort Madrid) hervorzuheben. In ganz S. besteht schon seit geraumer Zeit Gewerbefreiheit. Es gibt daher keine Innungen und Zünfte, sondern bloß Vereinigungen (gremios) von Handwerkern und Gewerbtreibenden zu irgend einem gemeinsam besser als einzeln zu erreichenden Zweck. Zur Beförderung der Industrie und der Gewerbe dienen außer den Handelskammern (s. unten): der Industrieverein zu Madrid, die Gewerbevereine in verschiedenen Städten und die technischen Unterrichtsanstalten. Handel und Verkehr. S. hat eine für den Handel, namentlich den Welthandel, äußerst günstige Lage, und geraume Zeit war der spanische Handel einer der umfangreichsten der Welt. Wenn er in der Gegenwart kaum noch an das erinnert, was er einst gewesen, so sind daran einerseits die äußern und innern Kriege, anderseits aber die Vernachlässigung der natürlichen Hilfsquellen des Landes schuld. Das Zentrum des gesamten innern Handels bildet Madrid. Nächstem sind Valladolid, Palencia, Burgos, Oviedo, Vitoria, Saragossa und Granada die wichtigsten Plätze des Binnenhandels. In betreff des äußern Handels zerfällt S. in mehrere selbständige Zollgebiete, nämlich: das Festland mit den Balearen, die Kanarischen Inseln, die Provinzen in Amerika, die Besitzungen in Asien und Ozeanien, die Insel Fernando Po mit deren Dependenzen, die nordafrikanischen Besitzungen. Jedes dieser Zollgebiete hat seinen besondern Tarif; die nordafrikanischen Häfen sind zu Freihäfen erklärt worden. In dem Zollgebiet des spanischen Festlandes und der Balearen wurde ein Tarif 5. Okt. 1849 eingeführt, seitdem aber vielfach modifiziert und namentlich durch die abgeschlossenen Handelsverträge ermäßigt. So hat S. 1861 mit Marokko, 1862 mit der Türkei, 1864 mit China, 1865 mit Frankreich, dann seit 1870 mit den meisten andern europäischen Staaten und mit Siam Handels- und Schiffahrtsverträge abgeschlossen, darin Einfuhrzollbegünstigungen für fremde Produkte zugestanden und sich zugleich verpflichtet, diese Zollsätze in einem spätern Termin noch weiter herabzusetzen. Die finanzielle Lage und der Vorgang der übrigen Kontinentalstaaten auf dem Weg des Schutzzollsystems veranlaßten jedoch auch S., zur Erhöhung der Einfuhrzollsätze mittels neuer Tarife (1882 und 1886) zu schreiten und in diesem Sinn modifizierte Handelsverträge mit den übrigen Staaten abzuschließen. Bemerkenswert für den auswärtigen Handel Spaniens ist, daß von seiten Portugals und von Gibraltar aus starker Schleichhandel (von letzterm Punkt namentlich mit englischen Waren) getrieben wird. Der Gesamtwert der Ein- und Ausfuhr Spaniens (und zwar des Festlandes mit Einschluß der Balearen) betrug in den letzten Jahren in Millionen Pesetas (1 Peseta = 80 Pfennig): Jahr Einfuhr Ausfuhr Jahr Einfuhr Ausfuhr 1882 816,7 765,4 1885 764,8 698,0 1883 893,4 719,5 1886 855,2 727,3 1884 779,6 619,2 1887 811,2 722,2 Der auswärtige Handel von S. bewegt sich hauptsächlich auf dem Seeweg. Auf den Landhandel kamen nämlich vom gesamten Warenverkehr des letztgenannten Jahrs nur 16, auf den Seehandel dagegen 84 Proz. Die Hauptartikel des auswärtigen Handels sind in der Ausfuhr (mit Angabe des Wertes 1887 in Millionen Pesetas): Wein (281,7), Erze (86,7), Blei (22,0), Rosinen (22,2), Vieh (12,4), Kork (16,8), Orangen (15,4), Schafwolle (14,1), Olivenöl (9,7, 1885: 40,0), Schuhwaren (12,4), Esparto (8,9), Weintrauben (9,7), Weizenmehl (5,2), Konserven (6,9), Eisen und Eisenwaren (10,4); in der Einfuhr: Weizen (62,8), Baumwolle (62,5), Spiritus (45,0), Holz (35,3), Tabak (30,3), Fische (29,8), Zucker (29,7), Mineralkohle (25,6), Schafwollwaren (24,9), Maschinen (20,1), Häute und Felle (19,4), andre Cerealien (17,5), Vieh (17,1), Eisen und Eisenwaren (16,9), Chemikalien (15,8), Kakao (13,6), Flachs- und Hanfgarn (13,3). Was die einzelnen Länder betrifft, welche an dem auswärtigen Handel Spaniens partizipieren, so kommt der Hauptanteil auf Frankreich (234,7 Mill. Pesetas in der Einfuhr und 308,9 Mill. in der Ausfuhr) und Großbritannien (114,0, resp. 184,6 Mill. Pesetas). Hieran reihen sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika (99,6 und 21,9 Mill.), Cuba (37,3 und 61,0 Mill.), Deutschland (82,9 und 9,6 Mill.), Belgien, Portugal, Italien, die Philippinen, Puerto Rico, Argentinien, Niederlande, Norwegen etc. Die Schiffahrt Spaniens zeigt im letzten Jahrzehnt einen kräftigen Aufschwung. Die Zahl der Häfen an der spanischen Küste und auf den Balearen beträgt 116, wovon 56 auf die Küste des Atlantischen Meers, 60 auf die des Mittelmeers kommen. Die wichtigsten von erstern sind: Bilbao, Santander, Gijon, Ferrol (Kriegshafen), Coruña, Vigo, Huelva und Cadiz; von letztern: Malaga, Almeria, Cartagena, Alicante, Valencia-Grao, Tarragona und Barcelona; auf den Balearen und Pithyusen: Palma, Mahon und Iviza. In den letzten Jahrzehnten sah man die Notwendigkeit der Herstellung sicherer und verbesserter Hafenanlagen ein. Demgemäß wurden auch die Arbeiten, zunächst in Alicante, Barcelona, Cartagena, Tarragona und Valencia-Grao, in Angriff genommen und großenteils bereits durchgeführt. Die Zahl der im Betrieb befindlichen Leuchttürme beträgt 198. In dem Leuchtturm auf Kap Machichaco in Viscaya besteht eine Schule für Leuchtturmwächter. Die Handelsmarine Spaniens zählte Anfang 1884: 1544 Segelschiffe mit 308,779 Registertonnen und 282 Spanien (Eisenbahnen etc., Münzen, Wohlthätigkeits- u. Strafanstalten, Staatsverfassung). mit 200,100 Ton., zusammen 1826 Seeschiffe mit 508,879 T. Die Schiffahrtsbewegung sämtlicher Häfen Spaniens bezifferte sich 1887 in Registertonnen: Eingelaufen Ausgelaufen Spanische Schiffe 4264482 4420130 Fremde Schiffe 6900494 6696443 Zusammen: 11164976 11116573 Hierzu Küstenschiffahrt (1885) 5661952 5237227 Die Binnenschiffahrt ist in S. von geringem Belang. Unter den Strömen ist ein einziger, welcher bei hohem Wasserstand streckenweise befahren werden kann, nämlich der Ebro, auf welchem flache Fahrzeuge dann bis Saragossa, wohl auch bis in die Provinz Navarra gelangen können. Der Guadalquivir, Guadiana und Minho sind nur ein Stück von der Mündung an hinauf für größere Schiffe fahrbar, der erstgenannte für Seeschiffe bis Sevilla; dieselben kommen daher bei der Binnenschiffahrt nicht in Betracht. Die übrigen Ströme sind, soweit sie S. angehören, so voller Sandbänke, Löcher und Strudel, daß sie sich gar nicht zur Schiffahrt eignen. Unter den Kanälen steht der unter Karl V. begonnene Kaiserkanal von Aragonien obenan, 119 km lang, 3,35 m tief und an der Oberfläche 23,5 m breit, außer zur Schiffahrt auch zur Bewässerung dienend. Im 18. Jahrh. wurden drei schiffbare Kanäle hergestellt, worunter der 160 km lange Kastilische, der bei Alar del Rey aus dem Pisuerga ausgeht und unweit Simancas an demselben Fluß endigt, der wichtigste ist. Der Manzanareskanal (von Toledo nach Madrid, 14 km) sowie der Canale Nuevo, bei Amposta aus dem Ebro ausgehend und in San Carlos de la Rapita nach 11 km Länge endigend, werden zur Schiffahrt wenig benutzt. Aus diesem Jahrhundert datieren der Guadarramakanal (17 km) und der Murciakanal (28 km). Neuerlich hat eine Aktiengesellschaft auch die Kanalisierung des Ebro bis Saragossa unternommen. Die Gesamtlänge aller schiffbaren Kanäle und Flüsse Spaniens beträgt ungefähr 700 km. Die erste Eisenbahn, von Barcelona nach Mataro (28 km), wurde 28. Okt. 1848 dem Verkehr übergeben. Seitdem entwickelte sich das Eisenbahnnetz Spaniens in folgender Progression: 1855: 595 km, 1865: 5226 km, 1876: 5796 km, 1886: 9185 km. Die hauptsächlichsten Linien sind: Die Spanische Nordbahn von Madrid über Irun an die französische Grenze, mit Zweiglinien nach Zamora, Salamanca, Segovia und Santander. An die Nordbahn schließen sich die Nordwestliche oder Galicische Eisenbahn mit den Linien Palencia-Coruña, Monforte-Vigo und Leon-Gijon, dann die Eisenbahn Tudela-Bilbao, welche die Nordbahn bei Miranda kreuzt. Eine wichtige Linie ist im NO. die Eisenbahn von Saragossa nach Pamplona, welche einen Zweig zur Nordbahn nach Alsasua entsendet. Von Madrid laufen außer der ersterwähnten Bahn noch die Eisenbahn über Saragossa nach Barcelona und die nach Alicante aus, welche beide miteinander durch die Küstenbahn über Tarragona und Valencia nach Almansa in Verbindung stehen, und wovon die erstere mehrere Zweiglinien in Katalonien und die Linie über Portbou nach Frankreich, die letztere die Zweiglinien nach Toledo und Cartagena entsenden. An die Eisenbahn Madrid-Alicante schließen sich endlich die andalusischen Bahnen nach Cadiz, Malaga und Granada sowie die Eisenbahn über Ciudad Real und Badajoz nach Portugal an. Von Madrid nach Lissabon führt außerdem die neue direkte Linie über Talavera. Auch die Insel Mallorca hat ihre Eisenbahn Palma-Manacor. Die Ausführung der einzelnen Eisenbahnlinien erfolgte durch Privatgesellschaften, meist mit englischen Kapitalien. Pferdebahnen bestehen zu Madrid, Barcelona und Valencia-Grao. Auch auf den arg vernachlässigten Straßenbau hat man in neuerer Zeit große Summen verwendet; die Gesamtlänge der fertigen Straßen beträgt gegenwärtig ca. 19,000 km. Weitere 3000 km sind teils im Bau, teils projektiert. Am meisten leidet noch das Zentrum des Landes durch Mangel an Verkehrswegen. Auch auf Vizinalwege wird wenig Bedacht genommen. Das spanische Staatstelegraphenwesen umfaßte 1886 ein Netz von 17,840 km Linien mit einem Betriebspersonal von 3540 Individuen. Der Korrespondenzverkehr ergab 2,8 Mill. Depeschen. Dem Postwesen standen 1886: 2655 Anstalten mit einem Personal von 7112 Individuen zur Verfügung. Der Briefpostverkehr umfaßte 111 Mill. Stück. Seit 1886 sind 15 Handels-, Industrie- und Schiffahrtskammern errichtet worden. Banken mit dem Rechte der Notenemission bestanden früher in den meisten größern Städten. Durch das Gesetz vom 19. März 1874 wurde jedoch die Kreditzirkulation in einer einzigen Bank, der Bank von S. (Grundkapital 100 Mill. Pesetas) in Madrid, konzentriert und zu ihren gunsten die Aufhebung aller andern Zettel- und Diskontobanken angeordnet. Die meisten derselben haben sich zu Filialen der Bank von S. umgestaltet. Außerdem gibt es eine größere Anzahl von selbständigen Kreditinstituten, zahlreiche Sparkassen, Leihhäuser, Börsen in allen großen Handelsplätzen etc. Die berühmtesten Messen sind die von Talavera de la Reina in Neukastilien, Palencia, Valladolid, Medina de Rioseco und Soria in Altkastilien, Puenta de la Reina, Estrella und Corella in Navarra, Granollers und Tarrasa in Katalonien, Ronda und Puerto de Santa Maria in Andalusien; Hauptwollmärkte die von Cuenca in Neukastilien und Bejar in Leon. Münzeinheit ist seit 1871 die Peseta à 100 Centimos = 1 Frank = 4 Reales de vellon (Kupferreal). Die gangbaren Münzsorten sind in Gold: der Golddoblon = 100 Realen = 21,06 Mk., der Goldthaler (escudo de oro) = 40 Realen = 8,42 Mk., der halbe Goldthaler (coronilla) = 20 Realen; in Silber: der Duro oder spanische Thaler (peso fuerte, im Ausland Piaster genannt) = 20 Realen = 4,20 Mk., der halbe Duro oder Escudo (medioduro, escudo) = 10 Realen, die Peseta = 4 Realen, die halbe Peseta = 2 Realen, der einfache Real (real de vellon). Das einzige Papiergeld des Landes sind gegenwärtig die Noten der Bank von S., deren höchste Abschnitte aber nicht auf mehr als 1000 Pesetas lauten dürfen. In Bezug auf Maß und Gewicht ist seit 1855 gesetzlich das metrische System Ungemein groß ist die Zahl der Wohlthätigkeitsanstalten, deren man bereits 1859: 1028 zählte, worin 455,290 Individuen verpflegt wurden. Die Straf- und Besserungsanstalten zerfallen in Zuchthäuser für männliche Verbrecher und Korrektionshäuser für Weiber. Die schwersten Verbrecher werden in den an die Stelle der ehemaligen Galeeren getretenen Zuchthäusern in Ceuta, Alhucemas, Melilla und Peñon de Velez untergebracht. Staatsverfassung und Verwaltung. Das Grundgesetz der gegenwärtigen Staatsverfassung des Königreichs S. bildet die Konstitution vom 30. Juni 1876. Hiernach ist S. eine eingeschränkte Monarchie, gegenwärtig unter der Dynastie Bourbon. Als Thronfolgeordnung gilt die kognatische, wonach das weibliche Geschlecht in Bezug auf die Succession gleiches Recht mit dem männlichen besitzt und nur die Nähe der Linie darüber entscheidet, wer Spanien (Staatsverwaltung, Rechtspflege). gen soll, so daß ein näher verwandter weiblicher Abkömmling einem entfernter verwandten männlichen vorangeht, in der erbenden Linie aber der jüngere Prinz vor der ältern Prinzessin den Vorzug hat. Die Successionsfähigkeit ist von dem römisch-katholischen Glaubensbekenntnis abhängig. Die Großjährigkeit tritt mit dem vollendeten 16. Jahr ein. Wenn die Erbfolge einen noch minderjährigen Succedenten trifft, oder wenn der Monarch durch längere Zeit verhindert ist, selbst zu regieren, so tritt im ersten Fall eine Vormundschaft, in beiden Fällen eine Regentschaft ein, deren Bestellung durch die Volksvertretung erfolgt. Gegenwärtiger König ist Alfons XIII., nachgeborner Sohn Alfons' XII., geb. 17. Mai 1886. Regentin ist seine Mutter Marie Christine. Der König, bez. Regent übt die gesetzgebende Gewalt gemeinsam mit den Cortes aus, welche sich in zwei Kammern gliedern: den Senat und den Kongreß der Deputierten. Der Senat wird gebildet: von den Senatoren vermöge eignen Rechts; von den Senatoren, welche von der Krone auf Lebenszeit ernannt werden; von den Senatoren, welche durch die Provinzialvertretungen und die Höchstbesteuerten gewählt werden und sich alle fünf Jahre zur Hälfte erneuern. Senatoren von Rechts wegen sind: die großjährigen Söhne des Königs und des Thronfolgers; die Granden von S., welche eine jährliche Rente von 60,000 Pesetas genießen; die Generalkapitäne des Heers und die Admirale der Flotte; die Erzbischöfe; die Präsidenten des Staatsrats, des obersten Gerichtshofs, des Rechnungshofs, des obersten Kriegs- und des obersten Marinerats, wenn sie sich zwei Jahre im Amt befinden. Die vom König ernannten oder von den Provinzialvertretungen u. den Höchstbesteuerten gewählten Senatoren müssen bestimmten Klassen des Beamtenstandes, der Armee, des Klerus angehören oder eine jährliche Rente von 20,000 Pesetas beziehen. Die Zahl der Senatoren kraft eignen Rechts und der vom König ernannten Senatoren darf zusammen 180 nicht übersteigen, und dieselbe Zahl entfällt auf die gewählten Senatoren. Jeder Senator muß Spanier und 35 Jahre alt sein. Der Kongreß der Deputierten setzt sich aus denjenigen Mitgliedern zusammen, welche von den Wahljunten auf fünf Jahre, im Verhältnis von einem Deputierten auf 40,000 Einw., gewählt werden. Um zum Deputierten gewählt zu werden, sind die spanische Staatsbürgerschaft, der weltliche Stand, die Großjährigkeit und der Genuß aller bürgerlichen Rechte erforderlich. Das passive Wahlrecht ist durch keinen Zensus, das aktive Wahlrecht seit der Wahlreform vom 20. Juli 1877 durch einen solchen von 25 Pesetas beschränkt. Die Cortes versammeln sich alle Jahre. Der Präsident und die Vizepräsidenten der Zweiten Kammer werden von der Kammer gewählt, die der Ersten Kammer vom König ernannt. Der König und jede der beiden legislativen Körperschaften besitzen das Recht der Initiative zu den Gesetzen. Finanzgesetze müssen zuerst dem Kongreß der Deputierten vorgelegt werden. Der Kongreß besitzt das Recht der Ministeranklage, wobei der Senat als Gericht fungiert. Die Abgeordneten erhalten keine Vergütung oder Diäten. Die Staatsbürgerrechte entsprechen den in den übrigen repräsentativen Monarchien gewährleisteten Grundrechten. Die Staatsbürger teilen sich dem Stand nach in Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern, welche Stände aber vor dem Gesetz gleich sind. Der Adel zerfällt in den hohen, der sich wieder in Grandes und Titulados teilt, und in den niedern der Hidalgos oder Fidalgos. Die "Grandeza" wird gegenwärtig vom König teils als persönliche Auszeichnung, teils erblich erteilt und führt das Prädikat "Exzellenz". Die Titulados sind Familien, welche von alters her den stets nur auf den ältesten Sohn übergehenden Titel Herzog, Marquis, Graf, Visconde oder Baron führen. Der äußerst zahlreiche niedere Adel zerfällt in Ritter- und Briefadel. Aber weder der hohe noch der niedere Adel hat irgend welche politische Vorrechte. Das Prädikat "Don", früher nur dem hohen Adel zustehend, wird jetzt jedem gebildeten Mann gegeben. Die Gemeindeverfassung datiert in ihrer jetzigen Form von 1845 und ist, wie auch die Provinzialverfassung, im wesentlichen der französischen nachgebildet. In jeder Provinz sind Provinzialdeputationen eingesetzt, deren Mitglieder von den Gemeindevertretungen gewählt werden. Jede Gemeinde von mindestens 30 Mitgliedern hat ihre eigne Gemeindevertretung (ayuntamiento), welche auf zwei Jahre gewählt wird, und welcher der Alkalde, der zugleich Friedensrichter ist, präsidiert. Die Alkalden werden von den Gemeinden alljährlich neu gewählt, aber von der Regierung An der Spitze der gesamten Staatsverwaltung steht der Ministerrat (consejo de ministros), dem der königliche Staatsrat (consejo de estado) zur Seite steht. Der Staatsrat besteht aus 33 Räten, die vom König ernannt werden, und den Ministern, berät in seinen den Ministerien entsprechenden Sektionen Regierungsmaßregeln und entscheidet über Kompetenzkonflikte zwischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden. Königliche Ministerien sind: das Ministerium des Äußern (zugleich für die Angelegenheiten des königlichen Hauses), das Ministerium der Gnaden und Justiz (auch für den Kultus), das Kriegsministerium, das Marineministerium, das Finanzministerium, das Ministerium des Innern (ministerio de la gobernacion, auch für das Eisenbahn-, Post- und Telegraphenwesen), das Ministerium für die Volkswirtschaft (ministerio de fomento, für Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, Handel, Bauten und Unterrichtswesen) und das Ministerium der Kolonien (ministerio de ultramar). Selbständig ist der Rechnungshof. Zur Leitung der Provinzialverwaltung stehen an der Spitze der 49 Provinzen für die gesamte innere und Steuerverwaltung die Gouverneure, welchen die Provinzialdeputationen und deren permanente Kommissionen beigegeben sind. Ferner bestehen in jeder Provinz eine Sanitätsjunta und eine Hauptpostverwaltung. Die Polizei wird in den Gemeinden von den Alkalden, in größern Städten von besondern Polizeikommissaren, unter Aufsicht des Gouverneurs, gehandhabt. Für die Militärverwaltung sind 16 Generalkapitanate und unter diesen Provinzialmilitärgubernien, für die Marine 3 Departements (Generalkapitanate) errichtet. Die Kolonialverwaltung besteht für jede Kolonie aus einer Regierung mit dem Generalkapitän, dem obersten Militärkommandanten und einem Zivilgouverneur, welch letzterer unmittelbar vom König dependiert. Der Volksvertretung ist keine Beteiligung dabei Die Gerichtsverfassung beruht auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens und Geschwornengerichten. Römisches Recht und Landrecht bilden die Grundlage des Rechtswesens; die in den baskischen Provinzen bisher geltenden Sonderrechte (fueros) wurden 1876 aufgehoben. Die unterste Instanz bilden die Alkalden der Gemeinden als Friedensrichter. Außerdem bestehen noch 500 Untergerichtsbezirke (partidos) mit je einem Gerichtshof erster Instanz. Diese sind verteilt unter 15 Ober- oder Appellations- Spanien (Finanzen, Heer und Flotte, Wappen, Orden etc.). gerichtshöfe (audiencias territoriales). Die oberste Instanz bildet der höchste Gerichtshof zu Madrid. In Preßprozessen erkennen Geschwornengerichte. Außer diesen ordentlichen Gerichten bestehen noch: geistliche und Militärgerichte, das Tribunal de hacienda publica in Steuersachen, Handelsgerichte, Berggerichte sowie Gerichte für das Post- und Straßenwesen. Das spanische Zivilgerichtsverfahren ist jetzt auch in den Kolonien Cuba und Puerto Rico eingeführt. Die Budgetvoranschläge für das Finanzjahr 1888/89 ergaben (in Pesetas): A. Einnahmen. Direkte Steuern 310 983 000 Indirekte Steuern 314 294 394 Zölle 172 993 000 Staatsmonopole 21 198 038 Nationalgüter 7 944 000 Staatsschatz 24 255 500 Zusammen 851 667 932 B. Ausgaben. Zivilliste 9 350 000 Portes 1 940 205 Staatsschuld 279 099 611 Gerichtshöfe 1 361 276 Pensionen 50 593 826 Ministerpräsidium 1 148 959 Auswärtiges 5 300 620 Gnaden und Justiz 59 092 859 Krieg 154 720 262 Marine 26 683 627 Inneres 31 186 581 Öffentliche Arbeiten u. Unterricht 100 385 507 Finanzen 20 826 781 Verwaltung der Steuern 106 967 871 Zusammen: 848 657 985 Die Staatsschuld, welche in den 70er Jahren bereits einen Stand von 12,000 Mill. Pesetas überschritten hatte, wurde seither durch eine umfassende Konversion um mehr als die Hälfte verringert; am 1. Jan. 1887 belief sie sich schon wieder auf ein Kapital von 6334 Mill. Pesetas; die Jahreszinsen betrugen 238 Mill. Meer und Flotte. Das Kriegswesen Spaniens ist nach der Beendigung des Bürgerkriegs in den Jahren 1877 und 1878 neu organisiert worden. Hiernach besteht in S. das System der allgemeinen Wehrpflicht, jedoch mit Loskauf (für gebildete junge Leute vom Dienst in der aktiven Armee) und Stellvertretung (unter Brüdern). Die Militärpflicht beginnt mit dem 20. Lebensjahr und dauert 12 Jahre (3 Jahre in der aktiven Armee, 3 Jahre in der Reserve derselben und 6 Jahre in der zweiten Reserve). Die Ergänzung der Kriegsflotte erfolgt nach denselben Prinzipien aus der seemännischen Bevölkerung. Die Kolonialtruppen werden teils durch die Bewohner der überseeischen Besitzungen, teils durch die Ausgehobenen im Mutterland ergänzt. Die Truppen des Heers sind: a) Infanterie: 61 Linienregimenter zu 2 Bataillonen und 21 Jägerbataillone, alle diese zu je 4 Feld- und 2 Depotkompanien, 140 Reservebataillone und 140 Depotbataillone zu 6 Kompanien (davon 2 in Kadrestärke), 31 Disziplinarbataillone; b) Kavallerie: 1 Eskadron königlicher Garden, 28 Regimenter (8 Ulanen-, 14 Jäger-, 4 Dragoner- und 2 Husarenregimenter) zu 4 Eskadrons, 28 Reserveregimenter; c) Artillerie: 5 Regimenter zu 4 Batterien Korpsartillerie, 5 Regimenter zu 6 Batterien Divisionsartillerie, 1 reitende Batterie, 2 Gebirgsartillerieregimenter (zu 6 Bataillonen), 1 Regiment Belagerungsartillerie (mit 4 Batterien), 9 Bataillone Festungsartillerie, 7 Reserveregimenter; die Batterie zählt im Frieden 4, im Krieg 6 Geschütze; d) Ingenieurtruppen: 4 Regimenter Sappeure und Mineure (zu 2 Bataillonen), 4 Reserveregimenter, 1 Pontonierregiment, 1 Eisenbahn- und 1 Telegraphenbataillon; e) die Guardia civil (Gendarmerie), die Karabiniere (Zoll- und Grenzwache) und die Provinzialmiliz auf den Kanarischen Inseln - letztere mit 7 Bataillonen). Der Friedens- und Kriegsstand betragen: Infanterie 83 808 Mann Kavallerie 14 364 - Artillerie 11 340 - Ingenieurtruppen 4 279 - Andre Formationen 2 422 - Zusammen: 116 213 Mann Infanterie 734 679 Mann Kavallerie 21 452 - Artillerie 30 355 - Ingenieurtruppen 7 163 - Andre Formationen 9 538 - Zusammen: 803 187 Mann Die Kavallerie verfügt im Frieden über 10,233, im Krieg über 17,205 Pferde, die Artillerie zählt im Frieden 392, im Krieg 460 Geschütze. Hierzu kommen dann die Guardia civil mit 15,302 und die Karabiniere mit 10,940 Mann sowie die selbständigen Kolonialtruppen (39,924 Mann). Die Kriegsflotte ist verhältnismäßig sehr bedeutend an Zahl der Schiffe, doch entspricht nur der geringste Teil derselben den modernen Anforderungen an gefechtstüchtige Schiffe. Es ist deshalb der Plan einer Reorganisation der Flotte beschlossen und der Bau einer Anzahl neuer Schlachtschiffe, Kreuzer, Kanonen- und Torpedoboote teils in Angriff, teils in Aussicht genommen worden. Ende 1886 umfaßte die Flotte: 4 Panzerschiffe 74 Kanonen 13 300 Pferdekr. 13 Torpedoboote 4 Kanonen 10 444 Pferdekr. 11 Kreuzer u. Korvetten 94 Kanonen 38 135 Pferdekr. 63 andre Dampfer 95 Kanonen 11 775 Pferdekr. 20 Schulschiffe u. Hulks 246 Kanonen 13 000 Pferdekr. 111 Fahrzeuge 513 Kanonen 86 654 Pferdekr. Die Bemannung beträgt 14,000 Köpfe; außerdem bestehen 3 aktive und 3 nicht aktive Regimenter Marineinfanterie (zu 2 Bataillonen), die aktiven mit 7033 Mann; hierzu kommen 400 Maschinisten, 180 Bootsleute, 1500 Arsenalarbeiter etc. Wappen, Orden. Das königliche Wappen (s. Tafel "Wappen") besteht aus einem in vier Felder abgeteilten Schild mit einem Mittelschild, welcher durch das Wappen des Hauses Bourbon-Anjou, drei goldene Lilien im blauen Feld, gebildet wird. Das erste Quartier enthält die Wappen von Kastilien (drei goldene Türme im roten Feld) und Leon (ein gekrönter roter Löwe im silbernen Feld) und zwar doppelt, indem es kreuzweise in Felder abgeteilt ist. Zwischen seinen beiden untersten Feldern befindet sich das Wappen von Granada, ein aufgesprungener Granatapfel im roten Felde. Das zweite, der Quere nach gespaltene Quartier enthält die Wappen von Aragonien (vier rote Pfähle im goldenen Feld) und des Königreichs beider Sizilien. Das dritte, ebenfalls geteilte Quartier zeigt oben das Wappen des Erzhauses Österreich, unten das der alten Herzöge von Burgund, das vierte Quartier aber das neuburgundische Wappen, unten das Wappen von Brabant. Der ganze Wappenschild ist mit der Kette des Goldenen Vlieses umgeben und mit der königlichen Krone bedeckt; als Schildhalter dienen zwei aufrechte Löwen. Als gewöhnliches Wappen dient bloß der Wappenschild von Kastilien und Leon mit dem Wappen von Bourbon-Anjou im Mittelschild. Die Landesfarben sind Rot und Gelb. Die Flagge (s. Tafel "Flaggen") ist in drei horizontale Streifen, zwei rote und einen gelben (in der Mitte), geteilt, die königliche mit dem Wappen im Mittelstreifen versehen. S. hat zehn Ritterorden: den Orden des Goldenen Vlieses (toison de oro), 1431 gestiftet, in einer Klasse, nur für Souveräne, Prinzen und Granden von S.; den Orden Karls III. (s. Tafel "Orden"), 1773 gestiftet, in drei Klassen; den Damenorden der Königin Maria Luise, 1792 gestiftet, in einer Klasse; den amerikanischen Orden Isabellas der Katholischen, 1815 gestiftet, in drei Klassen; den Militärorden von San Fernando, 1815 ge- Spanien (geographisch-statistische Litteratur; Geschichte). stiftet, in fünf Klassen; den Militärorden von St. Hermenegild, gleichfalls 1815 gestiftet, in drei Klassen; den Militärorden von Santiago, 1175 gestiftet, in vier Klassen; den Militärorden von Calatrava, 1058 gestiftet, in einer Klasse; den Militärorden von Alcantara, 1177 gestiftet, in drei Klassen; den Orden von Montesa, 1319 gestiftet, in einer Klasse. Außer diesen Orden bestehen noch mehrere Ehrenzeichen für Militärs. Königliche Residenz ist Madrid. Den Mai pflegt der Hof nach altem Herkommen in Aranjuez, den Sommer in San Ildefonso (La Granja), den Herbst im Escorial und in Pardo zuzubringen. [Litteratur.] M. Willkomm in Stein-Hörschelmanns "Handbuch der Geographie" (Leipz. 1862); Derselbe, Die Pyrenäische Halbinsel (Prag 1884); Carrasco, Geografia general de España (Madr. 1861 ff.); Coello, Reseña geografica de España (das. 1859); Mingotey Tarazona, Geografia de España y sus colonias (das. 1887); "Diccionario geografico-historico de España por la Real Academia de la historia" (das. 1802-46, 8 Bde.); Madoz, Diccionario geografico-historico-estadistico de España (das. 1846-50, 16 Bde.); Mariana y Sanz, Diccionario geografico, estadistico, municipal de España (Valencia 1886); Martinez Alcubilla, Diccionario de la administracion española (4. Aufl., Madr. 1886 ff.); Cuendias, S. und die Spanier (Brüssel 1851); v. Minutoli, S. und seine fortschreitende Entwickelung (Berl. 1852); Leftgarens, La situation économique et industrielle de l'Espagne en 1860 (Par. 1860); Garrido, Das heutige S. (deutsch von A. Ruge, Leipz. 1863); Davillier, L'Espagne (Par. 1873, illustriert von Doré); Simons, S. in Schilderungen (illustr. von Wagner, Berl. 1880); Lauser, Aus Spaniens Gegenwart. Kulturskizzen (Leipz. 1872); Parlow, Kultur und Gesellschaft im heutigen S. (das. 1888); die Reiseschilderungen von v. Minutoli, Huber, Cook, O'Shea, Th. Gautier, E. Qninet, Boissier, v. Rochau, Willkomm, v.Quandt, Ziegler, Roßmäßler, Wachenhusen, Hackländer, v. Wolzogen, W. Mohr (Köln 1876, 2 Bde.), Lauser (Berl. 1881), de Amicis (deutsch, Stuttg. 1880), Bark (Berl. 1883), Passarge (Leipz. 1884), Th. v. Bernhardi (Berl. 1886), Parlow (Wien 1889); Reisehandbücher von Murray (6. Aufl., Lond. 1882), O'Shea (6. Aufl., Edinb. 1878), Roswag (Madr. 1879), Germond de Lavigne (3. Aufl. 1880); die amtlichen Publikationen ("Annuario estadistico de España", die Handels- und Schiffahrtsausweise, "Guia oficial de España"); das "Boletin de la Sociedad geografica de Madrid"; Vizaino, Atlas geografico español (Madr. 1860); eine topographische Karte wird auf Grund der Landesvermessung unter Leitung von Ibanez seit 1878 veröffentlicht; bis zu ihrer Vollendung dient Coello, Atlas de España (1 : 200,000), als offizielle Karte; geologische Übersichtskarten lieferte F. de Botella (1:1,000,000, 1875, und 1:2,000,000, 1880). [Die Zeit der Römer und Westgoten.] Die Ureinwohner der Pyrenäischen Halbinsel waren die Iberer, von denen die ganze Halbinsel Iberien hieß. Mit ihnen verschmolzen die in vorhistorischer Zeit über die Pyrenäen aus Gallien eingewanderten Kelten nach langen Kämpfen zu dem Volk der Keltiberer. Um 1100 v. Chr. siedelten sich Phöniker an der Südküste an; unter ihren Kolonien war Cadiz (Gades) die berühmteste. Sie nannten das Land nach dem im Thal des Bätis (Guadalquivir) wohnenden Volk der Turdetaner Tarschisch (griech. Tartessos). Später setzten sich Griechen an der Ostküste fest. Nach dem ersten Punischen Krieg eroberten die Karthager 237-219 den Süden und Osten der Halbinsel; Neukarthago (Cartagena) wurde ihre wichtigste Niederlassung. In dem zweiten Punischen Krieg aber, der zum Teil in S. geführt wurde, verloren sie diese Besitzungen wieder (206). Die Römer suchten nun das ganze Land unter ihre Botmäßigkeit zu bringen, was ihnen jedoch erst nach 200 jährigen blutigen Kämpfen gelang. Namentlich die Keltiberer und die Lusitanier (unter Viriathus) leisteten hartnäckigen Widerstand, und die Kantabrer wurden erst 19 v. Chr. unter Augustus bezwungen, der S. anstatt wie bisher in zwei Provinzen (Hispania citerior und H. ulterior) in drei, Lusitania, Baetica und Tarraconensis, einteilte, von welch letztern größten Provinz unter Hadrianus die neue Provinz Gallaecia et Asturia abgezweigt wurde. Nur die Basken behaupteten in ihren Gebirgen ihre Unabhängigkeit. Da die Römer das Land mit vielen Militärstraßen durchzogen und zahlreiche Soldatenkolonien anlegten, so wurde S. sehr rasch romanisiert, bald ein Hauptsitz römischer Kultur und eins der blühendsten Länder des römischen Weltreichs, dem es mehrere seiner tüchtigsten Kaiser (Trajan, Hadrianus, Antoninus, Marcus Aurelius, Theodosius) u. angesehene Schriftsteller (Seneca, Lucanus, Martialis, Flavius, Quintilian u. a.) gab. Handel und Verkehr blühten, Gewerbe und Ackerbau standen auf einer hohen Stufe der Vervollkommnung, und die Bevölkerung war eine äußerst zahlreiche. Frühzeitig gewann auch das Christentum hier Anklang und breitete sich trotz blutiger Verfolgungen mehr und mehr aus, bis es durch Konstantin auch hier herrschende Religion ward. Zu Anfang des 5. Jahrh., als der innere Verfall des römischen Reichs auch seine äußere Macht erschütterte, drangen die germanischen Völkerschaften der Alanen, Vandalen und Sueven verwüstend in S. ein und setzten sich in Lusitanien, Andalusien und Galicien fest, während die Römer sich noch eine Zeitlang im östlichen Teil der Halbinsel behaupteten. 415 erschienen die Westgoten (s. Goten, S. 537), anfangs als Bundesgenossen der Römer, in S. und verdrängten bald die andern germanischen Stämme; ihr König Eurich entriß den Römern auch den letzten Rest ihres Gebiets, und Leovigild unterwarf nach gänzlicher Unterjochung der Sueven 582 die ganze Halbinsel der westgotischen Herrschaft. Sein Sohn und Nachfolger Reccared I. trat mit seinem Volk vom arianischen zum katholischen Glauben über (586) und bahnte dadurch die Verschmelzung der Goten mit den Römern zu einem romanischen Volk an. Allerdings hatte dieser Schritt noch die andre Folge, daß die katholische Geistlichkeit übermäßige Macht erlangte und im Bund mit dem Adel die sich schon befestigende Erblichkeit der Krone verhinderte, um bei der Wahl jedes neuen Oberhauptes die königliche Gewalt möglichst einzuschränken. Als 710 König Witiza von dem Klerus und dem Adel unter Führung des Grafen Roderich gestürzt und getötet wurde, riefen seine Söhne die Araber von Afrika zu Hilfe, welche 711 unter Tarik bei Gibraltar landeten und dem westgotischen Reich nach fast 300jähriger Dauer durch den Sieg bei Jeres de la Frontera (19.-25. Juli d. J.) ein Ende machten. Fast ganz S. wurde in kurzer Zeit von den Arabern erobert und ein Teil des großen Kalifats der Omejjaden. Herrschaft der Araber. Die Araber (Mauren) verfuhren in der ersten Zeit sehr schonend gegen die alten Einwohner und ließen Spanien (Geschichte bis 1118). ihr Eigentum, ihre Sprache und Religion unangetastet. Ihre Herrschaft erleichterte den untern Klassen sowie den zahlreichen Juden ihre Lage, und der Übertritt zum Islam verschaffte den hart bedrückten Leibeignen die ersehnte Freiheit. Aber auch viele Freie und Angesehene traten zum Islam über; denen, die Christen blieben, wurden bloß Steuern auferlegt. Den aufreibenden Zwistigkeiten und blutigen Fehden, welche Ehrgeiz und Herrschsucht der arabischen Häuptlinge in dieser entfernten Provinz des Kalifats hervorriefen, machte 755 der bei der Vernichtung durch die Abbassiden einzig übriggebliebene Sproß der Omejjaden, Abd ur Rahmân, ein Ende, welcher nach S. flüchtete und hier, vom Volk mit Jubel begrüßt, ein eignes Reich mit der Hauptstadt Cordova, das sogen. Kalifat von Cordova, gründete, welches er auch bis zu seinem Tod (788) behauptete und auf seine Nachkommen vererbte. Obwohl diese ebenfalls wiederholte Empörungen der Statthalter und andre durch Thronansprüche und Abgabendruck hervorgerufene Unruhen zu bekämpfen hatten, so konnten sie doch Künste und Wissenschaften pflegen und die friedliche Entwickelung von Gewerbe, Handel und Ackerbau schützen. Wohlstand und Bildung mehrten sich, und Cordova ward ein glänzender Herrschersitz. Unter Abd ur Rahmân III. (912-961) erreichten arabische Kunst und Wissenschaft in S. ihre höchste Blüte. Volkreiche Städte schmückten das Land; das Gebiet des Guadalquivir soll allein 12,000 bewohnte Orte gezählt haben. Cordova hatte 113,000 Häuser, 600 Moscheen, darunter die prachtvolle Hauptmoschee, und herrliche Paläste, darunter den Alkazar; mit Cordova wetteiferten andre Städte, wie Granada mit der Alhambra, Sevilla, Toledo u. a. In gleichem Sinn wie Abd ur Rahmân III. regierte sein als Dichter und Gelehrter ausgezeichneter Sohn Hakem II. (961-976), wogegen unter dem schwachen Hischam II. (976-1013) das Kalifat zu sinken begann. Es gelang den Arabern nicht, mit den altspanischen Einwohnern sich zu verschmelzen und ein Staatswesen mit feststehenden gesetzlichen Ordnungen zu begründen. Despotismus und Anarchie wechselten miteinander ab: bald zerriß der ganze Reichsverband, wenn die Statthalter und hohen Befehlshaber den Gehorsam verweigerten; bald lag das Land blutend und demütig zu Füßen des Herrschers, wenn diesem die Unterdrückung der Empörer mittels fremder Söldnerscharen gelungen war. Das Volk verfiel in Genußsucht und Verweichlichung und ließ willenlos alles über sich ergehen. Der berühmteste unter den kriegerischen Statthaltern Hischams II. war Mansur, der ebenso kunstsinnig und klug wie tapfer und gewaltthätig den Staat mit unumschränkter Macht leitete, Santiago, den heiligen Apostelsitz Galiciens, zerstörte (994) und die Christen in vielen blutigen Fehden überwand, bis er endlich an den Wunden, die er in der heißen Schlacht am Adlerschloß (Kalat Nosur) unweit der Quellen des Duero in kühnem Handgemenge empfangen, in den Armen seines Sohns Abd al Malik Modhaffer starb (1002). Nach dem Tode dieses (1008), der mit gleicher Kraft wie sein Vater regierte, machten die Statthalter ihr Amt erblich und gründeten sich unabhängige Herrschaften; um den Thron wurde mit wilder Erbitterung gekämpft, und der letzte omejjadische Kalif, Hischam III., wurde 1031 durch einen Aufstand in Cordova gestürzt. Diesen Zustand benutzend, griffen die christlichen Spanier die Araber immer erfolgreicher an und drängten sie allmählich in den südlichen Teil der Halbinsel zurück. Das Emporkommen christlicher Königreiche. Nur in den nördlichen Gebirgen, in Asturien, hatten Scharen flüchtiger Westgoten ihre Unabhängigkeit behauptet und sich unter der Herrschaft des tapfern Pelayo (Pelagius) vereinigt, der, ein Nachkomme des westgotischen Königs Receswinth, 718 (oder 734) ein arabisches Heer besiegt haben und darauf zum König ausgerufen worden sein soll; er wird deshalb el restaurador de la libertad de los Españoles genannt. Sein durch Wahl erhobener zweiter Nachfolger, Alfons I. (739-757), auch ein Abkömmling jenes Westgotenkönigs und Sohn des Herzogs Peter von Kantabrien, vereinigte dieses Land mit Asturien. Alfons II. (791-842) drang auf seinen verheerenden Streifzügen gegen die Araber bis zum Tajo vor und eroberte das Baskenland im Osten, Galicien bis zum Minho im Westen. Gleichzeitig wurde im Nordosten Spaniens von den Franken die Spanische Mark gegründet und die Herrschaft des Christentums in Katalonien durch zahlreiche Einwanderer gesichert. In den fast ununterbrochenen Kämpfen mit den Ungläubigen bildete sich ein christlicher Lehnsadel, welcher durch ritterliche Tapferkeit zugleich Ruhm, weltlichen Besitz und das ewige Seelenheil zu erlangen strebte. So bildeten sich nördlich vom Duero und Ebro allmählich vier christliche Ländergruppen, welche sich durch feste Institutionen, Reichstage, Gesetzsammlungen und den Ständen zugesicherte Rechte (Fueros) zu konsolidieren bemüht waren: 1) im Nordwesten Asturien, Leon und Galicien, welche nach vorübergehenden Teilungen im 10. Jahrh. unter Ordoño II. und Ramiro II. zu dem Königreich Leon vereinigt wurden, das 1057 nach kurzer Unterwerfung unter Navarra von Sancho Mayors Sohn Ferdinand mit den neuen Eroberungen im Süden als Königreich Kastilien verbunden wurde; 2) das Baskenland, welches mit benachbartem Gebiet von Sancho Garcias zum Königreich Navarra erhoben wurde, unter Sancho Mayor (1031-35) das ganze christliche Gebiet Spaniens beherrschte, 1076-1134 mit Aragonien vereinigt, seitdem aber wieder selbständig war; 3) das Gebiet am linken Ebro, Aragonien, seit 1035 selbständiges Königreich; 4) die aus der Spanischen Mark entstandene erbliche Markgrafschaft Barcelona oder Katalonien. Trotz dieser Zersplitterung zeigten sich die christlichen Reiche den Arabern gewachsen. Als nach dem Untergang der Dynastie der Omejjaden (1031) das Araberreich in mehrere Teile unter besondere Dynastien in Sevilla, Toledo, Valencia und Saragossa zerfallen war, gerieten 1085 Toledo, das Haupt von S., dann Talavera, Madrid und andre Städte in die Gewalt der Christen. Die vom Emir von Sevilla zu Hilfe gerufenen Almorawiden aus Afrika befestigten zwar den Islam durch ihre Siege bei Salaca (1086) und bei Ucles (1108) und rissen die Herrschaft über das arabische S. an sich; aber der Glaubenseifer und Kampfesmut der Christen erhielt durch die gleichzeitige Bewegung der Kreuzzüge ebenfalls einen neuen Aufschwung. Alfons I. von Aragonien, der durch seine Vermählung mit Urraca, der Erbtochter von Kastilien, zeitweilig (bis 1127) dies Reich mit Aragonien vereinigte und sich Kaiser von Hispanien nannte, eroberte 1118 Saragossa und machte es zu seiner Hauptstadt. Auch nach der Trennung von Kastilien und Aragonien blieben beide Reiche zum Kampf gegen die Ungläubigen verbunden, und letzteres Reich ward durch die Vereinigung mit Katalonien infolge der Heirat der aragonischen Spanien (Geschichte bis 1479). Erbtochter Petronella mit Raimund Berengar II. von Barcelona 1137 bedeutend vergrößert und gekräftigt. Nun erlangten die Christen bald völlig die Oberhand über die Araber. Als die Herrschaft der Almorawiden in Afrika 1147 von den Almohaden gestürzt wurde, riefen jene, um sich in S. zu behaupten, die Christen zu Hilfe, welche sich Almerias und Tortosas bemächtigten. Gegen die Almohaden, welche auch das südliche S. unter ihre Gewalt brachten, bewährten besonders die spanischen Ritterorden ihre glaubensmutige Tapferkeit und machten die Niederlage bei Alarcos (1195) durch den glänzenden Sieg bei Naves de Tolosa (16. Juli 1212) wieder gut, welcher den Sturz der Almohadenherrschaft zur Folge hatte. In Andalusien gründete Aben Hud (Motawakkel) eine Dynastie, welche sich unter den Schutz der Abbassiden von Bagdad stellte; in Valencia regierte eine andre arabische Dynastie. Durch die Schlacht bei Merida (1230) wurde Estremadura den Arabern entrissen; nach dem Sieg bei Jeres de la Guadiana (1233) eroberte Ferdinand III. von Kastilien 1236 Cordova, 1248 Sevilla und 1250 Cadiz. Die Moslemin wanderten zu Tausenden nach Afrika oder nach Granada und Murcia aus, aber auch diese Reiche mußten die Oberherrschaft Kastiliens anerkennen. Die unter kastilischer Herrschaft zurückgebliebenen Mohammedaner nahmen mehr und mehr die Religion und die Lebensformen der Sieger an, und zahlreiche vornehme Araber traten nach empfangener Taufe in den spanischen Kastilien und Aragonien. Wie sehr durch die Siege Ferdinands III. die Macht Kastiliens (s. d.) gestiegen war, so blieb es doch auch nicht von innern Wirren verschont, welche namentlich unter dem Beschützer der Künste und Wissenschaften, König Alfons X., dem Weisen (1252-84), das Reich zerrütteten und die Macht des Adels vermehrten. Auch unter Sancho IV. (1284-95), Ferdinand IV. (1295-1312) und Alfons XI. (1312-50) dauerten die Zwistigkeiten in der Königsfamilie fort. Ordnung und Zucht lösten sich auf, das königliche Ansehen schwand, die Krongüter wurden entfremdet, Gemeinden, Korporationen und mächtige Edelleute griffen zur Selbsthilfe und befreiten sich von jeder Obrigkeit. Dennoch errangen die Kastilier über die Araber große Erfolge; sie erfochten 1340 den glänzenden Sieg bei Salado und schnitten durch Eroberung von Algeziras Granada von der Verbindung mit Afrika ab, so daß dessen Fall nur eine Frage der Zeit war. Auch das Reich Aragonien (s. d.) nahm einen mächtigen Aufschwung. Jakob I. (Jaime), der von 1213 bis 1276 regierte, unterwarf 1229-33 die Balearen, 1238 Valencia und drang erobernd in Murcia ein; sein Sohn Pedro III. (1276-85) entriß 1282 den Anjous die Insel Sizilien; Jakob II. (1291-1327) eroberte Sardinien und setzte 1319 auf dem Reichstag zu Tarragona die Unteilbarkeit seines Reichs fest. Freilich mußten die aragonischen Könige diese Eroberungen mit großen Zugeständnissen an die Stände (Cortes) erkaufen, besonders durch das Generalprivilegium von Saragossa (1283), welches Aragonien fast in eine Republik verwandelte. In beiden Reichen war unter den Ständen der Klerus der mächtigste: jeder Sieg über die Ungläubigen vermehrte seine Rechte und seinen Reichtum, durch prunkvollen Kultus und phantastische Mystik bemächtigte er sich des Volksgeistes und pflanzte ihm einen verfolgungssüchtigen Religionsfanatismus ein. Der hohe Adel maßte sich das Recht an, dem König die Treue aufzusagen; nicht bloß er, auch die niedern Adligen waren steuerfrei. Aber auch Städte und Landgemeinden erhielten ihre verbrieften Sonderrechte (Fueros). In Aragonien waren die Rechte der Unterthanen dem König gegenüber durch den Gerichtshof der Justicia geschützt. Die Stände traten in beiden Reichen zu Reichstagen (Cortes) zusammen, welche über Wohlfahrt und Sicherheit des Reichs, Gesetzgebung und Besteuerung berieten. Handel und Gewerbe standen in den volkreichen Städten unter dem Schutz weiser Gesetze; an den Höfen wurde die Dichtkunst der Troubadoure gepflegt. Am besten wurden die Dinge in Aragonien geordnet, von Pedro IV. (1336-87) nach dem Sieg über die Union von Epila (1348) auch das Waffenrecht des Adels beseitigt, und daher kam es, daß in diesem Reich nach dem Erlöschen der alten Dynastie mit Martin (1395-1410) die kastilische Dynastie, welche mit Ferdinand I. (1412-16) den Thron bestieg, die Herrschaft auch über die Nebenlande: Balearen, Sardinien und Sizilien, behauptete und auf kurze Zeit auch Navarra wieder erwarb. In Kastilien dagegen waren der hohe Adel und die Ritterorden von Santiago, Calatrava und Alcantara übermächtig. Mit Hilfe der Städte, welche eine Verkaufs- und Verbrauchssteuer, die Alcavala, bewilligten, suchte sich das Königtum eine freiere, unabhängigere Stellung gegenüber der Feudalaristokratie zu verschaffen. Aber Peter der Grausame (1350-69) machte den Erfolg dieser Bemühungen durch seine wilde Leidenschaft und grausame Tyrannei wieder zu nichte. Er wurde 1366 von seinem Halbbruder Heinrich von Trastamara mit Hilfe französischer Söldnerscharen vertrieben und, nachdem ihn der schwarze Prinz durch einen Zug über die Pyrenäen wieder auf den Thron erhoben, durch die Niederlage bei Montiel (14. März 1369) von neuem gestürzt und kurz darauf ermordet. Heinrich II. (1369-79), welcher Viscaya erwarb, und Johann I. (1379-90) schwächten das Königtum durch unglückliche Versuche, Portugal zu erobern, welches 1385 in der Schlacht bei Aljubarrota seine Unabhängigkeit siegreich verteidigte. Heinrich III. (1390-1406) stellte die Ordnung wieder her und nahm die Kanarischen Inseln in Besitz. Von neuem wurde jedoch Kastilien zerrüttet unter der langen, aber schwachen Regierung Johanns II. (1406-54); das Unternehmen seines Günstlings de Luna, ein absolutes Königtum zu errichten, endete mit dessen Sturz (1453). Der steigenden Verwirrung unter Heinrich IV. (1454-74) wurde endlich durch die Thronbesteigung seiner Schwester Isabella ein Ende gemacht. Dieselbe besiegte den König Alfons von Portugal, der als Gemahl der unechten Tochter Heinrichs IV., Johanna Beltraneja, auf Kastilien Anspruch machte, 1476 bei Toro und zwang ihn zum Frieden von Alcantara; darauf unterjochte sie die ihr feindliche Partei der Großen mit Waffengewalt. Und als König Ferdinand von Sizilien, mit dem sie sich 1469 vermählt hatte, durch den Tod seines Vaters Johann II. von Aragonien 1479 König dieses Reichs geworden war, wurde durch Vereinigung der kastilischen und der aragonischen Krone das Königreich S. Spanien als Weltmacht. Die Thronbesteigung des Königspaars Ferdinand und Isabella bewirkte aber nicht nur die Vereinigung der zwei Hauptreiche der Halbinsel, sondern auch ihre staatliche Reorganisation und die Begründung einer machtvollen Königsgewalt in derselben. Vor allem in Kastilien war der unbotmäßige Adel ein Haupthindernis für Aufrechterhaltung von Spanien (Geschichte bis 1570). Recht und Frieden. Um diese zu sichern, wurde die "heilige Hermandad", alte Verbrüderungen einzelner Städte zu gegenseitigem Schutz gegen Gewaltthaten, wieder belebt und zu einem Verein (Junta) der Städte und Landschaften zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit umgeschaffen, welcher 2000 berittene Gendarmen und zahlreiches Fußvolk zur Verfügung hatte, um die 1485 erlassene Gerichtsordnung durchzuführen. Die Großen wurden gezwungen, die geraubten Güter herauszugeben und den Fehden zu entsagen. Der Adel mußte sich den königlichen Gerichtshöfen beugen und auf alle königlichen Vorrechte, auch auf die hohen Staatsämter, welche jetzt nur nach Verdienst verliehen wurden, verzichten. Indem Ferdinand sich zum Großmeister der drei Ritterorden erwählen ließ, machte er sie zu Werkzeugen der Krone; die hohe Geistlichkeit wurde der königlichen Jurisdiktion unterworfen. Die Verwaltung wurde vorzüglich organisiert, die königlichen Einkünfte vermehrt, Künste und Wissenschaften gepflegt. Die Inquisition, welche in dem fanatischen Glaubenseifer des Volkes eine Hauptstütze fand, wütete nicht nur gegen Juden, Morisken und ketzerische Christen, sondern war auch ein Schreckmittel in der Hand der Krone, um Adel und Volk in Furcht und Unterwürfigkeit zu halten und jede freiheitliche Bewegung zu unterdrücken. Die zahlreichen Juden (160,000) wurden 1492 aus dem Reich vertrieben und die alleinige Herrschaft des Kreuzes auf der Iberischen Halbinsel durch die Eroberung von Granada (2. Jan. 1492) vollendet. Die gleichzeitige Entdeckung Amerikas eröffnete der spanischen Nation ein unermeßliches Feld ruhmvoller zivilisatorischer Thätigkeit und die Aussicht auf einen glänzenden Aufschwung des Handels und Gewerbes. Die militärische Tüchtigkeit der spanischen Heere bewährte sich zuerst in den Kämpfen um Italien, wo 1504 Neapel unter spanische Herrschaft gebracht wurde. Erbin Ferdinands und Isabellas wurde die älteste Tochter, Johanna, welche mit ihrem Gemahl Philipp I., dem Sohn des deutschen Kaisers Maximilian I., nach Isabellas Tod (1504) zunächst in Kastilien zur Regierung kam; mit Philipp bestieg das Haus Habsburg den spanischen Thron. Als Philipp 1506 jung starb und Johanna wahnsinnig wurde, ward zum Vormund ihres Sohns Karl von den kastilischen Ständen Ferdinand erklärt, welcher 1509 Oran eroberte und 1512 Navarra mit seinem Reich vereinigte. Nach Ferdinands Tod (1516) übernahm Kardinal Jimenez die Regentschaft bis zur Ankunft des jungen Königs Karl I., welcher 1517 selbst die Regierung antrat und den verdienten Staatsmann sofort entließ. Da Karl 1519 auch zum deutschen Kaiser (Karl V.) gewählt wurde und deshalb schon 1520 Spanien wieder verließ, brach der Aufstand der Comuneros aus, welcher sich die Verteidigung der volkstümlichen Institutionen Spaniens gegen die absolutistischen Gelüste Karls und seiner niederländischen Räte zum Ziel setzte. Als die Comuneros aber einen durchaus demokratischen Charakter annahmen und, seitdem sie siegreich um sich griffen, eine völlige Umwälzung der Dinge anstrebten, wurden sie durch den Sieg des Adelsheers bei Villalar (21. April 1521) und durch die Hinrichtung ihres Führers Padilla unterdrückt. Karl V. erließ zwar nach seiner Rückkehr (Juli 1522) eine allgemeine Amnestie, benutzte aber den durch die Bewegung erregten Schrecken des Adels und der Städte, um, ohne die Formen und Institute der alten Volksfreiheit geradezu zu beseitigen, doch sie so eng zu begrenzen, daß die Cortes zu einem Widerstand gegen den Willen der Krone unfähig wurden, der Adel in einer übertriebenen Loyalität seine erste Pflicht sah und auch das Volk dem Königtum und seinen Weltherrschaftsplänen bereitwillig folgte. Ohne Zögern bewilligten fortan die Cortes die Gelder für die Kriege Karls V. gegen Frankreich, für die Unternehmungen gegen die seeräuberischen Mauren in Afrika, für die Unterdrückung des Schmalkaldischen Bundes in Deutschland. Für die Begründung einer habsburgischen Weltmacht und die Ausbreitung des römisch-katholischen Glaubens kämpften die spanischen Heere am Po, an der Elbe, in Mexiko und Peru. Dem Stolz der Spanier schmeichelte es, die gebietende Macht in Europa zu sein, ihrem Glaubenseifer, für die Ausrottung der Ketzerei, wie früher des Islam, zu streiten. Erfüllt von dem Ideal eines Siegs des wahren Glaubens durch Spaniens Macht, ließ das Volk die Wurzeln seiner Kraft verdorren. Mit Beifall sah es zu, wie die unglücklichen Morisken bedrückt und außer Landes getrieben, Tausende von Landsleuten von der Inquisition auf den Scheiterhaufen geschleppt, jede freie geistige Regung unterdrückt, jeder Widerstand gegen die unbeschränkte Königsgewalt niedergeschlagen ward, wie Gewerbe, Handel und Ackerbau durch ein willkürliches Steuersystem zu Grunde gerichtet wurden, um die Kriegskosten aufzubringen. Nicht bloß der Adel, auch Bürger und Bauern drängten sich zum Kriegsdienst; wer nicht in den Krieg zog, suchte in einem Staatsamt, wie gering es auch war, ein bequemes Brot; der bürgerliche und bäuerliche Erwerb wurde verachtet. Die Kirche bestärkte das Volk in dieser Sinnesrichtung und beutete sie zu ihrer Bereicherung aus; immer mehr Grund und Boden fiel an die Tote Hand und ward Weideland oder blieb öde und unbebaut, wogegen die Kirchen und Klöster den Bettelstolz durch ihre Almosen nährten. Der Handel ging an die Fremden über, welche S. und seine Kolonien für sich ausbeuteten. Als Karl V. 1556 die Regierung niederlegte, wurden die österreichischen Besitzungen des Hauses Habsburg und die Kaiserkrone von S. wieder getrennt, das in Europa nur die Niederlande, die Franche-Comté, Mailand, Neapel, Sizilien und Sardinien behielt. Indes das Ziel der spanischen Politik blieb dasselbe und wurde mit noch mehr Fanatismus und mit noch rücksichtsloserer Vergeudung der Volkskraft verfolgt. S. wurde der Mittelpunkt einer mit großartigen Machtmitteln ins Werk gesetzten katholischen Reaktionspolitik, welche den Sieg des römischen Papismus zugleich über Türken und Ketzer erstreiten wollte. Zu diesem Zweck unterdrückte Philipp II. (1556-98) den Rest der politischen Freiheiten und unterwarf alle Stände einem unumschränkten Despotismus. Durch das furchtbare Werkzeug der Inquisition wurde jeder Unabhängigkeitssinn erstickt. Die drückenden Maßregeln gegen die Morisken reizten diese 1568 zu einem gefährlichen Aufstand, der erst 1570 nach den blutigsten Kämpfen erstickt wurde. 400,000 Morisken wurden aus Granada nach andern Teilen des Reichs verpflanzt, wo sie zu Grunde gingen. Die unaufhörlichen Kriege zehrten nicht nur die reichen Einkünfte der Kolonien auf, sondern zwangen den König, auf immer neue Mittel zu sinnen, seine Einnahmen zu vermehren; jedes Eigentum (außer dem der Kirche) und jedes Gewerbe wurde mit den drückendsten Steuern belegt, Schulden aller Art aufgenommen, aber nicht bezahlt, die Münze verschlechtert, Ehren und Ämter verkäuflich gemacht, schließlich sogen. Donativen, Zwangsanleihen, den Spanien (Geschichte bis 1746). Einwohnern abgefordert. Dabei hatte die spanische Reaktionspolitik nicht einmal Erfolge aufzuweisen. Wohl bedeckten sich die spanischen Regimenter auf allen Schlachtfeldern mit Ruhm durch ihre Kriegskunst und Tapferkeit, aber sie verfielen auch in eine schreckliche moralische Verwilderung. Zwar siegte Juan d'Austria 1571 bei Lepanto über die türkische Seemacht; aber der Sieg wurde nicht benutzt, sogar Tunis ging wieder verloren. Albas Schreckensregiment in den Niederlanden rief deren Verzweiflungskampf hervor, welcher ungeheure Summen verschlang und Spaniens See- und Kolonialmacht einen tödlichen Schlag versetzte. Der Versuch, England der katholischen Kirche wieder zu unterwerfen, scheiterte 1588 mit dem Untergang der großen Armada. Die Einmischung in die Religionswirren Frankreichs hatte nur die Einigung und Kräftigung dieses Staats zur Folge. Die widerrechtliche Besetzung Portugals 1580 schädigte dies Land außerordentlich, brachte aber S. keinen Nutzen. Als Philipp II. 1598 starb, war die Bevölkerung auf 81/4 Mill. zurückgegangen, die eine Steuerlast von 280 Mill. Realen aufzubringen hatten. Dagegen hatte das Land 750 Bistümer, gegen 12,000 Klöster und 400,000 Geistliche, ferner 450,000 Beamte; außer diesen und dem verarmten Adel gab es fast nur noch Bettler, welche sich von den Almosen der Kirche nährten. Gleichwohl täuschte die glänzende Machtstellung, welche S. in Europa an der Spitze der katholischen Gegenreformation einnahm, die Regierung wie das Volk gänzlich über die wirkliche Lage. Von dem unerschütterten Selbstgefühl und der Begeisterung der Nation für ein ideales Ziel, die Macht und Einheit der Kirche, zeugt der außerordentliche Aufschwung, welchen am Anfang des 17. Jahrh. Dichtkunst, Malerei und Baukunst in S. nahmen. Verfall des Reichs unter den letzten Habsburgern. Unter der Regierung des schwachen Königs Philipp III. (1598-1621), welcher sich ganz von seinem Günstling Lerma beherrschen ließ, wurden zwar die auswärtigen Kriege ohne Thatkraft geführt, 1609 sogar mit den Niederlanden ein Waffenstillstand geschlossen; aber durch das Gnadenedikt vom 22. Sept. 1609 wurden 800,000 Morisken vertrieben, und das fruchtbare Valencia verödete völlig. Philipp IV. (1621-65), welcher einen prächtigen Hof hielt und die Kunst pflegte und unterstützte, nahm die kriegerische Politik Philipps II. wieder auf. Im Bund mit Österreich wollte er die Alleinherrschaft des Papsttums wiederherstellen und ein habsburgisches Weltreich errichten. Der Krieg mit den freien Niederlanden begann von neuem. Im Dreißigjährigen Krieg kämpften wieder spanische Truppen in Deutschland und Italien, und der spanische Gesandte in Wien hatte in deutschen Angelegenheiten die entscheidende Stimme. Aber auf einmal brach das glänzende Gebäude schmählich zusammen, und es ergab sich, daß die Weltmacht Spaniens nur trügerischer Schein gewesen. Die offene Verletzung der provinzialen Sonderrechte durch den allmächtigen Minister Olivarez rief 1640 einen Aufstand in Katalonien hervor, dem der Abfall Portugals und Empörungen in andern Provinzen folgten. Portugal konnte gar nicht, Katalonien erst nach 13jährigem Kampf bezwungen werden. Das hierdurch tief getroffene S. war nun dem mächtig emporstrebenden Frankreich nicht mehr gewachsen. Nach 80jährigem Kampf mußte es 1648 im Frieden zu Münster die Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande und in Deutschland die Gleichberechtigung der Ketzer anerkennen. Im Pyrenäischen Frieden 1659 verlor es Roussillon und Perpignan sowie einen Teil der Niederlande an Frankreich, Dünkirchen und Jamaica an England. Als nach dem Tod Philipps IV. der schwächliche Karl II. (1665-1700) den Thron bestieg, erhob der französische König Ludwig XIV. als Gemahl von Philipps Tochter Maria Theresia Erbansprüche auf die spanischen Niederlande und wurde im sogen. Devolutionskrieg nur durch das Eingreifen der Tripelallianz daran verhindert, sich derselben ganz zu bemächtigen; im Frieden von Aachen 1668 erhielt er zwölf niederländische Festungen, im Frieden von Nimwegen wiederum eine Anzahl fester Plätze und die Franche-Comté; mitten im Frieden bemächtigte er sich 1684 Luxemburgs. S., welches einst ganz Europa mit seinen Heeren beherrscht hatte, über die Schätze beider Indien gebot, konnte jetzt seine Grenzen nicht mehr verteidigen und war auf den Beistand der früher so erbittert bekämpften Ketzer angewiesen. Die Seemacht war völlig zu Grunde gegangen, so daß S. seinen eignen Handel nicht zu beschützen vermochte, die Häfen verödeten, die Bevölkerung sich von den schutzlosen Küsten ins Innere zurückzog, Westindien ungestraft von den Flibustiern geplündert und gebrandschatzt wurde. Am Ende der Regierung Karls II. war die Bevölkerung auf 5,700,000 Seelen herabgesunken, von zahllosen Ortschaften war die Bevölkerung verschwunden, ganze Landstriche glichen Wüsten. Die Staatseinkünfte verminderten sich trotz des härtesten Steuerdrucks und fast räuberischer Finanzmaßregeln so, daß der König seine Dienerschaft nicht mehr bezahlen konnte, oft nicht einmal seine Tafel. Weder Beamte noch Soldaten wurden besoldet. Aus Geldmangel kehrte man in vielen Provinzen zum Tauschhandel zurück. Dies war die Lage Spaniens, als die spanischen Habsburger nach 200jähriger Herrschaft 3. Nov. 1700 mit Karl II. erloschen, dies das Resultat ihrer selbstmörderischen katholisch-absolutistischen Politik. Spanien unter den Bourbonen bis zur französischen Durch den Streit, der zwischen Österreich und Frankreich über die Thronfolge in S. entstand, ward S. in einen verderblichen Krieg verwickelt (s. Spanischer Erbfolgekrieg). Es verlor in demselben zwar seine europäischen Nebenlande und Gibraltar, jedoch der Sieg des bourbonischen Prätendenten über den habsburgischen in S. selbst war für das Land ein Gewinn, weil er die Möglichkeit einer Regeneration versprach. Der neue König, Philipp V. (1700-1746), obwohl selbst von keiner großen Bedeutung, brachte doch aus seiner Heimat ein ganz andres Regierungssystem und neue Kräfte in das zerrüttete Staatswesen. Die Fremden, Franzosen und Italiener, welche Philipp an die Spitze der Behörden und des Heers stellte, und unter denen Alberoni hervorragte, führten nun, wenn auch in etwas gewaltsamer Weise und in nur beschränktem Umfang, die Grundsätze der französischen Staatsverwaltung durch: alle die einheitliche Staatsgewalt hemmenden Mißbräuche wurden beseitigt, Handel und Gewerbe, Wissenschaft und Kunst gefördert, die Privilegien der Provinzen aufgehoben, eine einheitliche Besteuerung und Steuererhebung eingerichtet. Die wohlthätigen Folgen einer zwar unumschränkten, aber thätigen und verständigen Königsmacht zeigten sich auch überraschend schnell. Aber als sie auch die Herrschaft der Kirche anfocht und deren Mißbräuche abschaffen wollte, stieß die Regierung beim Volk auf allgemeinen energischen Widerstand, dem Philipp V. unter dem Einfluß seiner zweiten Gemahlin, Elisabeth Farnese, nachgab; die Hierarchie feierte einen glänzenden Triumph, und die Kurie und die Inquisition Spanien (Geschichte bis 1808). herrschten nach wie vor in S. Ebenso verderblich wurde für das wieder erstarkende Land der Rückfall in die alte Eroberungspolitik, welche sich besonders auf Erwerbung spanischer Besitzungen für spanische Infanten richtete. In der That wurden im polnischen und österreichischen Erbfolgekrieg (1738 und 1748) Neapel und Parma als bourbonische Sekundogenituren gewonnen. Aber sie waren mit der Zerrüttung der Finanzen und dem Stocken aller Reformen teuer erkauft. Gleichwohl war die einmal gegebene Anregung nicht fruchtlos: das Volk war wenigstens aus seiner Apathie aufgerüttelt und wendete sich wieder der Arbeit und wirtschaftlichen Unternehmungen zu. Die Regierung des schwächlichen, hypochondrischen Ferdinand VI. (1746-59) war segensreich, weil sie sparsam und friedliebend war. In materieller Beziehung nahm das Land einen bedeutenden Aufschwung. Die Staatseinnahmen stiegen von 211 auf 352 Mill., trotz der erheblichen Steuererleichterungen, und obwohl die Verwaltung verbessert und reichlicher ausgestattet, eine stattliche Flotte geschaffen und die Zinsen der Staatsschuld bezahlt wurden, hatte man fast 100 Mill. jährlichen Überschuß. Wenn auch die Geistlichkeit noch 180,000 Personen zählte und ein Einkommen von 359 Mill. besaß, so ward ihre Macht durch das Konkordat von 1753 doch nicht unerheblich beschränkt, namentlich aber der finanziellen Ausbeutung des Landes durch die Kurie ein Ende gemacht. Einen bedeutenden Fortschritt aber in der Entwickelung zum modernen Staat bezeichnete die Regierung Karls III. (1759-88), des Stiefbruders Ferdinands VI., der, obwohl strenggläubig, doch vom damals herrschenden Staatsbewußtsein erfüllt und S. den andern Staaten ebenbürtig zu machen bestrebt war. Ihm standen bei seinen Reformen drei bedeutende Staatsmänner, Aranda, Floridablanca und Campomanes, zur Seite. Die unglückliche Beteiligung Spaniens am Krieg Frankreichs gegen England 1761-62 infolge des nachteiligen bourbonischen Familienvertrags störte anfangs die Reformthätigkeit. Diese erhielt indessen eine wesentliche Förderung 1767 durch die Ausweisung der Jesuiten. Nun konnten eine Menge Mißbräuche und Übergriffe der Geistlichkeit beseitigt oder beschränkt und ein erfreuliches Zusammenwirken des Staats und der Kirche hergestellt werden, welches auf Bildung und Gesittung des Volkes einen höchst heilsamen Einfluß ausübte. Viele Reformen blieben freilich auf dem Papier stehen, da es bei der beispiellosen Versunkenheit Spaniens in Ackerbau, Gewerbe und Unterricht an allen Voraussetzungen ihrer Durchführbarkeit fehlte. Die 30jährige angestrengteste Thätigkeit der Regierung, die Verwendung ungeheurer Summen auf Ansiedelungen, Bergwerke, Fabriken, Straßen etc., die Freigebung des Handels mit Amerika brachten daher nur zum Teil Früchte. Die Bevölkerung war 1788 erst auf 10,270,000 Seelen gestiegen, die Einnahmen auf 400 Mill. Realen. Der zweite unglückliche Krieg gegen England (1780-83), in den S. durch den Familienvertrag verwickelt wurde, verschlang solche Summen, daß ein verzinsliches Papiergeld ausgegeben werden mußte. Die unleugbaren Fortschritte in Volksbildung und Volkswohlfahrt hätten aber doch bei dem frischen Geist, bei der zugleich patriotischen und freiheitlichen Bewegung, von denen die Nation durchweht war, wohl günstige und dauernde Ergebnisse zur Folge gehabt, wenn S. eine längere Reformperiode vergönnt gewesen wäre. Die vielversprechenden Anfänge gingen aber unter Karls III. Nachfolger Karl IV. (1788-1808) völlig zu Grunde, und S. wurde durch eine heillose, verbrecherische Politik dem Untergang nahegebracht. Spanien während der Revolutionszeit. Karl IV., ein gutmütiger, aber unfähiger Fürst, wurde ganz beherrscht von seiner klugen und entschlossenen, jedoch sittenlosen Gemahlin Marie Luise von Parma, welche durch Günstlingswirtschaft und Verschwendung die Staatsverwaltung und die Finanzen in Verwirrung brachte und ihrem Geliebten Godoy, dem Friedensfürsten, den herrschenden Einfluß, endlich nach Beseitigung Floridablancas und Arandas im November 1792 auch die oberste Leitung der Staatsgeschäfte verschaffte. Nachdem S. dem Sturz der Bourbonen in Frankreich unthätig zugesehen, ward es 1793 doch durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. und die Insulten des Konvents veranlaßt, Frankreich den Krieg zu erklären, welcher mit einer so beispiellosen Unfähigkeit geführt wurde, daß er trotz der Schwäche der Franzosen und trotz der Opferwilligkeit der Nation mit einer feindlichen Invasion in Navarra, die baskischen Provinzen und Aragonien endete. Die Gunst der Umstände verschaffte S. noch den vorteilhaften Frieden von Basel (22. Juli 1795), der ihm nur die Abtretung von San Domingo auferlegte. Aber es geriet durch denselben in völlige Abhängigkeit von Frankreich, welche der leichtfertige Godoy durch den Vertrag von San Ildefonso (27. Juni 1796) besiegelte. Derselbe zwang S., das kaum die Kosten des letzten Kriegs hatte aufbringen können, zum Krieg mit England, und gleich die erste Schlacht beim Kap St. Vincent (14. Febr. 1797) zeigte die Unbrauchbarkeit der spanischen Flotte. Dazu unternahm Godoy 1801 in französischem Interesse noch einen ruhmlosen Krieg gegen Portugal. Im Frieden von Amiens (23. März 1802) mußte S. zwar an England bloß Trinidad abtreten; aber seine Herrschaft in den amerikanischen Kolonien war erschüttert, seine Finanzen zerrüttet; das Defizit belief sich trotz Papiergelds und andrer verderblicher Maßregeln 1797 auf 800 Mill., 1799 sogar auf 1200 Mill. Das Kriegsministerium verbrauchte für ein Heer von 50,000 Mann 935 Mill., da die Zahl der Oberoffiziere übermäßig war; 1802 wurden auf einmal 83 Generale ernannt. Der Hof nahm allein 105 Mill. in Anspruch, während das Volk infolge von Pest und Mißernten darbte. Die Korruption am Hofe verbreitete sich bald über das ganze Land; die edelsten Patrioten wurden mit brutaler Gewaltthätigkeit verfolgt, dagegen war man gegen rohe Pöbelexzesse schwach und nachgiebig. Trotz dieser Zustände stürzte Godoy durch einen neuen ungünstigen Vertrag mit Frankreich (9. Okt. 1803) das finanziell erschöpfte S. in einen Krieg mit England, in welchem bei Finisterre (22. Juli) und bei Trafalgar (20. Okt. 1805) Spaniens letzte Flotte zu Grunde ging. Das Volk ließ dies alles geduldig über sich ergehen und wankte nicht in seiner unbedingten Loyalität; die Entrüstung richtete sich nur gegen den schamlosen Günstling Godoy, der in seiner Verblendung sich sogar mit der Hoffnung schmeichelte, Regent von S. zu werden oder sich die Königskrone von Südportugal aufs Haupt zu setzen. Als er, um dies letztere zu erreichen, sich mit Frankreich im Vertrag von Fontainebleau (27. Okt. 1807) zu einem Kriege gegen Portugal verband und Napoleon französische Truppen über die Pyrenäen in S. einrücken ließ, kam es 18. März 1808 in Aranjuez zu einer Erhebung des Volkes gegen Godoy. Derselbe wurde gestürzt, und unter dem Eindruck der Wut des erbitterten Volkes ließ sich der König bewegen, 19. März zu gunsten seines Sohns, des Infanten Ferdinand, abzu- Spanien (Geschichte bis 1812). danken; derselbe hielt 24. März als Ferdinand VII. seinen Einzug in Madrid. Karl IV. nahm aber kurz darauf in einem Schreiben an Napoleon seine Thronentsagung als erzwungen zurück, und der französische Kaiser entbot nun die spanische Königsfamilie nach Bayonne, wo Ferdinand nach längerm Sträuben 5. Mai auf die Krone zu gunsten seines Vaters verzichtete, dieser aber sofort seine Rechte an Napoleon abtrat. Nun wurde dessen Bruder Joseph, König von Neapel, 6. Juli im Beisein einer Junta von spanischen und amerikanischen Abgeordneten in Bayonne zum König von S. ernannt und hielt, nachdem er und die Junta 7. Juli die neu entworfene Verfassung beschworen hatten, 20. Juli seinen Einzug in Madrid. Karl IV. ließ sich in Compiègne, Ferdinand VII. in Valençay nieder. Wenn Napoleon auch die königliche Familie leicht beseitigt hatte, so sah er sich doch bald in seiner Erwartung, auch S. rasch nach französischem Vorbild umgestalten und seinen Interessen dienstbar machen zu können, getäuscht. Das spanische Volk war nicht im stande, die wohlthätigen Wirkungen der französischen Staatsumwälzung zu würdigen; es füllte dagegen tief die ihm zugefügte Schmach der Fremdherrschaft. Edle und unedle Gefühle, Nationalstolz und wilder Fremdenhaß, patriotische Begeisterung und religiöser Fanatismus, stachelten es zum Widerstand auf; die beispiellose Erregtheit der Nation ließ die Schwäche der eignen Mittel und die ungeheure Übermacht des Gegners ganz vergessen, so daß niemand am Sieg zweifelte. Der geringe Kulturstand des Landes, der Mangel an Ordnung und Sicherheit im Staatswesen, welcher bisher geherrscht hatte, machten die völlige Auflösung aller Verhältnisse weniger fühlbar und ermöglichten so die mehrjährige Dauer eines verzweifelten Widerstandes, den ein höher kultiviertes Land nur wenige Monate hätte aushalten können. Bereits 2. Mai 1808, bei der Kunde von Ferdinands Entführung nach Bayonne, war in Madrid ein Volksaufstand ausgebrochen, den die Franzosen erst nach vielem Blutvergießen zu unterdrücken vermochten. Nun erhoben sich auch die Provinzen, zuerst Asturien; Provinzialjunten bildeten sich, die Guerillas bewaffneten sich in den Gebirgen, und alle Anhänger der Franzosen (Josefinos oder Afrancesados) wurden für Feinde des Vaterlandes erklärt. Zwar hatten die Franzosen beim ersten Zusammentreffen mit einer spanischen Feldarmee 14. Juli bei Rioseco glänzend gesiegt; aber Monceys Angriff auf Valencia wurde zurückgeschlagen, und eine Expedition des Generals Dupont endete mit seiner Umzingelung und der Kapitulation von Baylen (20. Juli 1808). Die tapfere Verteidigung Saragossas, die Räumung Madrids durch Joseph und der allgemeine Rückzug der Franzosen vermehrten die Begeisterung. Zugleich war Wellington mit einem englischen Korps in Portugal gelandet und hatte die Franzosen zum Abzug gezwungen. Zwar behaupteten diese, namentlich so oft Napoleon selbst sich an ihre Spitze stellte, in S. in offenem Felde die Oberhand; sie siegten bei Burgos (10. Nov.), Espinosa (10. u. 11. Nov.) und Tudela (23. Nov.) und zogen 4. Dez. wieder in Madrid ein, wo 22. Jan. 1809 Joseph von neuem seine Residenz aufschlug. Die Expedition des englischen Generals Moore in Galicien scheiterte. Allein nun nahm der Krieg immer mehr den Charakter des furchtbarsten Volkskampfes an und wurde durch die im Sept. 1808 in Aranjuez errichtete Zentraljunta einheitlich geleitet. Diese beging zwar manche Fehler, griff oft in höchst verkehrter Weise in die Kriegsoperationen ein und setzte tüchtige Generale ab, gab aber durch den Aufruf zum Guerillakrieg (28. Dez. 1808) dem Kampf den für die Franzosen so verderblichen Charakter des kleinen Kriegs. In diesem kamen die Vorzüge der Spanier, verwegener Mut, unbändige Leidenschaftlichkeit und große Ausdauer in Strapazen und Entbehrungen, recht zur Geltung; die fortwährenden kühnen Unternehmungen der Guerillas rieben die Kräfte der Franzosen auf und entrissen ihnen die Früchte ihrer Siege im offenen Felde. Die Franzosen siegten 27. März 1809 bei Ciudad Real, 28. März bei Medellin, und die Zentraljunta mußte nach Sevilla flüchten. Zwar wurde Soult im Mai 1809 von Wellington aus Portugal vertrieben und mußte Galicien und Asturien räumen, worauf Wellington in S. eindrang und die Franzosen 27. und 28. Juli bei Talavera schlug; doch mußte er sich vor einem neuen französischen Heer nach Portugal zurückziehen, und der spanische General Vanegas wurde 11. Aug. bei Almonacid, der englische General Wilson in den Engpässen bei Baros geschlagen. Im Januar 1810 waren die Franzosen Herren von Andalusien, und nach der Einnahme von Ciudad Rodrigo und Almeida drang Masséna im August mit 80,000 Mann in Portugal ein, um die Engländer wieder ins Meer zu werfen. Die Sache der Spanier schien hoffnungslos verloren. Namentlich die höhern, wohlhabendern Volksklassen schlossen sich immer zahlreicher dem bonapartistischen König an. Die Zentraljunta, deren Unfähigkeit das Mißgeschick der spanischen Heere hauptsächlich verschuldet hatte, wurde 2. Febr. 1810 in Cadiz, wohin sie von Sevilla geflüchtet war, zur Abdankung und Einsetzung einer Regentschaft gezwungen, in welcher der Radikalismus die Oberhand bekam. Schon 28. Okt. 1809 hatte die Zentraljunta die Cortes zusammenberufen. Diese, unter den größten Schwierigkeiten und nur zum Teil gewählt, zum Teil kooptiert, traten 24. Sept. 1810 in Cadiz zusammen und nahmen unter den Kanonen der französischen Batterien, welche die Isla de Leon umringten, bedroht von der in der überfüllten Stadt wütenden Pest, das große Werk der Reform des verrotteten Staatswesens in die Hand. Unerfahren, teilweise von den radikalen Ideen der französischen Revolution beherrscht, zum Teil in den altspanischen Vorurteilen befangen, schwankten die Cortes unter leidenschaftlichen, erbitterten Debatten zwischen den entgegengesetztesten Beschlüssen: man proklamierte die Volkssouveränität und das allgemeine Stimmrecht und hob die Grundherrlichkeit auf, wagte aber nicht, die Inquisition oder die Rechte des Adels und der Kirche anzutasten. Im ganzen aber war die Verfassung vom 18. März 1812 eine sehr liberale. Trotz des hitzigen Parteikampfes bewährten die Cortes in der Hauptsache, im Kampf gegen den verhaßten Feind, eine große Einmütigkeit und aufopfernde Thätigkeit. Die Illusionen der verblendeten Nationaleitelkeit wurden zerstört, die Schäden der Verwaltung aufgedeckt, das korrumpierte Beamtentum in heilsamen Schrecken versetzt. Die Truppen wurden verstärkt, geschult und gut verpflegt und ihre nützliche Verwendung dadurch gesichert, daß die Cortes Wellington, der 1811 in den Linien von Torres Vedras bei Lissabon sich so lange behauptet hatte, bis Masséna abziehen mußte, zum Oberbefehlshaber sämtlicher Streitkräfte in S. ernannten. Im Jan. 1812 eroberte Wellington Ciudad Rodrigo und 7. April Badajoz, schlug 22. Juli die Franzosen unter Marmont bei Salamanca und zog 12. Aug. in Madrid ein. Zwar mußte er sich vor der Übermacht der bedeutend verstärkten Franzosen aufs Spanien (Geschichte bis 1823). neue nach der portugiesischen Grenze zurückziehen, und Madrid wurde zum letztenmal von den Franzosen besetzt; aber die Katastrophe in Rußland veränderte auch die Lage der Dinge in S. Soult wurde zu Anfang 1813 abberufen, Suchet räumte Valencia im Juli; schon 27. Mai hatte König Joseph Madrid für immer verlassen und sich mit der französischen Armee auf Vittoria zurückgezogen. Hier wurde dieselbe von Wellington 21. Juni 1813 gänzlich geschlagen. Die Franzosen zogen sich über die Pyrenäen zurück, und Wellington rückte 9. Juli in Frankreich ein. Spaniens Unabhängigkeit war hiermit hergestellt. Die Reaktion unter König Ferdinand VII. Die ordentlichen Cortes, welche im Oktober 1813 in Cadiz zusammengetreten waren, aber im Januar 1814 ihren Sitz nach Madrid verlegten, erließen, obwohl die Servilen (Konservativen) die Mehrheit hatten, 3. Febr. 1814 eine Einladung an Ferdinand VII., sich nach Madrid zu begeben und die Verfassung von 1812 zu beschwören; den Vertrag des Königs mit Napoleon I. (13. Dez. 1813 in Valençay abgeschlossen), der seine Herrschaft in S. herstellte, aber den französischen Einfluß sicherte, erkannten sie nicht an. Ferdinand betrat 24. März 1814 in Gerona den spanischen Boden und nahm 4. Mai von Valencia aus vom Thron Besitz, weigerte sich aber, die Verfassung anzuerkennen, nachdem General Elio mit 40,000 Mann sich ihm angeschlossen, und ließ 11. Mai die Cortes durch Truppen auseinander jagen. Dennoch begrüßte ihn das Volk mit Jubel, als er 14. Mai in Madrid einzog; denn er war als Gegner des verhaßten Godoy noch immer populär. Zwar versprach er in einem Manifest vom 24. Mai Amnestie und die Verleihung einer Verfassung; doch wurden diese Versprechungen nicht gehalten. Alle Offiziere bis zum Kapitän und alle Beamten bis zum Kriegskommissar herab, welche Joseph gedient hatten, wurden mit Weib und Kind auf Lebenszeit verbannt. Die Liberalen, wenn sie auch durch aufopfernde Vaterlandsliebe im Befreiungskampf sich ausgezeichnet hatten, wurden geächtet oder in den Kerker geworfen, zwei Generale, Porlier und Lacy, die für die Verfassung ihre Stimmen erhoben, hingerichtet. Jesuiten, Klöster und geheime Polizei wurden wiederhergestellt. Dabei fehlte es der Regierung doch an Stärke und Beständigkeit. Von 1814 bis 1819 lösten 24 Ministerien einander ab. Der König, unwissend, charakterlos, von launischer, feiger Despotenart, ließ sich ganz von einer gewissenlosen Kamarilla beherrschen, welche jeden durch die Zerrüttung des Staatswesens gebotenen und von den Großmächten dringend angeratenen Reformversuch vereitelte. S. war daher nicht im stande, die abgefallenen Kolonien in Amerika wieder zu unterwerfen, und verlor seinen ganzen Besitz auf dem Festland von Süd- und Mittelamerika; Florida in Nordamerika trat es 1819 für 5 Mill. Dollar freiwillig an die Union ab. Die Gewaltthätigkeit und der Hochmut der unfähigen Regierung erstickten die frühere Anhänglichkeit an das Königtum, und erbitterte Feindschaft gegen dasselbe oder gleichgültiger Pessimismus traten an ihre Stelle. Besonders in dem durchaus vernachlässigten Heer wuchs die Unzufriedenheit und kam unter den für die Überfahrt nach Amerika bestimmten Truppen zum Ausbruch: 4 Bataillone unter dem Oberstleutnant Riego proklamierten 1. Jan. 1820 zu San Juan die Verfassung von 1812 und setzten aus der Isla de Leon eine Regierungsjunta ein, die einen Aufruf an das spanische Volk erließ. Mehrere Provinzen schlossen sich der Empörung an, angesehene Generale, wie O'Donnell und Freire, vereinigten sich mit Riego, als derselbe auf Madrid marschierte. Als auch in Madrid das Volk sich erhob, beschwor der König 9. März die Verfassung von 1812, hob die Inquisition aus und berief die Cortes zum 9. Juli 1820. Die Liberalen hatten in denselben die Mehrheit, und einer ihrer Führer, Arguelles, ward Präsident des Ministeriums. Doch traten sie gemäßigt auf, suchten die zügellose Freiheit der Zeitungen und Klubs durch ein Preß- und Vereinsgesetz zu beschränken und begnügten sich, die Majorate, Fideikommisse und Klöster (bis auf 14) aufzuheben und die Besteuerung der Geistlichkeit (148,290 Personen, ohne die Nonnen, darunter bloß 16,481 eigentliche Pfarrer) durchzuführen. Der erbittertste Feind der neuen Regierung war der König selbst, der im geheimen Einverständnis mit mehreren reaktionären Schilderhebungen in der Provinz, so der "apostolischen Junta", war und alle positiven Maßregeln der Minister und der Liberalen in den Cortes nach Möglichkeit vereitelte, wodurch der Einfluß der Exaltados (Radikalen) wuchs; die extremste Partei derselben, die Descamizados, forderte durch ihre Zügellosigkeit eine Reaktion heraus. Die Anarchie wurde noch durch die Finanznot vermehrt, der auch die Einführung einer direkten Steuer und der Verkauf der Nationalgüter nicht abzuhelfen vermochten; die Schuldenlast stieg auf 14 Milliarden. Als die Exaltados bei den Wahlen für die neuen Cortes, die 1. März 1822 eröffnet wurden, die Mehrheit erlangten, wählten sie Riego zum Präsidenten und überschwemmten das Land mit einer Masse von Reformgesetzen, die bei der Stimmung der Masse nie verwirklicht werden konnten. Nachdem ein vom Hof angestifteter Versuch der Garden, 7. Juli 1822 vom Prado aus Madrid zu überrumpeln, vom Volk vereitelt worden war, wandte sich der König im geheimen an die Heilige Allianz um Hilfe gegen die Revolution. Auf dem Kongreß zu Verona (Herbst 1822) wurde eine bewaffnete Intervention in S. beschlossen, welche Frankreich auszuführen übernahm. Die Gesandten von Frankreich, Österreich, Rußland und Preußen forderten von der spanischen Regierung und den Cortes die Herstellung der königlichen Souveränität und verließen, als dies 9. Jan. 1823 abgelehnt wurde, den spanischen Hof. Im April rückte die französische Interventionsarmee, 95,000 Mann unter dem Herzog von Angoulême, über die Grenze. Die schlecht organisierten Streitkräfte der Spanier leisteten geringen Widerstand. Von einer Erhebung des Volkes gegen die Franzosen war nichts zu spüren, da diesmal die Geistlichkeit für sie war und ihren Vormarsch unterstützte. Schon 11. April flüchteten die Cortes mit dem König aus Madrid, wo der Herzog von Angoulême 24. Mai unter dem Jubel des Volkes einzog und eine Regentschaft unter dem Herzog von Infantado einsetzte, die sofort das Werk der Restauration mit Verfolgung der Liberalen begann. Überall erhob sich das Volk, vom Klerus aufgehetzt, für den absoluten König; die meisten spanischen Generale kapitulierten mit den Franzosen. Diese schlossen Cadiz, wohin sich im Juni die Cortes mit dem König zurückgezogen hatten, zu Wasser und zu Land ein, eroberten das Außenfort Trocadero (31. Aug.), bombardierten die Stadt (23. Sept.) und bereiteten alles zum Sturm vor, als die Cortes 28. Sept. dem König die absolute Gewalt zurückgaben und sich auflösten; die meisten Mitglieder und Beamten der liberalen Regierung, über 600 Personen, flüchteten ins Ausland, bevor die Franzosen 3. Okt. Cadiz besetzten. Auch die letzten von den Libe- Spanien (Geschichte bis 1841). ralen noch behaupteten Städte, Barcelona, Cartagena und Alicante, ergaben sich im November, und Angoulême kehrte nach Frankreich zurück; doch blieben 45,000 Mann Franzosen unter Bourmont bis 1828 im Land zum Schutz der neuen Regierung. Ferdinands VII. erste Regierungshandlung nach seiner Befreiung aus der Gewalt der Cortes war eine Proklamation vom 10. Okt. 1823, welche alle Akte der konstitutionellen Regierung vom 7. März 1820 bis 1. Okt. 1823, "indem er während dieses Zeitraums der Gewalt beraubt gewesen sei", für null und nichtig erklärte, dagegen alle Beschlüsse der Madrider Regentschaft genehmigte. Alle Anhänger der Liberalen wurden als "Feinde des Königs" der Rache der Glaubensbanden preisgegeben, welche die abscheulichsten Gewaltthaten verübten. Die apostolische Junta, an deren Spitze des Königs Bruder Don Karlos stand, und welche die Hierarchie, vor allem die Inquisition, herstellen wollte, erlangte eine solche Macht, daß sie eine Art Nebenregierung bildete und alle Minister, die sich ihrem Willen nicht fügten, wie Zea-Bermudez (1824-25), auch den absolutistisch gesinnten Infantado (1825-26) stürzte. Die apostolische Partei war um so siegesgewisser, als bei dem Alter des kinderlosen Königs ihr Haupt, Don Karlos, der mutmaßliche Thronfolger war. Als ihre Anhänger im August 1827 in Katalonien indes eine bewaffnete Schilderhebung versuchten, schritt der König mit Strenge gegen sie ein und vermählte sich nach dem Tod seiner dritten Gemahlin 10. Dez. 1829 mit der Prinzessin Christine von Neapel, die 10. Okt. 1830 eine Tochter, Isabella, gebar. Schon 29. März l830 hatte Ferdinand VII. eine Pragmatische Sanktion erlassen, welche das 1713 in S. von den Bourbonen eingeführte Salische Gesetz aufhob und im Einklang mit den altkastilischen Rechten die weibliche Thronfolge einführte. Eine Verschwörung der bitter enttäuschen Anhänger des Don Karlos gegen das Leben des Königspaars wurde entdeckt und vereitelt, ein dem schwer erkrankten König im September 1832 abgepreßter Widerruf der Pragmatischen Sanktion von demselben nach seiner Genesung für ungültig erklärt. Im Oktober 1832 ward Christine zur Regentin ernannt, berief Zea-Bermudez an die Spitze des Ministeriums, erließ eine Amnestie und versammelte die Cortes, welche 20. Juni 1833 Isabella als Thronerbin den Eid der Treue leisteten. Somit gelangten, als nach dem Tod Ferdinands VII. (29. Sept. 1833) Isabella II. unter der Vormundschaft ihrer Mutter Christine den Thron bestieg, die Liberalen wieder zur Der Karlistenkrieg und die Regentschaft. Don Karlos hatte von Portugal aus, wo er bei Dom Miguel Zuflucht und Beistand gefunden hatte, schon 29. April 1833 Protest gegen die neue Thronfolgeordnung erhoben und nach Ferdinands Tod sich als Karl V. zum König proklamiert. Ihm schlossen sich außer der apostolischen Partei besonders die baskischen Provinzen und Navarra an, deren aus uralten Zeiten bestehende Freiheiten (Fueros), zu denen freilich auch Mißbräuche, wie der Schmuggel, gehörten, von den Liberalen angefochten worden waren. Die Erhebung der Karlisten begann im Oktober 1833 mit der Einsetzung einer Junta und der allgemeinen Volksbewaffnung, welche Zumala-Carreguy leitete. Derselbe treffliche Feldherr verschaffte den Karlisten im Gebirgskrieg immer mehr Erfolge und bemächtigte sich eines Teils von Katalonien. Auch Don Karlos, nach dem Sturz Dom Miguels aus Portugal vertrieben, erschien in den aufständischen Provinzen. Der Bürgerkrieg nahm bald einen grausamen Charakter an, und seitdem Mina die Mutter des Karlistengenerals Cabrera hatte erschießen lassen, wurden die Gefangenen auf beiden Seiten nicht mehr geschont. Die Christinos (Anhänger der Regentin) welche an Machtmitteln den Karlisten bei weitem überlegen waren, da ihrer Regierung der größte Teil des Landes, der Armee und der Beamten, namentlich die Bevölkerung der Städte und die zahlreichen amnestierten Spanier (50,000 Personen) anhingen, würden den Karlistenaufstand ohne große Schwierigkeiten haben unterdrücken können, wenn sie sich nichts durch Zwistigkeiten geschwächt hätten. Die Progressisten, wie sich jetzt die vorgeschrittenen Liberalen nannten, waren mit der nenen Verfassung, welche nach der Entlassung von Zea-Bermudez (15. Jan. 1834) der neue Minister Martinez de la Rosa gegeben hatte, dem Estatuto real (mit zwei Kammern, den Proceres und den Procuradores), nicht zufrieden und verlangten die Herstellung der Verfassung von 1812. Alle weitern Zugeständnisse der Regentin, welche auf den Beistand der Liberalen angewiesen war, genügten nicht; die Progressisten veranstalteten 1836 in zahlreichen Städten Aufstände, bei denen die Verfassung von 1812 ausgerufen wurde. Schließlich, 12. Aug. 1836, empörte sich auch eins der in San Ildefonso liegenden Milizregimenter, zog nach dem Palast La Granja, wo die Königin Christine sich aufhielt, und zwang sie, die Konstitution von 1812 anzunehmen. Der Minister Isturiz, ein Moderado, floh, Quesada wurde vom Pöbel ermordet. Der neue Ministerpräsident Calatrava berief zum 24. Okt. 1836 die Cortes, welche 1837 die Verfassung von 1812 im gemäßigten Sinn revidierten. Der Zwiespalt im liberalen Lager ermutigte die Karlisten zu kühnen Unternehmungen: nach seinem Sieg bei Huesca (24. Mai 1837) überschritt Don Karlos den Ebro und bedrohte Madrid, während gleichzeitig in Andalusien ein karlistischer General Gomez, bedenkliche Fortschritte machte. Dieser wurde von Narvaez besiegt; im Norden errang Espartero den entscheidenden Sieg von Huerta del Rey (14. Okt.); und brachte nach und nach die nördlichen Provinzen in seine Gewalt. Denn auch bei den Karlisten war Zwietracht zwischen einer Hofkamarilla unter der Prinzessin von Beira, Don Karlos' zweiter Gemahlin, und dem Oberbefehlshaber Maroto, der sogar 20. Febr. 1839 mehrere Häupter der Kamarilla erschießen ließ. Um sich vor der Rache seiner Gegner zu schützen, schloß Maroto 31. Aug. 1839 mit Espartero den Vertrag von Vergara, nach welchem er mit 50 Karlistenchefs die Waffen streckte. Don Karlos trat 15. Sept. auf französisches Gebiet über; ihm folgte 6. Juli 1840 Cabrera, welcher in Niederaragonien und Katalonien den Widerstand noch fortgesetzt hatte. Den baskischen Provinzen wurden die Fueros von den Cortes bestätigt. Im Spätsommer 1840 war ganz S. der Königin Isabella unterworfen und der Karlistenkrieg beendet. Durch seine Erfolge im Karlistenkrieg hatte Espartero so großes Ansehen erlangt, daß die Regentin, welche durch Bestätigung des von den konservativen Cortes beschlossenen Ayuntamiento- (Gemeinde-) Gesetzes eine Erhebung der Progressisten in Madrid hervorgerufen hatte, ihn im September 1840 zum Ministerpräsidenten ernennen mußte und 12. Okt. abdankte und sich nach Frankreich einschiffte, als Espartero ihr ein unannehmbares Regierungsprogramm vorlegte. Dieser war nun 8. Mai 1841 zum Regenten gewählt. Aber trotz seiner Popularität, Spanien (Geschichte bis 1868) obwohl er eifrig und mit Erfolg bemüht war, das materielle Wohl des Landes zu fördern, hatte er doch unaufhörlich mit den Ränken seiner Gegner, der Regentin und der Moderados (Konservativen), der Unbotmäßigkeit seiner eignen Anhänger, der Progressisten, und Aufständen (Pronunciamentos) ehrgeiziger Offiziere zu kämpfen. Im Juni 1843 brach eine allgemeine Empörung aus, der sich sogar die Radikalen anschlossen, und vor der Espartero nach England flüchten mußte. Nachdem die den Moderados angehörige Mehrheit der Cortes 8. Nov. 1843 die noch nicht 14jährige Königin Isabella für volljährig erklärt hatte, übernahm Bravo Murillo, dann (1844) Esparteros Nebenbuhler Narvaez die Leitung des Ministeriums; die Königin Christine wurde zurückgerufen und die Verfassung im Mai 1845 in reaktionärem Sinn geändert; für die Cortes ward ein hoher Zensus eingeführt, der Senat von der Krone auf Lebenszeit ernannt, die katholische Religion als Staatsreligion proklamiert. Die Regierung der Königin Isabella. Narvaez veruneinigte sich schon 1846 mit den Cortes und trat zurück, worauf die Königin Isturiz in das Kabinett berief. Die Errichtung einer festen, zielbewußten Regierung wurde durch die Vermählung Isabellas II. erschwert. Der Plan, dieselbe mit dem Grafen von Montemolin, Don Karlos' Sohn, zu verheiraten und dadurch die Legitimität der Dynastie außer Frage zu stellen, wurde durch Ludwig Philipp von Frankreich vereitelt, der einem seiner Söhne zur Herrschaft in S. verhelfen wollte. Das Ränkespiel der "spanischen Heiraten" endete damit, daß Ludwig Philipp, durch ein England gegebenes Versprechen gebunden, seinen Sohn, den Herzog von Montpensier, nicht mit Isabella, sondern mit deren Schwester, der Infantin Luise, vermählte, aber, um indirekt seinen Zweck doch zu erreichen, durchsetzte, daß Isabella mit ihrem Vetter Franz d'Assisi, einem körperlich und geistig schwachen Prinzen, eine Ehe schließen mußte, die jede Hoffnung auf Leibeserben ausschloß. Indes Isabella, den ihr aufgedrungenen Gemahl verachtend und über die Schranken der Sitte sich hinwegsetzend, erwählte sich Günstlinge, von denen sie zahlreiche Kinder gebar, welche die eigennützigen Berechnungen der Familie Orléans zu Schanden machten. Diese Günstlinge, in deren Wahl Isabella allmählich von Serrano auf Marfori herabsank, beuteten ihre Stellung aufs schamloseste für Befriedigung ihres Ehrgeizes und ihrer Habsucht aus, und so wurde in dem sonst so loyalen Volk das moralische Ansehen des Königtums durch die lasterhafte, heuchlerische Aufführung des Hofs vernichtet. Die Regierung des unglücklichen Landes ward zu einem unwürdigen Intrigenspiel in der vertrauten Umgebung der Monarchin, durch welches trotz mehrjähriger Aufrechterhaltung der äußern Ruhe die wenigen Fortschritte in der geistigen und materiellen Entwickelung des Landes gefährdet und die sittlichen Grundlagen des Staatswesens untergraben wurden. Die Minister wechselten so oft, daß S. 1833-58 nicht weniger als 47 Ministerpräsidenten, 61 Auswärtige, 78 Finanz- und 96 Kriegsminister hatte. Nach der kurzen Regierung der Progressisten unter Serrano stand 1847-51 Narvaez an der Spitze des Ministeriums, der, obwohl Moderado, doch mit Mäßigung vorging und nicht nur die Ruhe aufrecht hielt, sondern auch den nationalen Wohlstand förderte. Sein Nachfolger Bravo Murillo (1851-52) erzeugte jedoch durch den Plan, die Verfassung in absolutistisch-klerikalem Sinn umzugestalten, eine Aufregung, welche sich 1854 in Pronunciamentos zahlreicher Generale äußerte. Schließlich kam es in Madrid zu einem Aufstand, welchen die Königin nur durch die Berufung Esparteros zum Ministerpräsidenten (Juli 1854) beschwichtigen konnte. Nachdem er das Gesetz über den Verkauf der National- und Kirchengüter der Königin 1855 abgerungen hatte, wurde Espartero 14. Juli durch O'Donnell gestürzt, der nach Unterdrückung eines Aufstandes in Madrid (16. Juli) die Nationalgarde entwaffnete, die Verfassung vom Mai 1845 herstellte und den Verkauf der Kirchengüter sistierte. Zwischen O'Donnell und Narvaez wechselte nun eine Reihe von Jahren die Herrschaft: ersterer, 1855-56, 1858-63 und 1865-1866 oberster Minister, früher selbst Progressist, wollte sich auf eine Mittelpartei, die "liberale Union", stützen, stieß jedoch bei allen seinen Vorschlägen und Maßregeln auf das unüberwindliche Mißtrauen seiner ehemaligen Parteigenossen und suchte sich daher durch Erfolge auf dem Gebiet der auswärtigen Politik zu befestigen. Diesem Zweck sollte der Krieg mit Marokko (s. d., S. 277) 1859-60 dienen, in welchem O'Donnell indes nur kriegerische Lorbeeren, keine wesentlichen Vorteile gewann. 1861 wurde San Domingo auf Haïti wieder mit S. vereinigt, und im Bund mit England und Frankreich schritt S. Ende 1861 gegen Mexiko ein, das für die Verletzung spanischer Interessen die Genugthuung verweigerte; doch zog sich der spanische Befehlshaber Prim 1862 vom Unternehmen zurück, als er die eigennützigen Absichten der Franzosen erkannte (s. Mexiko, S.566). Ein Konflikt mit Peru und Chile (s. d., S. 1022), der 1866 zu einer förmlichen Kriegserklärung Perus, Chiles, Bolivias und Ecuadors an S. (14. Jan.) führte, endete nach der erfolglosen Beschießung Valparaisos (31. März) und Callaos (2. Mai) ohne Ergebnis. San Domingo wurde 1865 wieder aufgegeben. Unter diesen Umständen konnte sich O'Donnell, obwohl er mehrere Militärrevolten niederschlug und auch einen Landungsversuch des karlistischen Prätendenten, des Grafen von Montemolin (1. April 1860), vereitelte, auf die Dauer nicht behaupten. Wenn O'Donnell nicht im stande war, die Ruhe aufrecht zu erhalten, so zog die Königin Isabella Narvaez vor, dessen moderadistische Gesinnung der ihrigen mehr entsprach. Narvaez, 1856-57, 1864-65 und 1866-68 Ministerpräsident, begünstigte den Klerus, unterdrückte die Preß- und Vereinsfreiheit und schritt, besonders in seinem letzten Ministerium, mit rücksichtsloser Strenge gegen die Häupter der Progressisten und der liberalen Union ein. Rios Rosas, Serrano u. a. wurden verhaftet, andre, wie O'Donnell, Prim, flüchteten in das Ausland. Die Cortes, deren Wahlen in S. die Regierung allerdings stets beherrscht, gaben zur Aufhebung der konstitutionellen Freiheiten und zur Verhängung des Belagerungszustandes bereitwilligst ihre Zustimmung, und Isabella war des Siegs der klerikalen Richtung so sicher, daß sie sogar ihre Absicht, für die weltliche Herrschaft des Papstes mit der Macht Spaniens einzutreten, offen Narvaez starb plötzlich 23. April 1868. Sein Nachfolger Gonzalez Bravo mußte den Günstling Isabellas, Marfori, in das Ministerium aufnehmen. Nachdem im Juli eine unionistische Verschwörung, deren Ziel die Erhebung Montpensiers auf den Thron war, entdeckt und ihre Häupter, die angesehensten Generale, wie Serrano, Dulce u. a., nach den Kanarischen Inseln deportiert worden waren, begab sich die Königin nach San Sebastian, um von hier aus mit Napoleon die Besetzung Roms durch spanische Trup- Spanien (Geschichte bis 1874). pen zu verabreden. Inzwischen aber vereinigten sich die liberale Union, die Progressisten und die Republikaner zu einer gemeinsamen Erhebung gegen die Mißregierung Isabellas. Die unionistischen Generale wurden von den Kanarischen Inseln durch einen Dampfer abgeholt und nach Cadiz gebracht, wo auch Prim erschien und die Flotte unter Admiral Topete 18. Sept. 1868 die Absetzung Isabellas verkündete. Der Aufruhr verbreitete sich rasch über ganz S. General Pavia sammelte die treu gebliebenen Truppen und rückte den Aufständischen nach Andalusien entgegen, ward aber 28. Sept. bei Alcolea in der Nähe von Cordova geschlagen. Serrano hielt 3. Okt. seinen Einzug in Madrid, während Isabella 30. Sept. nach Frankreich floh. Anarchie und Bürgerkrieg. Die Unionisten und die Progressisten unter Prim bildeten nun eine provisorische Regierung unter Serranos Vorsitz, welche sofort den Jesuitenorden aufhob, die Klöster beschränkte und volle Preß- und Unterrichtsfreiheit einführte; das Volk schwelgte im Genuß der Freiheit und ergoß sich in Lobreden auf die Helden der glorreichen Revolution. Die konstituierenden Cortes, welche nach einem neuen Gesetz gewählt wurden, traten 11. Febr. 1869 zusammen: die Unionisten zählten nur 40 Mitglieder, womit ihr Thronkandidat Montpensier beseitigt war, die Republikaner 70; die Progressisten hatten die Mehrheit. Auch diese wünschten die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie und brachten 1. Juni 1869 eine monarchisch-konstitutionelle Monarchie in den Cortes zur Annahme. Doch lehnte König Ferdinand von Portugal 6. April die ihm angebotene spanische Krone ab, ebenso der junge Herzog von Genua, so daß die Cortes die Einsetzung einer Regentschaft beschlossen und Serrano 18. Juni zum Regenten ernannten. Die Ungewißheit über die politische Gestaltung des Landes ermutigte Don Karlos, den Enkel des ältern Don Karlos, im Juli den spanischen Boden zu betreten und mit Hilfe der Geistlichkeit in den Nordprovinzen karlistische Aufstände zu erregen, während in mehreren Städten, namentlich in Barcelona, die Republikaner sich erhoben. Endlich gelang es dem Ministerpräsidenten Prim, den Erbprinzen Leopold von Hohenzollern zur Annahme der Krone zu bewegen, und 4. Juli 1870 beschlossen Regent und Ministerium, dessen Kandidatur den Cortes vorzuschlagen. Der unerwartete Einspruch Frankreichs vereitelte dieselbe, da der Erbprinz 12. Juli auf seine Kandidatur verzichtete, um nicht Ursache eines großen Kriegs zu werden. Als der deutsch-französische Krieg dennoch ausbrach, verhielt sich die spanische Regierung, welche sich sofort mit dem Verzicht des Prinzen einverstanden erklärt hatte, streng neutral. An Stelle des Hohenzollern gewann Prim in dem Herzog Amadeus von Aosta, zweitem Sohn des Königs Viktor Emanuel von Italien, einen neuen Thronkandidaten, der 16. Nov. von den Cortes mit 191 gegen 98 Stimmen zum König gewählt wurde. An demselben Tag, an welchem König Amadeus in Cartagena landete, 30. Dez. 1870, starb Marschall Prim, der 27. Dez. in Madrid von Meuchelmördern tödlich verwundet worden war. Damit verlor der junge Herrscher seine festeste Stütze. Dennoch trat er 2. Jan. 1871 die Regierung an und beauftragte Serrano mit der Bildung eines Kabinetts. Die Granden gaben Amadeus ihre Geringschätzung in schroffster Weise zu erkennen; eine Anzahl Offiziere verweigerte den Eid. Die Wahlen für die Cortes im März ergaben eine knappe Mehrheit für die Regierung; unter der Opposition befanden sich 60 Republikaner und 65 Karlisten, welche den König aufs heftigste angriffen. Dabei war unter den Anhängern des Königs keine Einigkeit: Serrano wurde von dem ränkevollen Zorrilla, einem radikalen Progressisten, schon im Juli aus dem Ministerium gedrängt, der sich aber auch nur bis zum Oktober an der Spitze der Regierung behauptete. Der konservative Progressist Sagasta, seit Ende 1871 Ministerpräsident, erlangte nach der Auflösung der Cortes bei den Neuwahlen im April 1872 eine Mehrheit und machte im Juni wieder Serrano Platz, der gegen die Karlisten mit Erfolg gekämpft, ihnen aber in der Konvention von Amorevieta (24. Mai 1872) Amnestie gewährt hatte, um die Ruhe in S. herzustellen. Hierfür verlangte er vom König außerordentliche Vollmachten, die derselbe jedoch auf Anstiften Zorrillas verweigerte. Dieser trat 16. Juni wieder an die Spitze des Kabinetts, vermochte aber weder den Parteikämpfen in den neuen Cortes, in denen die ministerielle Mehrheit immer deutlicher ihre republikanischen Grundsätze kundgab, noch den Aufständen im Land ein Ende zu machen. Überzeugt, daß er keine feste Autorität in dem unterwühlten Land gewinnen könne, dankte Amadeus 10. Febr. 1873 ab und begab sich über Lissabon nach Italien zurück. Die Cortes erklärten sofort mit 256 gegen 32 Stimmen S. für eine Republik und erwählten Figueras zum Präsidenten, einen föderalistischen Republikaner, der die Befugnisse der Zentralregierung und der Cortes auf das Notwendigste beschränken, den Provinzen, Städten und Gemeinden aber möglichst ausgedehnte Autonomie gewähren wollte. Der Eid und die Konskription für die Armee wurden abgeschafft. Nachdem die Anhänger des Einheitsstaats verjagt worden waren, errangen die Föderalisten bei den Corteswahlen 10. Mai eine erdrückende Mehrheit. Figueras erschien dieser nicht extrem genug, und Pi y Margall trat an seine Stelle, unter dem völlige Anarchie eintrat. Im Norden breiteten sich die Karlisten wieder aus; der Prätendent Don Karlos nahm in Estella sein Hauptquartier. In den großen Städten des Südens, wie Malaga, Cadiz, Sevilla und Cartagena, suchten die roten Kommunisten (Intransigenten) durch sofortige Verwirklichung der Föderativrepublik ihre Herrschaft zu begründen, proklamiertem die Autonomie Andalusiens, errichteten Wohlfahrtsausschüsse und bemächtigten sich mehrerer Kriegsschiffe. Die Cortes sahen nun die Notwendigkeit ein, Karlisten und Intransigenten energisch zu bekämpfen. Zu diesem Zweck trat der bisherige Föderalist Castelar 9. Sept. an die Spitze der Regierung, vertagte die Cortes, nachdem er sich zu Ausnahmemaßregeln hatte ermächtigen lassen, suspendierte 21. Sept. die konstitutionellen Garantien und verkündete die Kriegsgesetze in voller Strenge. Sevilla, Malaga und Cadiz wurden sofort unterworfen, Cartagena mußte aber regelrecht belagert werden und ergab sich erst 12. Jan. 1874. Im Norden machten die Karlisten immer größere Fortschritte, und das Gebaren der Cortes, die nach ihrem Zusammentritt (2. Jan. 1874) Castelar jeden Dank für seine energische Thätigkeit verweigerten und ihn zum Rücktritt zwangen, ließ das Schlimmste befürchten: da ließ Serrano 3. Jan. durch den General Pavia die Versammlung auseinander sprengen und trat als Präsident der Exekutivgewalt an die Spitze einer neuen Regierung, die sich vor allem die Beendigung des Karlistenkriegs zum Ziel setzte. Der Kampf drehte sich um Bilbao, das die Karlisten seit dem Dezember 1873 belagerten. Zwar zwang Ser- Spanien (Geschichte bis 1885). rano sie im Mai, die Belagerung aufzugeben; doch schlugen sie die Regierungstruppen unter Concha 25. bis 27. Juni bei Estella, und Don Karlos' Bruder drang wiederholt über den Ebro, im Juli sogar bis Cuenca vor. Endlich bereitete Serrano für Anfang 1875 einen energischen konzentrischen Angriff auf die Karlisten vor und verstärkte die Armee auf 80,000 Mann, als auch er plötzlich gestürzt wurde. Die Regierung Alfons' XII. Neueste Zeit. Nachdem die Versuche, einen fremden Fürsten auf den spanischen Thron zu erheben, gescheitert waren, das Experiment mit der Republik S. völliger Anarchie überliefert, Don Karlos aber durch seine enge Verbindung mit dem Ultramontanismus und seine barbarische Kriegführung sich unmöglich gemacht hatte, blieb nur der älteste Sohn Isabellas, Alfons, der durch den Verzicht seiner Mutter vom 25. Juni 1870 Erbe der Thronansprüche der jüngern bourbonischen Linie geworden war, als Kandidat der gemäßigt Liberalen für den Thron übrig. Seine Erhebung erschien besonders den Offizieren als die einzige Rettung aus dem Chaos, und im Einverständnis mit den einflußreichsten Generalen proklamierte Martinez Campos 29. Dez. 1874 in Sagunto Alfons XII. als König von S. Die Nordarmee und die Garnison von Madrid erklärten sich für ihn, und Serrano legte sein Amt ohne Widerstandsversuch nieder. Das Haupt der alfonsistischen Partei, Canovas del Castillo, wurde an die Spitze eines liberal-konservativen Ministeriums berufen, welches der König nach seinem Einzug in Madrid (14. Jan. 1875) bestätigte. Die neue mit Notabeln vereinbarte Verfassung hob zwar die Geschwornengerichte, die Zivilehe und die Lehrfreiheit auf und machte dem Klerus noch einige andre Zugeständnisse, um dem Karlismus den Boden zu entziehen; doch versprach sie, ehrlich und mit Mäßigung gehandhabt, eine friedliche und freiheitliche Entwickelung. Der Karlistenkrieg wurde nun von den Generalen Quesada und Moriones nach einem systematischen Plan und mit ausreichenden Streitkräften geführt und durch die Eroberung von Vittoria (8. Juli 1875), von Seo de Urgel (26. Aug.) und Estella (19. Febr. 1876) glücklich beendet; Don Karlos trat 28. Febr. im Thal von Roncesvalles auf französisches Gebiet über. Die Fueros der baskischen Provinzen wurden aufgehoben. Die 20. Jan. 1876 gewählten neuen Cortes, in denen die Regierung eine starke Mehrheit hatte, wurden 15. Febr. vom König eröffnet und genehmigten 24. Mai die neue Verfassung. Der finanziellen Zerrüttung beschloß der Finanzminister durch Suspension der Zinszahlung für die Staatsschulden bis 1. Jan. 1877, von da ab durch nur partielle Zahlung abzuhelfen. Der Aufstand in Cuba (s. d., S. 358) wurde Anfang 1878 endlich auch beschwichtigt, allerdings nur durch den Vertrag von Tanjon (10. Febr. 1878), in welchem General Martinez Campos den Insurgenten Amnestie, Aufhebung der Sklaverei und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Insel zugestehen mußte. Da Canovas sich weigerte, dies letztere Zugeständnis vor den Cortes zu vertreten, trat er im März 1879 zurück und überließ die Leitung des Ministeriums Martinez Campos, der jedoch die Genehmigung der von ihm vorgeschlagenen Reformen für Cuba nicht erreichte und daher schon 7. Dez. 1879 seine Entlassung nahm. Canovas, wieder Ministerpräsident, brachte 1880 ein Gesetz über die Aufhebung der Sklaverei in Cuba in den Cortes durch; aus Rücksicht auf die spanischen Finanzen blieben aber die Ausfuhrzölle daselbst sowie die Monopole zu gunsten des spanischen Handels und Gewerbes bestehen. Da Martinez Campos nach seinem erfolglosen Ministerium zu den Gegnern Canovas übertrat, so bildete sich in den Cortes aus den Parteien der Konstitutionellen und Zentralisten eine einflußreiche liberal-dynastische Opposition unter Führung Sagastas, der König Alfons XII., um sich die Liberalen nicht zu entfremden, im Februar 1881 die Führung der Geschäfte übertrug; Sagasta wurde Ministerpräsident, Martinez Campos Kriegsminister. Das neue Ministerium löste die Cortes auf und erlangte bei der Macht der Regierung über die Wahlen eine bedeutende Majorität in der Kammer wie im Senat. Der Finanzminister Camacho nahm sofort eine Umwandlung der teilweise hohe Zinsen tragenden Staatsschulden in eine einheitliche vierprozentige Staatsschuld vor und sicherte eine Reform des Tarifs durch einen Handelsvertrag mit Frankreich (1882). Gleichwohl konnte sich Sagasta nicht lange behaupten, auch nachdem er im Januar 1883 sein Kabinett in liberalem Sinn umgestaltet hatte. Aus der Mitte der Konstitutionellen selbst wurde, besonders durch Serrano, das Verlangen nach durchgreifenden Reformen, namentlich aber nach Wiederherstellung der Verfassung von 1869, laut, das zu erfüllen Sagasta sich entschieden weigerte; im August 1883 brachen in Badajoz, Barcelona, Seo de Urgel und andern Garnisonen des Nordens Soldatenaufstände aus, bei welchen die Republik mit der Verfassung von 1869 ausgerufen wurde. Der König beschloß, nachdem die Aufstände unterdrückt waren, die dynastische Linke in die Regierung zu ziehen, und berief im Oktober 1883 Posada Herrera an die Spitze eines neuen Ministeriums, das eine Verfassungsrevision mit Einführung der Zivilehe, der Geschwornengerichte und des allgemeinen Stimmrechts versprach. Dasselbe scheiterte aber an der Opposition Sagastas, dessen Adreßentwurf, welcher die Politik der dynastischen Linken entschieden tadelte, im Januar 1884 von den Cortes angenommen wurde. Der König übertrug daher wieder den Liberal-Konservativen unter Canovas das Ministerium. Alfons XII. erstrebte neben dem Ziel, im Innern die monarchisch gesinnten Parteien zu versöhnen und auf dem Boden der konstitutionellen Monarchie zu vereinigen, in der auswärtigen Politik die Wiederherstellung von Spaniens Ansehen und Einfluß in Europa. Zu diesem Zweck widmete er sich mit Eifer der Wiederherstellung und Verbesserung seiner Streitmacht zu Land und zur See; ferner suchte er eine Anlehnung an die mitteleuropäischen Mächte und unternahm im Sommer 1883 eine Reise nach Österreich und Deutschland, wo er bei den Kaisermanövern in Homburg von Kaiser Wilhelm mit besondern Ehren aufgenommen und zum Chef eines Ulanenregiments ernannt wurde. Er wurde deswegen auf seiner Rückreise durch Frankreich in Paris 29. Sept. aufs gröblichste beschimpft, aber durch einen begeisterten Empfang in Madrid (2. Okt.) dafür entschädigt. Ein Besuch des deutschen Kronprinzen in S. im November bekundete die Achtung, die der König in Deutschland genoß. Mitten in eine Gärung, welche ein schreckliches Erdbeben in Andalusien, der Ausbruch der Cholera und die Einführung der drückenden Verbrauchssteuern 1885 im spanischen Volk erzeugt hatten, fiel wie ein zündender Funke im September die Nachricht, daß ein deutsches Kriegsschiff auf den Karolinen (s. d.) die deutsche Flagge geheißt habe: nicht bloß der Madrider Pöbel ließ sich zu Wutausbrüchen gegen Deutschland und seine Gesandtschaft in Madrid hinreißen, sondern auch die Führer der Parteien, namentlich der von je zu Frankreich hinneigenden Ra- Spanierfeige - Spanische Litteratur. dikalen, ja selbst die Minister ergingen sich, um ihre Popularität zu vermehren, in kriegerischen Prahlereien und Drohungen. Nur der König blieb fest in seinem Widerstand gegen eine verhängnisvolle Überstürzung und ermöglichte hierdurch eine ehrenvolle Verständigung mit Deutschland. Leider starb er schon 25. Nov. 1885. Alfons XII. hinterließ als Witwe seine zweite Gemahlin, Maria Christine, eine österreichische Erzherzogin, welche sofort als Regentin proklamiert wurde und 17.Mai 1886 einen Sohn, Alfons XIII., gebar. Die Veränderungen auf dem Thron vollzogen sich, abgesehen von einigen durch Zorrilla angestifteten republikanischen Militärrevolten in Cartagena und Madrid und von Ränken Montpensiers, die aber wirkungslos blieben, ohne Störung. Canovas hielt es für nützlich, die liberalen Parteien für die Erhaltung der Dynastie zu interessieren, und empfahl daher der Regentin, an seiner Stelle Sagasta zum Ministerpräsidenten zu ernennen (27. Nov.). Derselbe verschaffte sich durch Neuwahlen die Mehrheit in den Cortes, welche 10. Mai 1886 eröffnet wurden, die Einführung von Geschwornengerichten genehmigten (7. Mai 1887) und die Beratung der vom Kriegsminister Cassola vorgelegten Heeresreform mit allgemeiner Wehrpflicht in Angriff nahmen. Die Einnahmen wurden durch Verpachtung der Postdampferlinien und des Tabaksmonopols vermehrt. Die Regentin verstand es, durch ihr würdiges und kluges Benehmen die Achtung und Liebe des Volkes in demselben Grad zu gewinnen wie ihr verstorbener Gemahl. Spaniens Zustände sind indes noch durchaus unfertig. Der alte klerikale Absolutismus ist zwar durch die Unfähigkeit seiner Vertreter und das Eindringen liberaler Ideen äußerlich gestürzt und lebensunfähig, aber im Geiste des Volkes so wenig überwunden und vertilgt, daß sich auch keine liberale Regierung auf die Masse des Volkes selbst stützen kann, sondern die Hilfe der Parteiführer und ehrgeizigen Generale in Anspruch nehmen muß, die wieder ihren Schützling ausnutzen, diskreditieren und schließlich ins Verderben fortreißen. Im Bund mit andern Parteien ist jede Partei im stande, nach einigen Jahren das herrschende Regiment zu [Litteratur.] Lembke, Geschichte von S. (Bd. 1, Hamb. 1831; Bd. 2 u. 3 von Schäfer, Gotha 1844-1861; fortgesetzt von Schirrmacher, das. 1881 ff.); Lafuénte, Historia general de España (Madr. 1850-66, 30 Bde.; neue Ausg., Barcelona 1888, 22 Bde.); Cavanilles, Historia de España (Madr. 1861-65, 5 Bde.); Rico y Amat, Historia politica e parlamentaria de España (das. 1860-62, 3 Bde.); Alfaro, Compendio de la historia d'España (5. Aufl., das. 1869); Rosseeuw Saint-Hilaire, Histoire d'Espagne (Par. 1836-79, 14 Bde.); Gebhardt, Historia general de España (Madr. 1864, 7 Bde.); Havemann, Darstellungen aus der innern Geschichte Spaniens, 15.-17. Jahrh. (Götting. 1850); Fapia, Historia de la civilisazion d'España (Madr. 1840, 4 Bde.); Montesa u. Manrique, Historia de la legislazion etc. de España (das. 1861-64, 7 Bde.); Aschbach, Geschichte der Omaijiden in S. (2. 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(Berl. 1861-67, 2 Bde.); Solvay, L'art espagnol (Par. 1886). Spanierfeige (indische Feige), s. Opuntia. Spaniol, feiner span. Schnupftabak, wird aus Havanablättern bereitet und mit einer roten Erde gefärbt; auch die Raupe des Frostschmetterlings. Spaniolgeschmack (Spagnialgeschmack), s. Firnewein. Spanische Artischocke, s. Cynara. Spanische Fliege, s. Kantharide. Spanische Kreide, s. Speckstein. Spanische Kresse, s. v. w. Tropaeolum. Spanische Litteratur. Die spanische Nationallitteratur, hervorgegangen aus dem durch heldenhafte Anstrengung erstarkten eigentümlichen Selbstgefühl eines Volkes, dessen Phantasie in den Erinnerungen einer thatenreichen Vergangenheit schwelgte, und durch Reichtum und Originalität der Produktion auf allen Gebieten der Dichtkunst gleich ausgezeichnet, reicht in ihren Anfängen bis in die Zeit zurück, wo sich nach der Eroberung des Landes durch die Araber die ersten christlichen Staaten im Norden der Halbinsel gebildet hatten. Von der alten echten Volksdichtung haben sich jedoch nur wenige Denkmäler und auch diese nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten können, da sie Jahrhunderte hindurch nur im Munde des Volkes und in diesem stets sich verjüngend und verändernd fortlebte und erst aufgezeichnet wurde, als auch die Kunstpoesie diese Lieder ihrer Beachtung wert fand, d. h. zu Anfang des 16. Jahrh. Diese ältesten spanischen Volkslieder, bekannt unter dem Namen Romanzen, waren epischen oder episch-lyrischen Charakters und hatten hauptsächlich die Thaten der Helden in dem großen National- und Glaubenskampf gegen die Araber zum Inhalt. Unter diesen Romanzen sind diejenigen, welche die Thaten und Schicksale des Cid el Campeador (gest. 1099) feierten, vorzugsweise berühmt. Die frühsten auf uns gekommenen Schriftdenkmäler rühren aus dem 13. Jahrh. her, und mit dieser Zeit beginnt die erste Periode der spanischen Erste Periode. Die s. L. erscheint in dieser Periode, welche bis zu der Regierung Johanns II. von Kastilien (1406) reicht, als volkstümlich-nationale mit vorherrschend epischer und didaktischer Richtung. Das älteste auf uns Spanische Litteratur (bis zum 15. Jahrhundert). gekommene Werk derselben ist das "Poema del Cid", ein größtenteils auf alten Volksdichtungen beruhendes Epos in Form und Geist der französischen Chansons de geste, welches in oft sehr malerischer Darstellung und kräftigen Zügen, wenn auch in noch ziemlich roher Form die Thaten und Abenteuer des Nationalhelden schildert. Verschieden von ihm ist die "Crónica rimada del Cid" (s. Cid Campeador). Außerdem gehören hierher als frühste Erzeugnisse spanischer Kunstpoesie unter dem Einfluß der kirchlich-ritterlichen Zeitideen: das "Poema de los Reyes Magos" und die Legende von der Maria Egipciaca aus dem 13. Jahrh.), die Heiligen- und Marienlegenden des Geistlichen Gonzalo de Berceo (gestorben um 1270), die Bearbeitung der ritterlichen Irrfahrten Alexanders d. Gr. ("Poema de Alexandro Magno") von Juan Lorenzo Segura, die spanische Bearbeitung des Romans "Apollonius von Tyrus" sowie die "Votos de pavon" (ebenfalls noch aus dem 13. Jahrh.) und ein chronikenartiges Gedicht, das die Thaten des Grafen Fernan Gonzalez, des Stifters von Kastiliens Größe, besingt (aus dem 14. Jahrh.). Diese Gedichte sind teils in einreimigen Alexandrinerstrophen, teils in den nationalen Grundrhythmen der Redondilien (s. d.) abgefaßt. Noch in das 14. Jahrh. ist wohl auch die Abfassung der längern, epenartigen Romanzen von Karl d. Gr. und seinen Paladinen zu setzen. Neben diesen vorwiegend epischen Dichtungen begann sich während der Regierung Alfons des Weisen von Kastilien (1252-84) eine didaktische Richtung der Litteratur zu entwickeln, deren Hauptrepräsentant König Alfons selber war. Er ließ die Landesgesetze aus der lateinischen Sprache in die Landessprache bertragen, und auf seine Veranlassung geschah die Abfassung einer Weltchronik und der Geschichte der Kreuzzüge ("La gran conquista de Ultramar"), abgedruckt in der "Biblioteca de autores españoles", Bd. 44) sowie einer spanischen Chronik, der berühmten "Crónica general" (Vallad. 1604), ebenfalls in kastilischer Sprache. So wurde Alfons der eigentliche Schöpfer der spanischen Prosa. Von poetischen Werken schreibt man ihm außer dem sogen. "Libro de las querellas", von dem sich nur einige Bruchstücke erhalten haben, ein didaktisches Gedicht alchimistischen Inhalts, das "Libro del tesoro o del candado", zu, das jedoch nach einigen spätern Ursprungs ist. Am wichtigsten sind seine in galicischer Sprache verfaßten und provençalischen Mustern nachgebildeten "Cantigas", Loblieder auf die Jungfrau Maria, welche zum großen Teil in sechs- bis zwölfzeiligen Versen bestehen und durch ihre Form die spätere Kunstlyrik der Spanier vorbereiten. Alfons' Beispiel wirkte ermunternd auf seine Nachfolger. Sein Sohn Sancho IV., genannt der Tapfere (gest. 1295), schrieb ein moralisierend-philosophisches Werk: "Los castigos e documentos", das Lebensregeln für seinen Sohn Ferdinand IV. enthielt, und des letztern Sohn Alfons XI., genannt der Gute (gest. 1350), gilt für den Verfasser einer Reimchronik in Redondilienstrophen, wie er auch mehrere Werke in kastilischer Prosa abfassen ließ, namentlich ein Adelsregister ("Becerro") und ein Jagdbuch ("Libro de monterias", hrsg. von Navarro 1878) sowie mehrere Chroniken (Ferdinands des Heiligen, Alfons' des Weisen, Sanchos des Tapfern etc., abgedruckt in dem Werk "Cronicas de los Reyes de Castilla etc.", Bd. 1, Madr.1876). Der hervorragendste unter den fürstlichen Autoren jener Zeit ist der Infant Don Juan Manuel (gest. 1347), am bekanntesten durch sein Werk "El conde Lucanor" oder "Libro de Patronio", eine zum Teil aus orientalischen Quellen geschöpfte Rahmenerzählung, in welcher dem Grafen Lucanor sein Ratgeber Patronio moralische und politische Ratschläge in Form von Novellen erteilt (s. Manuel 3). Bei weitem der genialste Dichter jener Periode war aber der Erzpriester von Hita, Juan Ruiz (gest. 1351), Verfasser eines merkwürdigen, allegorisch-satirischen Werkes in Alexandrinerversen ("Libro de cantares"), worin in der Weise Juan Manuels Fabeln, Schwänke und Geschichten, fromme und Liebeslieder etc. aneinander gereiht sind, denen eine gemeinsame Erzählung zu Grunde liegt, nur daß hier der Schwerpunkt weniger in der moralischen Tendenz als in der naiv anmutigen und kunstvollen Darstellung liegt. Ein didaktisches Gedicht mit eingewebten lyrischen Partien ist auch das wieder zumeist in Alexandrinern abgefaßte Buch über das Hofleben ("Rimado de palacio") des alten Chronisten und als Übersetzer des Livius berühmten Pedro Lopez de Ayala (gest. 1407). Ebenso macht sich in den Gedichten des Rabbi Don Santo, genannt "der Jude von Carrion", welcher für den König Peter den Grausamen von Kastilien Ratschläge und Lebensregeln in Versen abfaßte, in dem Gedicht vom Totentanz: "Danza general de la muerte", der ältesten Dichtung dieser Art, in der spanischen Nachahmung der lateinischen "Rixa animae et corporis" u. a. die didaktische Richtung geltend. Sämtliche bisher genannte Gedichte sind in Bd. 57 ("Poetas castellanos, anteriores al siglo XV") sowie die hauptsächlichsten Prosawerke in Bd. 51 ("Escritores en prosa, anteriores al siglo XV") der erwähnten "Biblioteca de autores españoles enthalten. Die Ausbildung der damaligen historischen Prosa bekunden die Chroniken Ayalas, Juan Nuñez de Villaizans, die Prosachronik vom Cid, die Reisebeschreibung Ruy Gonzalez de Clavijos u.a. Auch die Abfassung des "Amadis von Gallien" (s. Amadisromane), des Ahnherrn der zahllosen spanischen Ritterromane, gehört dem Schluß dieser Periode an. Zweite Periode. Mit der Regierung Johanns II. von Kastilien (1406-54) begann die zweite Periode der spanischen Nationallitteratur, welche bis zur Regierung Karls V., somit bis zum Schluß des Mittelalters, reicht. Der Sinn für die alten Volkspoesien war allmählich erloschen, und es kam eine reflektierte Dichtkunst, eine höfische Kunstlyrik nach dem Muster der Troubadourpoesie zur Entwickelung, welch letztere in limousinischer Mundart an den Höfen der Grafen von Barcelona und der Könige von Aragonien schon längst blühte. Zu der bereits vorherrschenden didaktischen Richtung gesellten sich gelehrte, mythologische und allegorische Elemente, die schlichten Reime der Vorzeit wurden mit verschlungenen Versmaßen vertauscht, und spitzfindige Geistesspiele und überflüssiger Schmuck traten an die Stelle der edlen Einfalt, welche die alten Poesien auszeichnete. Die Dichter dieser neuen Richtung gehörten fast alle den Hofkreisen an, und ihre Werke tragen einen gemeinsamen konventionellen Charakter. Der Horizont ihrer immer wiederkehrenden poetischen Ideen war ein enger, auf den Kreis höfischer Galanterie beschränkter und eine gewisse Monotonie daher die unausbleibliche Folge dieser Armut an Ideen und Anschauungen. Zu den hervorragendsten und einflußreichsten unter diesen Hofdichtern gehörten: Don Enrique de Aragon, Marques de Villena (gest. 1434), Verfasser didaktisch-allegorischer Dichtungen und einer Abhandlung über die Dichtkunst: "La gaya Spanische Litteratur (15. und 16. Jahrhundert). und sein Schüler Marques de Santillana (gest. 1458), der die ersten spanischen Sonette dichtete. Neben diesen sind hervorzuheben: Juan de Mena (gest. 1456; "El laberinto"), Jorge Manrique (gest. 1479), Macias, genannt "der Verliebte", der in galicischer Sprache dichtete, und sein Freund Juan Rodriguez del Padron, der auch eine Novelle: "El siervo", hinterließ; ferner: Garci-Sanchez de Badajoz, Alonzo de Cartagena (eigentlich Alfonso de Santa Maria), Diego de San-Pedro (um 1500), besonders durch seinen halb metrischen, halb prosaischen Roman "El carcel de Amor" berühmt, Fernan Perez de Guzman (gest. 1470), Verfasser geistlicher Lieder, doch mehr noch als Geschichtschreiber hervorragend, Alvarez Alfonso de Villasandino, Francisco Imperial u. a. Die Werke dieser und vieler andrer Dichter sind gesammelt in den sogen. "Cancioneros" (Liederbüchern), namentlich im "Cancionero general" (zuerst Valenc. 1511), während die Werke eines andern Dichterkreises, der sich um König Alfons V. von Aragonien scharte, in dem "Cancionero de Lope de Stuniga" enthalten sind (s. Cancionero). Sehr bemerkenswert ist die Ausbildung der spanischen Prosa in diesem Zeitraum. Eine Anzahl wichtiger Chroniken behandelt die Geschichte nicht nur der verschiedenen Regenten, sondern auch bedeutender Privatpersonen. Unter diesen sind das Leben des Feldherrn Pero Niño, Grafen von Buelna, von Gutierre Diez de Game, die Geschichte des Connétable Alvaro de Luna, von unbekanntem Verfasser (1546), die spanische Chronik des Diego de Valera besonders bemerkenswert. Beachtung verdienen namentlich auch die biographischen Werke des genannten F. P. de Guzman ("Generaciones y semblanyas", Biographien berühmter Zeitgenossen) und des Hernando del Pulgar ("Los claros varones de Castilia", 1500), in denen sich bereits ein nennenswerter Fortschritt vom Chronikenstil zu pragmatischer Darstellung zeigt. Von Pulgar, dem hervorragendsten Prosaisten der Periode, hat sich auch eine Anzahl Briefe erhalten, die, wie der gleichfalls erhaltene und anziehende, aber wegen seiner Echtheit angefochtene Briefwechsel des Leibarztes Johanns II., F. Gomez de Cibdareal, einen nicht geringen Begriff vom Briefstil der damaligen Zeit geben. Einen schätzenswerten Beitrag zur Sittengeschichte gab Alfonso Martinez de Toledo, Erzpriester von Talavera, in seinem "Corbacko" (zuerst 1499), einem Werk über die Sitten der Weiber von schlechtem Lebenswandel. Endlich fallen in diese Periode auch die ersten Anfänge des spanischen Dramas, das sich aus ländlichen Festspielen und den in Kirchen aufgeführten Mysterien (s. Auto) entwickelte. Hierher gehören die zum Teil geistlichen Schäferspiele (Eklogen) des Juan del Encina (gest. 1534), die Komödien Gil Vicentes (gest. um 1540), eines Portugiesen, der aber zum Teil in kastilischer Sprache schrieb, ferner der so berühmt gewordene dramatische Roman "Celestina" (in 21 Akten) von Fernando de Rojas (1500), der vielfache Nachahmungen hervorrief, und die von der Inquisition nachher verbotenen Schauspiele von Bartolome de Torres Naharro (in "Propaladia", 1517), die sich durch phantasievolle Erfindung und gewandten Versbau auszeichnen und in der Entwickelung des spanischen Theaters einen merklichen Fortschritt bekunden. Dritte Periode. Die dritte Periode reicht von der Begründung der spanischen Universalmonarchie durch Karl V. im Anfang des 16. Jahrh. bis zum Schluß des 17. Jahrh. und begreift die allseitige Entwickelung und höchste Blüte der spanischen Litteratur sowie deren allmählichen Verfall, so gleichen Schritt haltend mit der Entwickelung der politischen und sozialen Zustände des Reichs. Alles, was in der vorigen Periode sich vorbereitet hatte, kam in dieser zur Entwickelung, besonders infolge der politischen Verbindung Spaniens mit Italien, das seit der Eroberung Neapels durch Ferdinand de Cordova (1504) fast ein Jahrhundert hindurch einen sehr bemerkbaren Einfluß äußerte. Altklassische und italienische Muster, die italienischen Versmaße, die Formen des Sonetts, der Stanze (ottave rime), Terzinen, Kanzonen etc. fanden in Spanien Nachahmung, ohne daß dabei die spanische Poesie, welche nach wie vor eine durchaus volkstümliche Grundlage hatte, ihres nationalen Charakters verlustig ging. Überdies stand der italienischen Schule eine streng an den Nationalformen haltende Partei gegenüber, bis sich die schroffen Einseitigkeiten beider Parteien allmählich abgeschliffen hatten und aus der Verschmelzung beider nun in ihrer Art vollendete Kunstwerke hervorgingen. Der erste Dichter, welcher sich nach italienischen und altklassischen Mustern bildete, war Juan Boscan Almogaver aus Barcelona (gest. 1543); ihm ebenbürtig zur Seite standen sein Freund Garcilaso de la Vega aus Toledo (gest. 1536), der Petrarca der kastilischen Poesie genannt, und Diego Hurtado de Mendoza (gest. 1575), Dichter vortrefflicher Episteln, auch Verfasser des Schelmenromans "Lazarillo de Tormes" und sonst als Gelehrter und Staatsmann gleich ausgezeichnet. Von großem Einfluß wurde der in kastilischer Mundart schreibende Portugiese Jorge de Montemayor (gest. 1561), der mit seiner "Diana" den (halb aus Prosa, halb aus Versen bestehenden) Schäferroman einführte, und mit dem sein Landsmann Sa de Miranda (gest. 1588) sowie Pedro de Padilla in der pastoralen Poesie wetteiferten. Als Dichter schwungvoller, rhythmisch vollendeter Oden glänzten daneben Hernando de Herrera (gest. 1597) und Luis Ponce de Leon (gest. 1591), dem die Verbindung altklassischer Korrektheit mit tief religiösem Gefühl am vorzüglichsten gelang. Außerdem sind Hernando de Acuña (gest. 1580), welcher zwischen dem italienischen und dem Nationalstil die rechte Mitte zu treffen wußte, und der Lieder- und Madrigalendichter Gutierre de Cetina (gest. 1560) als begabte Anhänger der neuen Schule zu erwähnen. An der Spitze der Gegner des italienischen Stils und der Verteidiger der altspanischen Naturpoesie stand Cristoval de Castillejo (gest. 1556), dessen Romanzen und erotische Volkslieder echte Heimatlichkeit atmen, während seine Satiren oft zu sehr übertreiben. Unter seinen Parteigängern sind Antonio de Villegas und Gregorio Silvestre namhaft zu machen, die sich durch zierlichen Versbau auszeichneten, aber Castillejo nicht entfernt gleichkamen. Endlich sei noch Francisco de Aldana (1578 in der Schlacht bei Alcazarquivir gefallen) erwähnt, dem die Zeitgenossen wegen der Hoheit seiner Gesinnung und seiner bilderreichen und glühenden Sprache den Beinamen des Göttlichen gaben. Nicht gleichen Schritt mit den lyrischen Produktionen hielt die epische Poesie der Spanier, deren Gestaltungskraft auf diesem Gebiet sich in dem Heldengedicht vom Cid erschöpft zu haben schien. Von den vielen neuern epischen Versuchen im 16. Jahrh., zu denen der Kriegsruhm Karls V. und die Entdeckung von Amerika Anlaß gaben, den "Caroleen" und "Mexikaneen", ist nur eine zu nennen, welche sich durch echt epischen Geist und epische Unmittelbarkeit auszeichnet: die Spanische Litteratur (16. Jahrhundert). cana" des Alonso de Ercilla (gest. 1595), in welche der Verfasser einen Teil seiner eignen Lebensgeschichte verflochten hat. Mit dem neubelebten Nationalbewußtsein war dabei auch bei den Kunstdichtern ein historisches oder ästhetisches Interesse an den alten Volksromanzen erwacht, die neu aufgezeichnet und gesammelt wurden. Auf diese Weise entstanden von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrh. eine Reihe von Romanzensammlungen ("Romanceros"), die allerdings neben den echten alten epischen Volksromanzen eine Unzahl gemachter chronikenartiger oder rein lyrischer Produkte, Werke von Gelehrten und Kunstdichtern, enthalten. Die reichhaltigste dieser Sammlungen ist der 1604 erschienene Romancero general" (s. Romanze). Befruchtend wirkten die epischen Elemente der alten Volksromanzen in Verbindung mit der kunstmäßig ausgebildeten Lyrik auf die Entwickelung der Comedia, des nationalen Dramas, des eigentlichen sprechenden Ausdrucks des poetischen Lebens der Nation. Dieses hatte gleich beim Beginn seiner Entwickelung in den bereits früher erwähnten Dichtern Naharro und Gil Vicente die Repräsentanten der Hauptrichtungen gefunden, die später eingeschlagen wurden, indem der erstgenannte mehr idealisierend zu den phantasiereichen Schöpfungen der heroischen Verwickelungs- und Intrigenstücke (comedias de ruido, comedias de capa y espada) anregte, der letztere aber der Vorläufer jener Dramatiker wurde, welche in der Darstellung des Volkslebens in seiner Wirklichkeit ihre Aufgabe suchten. Letztern schlossen sich zunächst Lope de Rueda (um 1560), Verfasser der Stücke: "Comedia de las engañas" und "Eufemia", und Alonso de la Vega sowie die zahlreichen Verfasser der sogen. Vor- und Zwischenstücke (loas, pasos, farsas, entremeses, sainetes und comedias de figuron) an. Neben diesen Gattungen bestanden die geistlichen Schauspiele, aus denen zunächst das spanische Drama hervorgegangen ist, fort und bildeten sich in der Folge nach verschiedenen Richtungen, als Autos sacramentales (Fronleichnamsspiele) und Autos al nacimiento (zur Feier der Geburt Christi), selbständig aus (s. Auto). Die gelehrten Klassizisten versuchten zwar um die Mitte des 16. Jahrh. durch Übersetzung und Nachbildung antiker Stücke auch das spanische Drama nach den Mustern des klassischen Altertums umzugestalten, und mehrere Dramatiker, z. B. Geronimo Bermudez, der unter dem Namen Antonio de Silva Tragödien mit Chören schrieb, schlossen sich dieser antikisierenden Richtung an; allein sie vermochten die volle originale Entwickelung des spanischen Dramas nicht zu hemmen, und die begabtesten Dichter folgten bald ausschließlich der nationalen Fahne. Zu diesen gehörten namentlich: Juan de la Cueva (um 1580), Verfasser der Komödie "El infamador", der in seinem Buch "Exemplar poetico" auch eine spanische Poetik aufstellte, Rey de Artieda, Dichter der "Amantes de Teruel", eines Stücks von hoher Schönheit, und Cristoval de Virues (gest. 1610), dessen Tragödien (besonders "Semiramis" und "Cassandra") wahres tragisches Pathos und ein kräftiger, ungezwungener Dialog nachzurühmen sind. Die Entwickelung der spanischen Prosa blieb im 16. Jahrh. hinter den poetischen Fortschritten nicht zurück; durch das immer allgemeiner werdende Studium des Altertums gewann dieselbe an Klarheit, Kraft und Eleganz. Der erste, welcher sie auch für didaktische Werke, für die Darstellung philosophischer Gedanken und Betrachtungen mit Erfolg anwandte, war Fernan Perez de Oliva (gest. 1534), der Verfasser des gediegenen Werkes "Dialogo de la dignidad del hombre", zu welchem Francisco Cervantes de Salazar eine nicht minder treffliche Fortsetzung lieferte, und seinem Beispiel folgte eine große Anzahl von Schriftstellern, von denen nur Antonio de Guevara (gest. 1545) mit seinem Hauptwerk: "Relox de principes, o Marco Aurelio". einer Art didaktischen Romans, und seinen (zum größern Teil erdichteten) "Epistolas familiares" erwähnt sei. Auf dem Gebiet der Geschichtschreibung gab man den alten Chronikenstil jetzt gänzlich auf und suchte die historische Kunst in pragmatischer Darstellung und schöner Form den Griechen und Römern abzulernen. Dieses Bestreben zeigt sich bereits bei den Historiographen Karls V., Pero Mexia und Juan Ginez de Sepulveda (gest. 1574), entschiedener aber noch bei den eigentlichen Vätern der spanischen Geschichtschreibung: Geronimo Zurita aus Saragossa (gest. 1580), Verfasser der wichtigen "Anales de la corona de Aragon", welche später in dem Dichter Bartol. Leonardo Argensola einen Fortsetzer fanden, und Ambrosio de Morales (gest. 1591), der die von Florian de Ocampo begonnene Geschichte Kastiliens mit Umsicht und Kritik weiterführte. Als das erste spanische Geschichtswerk aber von klassischem Wert muß die Geschichte des Rebellionskriegs von Granada ("Historia de la guerra de Granada") des oben als Dichter erwähnten Diego de Mendoza (gest. 1575) genannt werden. Weiter sind zu erwähnen die Berichterstatter über die Neue Welt: Fernandez de Oviedo, der eine "Historia general y natural de las Indias" (1535) schrieb, und der edle Las Casas (gest. 1566), dessen "Historia de las Indias" 1876 zum erstenmal veröffentlicht wurde, namentlich aber der Jesuit Juan de Mariana (gest. 1623), Verfasser einer "Historia de España", die bis zur Thronbesteigung Karls V. (1516) reicht und rhetorische Kraft mit Anschaulichkeit der Charakteristik und freimütiger Gesinnung verbindet. Eine Stelle in der spanischen Literaturgeschichte beanspruchen auch die nach seiner Flucht aus Spanien geschriebenen, in klassischem Stil abgefaßten Briefe des berühmten Geheimschreibers Philipps II., Antonio Perez (gest. 1611), denen man die der heil. Teresa de Jesus (gest. 1582), obschon ihrer Art nach ganz verschieden von jenen, an die Seite stellen kann; ebenso die asketischen und religiösen Erbauungsbücher von Fray Luis de Leon (Klostername des Dichters Ponce de Leon) und dem Kanzelredner Fray Luis de Granada (gest. 1588), die Schriften ähnlicher Art von San Juan de la Cruz und Malonde Chaide ("La conversion de Madalena") u. a. Auch der erste spanische Versuch eines historischen Romans, die vortreffliche "Historia de las guerras civiles de Granada" von G. Perez de Hita (um 1600), fällt in diese Zeit. In ihrer höchsten Vollendung zeigte sich aber die kastilische Sprache erst in dem größten und tiefsinnigsten Schriftsteller Spaniens, Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616), der alle Richtungen der Zeit in sich vereinigte, aber über denselben stand und nicht nur in seinem unübertroffenen satirisch - komischen Roman "Don Quijote", der dem herrschenden Unwesen der Ritterromane den Todesstoß versetzte, und in seinen "Novelas" Meisterleistungen aufstellte, sondern auch den Schäfer- und den Liebesroman kultivierte und sogar auf dramatischem Gebiet mit seiner "Numancia" und den "Entremeses" Werke von nationaler Bedeutung schuf. Mit dem 17. Jahrh., in das Cervantes' "Don Qui- Spanische Litteratur (17. Jahrhundert). jote" (1604) überleitet, tritt das spanische Drama in die Periode seiner höchsten und glänzendsten Entwickelung, die bis fast zum Ausgang des Jahrhunderts dauert, und die übergroße Zahl von Bühnendichtern, welche diese Zeit aufzuweisen hat, teilt sich in zwei große Gruppen, als deren Mittelpunkt zwei der größten und fruchtbarsten dramatischen Genien aller Zeiten: Lope de Vega Carpio (1562-1635) und Calderon de la Barca (1600-1681) glänzen. Von den Anhängern des ältern Lope nennen wir als die bedeutendsten: Perez de Montalvan (gest. 1638), Verfasser des lange Zeit beliebten Schauspiels "Los amantes de Teruel" (ein Stoff, den früher bereits Artieda behandelt hatte) sowie geschichtlicher Dramen, mit trefflicher Charakterschilderung (z. B. "Juan d'Austria") und höchst eigentümlicher Autos ("Polifema"); Tarrega ("La enemiga favorable"); Guillen de Castro (gest. 1638), dessen Hauptwerk: "Las mocedades del Cid", das Vorbild von Corneilles "Cid" war; Gabriel Tellez, als Dichter den Namen Tirso de Molina führend (gest. 1648), nach Lope, der fruchtbarste spanische Schriftsteller, Verfasser von "El burlador de Sevilla", der ersten Dramatisierung der Don Juan Sage; Juan Ruiz de Alarcon (gest. 1639), ein origineller Dichter voll glühender Phantasie und plastischer Kraft, dessen "Tejedor de Segovia" und "Ganar amigos" unter die Meisterstücke der heroisch-romantischen Gattung gehören (sein Lustspiel "La verdad sospechosa" wurde das Vorbild von Corneilles "Menteur"); ferner: Luis Velez de Guevara (gest. 1646), der die Erscheinungen des äußern Lebens in wirkungsvoller Weise darzustellen weiß und besonders durch sein Drama "Mas pesa el rey que la sangre", eine Verherrlichung der Lehnstreue, berühmt ist; Antonio Mira de Mescua (um 1630), dessen "Esclavo del demonio" Calderon in seiner "Andacht zum Kreuz" benutzt hat, u. a. Viele vortreffliche Stücke stammen auch aus der Zeit des Lope, deren Verfasser unbekannt geblieben sind, und die gewöhnlich unter dem Titel: "Comedias famosas par un ingenio de esta corte" angezeigt wurden; am meisten Aufsehen unter denselben erregte "El diablo prediador". Die genannten Dichter, ausgezeichnet durch reiche Erfindungsgabe und geniale Konzeption, sind denn die eigentlichen Schöpfer des spanischen Dramas, und sie schufen dasselbe aus rein nationalen Elementen, aus volkstümlicher Begeisterung und frischer, glühender Phantasie. Da bei Calderon zu dieser Originalität und sprudelnden Fülle noch die künstlerische Reflexion und die sorgsamere Ausführung im einzelnen hinzukamen, so erreichte in ihm das spanische Drama den Gipfel der Vollendung. Die namhaftesten unter seinen Zeitgenossen und Nachfolgern sind: Agostin Moreto (gest. 1668), der weniger durch die Originalität und Kühnheit der Erfindung als durch sorgfältige Entwickelung fein ausgearbeiteter Entwürfe glänzt (Hauptwerk: "El valiente justiciero"); Francisco de Rojas (um 1650), der sowohl im Intrigenstück als in der Tragödie Ausgezeichnetes leistete (am populärsten: "Del rey abajo niguno", eine Schilderung des Konflikts zwischen Königstreue, Ehre und Liebe); Matos Fragoso, durch liebenswürdige Wärme der Darstellung und Eleganz des Stils ausgezeichnet (bestes Drama: "El villana en su rincon", eine gelungene Bearbeitung des gleichnamigen Stückes von Lope), und Juan Bautista Diamant e (blühte um 1674), dessen geschichtliche Dramen (z. B. "El hijo, honrador de su padre", das die Geschichte des Cid zum Vorwurf hat, und "Judia de Toledo") historischer Geist und feines Verständnis beleben; Juan de la Hoz Mota, dessen Lustspiel "El castigo de la miseria" allezeit ein Stolz der Spanier war; der oben genannte, auch als Dramendichter ausgezeichnete Historiker Antonio de Solis (gest. 1686), von dessen heroischen Schauspielen besonders "El alcasar del secreto" und die "Gitanella de Madrid" zu den Lieblingsstücken damaliger Zeit gehörten; Antonio Enriquez Gomez (um 1650), Verfasser zahlreicher Komödien sowie lyrischer Gedichte und satirischer Charakterbilder in Prosa (s. unten); Agustin de Salazar (gest. 1675), der sich wenigstens in einigen seiner Dramen, wie "Elegir al enemigo", und in dem feinen Sittengemälde "Segunda Celestina" als echter Dichter bewährte; Antonio de Leyba, Fernando de Zarate, Cristoval de Monroy, Geronimo de Cuellar u. v. a. Der Reichtum der spanischen Bühne jener Zeit ist in der That unübersehbar, und die ungeheure Wirkung, welche dieselbe dauernd ausübte, lag darin, daß es der Geist und die Seele des ganzen Volkes waren, welche in ihren Schöpfungen pulsierten und sie zum Gemeingut dieses Volkes machten. Gegen den Ausgang des Jahrhunderts beginnt die dramatische Poesie endlich zu ermatten, aber selbst die bereits der Verfallzeit angehörenden Schauspiele von Franc. Bances Cándamo (gest. 1709; "Por su rey y por su dama", "Esclavo en grillos de oro "), Cañizares (gest. 1750), der mit sogen. Comedias de figuron (worin irgend eine lächerliche Figur den Mittelpunkt bildet) seine Haupterfolge erzielte, und Antonio Zamora (gest. 1730) atmen immer noch echt spanischen Geist. Mit dem durchaus volkstümlichen Drama konnte sich die gelehrte Kunstpoesie im 17. Jahrh. weder an vielseitiger Ausbildung noch an Beliebtheit messen. Die phantasievolle Weise Lope de Vegas hatte in der Lyrik Eingang gefunden, wurde jedoch bald von einzelnen Dichtern durch gezierte und schwülstige Wendungen und Ausdrücke bis zur Karikatur verzerrt, und an die Stelle der Gedanken und Empfindungen traten leeres Gepränge hochtönender Worte, abenteuerliche und gesuchte Bilder und Gleichnisse und geschraubte, in erhabene Dunkelheit gehüllte Phrasen. Der Hauptträger dieser geschmacklosen Richtung war Don Luis de Gongora (gest. 1627), der Erfinder des sogen. Estilo culto und Begründer einer besondern Dichterschule, der Gongoristen oder Kulturisten, die mit der Zeit einen verderblichen Einfluß auf den Geschmack der Zeit ausübte, und als deren ausgezeichnetstes Mitglied der durch sein tragisches Geschick bekannte Graf von Villamediana (ermordet 1621) zu nennen ist. Von den Gongoristen unterschieden sich die sogen. Konzeptisten insofern, als sie das Hauptgewicht auf den gedanklichen Inhalt der Dichtung legten, der sich nicht selten ins Mystische verlor; an ihrer Spitze standen Felix de Arteaga (gest. 1633) und Alonso de Ledesma (gest. 1623; "El monstruo imaginado"). Die talentvollern Dichter gehörten gleichwohl zu den Gegnern Gongoras, obschon auch sie der herrschenden Mode Zugeständnisse machen mußten, so die beiden Brüder Lupercio Leonardo und Bartolome de Argensola (gest. 1613 und 1631), zwei Lyriker, die, Horaz und den Italienern nacheifernd, klassische Korrektheit des Stils mit poetischem Gefühl und glücklichem Darstellungstalent verbinden; Estevan Manuel de Villegas (gest. 1669), als der erste unter den erotischen Dichtern anerkannt; Francisco de Rioja (gest. 1659), Verfasser vortrefflicher Lieder und Oden; Juan de Arguijo (um 1620), ein zartsinniger Sonettensän- Spanische Litteratur (17. und 18. Jahrhundert). ger, besonders bekannt durch sein Gedicht auf seine Leier; ferner Juan de Jauregui (gest. 1641), der Übersetzer von Tassos "Aminta" und Verfasser einer Dichtung: "Orfeo", in fünf Gesängen; Francisco de Borja, Principe de Esquilache (gest. 1658), mehr durch seine Romanzen und kleinern lyrischen Gedichte als durch seine größern Werke ("Napoles recuperada") hervorragend; Vicente Espinel (gest. 1634), der teils in italienischen Silbenmaßen, teils im altspanischen Stil dichtete, auch eine neue Art eigentümlich gereimter Dezimen (die sogen. Espinelen) einführte. Vorzugsweise in der pastoralen und der epischen Dichtung glänzte Bernardo de Balbuena (gest. 1627), Verfasser des romantischen Heldengedichts "Bernardo" und des Schäferromans "El seglo de oro", während die "Selvas danicas" des Grafen Bernardino de Rebolledo (gest. 1676), eine Art Epos, worin die ganze Geschichte und Geographie Dänemarks versifiziert vorgetragen wird, und andre ähnliche Werke desselben Verfassers das Herabsinken der spanischen Poesie zu nüchternem Formenwesen kennzeichnen. Als trefflicher Lyriker, namentlich durch burleske Lieder und Romanzen ("Jacaras") glänzte ferner Francisco Gomez de Quevedo (gest. 1645), der auch auf andern Gebieten zu den ersten und geistvollsten Autoren gehört (s. unten). Von den übrigen Dichtern seien noch flüchtig erwähnt: der humoristische und schalkhafte Balthasar de Alcazar (gest. 1606), Martin de la Plaza, der heldenhafte Gonzalo de Argote y Molina, Sänger patriotischer Lieder, auch Geschichtschreiber; Francisco de Figueroa, genannt der "spanische Pindar"; Luis Barahona de Soto, Verfasser der "Lagrimas de Angelica", einer eleganten und langweiligen Fortsetzung des "Rasenden Roland", die ungewöhnlichen Beifall fand; Francisco de Medrano, Luis de Ulloa, der schon als Dramatiker erwähnte Agustin de Salazar (gest. 1675), der sich durch seine "Cythara de Apolo" als blinder Anhänger des "Estilo culto" bewies; Agustin de Tejada, Pedro Soto de Rojas, Lopez de Zarate (gest. 1658), Verfasser des Epos "La invencion de la cruz"), die Nonne Ines de la Cruz aus Mexiko u. a. Eine Sammlung lyrischer Gedichte des 16. und 17. Jahrh., deren wesentliche Vorzüge in der hohen metrischen Ausbildung der Formen und der durchdachten, fein zugespitzten Konzeption bestehen, enthält Bd. 42 der "Biblioteca de autores Auf dem Gebiete der Prosa traten nach den glänzenden Werken des Cervantes nur Leistungen von geringerm Belang hervor. Der Ritterroman war, besonders in den zahllosen Nachahmungen des "Amadis", zur Karikatur herabgesunken; auch der Schäferroman, obwohl noch von zahlreichen Schriftstellern, darunter von Lope de Vega ("Arcadia"), Luis Galvez de Montalvo ("Filida") u. a., kultiviert, verlor mehr und mehr in der Meinung des Publikums. Bei weitem größern Beifall fanden die Schilderungen der Sitten und gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart, denen sich die vorzüglichsten Autoren jetzt mit Vorliebe zuwandten und zwar teils in Form kleinerer Novellen, in welcher Gattung Cervantes den Ton angegeben hatte, dem Geronimo Salas Barbadillo (gest. 1630), die Dramatiker Tirso de Molina ("Cigarrales de Toledo") und Perez de Montalvan ("Para todos") nebst einer ganzen Reihe anderer, wie Francisco Santos Vargas, Ribera, Prado etc., darunter auch zwei Frauen: Mariana de Carbajal (um 1633) und Maria de Zayas (um 1650), mit mehr oder minder Glück nacheiferten; teils in jenen berühmten Schelmenromanen nach dem Muster des "Lazarillo de Tormes" von Mendoza (s. oben), so in der witzigen "Historia del gran Tacaño" von Quevedo, in "Marcos de Obregon" von Vicente Espinel, in "Vida y hechos del picaro Gusman del Alfarache" von Mateo Aleman, in der "Picara Justina" von Franc. Lopez de Ubeda (Andres Perez), in der "Vida de Don Gregorio Guadaña" von Ant. Enriquez Gomez; in der berüchtigten Selbstbiographie von Estevanillo Gonzalez (1646) u. a. Eine dritte Reihe von Darstellungen des spanischen Lebens bilden die Erzählungen in jenem burlesk-phantastischen Stil, der zuerst von Quevedo in seinen fein, aber bitter satirischen "Sueños" und den witzigen "Cartas del caballero de la tentenaza" aufgebracht, dann von Velez de Guevaraz in seinem "Diablo cojuelo" u. a. weiter ausgebildet wurde. Mit der Zeit litt indessen auch die Prosa durch den Einfluß der Gongoristen und sank zu den Bizarrerien des Estilo culto herab; unter den Schriftstellern dieser Schule ist der bekannteste der Jesuit Baltazar Gracian (gest. 1658), von dessen Schriften besonders der "Criticon", eine Allegorie auf das menschliche Leben in Novellenform, und der einst vielbewunderte "Oraculo manual", eine Zusammenstellung von Regeln der Weltklugheit, zu erwähnen sind. Die Geschichtschreibung, deren Ausbildung durch religiösen und politischen Druck in jeder Weise behindert war, hat nach Mariana nur noch zwei Schriftsteller von Bedeutung aufzuweisen: Francisco Manuel de Melo (gest. 1665), der die Geschichte des Kriegs in Katalonien schrieb, und den schon als Dramatiker erwähnten Antonio de Solis, Verfasser einer Geschichte der Eroberung von Mexiko, die wie ein Heldengedicht in Prosa gemahnt, aber an Befangenheit des Urteils und Mangel an Objektivität leidet. Vierte Periode. Die vierte Periode, welche von der Thronbesteigung der Bourbonen (1701) bis auf unsre Zeit reicht, ist charakterisiert durch die Herrschaft des französischen Kunstgeschmacks und die schließliche Wiedergeburt der spanischen Litteratur, die sich durch Verschmelzung der nationalen Elemente mit der modern-europäischen Bildung allmählich vollzog. Nachdem die Litteratur lange Zeit in derselben Art von Marasmus gelegen, in welchen die ganze Nation seit dem Tode des letzten und unfähigsten Habsburgers, Karls II., unter dessen Regierung der letzte Schimmer von Spaniens ehemaliger Größe verschwand, versunken war, kam gegen die Mitte des 18. Jahrh. durch die bourbonische Dynastie ein neuer Geist, der französische, über die Pyrenäen, der bei der Verwilderung und Erschöpfung des alten Nationalgeschmacks als ein Regenerationsmittel bald Einfluß gewinnen mußte. Eingang verschaffte ihm namentlich Ignacio de Luzan (gest. 1754), der in seiner Schrift "La Poetica" (1737) die französisch-klassische Kunstlehre erörterte und damit sofort begeisterte Anhänger fand. Unter ihnen haben namentlich die Gelehrten L. J. Velasquez (gest. 1772) in seinen "Origenes de la poesia castellana" (1754) und Gregorio de Mayans (gest. 1782) in "Retorica" (1757) die Theorie Luzans weiter entwickelt. Gleichzeitig wirkte der Benediktinermönch Benito Geronimo Feyjoo (gest. 1764) durch seine "Cartas eruditas y curiosas" für Aufklärung des verdummten Volkes und Reform der Wissenschaften, während etwas später unter der aufgeklärten Regierung Karls III. José Franc. de Isla (gest. 1781) in dem satirischen Roman "Fra Gerundio de Campazas" sogar gegen die Mißbräuche der Kirche zu Felde zog. Inzwischen war auch eine Reaktion des alten Nationalgeistes Spanische Litteratur (18. und 19. Jahrhundert). die Bestrebungen der Neuerer, der Gallizisten, eingetreten, und als Hauptverfechter desselben trat jetzt, wenn auch mehr theoretisch als durch eigne Schöpfungen, der patriotische, aber blind eifernde Garcia de la Huerta (gest. 1787) auf. Gleichzeitig wußten Lopez de Sedano durch seinen "Parnas español", eine Sammlung der bemerkenswertesten Dichtungen des 16. und 17. Jahrh., und Tomas Antonio Sanchez durch eine Auswahl der ältesten spanischen Dichtungen sowie Sarmiento durch seine "Historia de la poesia español" die absolute Herrschaft der Gallizisten zu verhindern und das Interesse für heimische Poesie wieder anzuregen. Als der erste bedeutendere Schriftsteller der französischen Richtung ist Nicolas Fernando Moratin (gest. 1780) zu nennen, der als Epiker wie namentlich als dramatischer Dichter thätig war; aus der großen Menge von Dramatikern der nationalen Richtung ragt indessen nur der fruchtbare Ramon de la Cruz (gest. 1795), besonders durch seine von genialem Humor erfüllten Sainetes (Zwischenspiele), glänzend hervor. Bald bildete sich wieder eine Dichterschule, nach ihrem Hauptsitz die "Schule von Salamanca" genannt, die eine vermittelnde Stellung einnahm, insofern ihre Mitglieder gegen die Anforderungen des Zeitgeistes nicht blind, aber doch patriotisch genug waren, um neben den modernen fremden auch die einheimischen Muster der guten Zeit zu berücksichtigen. Das eigentliche Haupt dieser Schule war Juan Melendez Valdes (gest. 1817), der die Nation wieder zu enthusiasmieren wußte und auch das philosophische Element in die spanische Dichtung aufnahm; zu ihren Anhängern gehörten: Nicasio Alvarez Cienfuegos (gest. 1809), ein Dichter zarter und anmutiger Liebeslieder; José Iglesias de la Casa (gest. 1791), besonders im Epigramm und in kleinen satirischen Gedichten ausgezeichnet; Tomas de Iriarte (gest. 1791), der die Fabel in die spanische Dichtkunst einführte und darin in Felix Maria de Samaniego (gest. 1801) einen glücklichen Nachfolger fand; ferner die schon ältern José de Cadalso (gest. 1782), Verfasser der Satire "Los eruditos á la violeta" und der "Cartas Marruecas", und der Staatsmann und Patriot Gaspar Melchior de Jodellanos (gest. 1811), ein hochbegabter Schriftsteller und reiner Charakter, der auf die Wiedergeburt der spanischen Litteratur von großem Einfluß war. Auch Pablo Forner (gest. 1797), der Pater Diego de Gonzales (gest. 1794), Leon de Arroyal, Graf Noroña u. a., die zum Teil auch die Italiener nachahmten, dürfen der Dichterschule von Salamanca beigezählt werden. Strenger am französischen System hielt der talentvolle Leandro Fernandez de Moratin (der jüngere, 1760-1828), besonders in seinen Lustspielen ("El si de las niñas"), die sich, wie auch seine übrigen Werke (Oden, Sonette, Epigramme, das Idyll "La ausencia" etc.) durch Anmut der Schreibart und Feinheit des Geschmacks auszeichen und mit verdientem Beifall aufgenommen Die verhängnisvollen Ereignisse des 19. Jahrh., der Unabhängigkeitskrieg gegen die Besitzergreifung Spaniens durch Napoleon und die diesem folgenden Aufstände, übten einerseits einen nachteiligen Einfluß auf die Litteratur, da sie die Muße zu litterarischen Arbeiten nahmen und die politischen Kämpfe und Debatten einen großen Teil der vorhandenen Talente verzehrten; anderseits wirkte aber der durch den Unabhängigkeitskrieg errungene Sieg über die französische Usurpation wie in politischer, so auch in litterarischer Hinsicht belebend, und der politische Anteil an der Regierung, den die Nation durch die innern Umwälzungen errang, trug zu ihrer allseitigern Geistesentwickelung bei und gab der Litteratur wieder eine mehr patriotische und selbständige Haltung. Von den Schriftstellern und Gelehrten, welche sich an den politischen Kämpfen beteiligten, sei hier nur an Antonio de Capmany (gest. 1813), der staatsrechtliche Schriften sowie eine "Filosofia de elocuencia" und den "Tesoro de prosadores españoles" herausgab, den Nationalökonomen Florez Estrada und die Publizisten Donoso Cortes, Conde de Toreno und José de Lara (gest. 1837), erinnert, welch letzterer, einer der vorzüglichsten Schriftsteller Spaniens (auch unter dem Namen Figaro bekannt), seine Zeit mit all ihren Erscheinungen auf dem Gebiet des politischen wie des sozialen Lebens einer strengen Kritik im Gewand originellen Humors und treffender Satire unterzog, aber auch als Dichter sich auf dem Felde des Romans und des Dramas ("Macias", "No mas mostrador") berühmt machte. In der poetischen Litteratur traten jetzt hauptsächlich zwei Parteien einander gegenüber: die Klassiker, d. h. diejenigen, welche sich noch immer der französisch-klassischen Regel unterwarfen, andernteils aber auch solche, welche von dem Zurückgehen zur alten spanischen Nationalpoesie das Heil der Dichtkunst erwarteten, und die Romantiker, welche entweder fessellos den Antrieben ihres Genius folgten, oder sich der neu französischen Richtung anschlossen. Als Dichter der klassischen Richtung sind zu nennen: Manuel José Quintana (gest. 1857), Verfasser des Trauerspiels "Pelayo" (1805) und trefflicher Oden (aber auch als Historiker geschätzt); die Lyriker Juan Bautista de Arriaza (gest. 1837) und José Somoza; Juan Maria Maury, Verfasser anmutig-einfacher Romanzen wie auch größerer epischer Gedichte; Felix José Reinoso (gest. 1842), der sich durch das Epos "La inocencia perdida" und kleinere Poesien einen Namen erwarb; José Joaquin Mora, durch seine satirischen Fabeln und Romanzen ausgezeichnet; Serafin Calderon (gest. 1867), ein leidenschaftlicher Anhänger der alten Nationalpoesie ("Poesias di un solitario"); Lopez Pelegrin; Tom. José Gonzalez Carvajal (gest. 1834; "Libros poeticos de Santa Biblia") u. a. Viele der neuern Dichter schwankten auch zwischen der klassischen und romantischen Richtung, so: Alberto Lista (gest. 1848), gleich ausgezeichnet als Dichter und Mathematiker ("Poesias sagradas", "Poesias filosoficas", Romanzen etc.); der gefeierte Staatsmann Angelo de Saavedra, Herzog von Rivas (gest. 1865), der von der klassischen Schule zu den Romantikern überging, Verfasser der Ode "El desterrado", der Dichtung "Florinda" sowie des Romanzencyklus "El moro exposito", und Francisco Martinez de la Rosa (gest. 1862), in der lyrischen und didaktischen Dichtung wie im beschreibenden Epos ("Saragosa") und gleich Saavedra auch im Drama (s. unten) hervorragend; ferner Nicasio Gallego (gest. 1853), berühmt durch seine ergreifenden Oden und Elegien; der Fabeldichter Pablo de Jerica, der Lyriker José Maria Roldan (gest. 1828), Manuel de Arjona, Verfasser trefflicher Fabeln, Epigramme und scherzhafter Erzählungen, Francisco de Castro u. a. An der Spitze der Romantiker steht José Zorrilla (geb. 1818), der populärste Dichter des modernen Spanien, der sich von der Poesie der Zerrissenheit und des Schmerzes zu einer heitern Auffassung des Lebens durchgearbeitet und auf fast allen Gebieten der Dichtkunst (wir erinnern nur an seine "Cantos del trovador" und sein Drama "Don Juan Tenorio") Vortreffliches geleistet Spanische Litteratur (19. Jahrhundert). hat. Neben ihm sind zu nennen: der exzentrische José de Espronceda (gest. 1842), ein Dichter der Verzweiflung ("El condenado á la muerte", "El mendiande", "El estudiante" u. a.); der schwermütige Nicomedes Pastor Diaz, dem die süßesten und erhebensten Töne zu Gebote stehen; José Bermudez de Castro, in dessen Dichtungen ("El dia de difuntos") sich wieder alle Schauer der Romantik finden; der phantastisch-fromme Jacinto Salas y Quiroja; der Staatsmann Patricio de la Escosura (gest. 1878), ein schwungvoller Lyriker des Weltschmerzes ("El bulto vestido de negro capuz"), dessen Talent sich aber noch glänzender in seinen historischen Romanen zeigt (s. unten); der sinnige Lieder- und Romanzendichter Francisco Pacheco u. a. Von den Dichtern der neuesten Zeit errangen vor andern Ramon de Campoamor (geb. 1817), der Verfasser der tief poetischen Gedichtsammlung "Doloras". aber auch dramatischer Arbeiten, eines Epos: "Colon", und reizender "Novellen in Versen", und der "Poeta del pueblo", Antonio de Trueba (gest. 1889), mit seinem "Libro de los cantares" verdienten Beifall. Neben ihnen teilen sich Villergas, Campo-Arano, Enrique Gil, Gaspar Bueno Serrano und besonders Ventura Ruiz Aguilera (gest. 1881), Dichter berühmter "Elegias" und der "Legenda de Noche-Buena", sowie Gaspar Nuñez de Arce (geb. 1834), Verfasser des Gedichts "El vertigo" und der "Vision de Fray Martin", in die Gunst des Publikums. Auch José Selgas, Manuel del Palacio, Adolfo Becquer und Curros Enriquez ("Aires da minha terra") müssen als Lyriker genannt werden. Als Satiriker fand José Gonzalez de Tejada, als Fabeldichter Miguel Augustin Principe und F. Baëza Anerkennung. Auch ein moderner "Romancero español" von verschiedenen Verfassern ist erschienen (1873). Eine gediegene Blütenlese aus den Werken der Dichter des 19. Jahrh. bietet der "Tesoro de la poesia castellana", Bd. 3 (Madr. Was das Drama betrifft, so war seit den 30er Jahren die Herrschaft des klassischen Geschmacks, der durch Moratin den jüngern für einige Zeit zur allgemeinen Geltung gelangt war, im Sinken begriffen, und das spanische Theater trat in ein Stadium, welches ein Gemisch der extremsten Gegensätze bot. Namentlich ließ man sich von dem Taumel der sogen. romantischen Schule in Frankreich mit fortreißen, deren Mißgebilde man in Übersetzungen oder in noch krassern Nachbildungen mit Vorliebe auf die heimische Bühne brachte. Erst allmählich klärte sich das Chaos, die Besonnenern kehrten zu den altklassischen Formen zurück, die sie mit den Anforderungen der modernen Zeit zu vereinen suchten, und wenn sich auch die spanische Bühne bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig zur Selbständigkeit in einer bestimmten Richtung hervorgearbeitet hat, so gewinnen doch würdige, aus edlem Streben hervorgegangene Originalproduktionen immer mehr die Oberhand. Unter den Klassikern ragt vor allen Manuel Breton de los Herreros (1800-1873) hervor, der fruchtbarste Bühnendichter des modernen Spanien, unter dessen den verschiedensten dramatischen Gattungen angehörenden Arbeiten die Charakterkomödien, in welchen er das Leben der Mittelklassen Spaniens schildert, den obersten Rang einnehmen. Unter seinen zahlreichen Nachahmern ist Tomas Rodriguez Rubi (geb. 1817) der begabteste. Zu den Anhängern der klassischen Schule gehörten auch die Lustspieldichter Francisco de Burgos (gest. 1845) und Manuel Eduardo Gorostiza (geb. 1790); ferner Juan Eugenio Hartzenbusch (1806-80), einer der bedeutendsten Tragiker der Neuzeit, Verfasser des Dramas "Los amantes de Teruel", dem sich seine spätern Arbeiten würdig anreihen. Von großer Bühnengewandtheit zeugen die Stücke von Antonio Garcia Gutierrez (gest. 1884), den besonders die Tragödie "El Trovador" berühmt machte. Eine zwischen der klassischen und romantischen Richtung hin- und herschwankende Stellung nimmt der oben als Lyriker genannte Martinez de la Rosa ein, der Verfasser reizender und belieber Lustspiele ("La niña en casa y la madre en la máscara" und "Los zelos infundados"), dessen dramatische Begabung sich aber noch glänzender in seinen historischen Tragödien ("La conjurazion de Venecia") zeigt. Unter den vorzugsweise tragischen Dichtern ist der bedeutendste Antonio Gil y Zarate (1793-1861), der, seinen Prinzipien nach Anhänger des Klassizismus, in der Praxis später zu den Romantikern überging, und unter dessen Stücken besonders "Carlos II el hechizado", "Rosmunda" und "Guzman el bueno" hervorzuheben sind. Entschieden romantische Richtung verfolgen in ihren dramatischen Arbeiten der schon genannte A. de Saavedra, Herzog von Rivas, Verfasser des Lustspiels "Solaces de un prisionero" und des Dramas "Don Alvaro", und José Zorrilla, der Lieblingsdramatiker der Nation, von welchem wir hier nur "El zapatero y el rey" und die Bearbeitung der Don Juan-Sage: "Don Juan Tenorio", erwähnen wollen. Von den übrigen Dramatikern, besonders der neuesten Zeit, seien hier noch angeführt: Ventura de la Vega (gest. 1865), Gertrudis de Avellaneda (gest. 1873; "Leoncia", "El principe de Viana"), der schon als Lyriker erwähnte Campoamor ("Dies irae", "Cuerdos y locos", "El honor"), Adelardo Lopez de Ayala (gest. 1879; "El hombre de estado", "El tanto por ciento", "Consuelo"), Luis Martinez de Eguilaz (geb. 1833; "La cruz del matrimonio"), José Echegaray (geb. 1832; "La esposa del vengador", "En el seno de la muerte", "El gran galeoto"), Nuñez de Arce ("Dendras de honra", "El haz de leña"), Francisco Camprodon (gest. 1870; "Flor de un dia") und Tamayo y Baus ("La rica hembra"), vorzugsweise Dichter, welche das moderne Leben bald in realistischer, bald in idealistischer Auffassung zur Darstellung brachten. Sehr beliebt sind in der Neuzeit die echt spanischen, dem Volksleben abgesehenen Possen (Sainetes), wie "La banda del rey" von Emilio Alvarez u. a. Eine gediegene Auswahl moderner Dramen erschien unter dem Titel: Joyas del teatro español del siglo XIX" (Madr. 1880-82). Im Vergleich mit der dramatischen Litteratur blieb das Gebiet des Romans lange Zeit vernachlässigt; erst in der letzten Zeit begann man dasselbe wieder eifriger anzubauen. Zunächst folgten Übersetzungen und Nachahmungen französischer und englischer Werke, dann aber auch spanische Originalromane und zwar in solcher Fülle, daß gegenwärtig auch bei den Spaniern der Roman, als das "Epos unsrer Zeit", nebst der Novelle zur Lieblingsform litterarischer Produktion geworden und in verschiedenen Formen ausgebildet ist. Besondere Pflege erfuhr der historische und Sittenroman, als deren Hauptrepräsentanten unter den bereits angeführten Autoren genannt werden müssen: Larra ("El doncel de Don Enrique el Doliente"), Escosura ("El conde de Candespina" und "Ni rey, ni roque"), José de Espronceda ("Don Sancho Salaña"), Serafin Calderon ("Christianos y Moriscos"), Martinez de la Rosa ("Isa- Spanische Litteratur (Philosophie, Theologie, Rechts- u. Staatswissenschaft). bel de Solis") und Gertrudis de Avellaneda ("Dos mugeres"). Ungemeinen Erfolg hatten auf diesem Gebiet außerdem Fernan Caballero (Cäcilia de Arrom, gest. 1877), die Begründerin des realistischen Romans in Spanien, und Antonio de Trueba (gest. 1889) mit seinen zahlreichen Erzählungen ("Cuentos campesinos", "Cuentos populares" etc.); ebenso Vicente Perez Escrich ("Cura de la Aldea", "La muger adultera", "Los angeles de la tierra" etc.), Manuel Fernandez y Gonzales (gest. 1888; "Los Mondes de las Alpujarras", "La virgen de la Palma" etc.) und Pedro Antonio de Alarcon (geb. 1833; "Sombrero de tres picos" und "El escandalo"), denen wir aus neuester Zeit noch als die namhastesten Erzähler anreihen: Juan Valera ("Pepita Jimenez", "Doña Luz"), José Selgas ("La manzana de oro", "Dos rivales"), Cespedes, Perez Galdos, der den historischen Roman kultiviert, Castro y Serrano, Escamilla, die Schriftstellerinnen: Maria del Pilar Sinués, Angela Grassi und Faustina Saez de Melgar ("Inés"). Als interessanter Sittenschilderer bewährte sich Ramon de Mesonero (gest. 1882) in den Werken: "Manual de Madrid", "Escenas matritenses" u. a. Im übrigen wurde die spanische Prosa durch eine Reihe ausgezeichneter Historiker (s. unten) und berühmter Redner und Publizisten (wie Jovellanos, Augustin Arguelles, Alcalá-Galiano, Donoso Cortes, Martinez de la Rosa, Emilio Castelar u. a.) wie durch die kritischen Arbeiten eines Gallardo, Salva, Lista, Hermosilla, Marchena etc. in ihrer Ausbildung wesentlich gefördert. Groß ist auch die Zahl der Zeitschriften und Revuen, die, teils politisch-belletristischen, teils wissenschaftlichen Inhalts, in den letzten Jahrzehnten in Spanien aufgetaucht sind, und von denen hier als die reichhaltigsten und gediegensten nur die "Revista de España", "Revista Contemporanea" und "Revista Europea" genannt seien. Wissenschaftliche Litteratur. Die wissenschaftlichen Leistungen vermochten sich in Spanien nicht so glänzend zu gestalten wie die Nationallitteratur. Insbesondere konnte sich in den philosophischen Wissenschaften ein freier, selbständiger Geist nie entwickeln, weil geistiger und weltlicher Despotismus höchstens ein scholastisches Wissen im Dienste der positiven Theologie und Jurisprudenz duldete. Die Philosophie ist fast bis auf die neuesten Zeiten auf der niedrigsten Stufe, der scholastisch-empirischen, stehen geblieben; nur Dialektik, Logik und mittelalterlicher Aristotelismus wurden etwas kultiviert, da diese Disziplinen den Theologen als Waffe zur Verteidigung ihrer dogmatischen Subtilitäten dienen mußten. Erst im 19. Jahrh. hat auch Spanien einen wirklichen Philosophen hervorgebracht, Jayme Balmes (gest. 1848), der schöne Darstellungsgabe mit metaphysischem Tiefsinn verband, im wesentlichen aber ebenfalls noch auf scholastischem Boden stand. Eine rege Thätigkeit entfaltete Spanien in den letzten Jahrzehnten in der Aneignung philosophischer Meisterwerke des Auslandes durch Übertragung und Bearbeitung; so übersetzte M. de la Ravilla den Cartesius und Kant, Patricio de Azcarate den Leibniz, und Sans del Rio verpflanzte die Krausesche Philosophie nach Spanien, die daselbst zahlreiche Anhänger fand. Auch Hegel ist viel bearbeitet worden, seitdem Castelar für ihn in Spanien Boden geschaffen. Von philosophischen Schriftstellern der Neuzeit sind sonst zu nennen: Lopez Muños, der Lehrbücher über Psychologie, Moralphilosophie und Logik schrieb; Mariano Perez Olmedo, Eduardo A. de Bessón ("La lógica en cuadros sinopticos"), Giner de los Rios u. a. - Die wissenschaftliche Theologie blieb infolge der Unbekanntschaft mit philosophischer Spekulation starrer Dogmatismus im theoretischen, Kasuistik und Askese im praktischen Teil. Das ganze Mittelalter hindurch galt in der Theologie die scholastische Weisheit des Isidorus Hispalensis als erste einheimische Autorität. Im 15. und 16. Jahrh. machten zwar die Kardinäle Torquemada, der Großinquisitor, und Jimenez, der Regent, Miene, das Bibelstudium zu fördern, und sogar Philipp II. unterstützte die von einem Spanier, Arias Montanus, in Angriff genommene Antwerpener Polyglotte. Aber im grellen Kontrast zu dieser wenn auch vornehmlich des litterarischen Ruhms wegen entwickelten, doch immerhin verdienstlichen Thätigkeit steht es, wenn der Versuch, die Bibel dem Volk selbst zugänglich zu machen, sogar an einem so strenggläubigen Priester wie Luis de Leon durch die Inquisition mit Kerker bestraft ward. Nur in der mystischen Askese und in der Homiletik hat die gläubige Begeisterung der Spanier Ausgezeichnetes geleistet. Hierher gehören unter andern die homiletischen Schriften des Antonio Guevara (gest. 1545) und Luis de Granada (gest. 1588) sowie die mystisch-asketischen des Karmelitermönchs Juan de la Cruz (gest. 1591) und der heil. Teresa de Jesus (gest. 1582). Erst in den neuern Zeiten durften die trefflichen Bibelübersetzungen von Torres Amat, von Felipe Scio de San Miguel und Gonzalez Carvajal an die Öffentlichkeit treten und in einzelnen kirchenhistorischen und kirchenrechtlichen Abhandlungen tolerantere Ansichten verbreitet werden, wie in den Schriften von I. L. Villenueva, Blanco White (Leucado Doblado), I. Romo u. a. Sogar eine "Historia de los protestantes etc." (Cad. 1851; deutsch, Frankf. 1866), von Adolfo de Castro verfaßt, wagte sich ans Licht, der sich neuerdings eine "Historia de los heterodoxos españoles" von Menendez Pelayo (1880 ff.) anschloß. Dagegen veröffentlichte Orti y Lara eine Verherrlichung der Inquisition ("La inquisicion"). Auf theologisch-philosophischem Gebiet erlangten neuerdings der Bischof von Cordova, Ceferino Gonzalez, und der Erzbischof von Valencia, A. Monescillo, bedeutenden Ruf. Auch im Fach der Rechts- und Staatswissenschaften ermangelte es an einer philosophischen Grundlage und an Freiheit der Diskussion. An Gesetzsammlungen und gesetzgeberischer Thätigkeit war in Spanien nie Mangel. Die ältesten Rechtsbücher, wie das "Fuero Juzgo" (Madr. 1815), reichen bis in die Zeit der Gotenherrschaft zurück; dann sind besonders des Königs Alfons X., des Weisen, legislatorische Arbeiten zu nennen: die "Leyes de las siete partidas" und das "Fuero real" (hrsg. Von der Akademie der Geschichte, das. 1847; neuerdings kommentiert von Jimenez Torres, das. 1877). Eine Sammlung aller spanischen Gesetzbücher mit den Kommentaren der berühmtesten Rechtsgelehrten erschien unter dem Titel: "Los codigos españoles concordados y anotados" (Madr. 1847, 12 Bde.); die "Fueros" (Munizipalgesetze) begann Munoz zu sammeln (das. 1847). Wertvolle Arbeiten über die spanische Rechtsgeschichte lieferten Montesa und Manrique, auch Benvenido Oliver, der speziell das katalonische Recht behandelte, während Soler und Rico y Amat ihre Aufmerksamkeit der Geschichte des öffentlichen Lebens zuwendeten. Selbst die Rechtsphilosophie fand Bearbeiter in Donoso Cortes und Alcalá-Galiano sowie neuerdings in Clemente Fernandez Spanische Litteratur (Geschichte, Geographie). Elias und F. Giner, die freiern Ansichten Bahn brachen. Eine Philosophie des Familienrechts und Geschichte der Familie schrieb Manuel Alonso Martinez. In ironischem Gegensatz zu dem von jeher in Spanien herrschenden schlechten Staatshaushalt steht die seit der Mitte des 18. Jahrh. mit Vorliebe betriebene theoretische Bearbeitung der Nationalökonomie; bereits zu Anfang des 19. Jahrh. konnte Semper die Herausgabe einer "Biblioteca española economico-politica" unternehmen. Außer den im 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. berühmt gewordenen Schriftstellern Campomanes, Jovellanos, Cabarrus, wovon die beiden letztern klassisches Ansehen erhalten haben, haben sich später aus diesem Gebiet besonders Canga-Arguelles (gest. 1843) und Florez Estrada (gest. 1853; "Curso de economia politica") ausgezeichnet. Als hervorragende Arbeiten über Fragen des öffentlichen Wohls werden die einer Frau, Arenal de Garcia Carrasco (in den "Publicaciones" der königlichen Akademie), gerühmt. Besonders fleißig ist von den Spaniern das Gebiet der Geschichte bearbeitet worden. Von den alten Chroniken, zu denen man sich seit Alfons X. der Landessprache bediente, und den übrigen Geschichtswerken der frühern Zeit, in welchen sich mit der stilistischen Vervollkommnung allmählich auch der Sinn für pragmatische Auffassung entwickelte, wurden die wichtigsten schon oben bei der Nationallitteratur erwähnt. Im 18. Jahrh. zeichneten sich der Marques de San Felipe (gest. 1726), der eine Geschichte des spanischen Erbfolgekriegs schrieb, Henrique Florez (gest. 1773; "España sagrada"), Juan Bautista Muñoz (gest. 1799) durch seine Geschichte der Entdeckung und Eroberung Amerikas ("Historia de nuovo mundo") und Juan Franc. Masdeu (gest. 1817; "Historia critica de España") aus. Im 19. Jahrh. glänzten zunächst Juan Antonio Conde (gest. 1820), Verfasser der berühmten "Historia de la dominacion de los Arabes en España", und Manuel José Quintana (gest. 1857) durch seine "Vidas de Españoles celebres", während der vielverfolgte Verfasser der Geschichte der spanischen Inquisition, Llorente (gest. 1823), sein Werk im Ausland und in französischer Sprache schreiben mußte. Besonderes Lob verdient die Thätigkeit der königlichen Akademie der Geschichte, die außer ihren "Memorias" zahlreiche Quellenschriften herausgab, an die sich dann andre Urkundensammlungen, namentlich die von Navarrete, Salva und Barranda begonnene, von Fuensanta del Valle, J. Sancho Rayon und Fr. de Zabalburu fortgeführte "Coleccion de documentos ineditos para la historia de España" (bis 1888: 91 Bde.), reihten. Am meisten wurde auch später die vaterländische Geschichte bearbeitet, so namentlich von Modesto Lafuente (gest. 1866), dessen "Historia general de España" alle frühern derartigen Werke übertrifft, von Zamorro y Caballero, Alf. Espinosa, Alfaro, Rico y Amat, Antonio Cavanilles (gest. 1864), dessen vortreffliche "Historia de España" leider unvollendet blieb, u.a. An diese Werke schließen sich die Arbeiten über die spanische Kulturgeschichte von Tapia ("Historia de la civilisacion de España"), Fernan Gonzalo Moron, Ramon de Mesonero Romanos, Ad. de Castro (über die Kultur Spaniens im 17. Jahrh.) u. a. sowie zahlreiche, zum Teil vorzügliche Provinzial- und Lokalgeschichten, z. B. die "Historia de Cataluña" von Balaguer, die "Historia de la villa de Madrid" von Sanguineti etc. Auch die Geschichte der ehemals spanischen Kolonien hat neuerdings Bearbeiter gefunden, z. B. an Torrente ("La revolucion moderna hispano-americana"), Mora ("Mexico y sus revoluciones"), Pedro de Angelis u. a., wie denn auch eine Urkundensammlung über die Entdeckung und Eroberung derselben veröffentlicht wird. Von den zahlreichen sonstigen Spezialwerken seien nur erwähnt: Maldonados klassische "Historia de la guerra de independencia de España" (1833), des Grafen von Toreno "Historia del levantamiento etc. de España" (1835), Carvajals "La España de los Borbones" (1843), San Miguels "Historia de Felipe II" (1844), Gomez Arteches "Historia de la guerra civil" (1868 ff.), Barrantes "Guerras piraticas de Filipinas", Amador de los Rios' "Historia de los Judios de España", Castelars "La civilisacion en los cinco primeros siglos del cristianismo" und "Historia del movimiento republicano en Europa" u. a. Auf dem Gebiet der Literaturgeschichte behauptet Amador de los Rios (gest. 1878) mit seiner (unvollendeten) "Historia critica de la literatura española" (1860 ff.) die erste Stelle, wenn sie auch den wissenschaftlichen Anforderungen der Neuzeit nicht voll gerecht wird. Andre Übersichtswerke sowie Einzelstudien, zum Teil sehr verdienstlicher Art, liegen aus neuerer Zeit vor von J. Moratin ("Origenes de teatro español"), Lista y Aragon ("Ensayos literarios criticos"), Gil y Zarate ("Manual de literatura"), Martinez de la Rosa ("La poesia didactica, la tragedia y la comedia española"), Fernandez Guerra y Orbe ("Juan Ruiz de Alarcon"); von Abelino de Orihuela ("Poetas españoles y americanos del siglo XIX"), Mila y Fontanals ("De la poesia heroico popular castellana"), Balaguer ("Historia de los trovadores"), Valera ("Historia de la literatura española"), Canalejas, Revilla ("Principios de la literatura española"), Perojo, Espino ("Ensayo critico-historico del teatro español"), Villaamil y Castro, Valdes y Alas, Menendez Pelayo ("Historia de las ideas esteticas en España") u. a. In Bezug auf Kunstgeschichte und Archäologie sind in erster Linie die Arbeiten von Cean-Bermudez und P. Madrazo hervorzuheben; daneben verdienen Contreras, Manjarres, Hurtado Villaamil etc., nicht minder die Veröffentlichungen der königlichen Akademie der schönen Künste, das von Rada y Delgado herausgegebene "Museo español de antiguedades", welches die interessantesten Kunst- und archäologischen Gegenstände der Halbinsel reproduziert, und die "Monumentos arquitectonicos de España" ehrende Erwähnung. - Neben der Geschichte fand auch die Geographie bei den Spaniern sorgfältige Pflege, wozu sie beizeiten durch ihre Eroberungen in fremden Weltteilen und ihre Entdeckungsreisen veranlaßt wurden. Aus früherer Zeit ist vor allem die vortrefflich geschriebene "Historia de los descubrimientos y viajes de los Españoles" von Navarrete anzuführen; aus der neuern seien die Schriften von Miñano, Fuster und die lexikalischen Arbeiten von Pascal Madoz und Mariana y Sanz sowie die "Geografia de España" von Mingote y Tarazona erwähnt. Anthropologische Schriften gab neuerdings Fr. Maria Tubino heraus. Eine umfassende Sammlung spanischer Schriftsteller von den ältesten Zeiten bis auf unsre Tage ist die von Rivadeneyra herausgegebene "Biblioteca de autores españoles" (Madr. 1846-80, 70 Bde.); eine Sammlung meist neuerer belletristischer Werke enthält die "Coleccion de autores españoles" (bis jetzt 48 Bde., Leipz. 1860-86). Für die Herausgabe alter und seltener Werke sorgten vorzugsweise die "Coleccion de bibliofilos españoles" (bis 1879: 19 Bde.) und die "Coleccion de libros Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Spanische Mark - Spanischer Erbfolgekrieg. raros y curiosos" (bis jetzt 16 Bde., Madr. 1871-1884). Auf dem Gebiet der Bibliographie sind, von ältern Werken abgesehen, besonders Ferrer del Rios' "Galeria de la literatura española" (Madr. 1845), Ovilo y Oteros' "Manual de biografia y de bibliografia de los escritores del siglo XIX" (Par. 1859, 2 Bde.) und Gallardos (von Zarco del Valle und Rayon vermehrter) "Ensavo de una biblioteca española de lihros raros" (Madr. 1863-66, 2 Bde.) sowie das "Diccionario bibliografico historico" von Muñoz y Romero (das. 1865), das "Diccionario general de bibliografia española" von D. Hidalgo (1864-79, 6 Bde.) und das "Boletin de la libreria" (Madr., seit 1874) namhaft zu Vgl. Bouterwek, Geschichte der spanischen Poesie und Beredsamkeit (Götting. 1804; span. Ausgabe, Madr. 1828, 3 Bde.), fortgesetzt von Brinckmeier: "Die Nationallitteratur der Spanier seit Anfang des 19. Jahrhunderts" (Götting. 1850); Brinckmeier, Abriß einer dokumentierten Geschichte der spanischen Nationallitteratur bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts (Leipz. 1844); Clarus, Darstellung der spanischen Litteratur im Mittelalter (Mainz 1846, 2 Bde ); Ticknor, Geschichte der schönen Litteratur in Spanien (3. Aufl., New York 1872, 3 Bde.; deutsch von Julius, Leipz. 1852, 2 Bde.; Supplementband von Wolf, das. 1867); v. Schack, Geschichte der dramatischen Litteratur und Kunst in Spanien (2. Ausg., Frankf. 1854, 3 Bde.; Nachträge, das. 1855); Lemcke, Handbuch der spanischen Litteratur (das. 1855-56, 3 Bde.); Wolf, Studien zur Geschichte der spanischen und portugiesischen Nationallitteratur (Berl. 1859); Dohm, Die spanische Nationallitteratur (das. 1867); Hubbard, Histoire de la littérature contemporaine en Espagne (Par. Spanische Mark, Land zwischen Frankreich und Spanien, das jetzige Katalonien, Navarra und einen Teil von Aragonien, etwa bis zum Ebro, umfassend, ward 778 von Karl d. Gr. erobert, 781 von den Arabern wieder besetzt, 801-811 von Ludwig dem Frommen von neuem erobert und dann durch Grafen verwaltet. Die Hauptstadt war Spanische Ohren, s. Hörmaschinen. Spanische Leiter (friesische Reiter), etwa 4 m lange, 25 cm starke Balken (Leib), durch welche kreuzweise an beiden Seiten zugespitzte Latten (Federn) gesteckt sind, die so nahe aneinander stehen, daß niemand zwischen ihnen durchkriechen kann. Sie wurden früher zum Sperren von Eingängen und Brücken in Festungen verwendet. Spanischer Erbfolgekrieg 1701-1714. Da mit dem Tode des kinderlosen Königs Karl II. von Spanien das Erlöschen des habsburgischen Stammes in diesem Land in Aussicht stand, so war die spanische Thronfolge ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit für die europäische Diplomatie bereits seit der Mitte des 17. Jahrh. Von drei Seiten wurden Ansprüche auf die Nachfolge erhoben. Ludwig XIV. von Frankreich, welcher bereits 1667 die spanischen Niederlande als Erbe seiner Gemahlin in seinen Besitz zu bringen versucht hatte, verlangte den Thron für seinen Enkel Philipp von Anjou, den zweiten Sohn des Dauphin, weil er (Ludwig XIV.) ein Sohn der spanischen Infantin Anna von Österreich, Tochter Philipps III. von Spanien, und seine Gemahlin die älteste Tochter des spanischen Königs Philipp IV. war; Kaiser Leopold I., ebenfalls Enkel Philipps III. und Gemahl der jüngern Tochter Philipps IV. Margareta-Theresia stützte seine Ansprüche für seinen zweiten Sohn, Karl, teils auf diese verwandtschaftlichen Beziehungen, welche denen Ludwigs XIV. vorangingen, weil dessen Gemahlin ihren Erbansprüchen bei ihrer Vermählung entsagt hatte, teils auf die Erbansprüche des Hauses Habsburg auf die spanische Monarchie. Außerdem wurden auch für den Kurprinzen Joseph Ferdinand von Bayern, dessen Mutter Maria Antonia eine Tochter Leopolds I. und seiner spanischen Gemahlin war, Ansprüche auf den spanischen Thron erhoben, welche namentlich von den Seemächten, an deren Spitze Wilhelm III. von Oranien stand, begünstigt wurden, da diese die spanische Monarchie weder an Frankreich noch an Österreich fallen, höchstens die italienischen Nebenlande an sie verteilen wollten, wie auch ein Teilungsvertrag vom 11. Okt. 1698 festsetzte. König Karl II. ernannte den bayrischen Prinzen testamentarisch zu seinem Nachfolger in allen damals spanischen Landen. Als letzterer 6. Febr. 1699 plötzlich starb, schlossen Wilhelm III. und Ludwig XIV. (2. März 1700) einen neuen Teilungsvertrag, wonach der Erzherzog Karl die spanische Krone, Philipp von Anjou Neapel, Sizilien, Guipuzcoa und Mailand erhalten sollte. Da aber Leopold I. diesem Vertrag seine Zustimmung verweigerte, so hielt sich auch Ludwig XIV. nicht an ihn gebunden. Am Hof zu Madrid wirkte der kaiserliche Gesandte Graf Harrach für den Erzherzog Karl, der französische Gesandte Marquis v. Harcourt für Philipp von Anjou. Letzterer trug endlich den Sieg davon, denn Karl II. setzte durch Testament vom 2. Okt. 1700 Philipp von Anjou zum Erben der gesamten spanischen Monarchie ein. Nach Karls II. Tod (1. Nov. 1700) ergriff Philipp V. sofort Besitz von dem spanischen Thron und zog schon 18. Febr. 1701 in Madrid ein. Anfangs erhob nur Kaiser Leopold Protest hiergegen und traf Anstalt zum Beginn des Kriegs in Italien. Erst als Ludwig XIV. deutlich seine Absicht kundgab, die Erwerbung der spanischen Monarchie zur Erhöhung von Frankreichs Machtstellung zu verwerten und den Schiffen der Seemächte die Häfen Südamerikas und Westindiens zu verschließen, als französische Truppen die holländischen Besatzungstruppen aus den Festungen der spanischen Niederlande vertrieben und der französische König nach Jakobs II. Tode dessen Sohn als König Jakob III. von Großbritannien anerkannte, kam 7. Sept. 1701 zwischen dem Kaiser und den Seemächten eine Tripelallianz zu stande, welcher dann auch das Deutsche Reich und Portugal beitraten. Zwar starb König Wilhelm III. 19. März 1702, indes blieben sowohl England unter Königin Anna, welche von Marlborough und seiner Gemahlin beeinflußt wurde, als die von dem Ratspensionär Heinsius geleiteten Niederlande seiner Politik getreu. Frankreich hatte nur die Kurfürsten von Bayern und Köln sowie den Herzog Viktor Amadeus II. von Savoyen zu Verbündeten. Der Krieg wurde 1701 durch den kaiserlichen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen in Italien eröffnet. Eugen schlug Catinat 9. Juli bei Carpi, den an Catinats Stelle getretenen unfähigen Villeroi 1. Sept. bei Chiari und nahm 1. Febr. 1702 den letztern durch einen Überfall in Cremona gefangen. Dem neuen französischen Feldherrn Vendôme gelang es indes, die Fortschritte der Kaiserlichen in Italien zu hemmen, auch nachdem 1703 der Herzog von Savoyen auf die Seite des Kaisers übergetreten war. Am Niederrhein behauptete inzwischen der große englische Feldherr Marlborough die Oberhand gegen die Franzosen: er eroberte die Festungen an der Maas und das ganze Kurfürstentum Köln. Am obern Rhein hatte der Prinz Ludwig von Baden, dem der Marschall Villars gegenüberstand, 9. Sept. 1702 Landau er- Spanischer Erbfolgekrieg. obert und Villars, der bei Hüningen über den Rhein ging, zum Rückzug genötigt; aber 1703 eroberten die Franzosen Breisach (7. Sept.) und Landau (17.Nov.); ferner vereinigte sich 12. Mai 1703 der Kurfürst von Bayern bei Tuttlingen mit Villars, und beide drangen in Tirol ein. Zwar wurden sie durch die Erhebung der Tiroler unter großem Verlust wieder zurückgetrieben; aber da der ungeschickte österreichische General Styrum sich 20. Sept. bei Höchstädt schlagen ließ und 13. Dez. Augsburg sich ergeben mußte, so endete der Feldzug für die Verbündeten im ganzen nicht günstig. Landau und Breisach gingen wieder an die Franzosen verloren. Auch fiel Anfang 1704 Nassau in die Hände des Kurfürsten, und der Kaiser, der gleichzeitig einen Aufstand in Ungarn zu bekämpfen hatte, sah sich schon in seinen Erblanden bedroht. Da trat 1704 die entscheidende Wendung ein. Prinz Eugen, den der Kaiser an die Spitze des Hofkriegsrats gestellt hatte, faßte den Plan, durch einen kombinierten Angriff der beiden verbündeten Heere die bayrisch-französische Macht zu vernichten. Marlborough ging bereitwilligst auf diesen Plan ein und zog in Eilmärschen vom Niederrhein nach Schwaben. Markgraf Ludwig und er vereinigten ihre Truppen bei Ulm, nötigten durch Wegnahme der Verschanzungen auf dem Schellenberg bei Donauwörth (2. Juli) den Kurfürsten und den französischen General Marsin zum Rückzug nach Augsburg, und nachdem einerseits Tallard sich mit letzterm, anderseits Eugen sich mit Marlborough vereinigt hatte (während der Markgraf von Baden Ingolstadt belagerte), erlitt 13. Aug. 1704 das französisch-bayrische Heer bei Höchstädt (Blenheim) eine entscheidende Niederlage und verlor gegen 30,000 Mann an Toten und Verwundeten; Tallard selbst und 15,000 Mann wurden gefangen. Der Kurfürst mußte flüchten. Als Leopold I. 5. Mai 1705 starb, setzte sein Sohn Joseph I. den Kampf mit Energie fort. Er beschwichtigte den ungarischen Aufstand, erwirkte die Achtserklärung gegen die beiden wittelsbachischen Kurfürsten und bemächtigte sich nach blutiger Unterdrückung einer Volkserhebung der bayrischen Lande. Am 23. Mai 1706 erfocht Marlborough bei Ramillies einen glänzenden Sieg über die Franzosen unter Villeroi, besetzte Löwen, Mecheln, Brüssel, Gent und Brügge und ließ überall Karl III. als König ausrufen. Als infolge dieser Niederlage Vendôme aus Italien nach den Niederlanden berufen wurde, erhielt dadurch Eugen die Möglichkeit, von Verona aus dem von den Franzosen belagerten Turin zu Hilfe zu eilen und nach seiner Vereinigung mit dem Herzog von Savoyen den vereinigten französischen Generalen Marsin, Herzog von Orléans und La Feuillade 7. Sept. vor Turin eine gänzliche Niederlage beizubringen, infolge deren die Franzosen gemäß der sogen. Generalkapitulation vom 13. März 1707 ganz Italien räumen mußten. Nur am Oberrhein gelang es Villars, nach dem Tode des Markgrafen Ludwig (Januar 1707) die von den Reichstruppen besetzten Stollhofener Linien zu durchbrechen und das südwestliche Deutschland brandschatzend zu durchziehen. Selbst in Spanien, wo die überwiegende Mehrheit der Nation dem bourbonischen König Philipp V. anhing, gelang es dem habsburgischen Prätendenten, vorübergehende Erfolge zu erringen. Gleich im Anfang des Kriegs wurde von den Engländern und Holländern eine im Hafen von Vigo liegende spanische Flotte zerstört; 1703 trat König Dom Pedro II. von Portugal dem großen Bündnis bei, und 1704 erschien Erzherzog Karl in Spanien, während die Engländer (3. Aug. 1704) Gibraltar eroberten. Wirklich gelang es Karl, 1705 sich zum Herrn von Valencia, Katalonien und Aragonien zu machen; 2. Juli 1706 wurde sogar Madrid von einem vereinigten englisch-portugiesischen Heer unter Galloway und Las Minas besetzt; allein da den Operationen der Verbündeten der Zusammenhang fehlte, so waren diese Erfolge nicht von Dauer, Madrid ging bald wieder verloren, und nach dem Sieg des Marschalls Berwick über das englisch-portugiesische Heer bei Almanza (25. April 1707) fielen auch die südlichen Provinzen in die Hände Philipps Obwohl die Verbündeten auch auf den übrigen Kriegsschauplätzen 1707 keine großen Erfolge errangen, machte sich in Frankreich die Erschöpfung der Hilssmittel schon so sehr geltend, daß Ludwig XIV. den Seemächten den Verzicht auf Spanien anbot und nur die italienischen Lande für seinen Enkel beanspruchte. Indes noch war Marlboroughs Einfluß in England maßgebend, überdies hofften die Engländer, Spanien unter Karl III. zu ihrem ausschließlichen Nutzen merkantil ausbeuten zu können. Die Seemächte waren mit Österreich darüber einverstanden, daß man nicht bloß aus dem Erwerb der ganzen spanischen Monarchie für Österreich bestehen, sondern auch die Lage benutzen müsse, um Frankreichs Vorherrschaft für immer zu brechen. Der Erfolg schien dies Vorhaben zu begünstigen. Ein Versuch, den ein starkes französisches Heer unter dem Herzog von Burgund und Vendôme 1708 unternahm, um die spanischen Niederlande wiederzuerobern, wurde durch den Sieg Eugens und Marlboroughs bei Oudenaarde (11. Juli) vereitelt und ganz Flandern und Brabant von neuem unterworfen. Ludwig XIV. war jetzt sogar bereit, aus Grundlage des völligen Verzichts auf Spanien über einen Frieden zu verhandeln. Auch als die Verbündeten die Rückgabe des Elsaß mit Straßburg, der Freigrafschaft, der lothringischen Bistümer forderten, war der französische Gesandte im Haag, Torcy, noch zu Unterhandlungen bereit. Erst die Zumutung, seinen Enkel selbst durch französische Truppen aus Spanien vertreiben zu helfen, wies Ludwig XIV. mit Entschiedenheit zurück. Der Krieg in den Niederlanden wurde wieder aufgenommen; die blutige Schlacht bei Malplaquet (11. Sept. 1709) blieb zwar unentschieden, die furchtbaren Verluste der Franzosen in derselben erschöpften aber ihre Kräfte. Gleichzeitig siegte in Spanien der österreichische General Starhemberg bei Almenara 27. Juli und Saragossa 20. Aug., und Karl zog 28. Sept. in Madrid ein. Da, als Frankreichs Niederlage unabwendbar schien, als der Übermut der Verbündeten keine Grenzen mehr kannte, traten unerwartete Ereignisse ein, welche einen Umschwung zu gunsten Ludwigs XIV. zur Folge hatten. Am 10. Dez. 1710 errang Vendôme einen glänzenden Sieg über Starhemberg bei Villa Viciosa. Wichtiger war noch, daß in England das Whigministerium durch ein Toryministerium verdrängt wurde, welches den Frieden möglichst rasch herzustellen wünschte, und daß 17. April 1711 Kaiser Joseph I. starb. Da nun dessen Bruder, der Prätendent für Spanien, als Karl VI. Kaiser wurde, so fürchteten die andern Mächte, das Haus Habsburg möchte durch die Vereinigung Österreichs mit Spanien zu mächtig werden. Zunächst knüpften die Engländer mit Ludwig XIV. geheime Unterhandlungen an. Am 8. Okt. 1711 wurden die Präliminarien zu London unterzeichnet und trotz aller Gegenbemühungen des Kaisers 29. Jan. 1712 der Friedenskongreß zu Utrecht eröffnet. Marlborough wurde durch den Grafen Ormond, einen eifrigen Jakobiten, ersetzt, und dieser gewährte dem Spanischer Hopfen - Spanische Sprache. Eugen nicht die nötige Unterstützung, so daß der Marschall Villars bei Denain 27. Juli 1712 wieder einige Erfolge über Eugen und die Holländer davontrug. Als Philipp V. 5. Nov. 1712 auf die Erbfolge in Frankreich für sich und seine Nachkommen feierlichst verzichtete und diese Urkunde von Ludwig XIV. bestätigt, also eine Union Spaniens mit Frankreich für die Zukunft verhindert wurde, schlossen England und bald auch die Niederlande mit Frankreich Waffenstillstand, dem am 11. April 1713 der förmliche Abschluß des Friedens zu Utrecht folgte, dem auch Portugal, Savoyen und Preußen beitraten; Kaiser und Reich weigerten sich, ihn anzuerkennen. Die Bedingungen dieses Friedens waren folgende: Philipp V. erhält Spanien mit den außereuropäischen Besitzungen, welches aber nie mit Frankreich vereinigt werden darf; Frankreich erkennt die Thronfolge in England an und tritt an dieses die Hudsonbailänder, Neufundland und Neuschottland ab; von Spanien erhält England Gibraltar und Menorca sowie beträchtliche Handelsvorteile im spanischen Amerika, Preußen bekommt das Oberquartier von Geldern und Neuchâtel mit Valengin, Savoyen eine Anzahl Grenzfestungen und die Insel Sizilien, Holland die sogen. Barrierefestungen (s. Barrieretraktat) und einen günstigen Handelsvertrag. So von den Verbündeten verlassen, konnten der Kaiser und Prinz Eugen nichts mehr ausrichten, zumal die Reichsfürsten sich sehr saumselig und unzuverlässig zeigten. Der Marschall Villars nahm 20. Aug. 1713 Landau, brandschatzte die Pfalz und Baden und eroberte 16. Nov. Freiburg i. Br., worauf er Eugen Friedensunterhandlungen anbot, welche auch 26. Nov. 1713 zu Rastatt eröffnet wurden. Am 7. März 1714 wurde der Friede zwischen Frankreich und dem Kaiser zu Rastatt abgeschlossen. Um auch das Deutsche Reich in den Frieden aufzunehmen, fand ein Kongreß zu Baden im Aargau statt, wo der Rastatter Friede mit wenigen Änderungen 7. Sept. d. J. angenommen wurde. Hiernach bekam der Kaiser die spanischen Niederlande, Neapel, Mailand, Mantua und Sardinien; Frankreich behielt von seinen Eroberungen nur Landau; die Kurfürsten von Bayern und Köln wurden in ihre Länder und Würden wieder eingesetzt. Vergeblich verwendete sich der Kaiser für die treuen Katalonier, welche sich Philipp V. nicht unterwerfen wollten; seine Bemühungen waren fruchtlos, Barcelona wurde 11. Sept. 1714 von dem Marschall von Berwick erobert, und die Katalonier verloren ihre alten Vorrechte und ständischen Freiheiten. Vgl. v. Noorden, Europäische Geschichte im 18. Jahrhundert, 1. Teil: Der spanische Erbfolgekrieg (Düsseld. 1870-82, 3 Bde.); Lord Mahon, History of the war of the succession in Spain (Lond. 1832); de Reynald, Louis XIV et Guillaume III. Histoire des deux traités de partage et du testament de Charles II. (das. 1883, 2 Bde.); Courcy, La coalition de 1701 contre la France (Par. 1886, 2 Bde.); Parnell. The war of succession in Spain 1702-1711 (Lond. 1888); Arneth, Prinz Eugen von Savoyen (Wien 1858, 3 Bde.); die Memoiren des Herzogs von Marlborough (s. d. 1). Spanischer Hopfen, s. Origanum. Spanischer Kragen, s. Paraphimose. Spanischer Pfeffer, s. Capsicum. Spanischer Tritt, Reitkunst, s. Passage. Spanische Spitzen, Spitzen aus Gold- und Silberdraht, mit Perlen und bunter Seide untermischt. Spanische Sprache. Die s. S. gehört zu den romanischen Sprachen und ist demnach eine Tochtersprache des Lateinischen, die aber von den verschiedenen Völkern, die im Lauf der Jahrhunderte die Pyrenäische Halbinsel beherrschten, viele Elemente in sich aufgenommen hat. Die Ureinwohner Spaniens, im Norden die Kantabrer, im Süden die Iberer, vermischten sich frühzeitig mit keltischen Stämmen, daher der Name Keltiberer. Ihre nationale Eigentümlichkeit und Sprache gingen in den römisch-germanischen Eroberungen und Einwanderungen fast gänzlich unter, und nur an den Pyrenäen bewahrten einige kantabrische Stämme ihre Sitte und Sprache vor Vermischung mit fremden Elementen. Diese in den baskischen Provinzen fortlebenden Überreste der alten spanischen Volkssprache sind unter dem Namen der baskischen Sprache, von den Einheimischen Escuara genannt, bekannt (s. Basken). In den übrigen Teilen Spaniens bildete sich, wie in den andern romanisierten Ländern, aus der Lingua latina rustica, der römischen Volkssprache, die zugleich mit der römischen Herrschaft in die Pyrenäische Halbinsel eindrang, eine nationale Umgangs- und Volkssprache mit eigentümlichen Provinzialismen, welche, als mit dem Verfall des römischen Reichs und nach dem Einfall der germanischen Völker auch die politische und litterarische Verbindung mit Rom sich lockerte, nach und nach die allein übliche und allgemein verstandene wurde. Die den Römern in der Herrschaft folgenden Westgoten nahmen mit der römischen Sitte auch diese Sprache an und machten sie so sehr zu ihrer eignen, daß sie nur die zur Bezeichnung der ihnen eigentümlichen Staats- und Kriegsinstitutionen, Waffen etc. nötigen Wörter aus ihrer Muttersprache beibehielten. Diese also ganz aus römischen Elementen hervorgegangene und nur mit einem germanischen Wörtervorrat bereicherte spanische Volkssprache erhielt einen neuen Zusatz durch die Araber, mit denen die spanischen Goten fast 800 Jahre um den Besitz des Landes kämpften. Aber auch die Araber trugen nur zur Bereicherung des Sprachstoffs, besonders in Bezug auf Industrie, Wissenschaften, Handel etc., bei und modifizierten höchstens einigermaßen die Aussprache, ohne den organisch-etymologischen Bau der Sprache wesentlich zu verändern. Die ältesten Spuren des Spanischen finden sich in Isidorus' "Origines"; die ältesten Denkmäler aber gehören der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. an. Unter den spanischen Dialekten ward der kastilische am frühsten zur Schriftsprache ausgebildet, und wie die Kastilier den Kern der Nation ausmachten, ihre Litteratur die volkstümlichste Entwickelung nahm, so wurde auch ihre Mundart die herrschende und endlich die fast ausschließliche Schriftsprache in Spanien, so daß sie die eigentliche s. S. geworden ist. Dieselbe wird gegenwärtig, außer in Spanien und den zugehörigen Inseln, noch in den ehemals spanischen Ländern Südamerikas, in Zentralamerika und Mexiko sowie zum Teil in den spanischen Kolonien (Cuba, Manila etc.) gesprochen. Ihr Alphabet ist das lateinische. Die Vokale lauten ganz wie im Deutschen. Von den Konsonanten werden folgende eigentümlich ausgesprochen: c (ß gelispelt), ch (tsch), g vor e und i (ch rauh wie in Sprache), j (immer wie ch rauh), ll (lj), ñ (nj), z (immer wie ß gelispelt). Wie die Italiener die zu starke Aussprache der Römer milderten, so machten sie die Spanier noch rauher. Sie vervielfältigten noch die Aspirationen auf x, j, g, h und f. Der schon ziemlich stark aspirierte Laut im Lateinischen verwandelt sich im Spanischen in den noch stärker aspirierten Laut h (lat. facere, span. hacer, machen); an die Stelle des mouillierten l tritt das Spanisches Rohr - Spanishtown. stark aspirierte j (lat. Filius, span. hijo, Sohn), pl ward durch das mouillierte ll ersetzt (lat. planus, span. llano, eben), und für ct wird immer ch genommen (lat. factus, dictus, span. hecho, dicho, gemacht, gesagt). J ist, seitdem x nach der neuern Orthographie (von 1815) seinen Kehllaut verloren hat, der Hauptkehlkonsonant der spanischen Sprache geworden; man schreibt jetzt allgemein Don Quijote, Mejico statt Don Quixote, Mexico. Gesetzgeber für die s. S. ward die Grammatik der spanischen Akademie (zuerst 1771). Neuere Hilfsmittel zur Erlernung derselben sind für Deutsche die Grammatiken von Franceson (4. Aufl., Berl. 1855), Fuchs (das. 1837), Kotzenberg (2. Aufl., Brem. 1862), Brasch (Hamb. 1860), Pajeken (2. Aufl., Brem. 1868), Lespada (2. Aufl., Halle 1873), Montana (2. Aufl., Stuttg. 1875), Funck (8. Aufl., Frankf. 1885), Schilling (2. Aufl., Leipz. 1884), Wiggers (2. Aufl., das. 1884). Die vorzüglichsten Wörterbücher lieferten: die spanische Akademie (Madr. 1726-39, 6 Bde.; hrsg. von V. Salvá, 12. Aufl., Par. 1885) und Dominguez (6. Ausg., Madr. 1856, 2 Bde.); ein neues begann R. Cuervo (das. 1887 ff., 6 Bde.). Für Deutsche sind zu empfehlen: Franceson (12. Aufl., Leipz. 1885), Kotzenberg (Brem. 1875), Booch-Arkossy (6. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.), Tollhausen (das. 1886). Den Versuch eines etymologischen Wörterbuchs machten Covarrubias (Madr. 1674), Cabrera (das. 1837), Monlau (2. Aufl., das. 1882), R. Barcia (das. 1883, 5 Bde.) und L. Eguilaz (Granada 1880). Wichtige Beiträge zur Etymologie enthält Diez' "Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen" (4. Aufl., Bonn 1878). Die historische Grammatik der spanischen Sprache behandelt Diez' "Grammatik der romanischen Sprachen" (5. Aufl., Bonn 1882) und P. Försters "Spanische Sprachlehre" (Berl. 1880). Die Orthographie wurde von der Akademie in einem besondern "Tratado" (zuletzt Madr. 1876) festgestellt. Spanisches Rohr (Stuhlrohr, Rotang, Rattans), die schlanken Stämme und Triebe mehrerer Arten der Palmengattung Calamus (s. d.), werden in allen Wäldern des Indischen Archipels, besonders auf Borneo, Sumatra und der Malaiischen Halbinsel, gewonnen und, nachdem sie durch eine Kerbe in einem Baum gezogen und dadurch von Oberhaut, Blättern und Stacheln befreit worden, in Bündeln von 100 Stück in den Handel gebracht. Die größte Verwendung findet das Spanische Rohr in China und Japan, wo man es zu unzähligen Gebrauchsgegenständen verarbeitet, auch als Tauwerk auf Schiffen benutzt. Man unterscheidet wohl helleres, dünnes Rohr als weibliches (Bindrotting) von dem stärkern, dunklern mit enger stehenden Knoten als männlichem (Handrotting); letzteres wird auch zu Spazierstöcken benutzt. Das sogen. gereinigte Spanische Rohr ist durch Schaben oder durch Schleifen auf besondern Maschinen von den Knoten befreit. In den europäischen Hafenstädten verarbeitet man es durch Zerschneiden, Spalten, Hobeln und Ziehen zu Stuhl- und Korsettrohr, Rieten für Webstühle etc. Die dünnsten, schnurenförmigen Streifen heißen Schnur- oder Putzrohr und werden in der Putzmacherei benutzt. Stuhlrohr wird oft durch Schwefeln gebleicht. Sehr viel Rohr wird für die Korbmacherei gefärbt, lackiert und vergoldet. Abfälle dienen als Polster- und Scheuermaterial. Durch besondere Bearbeitung gewinnt man aus Spanischem Rohr ein Fischbeinsurrogat, das Wallosin, zu Schirmstäben. Spanische Wand, eine bewegliche Schutzwand, welche aus einem hölzernen oder metallenen Gestell besteht, über welches Zeug, Tapeten, Leder u. dgl. gespannt ist; findet als Bettschirm, zur Scheidung von Räumen, als Schutzwand gegen Wind u. dgl. Verwendung. Das Holz wird bisweilen mit Lack überzogen und bunt bemalt oder vergoldet. Spanische Weide, s. v. w. Ligustrum. Spanische Weine, zum Teil vorzügliche Weine, welche dem Burgunder, Roussillon und Languedoc vergleichbar sind und diese selbst in mancher Hinsicht übertreffen; seit dem Altertum berühmt, behaupteten sie im ganzen Mittelalter ihr Übergewicht und besitzen es heute noch in verschiedenen Ländern, wie in England und Nordamerika. Alle spanischen Provinzen treiben Weinbau, doch sind die Produkte der nördlichen kaum über ihre Grenzen hinaus bekannt. Im allgemeinen leidet der spanische Weinbau durch die Indolenz und Nachlässigkeit der Produzenten, und die gewöhnlichen spanischen Weine stehen sehr tief unter der Erwartung, zu welcher Klima und Lage berechtigen. Die südspanischen Weine müssen für den Export, namentlich über See, mit Spiritus versetzt werden, den man vielfach ebenfalls aus Most bereitet. Die vorzüglichsten spanischen Weine sind Likörweine, und unter diesen ist der berühmteste der weiße Jereswein (Sherry), demselben schließen sich an: die ebenbürtigen, sehr süßen Pajareteweine (von denen der beste auch Malvasier heißt); der Malagawein (s. d.), der berühmte Likörwein Tinto di Rota (Tintillo), stark, mit vieler Wärme, sehr dunkel, süß und tonisch wirkend; die Manzanillaweine mit starkem Geruch und Geschmack nach Kamillen, von den Barros und Arenas zwischen Jeres und San Lucar, der Montilla (der dem Amontillado-Sherry den Namen gegeben hat), der Rancio von Peralta in Navarra, der Alicante (vino generoso) aus Valencia, ein renommierter Magenwein, mit sehr ausgesprochenem aromatischen Boukett, der bei uns als "echter Malaga" meist arzneilich benutzt wird, der Pedro Ximenez von Vittoria in Viscaya, der dunkel granatfarbige Grenacho vom Campo di Carinena in Aragonien, der Muskat von San Lucar in Andalusien, der Moscatel von Fuencaral in Neukastilien, der Malvasia von Pollentia auf Mallorca, die Muskatweine von Borja in Aragonien und von Sitges in Katalonien. Gewöhnliche markige Rotweine nach Art der französischen liefert Spanien nur wenige von hervorragendem Werte. Der beste ist der von Olivanza in Estremadura, der Valdepeñas in Kastilien, der Manzanores aus der Mancha, einer der leichtesten und angenehmsten spanischen Weine etc. Aus dem nordöstlichen Spanien wird Ebro-Port vielfach für echten Portwein verkauft; er ist aber rauher, minder körperreich und geistig. Spanische Wicke, Pflanze, s. Lathyrus. Spanischfliegenpflaster, s. Kantharidenpflaster. Spanischfliegensalbe, s. Kantharidensalbe. Spanischgelb, s. v. w. Auripigment. Spanischweiß, s. v. w. Wismutweiß. Spanish stripes (spr. spännisch streips), hellfarbige leichte Tuche aus Zephyrwolle, die in Deutschland für den Export nach Asien fabriziert werden. Spanishtown (spr. spännischtaun, Santiago de la Vega), Hauptstadt der britisch-westind. Insel Jamaica in fruchtbarer Alluvialebene, am Cobre und 8 km vom Hafen von Kingston gelegen, mit (1880) 8000 Einw. Um den King's Square, in dessen Mitte eine Statue Lord Rodneys steht, liegen das Ständehaus, der Palast des Gouverneurs und die Regierungsgebäude, alle in altkastilischem Stil. S. wurde 1534 von Diego Kolumbus Spanner - Sparbutter. Spanner (Geometridae, Phalaenidae), Familie aus der Ordnung der Schmetterlinge, Insekten von mittlerer oder geringerer Größe, mit schmächtigem, zartem Körper, großen, breiten, meist matt und trübe gefärbten, in der Ruhe flach ausgebreiteten Flügeln, borstenförmigen, häufig gekämmten Fühlern, schwach entwickelter Rollzunge und meist wenig hervortretenden Tastern, ruhen am Tag an versteckten Orten und fliegen des Nachts. Die Raupen zeichnen sich durch den eigentümlichen spannenmessenden Gang aus, wie ihn der Mangel der vordern Bauchfußpaare bedingt. Sie bilden beim Gehen eine Schleife nach oben und ruhen auch oft in dieser Stellung, oder indem sie sich nur mit den Afterfüßen an einem Zweig festhalten und ihren dünnen, glatten Körper frei in die Luft erheben. Sie verpuppen sich in einem lockern Gespinst über oder in der Erde, auch wie die Tagfalter oder ohne Gespinst in der Erde. Man kennt gegen 1800 Arten aus allen Weltteilen, von denen viele bei massenhaftem Auftreten schädlich werden. Der große Frostspanner (Blatträuber, Waldlindenspanner, Hibernia defoliaria L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 4-4,5 cm breit, auf den weißgelben Vorderflügeln mit zwei sattbraunen Binden und rotgelben Flecken, zuweilen ganz rotgelb, auf den Hinterflügeln weißlich, schwärzlich bestäubt, fliegt im Oktober und November, vorherrschend im mittlern und südöstlichen Deutschland. Das ungeflügelte, ockergelbe, schwarz gefleckte Weibchen steigt am Stamm empor, wird hier befruchtet und legt 400 Eier einzeln oder in kleinen Gruppen an Knospen von Obstbäumen, Buchen, Eichen, Birken, welche die lichtgelbe Raupe mit rotbraunem Rückenstreif und Kopf während ihrer Entfaltung ausfrißt. Sie verpuppt sich im Juli in einer mit wenigen Seidenfäden ausgekleideten Erdhöhle. Eine zweite gelbe Art (H. aurantiaria L., s. Tafel "Schmetterlinge II") fliegt gleichzeitig. Der kleine Frostspanner (Blütenwickler, Obst-, Winterspanner, Reifmotte, Larentia [Cheimatobia, Acidalia] brumata L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 2-2,4 cm breit, auf den Vorderflügeln licht graugelb, fein gewässert und mit dunklern Wellenlinien gezeichnet, auf den Hinterflügeln weißlichgelb mit schwarzen Randpünktchen, fliegt im November und Dezember. Das graue Weibchen, das zum Fliegen untaugliche Stümpfe mit dunkler Querbinde besitzt, legt seine Eier an die Knospen von Obstbäumen, Eichen, Buchen und andern Laubbäumen, auch an Rosen; die gelblichgrüne Raupe, mit zwei weißen Rückenlinien und hellbraunem Kopf, erscheint im ersten Frühjahr, bespinnt die Knospen, welche sie ausfrißt, und ist der gefährlichste Feind für unsre Obstbäume. Sie verpuppt sich im Juni in einem losen Kokon flach unter der Erdoberfläche. Als Gegenmittel benutzt man fußtiefes Umgraben des Bodens um die Baumstämme, Anlegen von Papierringen um den Stamm, welche mit Teer oder besser mit dem sogen. Brumataleim bestrichen sind, gut anschließen und von Oktober bis Dezember klebrig erhalten werden müssen, um das am Stamm aufsteigende Weibchen zu fangen. Der Kiefernspanner (Föhrenspanner, Spanner, Fidonia piniaria L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 3,5 cm breit, mit schwarzbraunen Flügeln, die beim Männchen ein hellgelbes oder weißliches, beim Weibchen ein hoch rotgelbes Mittelfeld besitzen, fliegt im Mai und Juni im Kiefernwald und legt seine Eier besonders im Stangenholz an die Nadeln. Die gelblichgrüne Raupe, mit weißem Mittelstrich, dunkeln Seitenstreifen und gelben Streifen über den Füßen, erscheint im Juli, frißt den Stumpf der zur Hälfte abgebissennen Nadeln und verpuppt sich im Oktober unter Moos und Streu am Fuß des Baums. Als Gegenmittel ist nur das Aufsuchen der Puppen erfolgreich. Der Stachelbeerspanner (Harlekin, Zerene grossulariata L.), 4 cm breit, mit goldgelbem, schwarzfleckigem Leib, weißen, schwarz gefleckten Flügeln, von denen die vordern an der Wurzel gelb sind und zwischen zwei Punktreihen eine goldgelbe Mittelbinde besitzen; er fliegt im Juli und August, das Weibchen legt die Eier in kleinen Gruppen an die Blätter von Stachel- und Johannisbeersträuchern, Pflaumen, Aprikosenbäumen, Weiden, Kreuzdorn. Die oberseits weiße, schwarz gefleckte, unterseits dottergelbe Raupe erscheint im September, überwintert unter Laub, frißt im nächsten Jahr bis Juni und verpuppt sich unter einigen Fäden an einem Blatt oder Zweig. Der Birkenspanner (Amphidasys betularia L., s. Tafel "Schmetterlinge II"), 5 cm breit, milchweiß, schwarz gesprenkelt, findet sich überall in Europa, seine einem dürren Zweig ähnliche Raupe lebt auf Birken, Ebereschen und andern Laubhölzern, zieht aber die Eiche vor und verpuppt sich im September oder Oktober in der Erde. Der Schmetterling fliegt im Mai und Juni. Vgl. Guenée, Species général des Lépidoptères, Bd. 9 u. 10 (Par. 1857). Spannkraft, s. Dampf und Gase. Spanntag, die Leistung eines Gespanns Zugtiere in einem Arbeitstag; z. B. 1 Hektar wurde gepflügt in zwei Spanntagen und zwei Knechtstagen heißt: die Fertigung der Arbeit erforderte die Thätigkeit zweier Gespanne und zweier Spannung, der Zustand eines elastischen Körpers, in welchem seine Teilchen durch eine von außen wirkende Kraft aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht sind und in dieselbe zurückkehren, sobald die Kraft aufhört zu wirken (s. Elastizität), daher das Kraftmaß, mit welchem eiserne Konstruktionsteile auf Druck oder Zug in Anspruch genommen werden. Elektrische S., s. Elektrizität; S. der Gase und Dämpfe ist das Streben derselben nach Ausdehnung, wodurch sie auf die sie umgebenden Körper einen Druck ausüben (s. Gase und Spannnngsenergie, s. Kraft, S. 133. Spannungsgesetz, Voltasches, s. Galvanismus, S. 877. Spannungsirresein, s. Katatonie. Spannungskoeffizient, s. Ausdehnung, S. 111. Spannungsreihe, s. Elektrische S. Spannweite (Spannung, Sprengung), die Entfernung der Widerlager eines Gewölbes von einander, auch die Tragweite der Balkendecken oder die lichte Tiefe eines Raums (Zimmertiefe). Spanten, die Rippen eines Schiffs (s. d., S. 455). Sparadrap (franz., spr. -drá), s. Bleipflaster. Sparagmit, s. Grauwacke. Sparassis Fr. (Strunkschwamm), Pilzgattung aus der Unterordnung der Hymenomyceten, mit fleischigem, vertikal aufrechtem, strauchartig ästigem Fruchtkörper, dessen Äste blattförmig zusammengedrückt und auf ihrer ganzen glatten Oberfläche mit dem Hymenium überzogen sind. S. crispa Fr. (echter Ziegenbart) besitzt einen in der Erde verborgenen, dicken, fleischigen Stamm, welcher oben in zahlreiche gelappte, gekräuselte Äste übergeht und daher einen rundlich kopfförmigen Rasen bildet, wächst auf Sandboden in Nadelwäldern im mittlern und nördlichen Europa und ist sehr wohlschmeckend. Sparbanken, s. Sparkassen. Sparbutter, s. v. w. Kunstbutter, s. Butter, S. 697. Spargel - Sparkassen Spargel (Asparagus L.), Gattung aus der Familie der Asparageen (Smilaceen), ausdauernde Kräuter od. Halbsträucher mit sehr verzweigten, oft windenden Stengeln, sehr kleinen, schuppenförmigen, fleischigen bis häutigen Blättern u. in den Achseln derselben mit Büscheln kleiner, meist nadelartiger, steriler, blattartiger Zweige, kleinen, zwitterigen oder diözischen Blüten auf gegliedertem Stiel und kugeliger, häufig nur einsamiger Beere. Etwa 100 Arten in den warmen und gemäßigten Regionen, die meisten am Kap. Der gemeine S. (A. officinalis L.) treibt aus dem Rhizom fleischige, saftige, mit fleischigen Niederblättern spiralig besetzte, weißliche oder blaßrötliche Sprosse, die sich über der Erde in dem verzweigten, grünen, 0,6-1,5 m hohen, glatten Stengel verlängern. Die blattartigen Zweige sind nadelförmig, glatt, die Beeren scharlachrot. Der S. wächst in Süd- und Mitteleuropa, Algerien und Nordwestasien, besonders an Flußufern, und wird in mehreren Varietäten als Gemüsepflanze kultiviert. Er verlangt eine warme Lage und einen lockern, sandigen Boden, der nötigen Falls drainiert werden muß, da auch nur im Winter bleibende Nässe verderblich wirkt. Zur Anlage der Spargelbeete hebt man vor Eintritt des Winters die Erde 1,9 m breit und einen Spatenstich tief aus, gräbt dann Rinder- oder Hofmist und zwar doppelt soviel wie zu einer gewöhnlichen starken Düngung unter und steckt in Entfernungen von 0,6-0,9 m Pfähle, an welchen man von der ausgegrabenen oder von andrer guter Erde Hügel macht, deren Spitze den obern Rand des Beets erreichen kann. Auf diesen Hügeln breitet man die ein- bis zweijährigen Spargelpflanzen (Klauen) sorgfältig aus und bedeckt sie mit Erde. Vorteilhaft ist eine weitere Mistbedeckung des ganzen Beets, welche nur die Köpfe der Hügel freiläßt, worauf man dann das Ganze so weit mit Erde bedeckt, daß die Köpfe der Pflanzen etwa 3 cm tief zu liegen kommen. Im Herbst schneidet man die Stengel 16 cm hoch ab, lockert das Beet und bedeckt es 8-10 cm hoch mit altem Mist. Im Frühjahr wird das Gröbere fortgenommen und der Rest mit Erde mehrere Zentimeter hoch bedeckt. Im dritten Jahr erhöht man die Beete mit fetter, sandiger Erde so stark, daß die Pflanzen 16 cm tief liegen. Man kann jetzt anfangen, S. zu stechen; doch ist es besser, nur einzelne Stengel und nur bis Anfang Juni fortzunehmen. Die Beete geben dann 25 Jahre lang guten Ertrag; man braucht sie nur im Frühjahr zu lockern und im Herbst stark mit Mist, im Sommer mit Jauche, im Frühjahr mit Asche und Kali zu düngen. Der S. enthält 2,26 Proz. eiweißartige Körper, 0,31 Fett, 0,47 Zucker, 2,80 sonstige stickstofffreie Substanzen, 1,54 Cellulose, 0,57 Asche, 92,04 Proz. Wasser; er wirkt harntreibend, in größern Mengen genossen als Aphrodisiakum und erzeugt wohl auch Blutharnen. Früher war die Wurzel offizinell; die Samen hat man als Kaffeesurrogat verwertet. Columella gedenkt in seinem Buch "De re rustica" auch des Spargels. Andre Spargelarten hat man als Zierpflanzen benutzt; interessant ist der blätterlose, dornige Asparagus horridus, in Spanien und Griechenland. Vgl. Göschke, Die rationelle Spargelzucht (3. Aufl., Berl. 1889); Burmester u. Bültemann, Spargelbau (Braunschw. 1880); auch die Schriften von Brinckmeier (Ilmenau 1884) und Kremer (Stuttg. 1887). Spargelerbse, s. Tetragonolobus. Spargelfliege, s. Bohrfliege. Spargelklee, s. v. w. Luzerne, s. Medicago; auch s. v. w. Tetragonolobus. Spargelkohl (Broccoli), s. Kohl. Spargelstein, spargelgrüner Apatit (s. d.). Spargilium (lat.), Spreng-, Weihwedel. Spargiment (ital.), ausgestreutes Gerücht; Umständlichkeit, sich sperrendes Zieren. Sparherd, s. Kochherde, S. 906. Spark, s. Spergula. Sparkalk, s. Gips, S. 355. Sparkarten, s. Sparkassen, S. 104. Sparkassen (Sparbanken, engl. Saving banks, spr. ssehwing bänks) sind Kreditanstalten, welche den Zweck haben, weniger bemittelten Leuten die sichere Ansammlung und zinstragende Anlegung kleiner erübrigter Geldsummen zu ermöglichen und hierdurch den Spartrieb in weitern Kreisen des Volkes zu pflegen und zu fördern. Dadurch, daß diese Kassen ihren Inhabern grundsätzlich oder gesetzlich keinen Gewinn abwerfen sollen, unterscheiden sich dieselben von andern ähnlich eingerichteten Kreditanstalten. Solche Kassen sind (und zwar vorzugsweise von Gemeinden als Gemeindeanstalten oder in der Art, daß die Gemeinde die Bürgschaft für die Kasse übernahm und die Verwaltung derselben unter die Aufsicht der Gemeindebehörden stellte, später auch von Privatgesellschaften und Fabrikanten) seit dem vorigen Jahrhundert in großer Zahl ins Leben gerufen worden. Die erste wurde 1765 zu Leipzig als "Herzogliche Leihkasse" errichtet. Hierauf folgte 1778 eine von einer Privatgesellschaft in Hamburg gegründete Anstalt, welcher zuerst der Name Sparkasse beigelegt wurde; ferner die in Oldenburg 1786, Kiel 1796 sowie in Bern und Basel. Die erste englische Sparkasse wurde 1798 in London von einer Privatgesellschaft als Wohlthätigkeitsanstalt errichtet; in Frankreich folgte Paris 1818, in Preußen Berlin in demselben Jahr, in Österreich Wien 1819, in Schweden Stockholm 1821, in Italien Venetien und die Lombardei 1822 und 1823, von welcher Zeit ab die S. sich rasch in den europäischen Kulturländern verbreiteten. Damit diese Anstalten ihren Zweck möglichst vollständig erfüllen, und um zu verhüten, daß dieselben nicht zu sehr von bemittelten Klassen benutzt werden, ist eine obere Grenze für die jeweilig erfolgende einzelne Einlage, dann auch eine solche für das Gesamtguthaben festgesetzt, welche nicht überschritten werden darf. Der geringste Betrag der Einlagen ist in Deutschland meist auf 1 Mk. bemessen. Jeweilig nach Ablauf eines Jahrs werden die inzwischen aufgewachsenen und nicht erhobenen Zinsen dem Kapital zugeschlagen. Jeder Einleger erhält ein Sparkassenbuch, in welchem die Einlagen fortlaufend vermerkt und erfolgende Rückzahlungen abgeschrieben werden. Kleinere Summen werden sofort zurückgezahlt, für größere dagegen ist eine verschieden bemessene Kündigungsfrist angesetzt. Das Gesamtguthaben wird gegen Rückgabe des Sparkassenbuchs zurückgezahlt. Da S. viel dazu benutzt werden, um für bestimmte Zwecke Summen anzusparen, so hat man auch Vorsorge getroffen, daß Rückzahlungen nur zu bestimmten Zeiten erfolgen, so bei den Mietsparbüchern am ortsüblichen Mietzahlungstag. Kuntze (Plauen) empfiehlt zu dem Zweck die Einführung von "gesperrten Sparkassenbüchern" mit festen Rückzahlungsfristen. Um die Benutzung der S. auch für solche zu erleichtern, welche nach andern Orten verziehen, wurde die Bildung von Kommunalverbänden derart befürwortet, daß jede Kasse die Einlagebücher andrer übernehmen und weiterführen soll, indem die Einlagen Abziehender an die Sparkasse des neuen Aufenthaltsortes überwiesen werden. Da nach den meisten Statuten Aus- zahlungen ohne Prüfung der Berechtigung des Inhabers stattfinden, so ist zum Schutz gegen Verluste durch Diebstahl eine sorgfältige Aufbewahrung der Sparkassenbücher geboten. Als S. pflegt man auch solche Kassen zu bezeichnen, welche in Wirklichkeit nur Einzahlungs- oder Markenverkaufsstellen sind. Letztere dienen dem Zwecke, ganz kleine Summen anzusammeln, um dieselben, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht haben, an andre Kreditanstalten oder sogen. Hauptsparkassen abzuführen, welche werbende Anlegung und Verwaltung besorgen. Diese Verwaltung ist in verschiedenen Ländern gesetzlich geregelt, so in Frankreich l822 und 1835; in Preußen durch ein Regulativ von 1838, welches dem Gedanken der Selbstverwaltung in weitem Maß Rechnung trägt, jedoch mit der Maßgabe, daß ebenso wie in Bayern, Baden, Sachsen etc. die Statuten der öffentlichen, unter Staatsaufsicht zu stellenden S. der staatlichen Genehmigung bedürfen; in England seit 1817, wo man den Charakter der S. gesetzlich dadurch gewahrt hat, daß den Leitern derselben (trustees) der Bezug einer Entschädigung oder eines Gewinns untersagt wurde. Die deutschen S. legen die ihnen anvertrauten Summen teils gegen Hypotheken auf Grundstücke und Gebäude an, die Gemeindesparkassen insbesondere gegen im Gemeindebezirk oder in dessen näherer Umgebung bestellte Hypotheken, teils kaufen sie sichere Wertpapiere, dann geben sie auch Darlehen gegen Wechsel und Faustpfand, endlich auch bis zu einer bestimmten Summe gegen Handschein und höhern Zins unter Gestellung eines Bürgen. Die englischen S. kaufen meist Staatspapiere an. Die französischen S. sind gesetzlich gehalten, die Einlagen bei der staatlichen Caisse des dépôts et consignations im Kontokorrentverhältnis zu hinterlegen; ihre Forderungen bilden daher, soweit sie nicht in Bezugsrechte auf ewige Renten umgewandelt werden, einen Teil der schwebenden Schuld des Staats. Durch diese Zentralisierung des Sparkassenwesens ist zwar letzteres außerordentlich vereinfacht; die einzelnen S. tragen mehr den Charakter einfacher Zahlungs- und Rechnungsstellen. Dagegen können durch die enge Beziehung zu den schwebenden Schulden, den S., wie dies schon in Frankreich der Fall gewesen, Verlegenheiten erwachsen. Überhaupt bedürfen die S., sobald sie nur gut verwaltet werden, weniger einen Rückhalt durch wechselseitige Verbindung oder durch Gründung einer Art Zentralsparkasse, weil bei denselben nicht wie bei Banken in schlechten Zeiten die Rückforderungen anzuschwellen pflegen. Die in einzelnen Ländern vorkommende Verbindung von S. mit Pfandhäusern ist nicht zweckmäßig, weil in guten Zeiten mehr Geld den S. zuströmt und die Pfandhäuser keine Gelegenheit haben, dasselbe unterzubringen, während in schlechten Zeiten der Geldbedarf der Pfandhäuser durch die S. nicht gedeckt werden kann. Ihre Verwaltungskosten decken die S. dadurch, daß sie einen niedrigern Zins geben, als sie erhalten. Überschüsse werden zunächst zur Bildung eines Reservefonds, dann für gemeinnützige Zwecke (Altersprämien für treue Dienstboten etc.) verwandt. Bei Gemeindesparkassen ist vielfach (so in Preußen, Baden) zu derartigen Verwendungen staatliche Genehmigung erforderlich. Schon 1798 tauchte in England der Gedanke auf, S. mit Schulen zu verbinden; derselbe wurde 1834 an der Stadtschule zu Le Mans verwirklicht. Dann bestanden schon Anfang dieses Jahrhunderts eigentliche Schulsparkassen in Thüringen (Apolda) und am Harz (Goslar). Seit 1866 wirkte Professor F. Laurent (s. d.) zu Gent in unermüdlicher Weise für Einführung solcher Schul- oder Jugendsparkassen. Den Erfolgen, welche er erzielte, ist es zu verdanken, daß diese Kassen in Belgien, Frankreich, England u. Italien, wo ihnen durch das Gesetz vom 27. Mai 1875 große Vergünstigungen zugestanden wurden, dann in Österreich und in einigen Teilen von Deutschland (besonders im Königreich Sachsen, dann in Schleswig-Holstein) große Verbreitung gefunden haben. Bei diesen Kassen sammelt der Lehrer die Beiträge der Kinder, bis dieselben einen Betrag von der Höhe erreicht haben, daß die Einlage in eine öffentliche Sparkasse erfolgen kann. Nun kann, während die Ersparnisse der einzelnen Kinder hierfür noch nicht genügen, doch die Gesamtsumme zureichen und einstweilen verzinslich angelegt werden. Der auf diesem Weg erzielte Gewinn kann zur Deckung kleiner Verwaltungskosten, für Prämiierung von Schülern oder auch zur Verteilung nach Maßgabe der Einlagen verwandt werden. Durch die Schulsparkassen soll der Trieb zum Sparen und zur Selbstbeherrschung schon in der frühen Jugend gerade in den Kreisen geweckt und genährt werden, für deren Lage diese Tugenden von der höchsten Bedeutung sind. Dagegen sind die Schulsparkassen besonders in deutschen Lehrerkreisen einem großen Widerstand begegnet. Man machte gegen dieselben geltend, daß gerade bei den untern Klassen den Kindern gar keine Möglichkeit zum Sparen geboten sei, und daß diese Anstalten die schlimmern Leidenschaften der Habsucht und des Neides bereits bei den Kindern entflammten und großzögen. Nach einer Mitteilung des Vereins für Jugendsparkassen gab es in Deutschland 1881: 842 Kassen in 157 Städten und 548 Dörfern. Es waren an denselben beteiligt: 1250 Lehrer und 61,940 Schüler mit 640,000 Mk. Einlagen. Man zählte Frankreich Kassen Bücher Einlagen 1877 8033 176040 2,98 Mill. Frank 1881 14372 302841 6,40 " " 1885 23222 488624 11,29 " " Italien Lehrer Schüler Bücher Einlagen 1876 522 11935 7289 32049 Lire 1880 3240 40956 19056 174597 " 1885 3451 65062 376345 " Ungarn Schulen Lehrer Schüler Einlagen 1880 141 222 7333 54647 Guld. 1882 354 565 19273 114734 " 1886 581 926 28256 113264 " Vgl. Laurent, Conférence sur l'épargne (1866); Wilhelmi, Die Schulsparkassen (Leipz. 1877); A. de Malarce, Die Schulsparkasse (Berl. 1879); Elwenspöck, Die Jugendsparkasse (Memel 1879); Senckel, Jugend- und Schulsparkassen (Frankf. a. O. 1882); Derselbe, Zur Sparkassenreform (1884). Um in weitern Kreisen der Bevölkerung die Ansammlung von ganz kleinen Beträgen zu ermöglichen, werden in Deutschland seit 1880, damals angeregt durch Kaufmann Schwab in Darmstadt, Pfennigsparkassen nach dem Vorbild der englischen Penny saving banks gegründet. Es sind dies einfache Sammelstellen für Beträge von 10 Pfennig und weniger, für welche, wenn eine Summe von 1 Mk. erreicht ist, ein Sparkassenbuch von der Hauptsparkasse ausgestellt wird. Die Ansammlung erfolgt unter Verwendung von Sparmarken und Sparkarten oder Sparbüchern. Die Marken, meist in gleicher Höhe, oft auch in verschiedenen Wertstufen, werden gewöhnlich durch Vermittelung von Ladengeschäften verkauft und auf den vorbezeichneten Stellen der Sparkarten aufgeklebt. Sobald letztere ausgefüllt sind, werden dieselben an bestimmten Stellen oder Sparkassenversicherung - Sparrenkopf. auch nur bei der Hauptsparkasse gegen Quittung eingeliefert. Den Zwecken besonderer Kreise dienen die Fabriksparkassen (s. d.); dagegen sind für die allgemeinste Verbreitung bestimmt die seit 1861 in mehreren Ländern eingeführten Postsparkassen (s. d.). Es wurden gezählt an S. (ohne Postsparkassen): Einleger Einlagen Auf ein Buch Mill. Mk. Mark Großbritannien und Irland (1885) .... - 927 - Italien (1885) .... 1189167 764 642 Österreich (1886) ... 2018695 1792 887 Frankreich (1885) ... 4926391 1770 359 Schweiz (1886) .... 745335 411 495 die Zahl das Guthaben durchschnittlich der Einleger der Einleger auf ein Buch (Konten) Mark Mark Preußen 1874 2061199 987237180 478 " 1885 4209453 2260933912 537 Bayern 1874 299277 70253440 235 " 1885 464545 130859355 282 Sachsen 1874 686733 232203831 338 " 1884 1199556 4076210 0 340 Baden 1874 141781 83297384 588 " 1884 215646 175727111 815 Hessen 1874 84491 40225356 476 " 1884 160745 90588725 564 Meiningen 1885 33525 18200000 543 Ein Einleger (Sparkassenbuch) kam in Bayern (1885) auf 11,6 Einw. = auf 100 Einw. 8,6 Sparer Baden (1884) " 7,1 " = " 100 " 13,5 " Preußen (1886) " 6,4 " = " 100 " 14,8 " Hessen (1884) " 5,9 " = " 100 " 16,8 " Sachsen (1884) " 2,7 " = " 100 " 37,7 " Auf den Kopf der Bevölkerung entfiel ein Einlagebetrag: 1885 in Bayern von 24,7 Mk., in Preußen von 79,8 Mk., 1884 in Hessen von 94,7 Mk., in Baden von 109,7 Mk., in Sachsen von 128,0 Mk. Während im Königreich Sachsen auf 84 qkm eine Sparkasse entfällt, gehören in Preußen 289, in Bayern 273, in England 493, in Österreich 914 und in Italien 951 qkm dazu. Vgl. Hermann, Über S. (Münch. 1835); Vidal, Des caisses d'épargne (Par. 1844); Konst. Schmidt und Brämer, Das Sparkassenwesen in Deutschland (Berl. 1864); Lewins, History of banks for savings in Great Britain and Ireland (Lond.1866); "Verhandlungen des 14. volkswirtschaftlichen Kongresses in Wien 1873"; Engel, Ein Reformprinzip für S. (in der "Zeitschrift des Preußischen Statistischen Büreaus" 1868); "Statistique internationale des caisses d'épargne" (bearbeitet von Bodio, Rom 1876); die Verhandlungen des Pariser Kongresses für Wohlfahrtseinrichtungen (1878); "Beiträge zur Statistik der S. im preußischen Staat" (Berl. 1876); Selle, Die preußischen S. (Lüdenscheid 1879); Spittel, Die deutschen S. (Gotha 1880); Kuntze, S. und Gemeindefinanzen (Berl. 1882); Bahrt, Die Kontrolle und Hilfseinrichtungen bei S. (2. Aufl., Leipz. 1882); Seedorff, Die Sparkassenbuchführung (Hannov. 1887); Thiele, Die städtische Sparkasse zu Berlin in ihrer Einrichtung (Berl. 1887). Seit 1876 erscheint in Wien als Organ für internationales Sparkassenwesen die von C. Menzel geleitete "Österreichisch-Ungarische Sparkassenzeitung". Sparkassenversicherung, Bezeichnung der Geschäfte einer als Nebenbranche von einigen Lebensversicherungsgesellschaften eingeführten Art Sparkasse (s. d.), welche gegen Leistung einer bestimmten Reihe von Jahreseinzahlungen nach Ablauf festgesetzter Zeit ein bestimmtes Kapital zu gewähren hat, und welcher alle Merkmale der Versicherung fehlen, wenn nicht, wie das ausnahmsweise bei der Einrichtung der Lebensversicherungsgesellschaft Friedrich Wilhelm der Fall ist, ausbedungen wird, daß zwar das Kapital erst nach Ablauf bestimmter Jahre ausgezahlt werde, die Jahreseinzahlungen aber aufhören sollen, wenn der Versicherte etwa vorher sterben würde. In diesem Falle liegt eine Verbindung von Sparkasse mit der Versicherung vor (vgl. Versicherung). Sparks, Jared, nordamerikan. Geschichtschreiber, geb. 10. Mai 1789 zu Willington im Staat Connecticut, war eine Zeitlang Prediger einer Unitariergemeinde zu Boston, redigierte von 1823 bis 1830 die Vierteljahrsschrift "North American Review", ward 1839 Professor der Geschichte an der Harvard-Universität zu Cambridge im Staat Massachusetts und war 1849-52 deren Präsident; starb 14. März 1866 daselbst. Unter seinen zahlreichen Schriften sind hervorzuheben: "Life of John Ledyard" (Cambr. 1828; deutsch, Leipz. 1829); "Diplomatic correspondence of the American revolution" (Boston 1829-31, 12 Bde.); "Life of Governeur Morris" (das. 1832, 3 Bde.); "Life of Washington, with diaries" (1839, 2 Bde.; deutsch von Raumer, Leipz. 1839); "Library of American biography" (New York 1834-47, 25 Bde.) und "Correspondence on the American revolution" (das. 1853, 4 Bde.). Auch gab er die Werke G. Washingtons (New York 1834-38, 12 Bde., mit Biographie) und Benj. Franklins (1836-40, 10 Bde.) heraus und führte dessen Selbstbiographie bis zu dessen Tod fort (Sonderausg. 1844). Vgl. Mayer, Memoir of Jared S. (Baltimore 1867); Ellis, Memoir of J. S. (Cambr. 1869). Sparmarken, s. Sparkassen, S.104, und Postsparkassen. Sparmotor, s. Feuerluftmaschinen. Sparnacum, früherer Name von Epernay (s. d.). Sparprämie, s. Arbeitslohn, S. 759. Sparr, altes märk. Adelsgeschlecht, das noch jetzt in einem gräflichen Zweig in Pommern blüht; besonders im 17. Jahrh. war es zahlreich, und viele Offiziere in den Heeren verschiedener Monarchen gingen aus ihm hervor. Bemerkenswert: Otto Christoph, Freiherr von S., brandenburg. Generalfeldmarschall, geb. 1605 zu Prenden bei Bernau, trat 1626 in das kaiserliche Heer unter Wallenstein, kämpfte von 1638 bis 1648 als Oberst eines Regiments meist am Rhein, ward 1648 kurkölnischer Generalfeldwachtmeister und nahm Lüttich ein. Er trat 1649 in die Dienste des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dessen Heer, namentlich die Artillerie, er organisierte, entschied 30. Juli 1656 durch seinen Angriff auf die polnische Reiterei den Sieg bei Warschau, ward 1657 Generalfeldmarschall, befehligte die brandenburgischen Hilfstruppen in der Schlacht bei St. Gotthardt; starb 9. Mai 1668. Er errichtete in der Marienkirche zu Berlin das schöne Denkmal am Erbbegräbnis seiner Familie mit seinem eignen knieenden Standbild. Im J. 1889 ward das 16. preußische Infanterieregiment nach ihm benannt. Vgl. v. Mörner, Märkische Kriegsobersten des 17. Jahrh. (Berl. Sparren, s. Dachstuhl; in der Heraldik s. Heroldsfiguren. Sparrenkopf, das freie, meist profilierte Ende eines Sparrens, s. Dachstuhl; in der antiken Baukunst die unter der Hängeplatte des Gebälks befindlichen Kragsteine oder Sparrm. - Sparta. Sparrm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für A. Sparrmann, geb. 1747, Begleiter Cooks, gest. 1787 als Professor in Upsala (Zoolog). Sparta, im Altertum Hauptstadt der peloponnes. Landschaft Lakonien, lag auf den letzten Ausläufern des Taygetos und dicht am rechten Ufer des Eurotas, mit dem sich hier die Flüßchen Önos und an der Südseite der Stadt Knakion und Tiasa vereinigten, und bestand aus verschiedenen weitläufigen, gartenreichen Quartieren, welche zusammen einen Umfang von etwa 9 km hatten. Die Einwohnerzahl mag sich zur Zeit der Blüte auf 40-50,000 belaufen haben. Früher hatte die Stadt gar keine Mauern, da die Bürger ihr als solche dienen sollten; erst der Tyrann Nabis legte eine Mauer an, die zwar bald darauf von den Achäern zerstört, aber auf Befehl der Römer wiederhergestellt und noch in byzantinischer Zeit erneuert wurde. S. hatte auch keine eigentliche Akropolis, sondern diesen Namen führte nur einer der Hügel der Stadt, auf dessen Spitze neben andern der Tempel der Athene Chalkioikos stand. Von den einzelnen Quartieren (Komen) wird Pitana im NO. als das schönste genannt. Hier war die Agora mit den Versammlungsgebäuden der Gerusia und der Ephoren, der von der persischen Beute erbauten persischen Halle und dem großen, mit weißem Marmor überkleideten Theater, von welchem sich noch einige Überreste erhalten haben. Andre Plätze im W. der Stadt, an der Straße nach Messene, waren der Dromos mit 2 Gymnasien und der mit Platanen bepflanzte Platanistas, wo die Jünglinge zu ringen pflegten. Die Stadt hatte außer den angeführten noch zahlreiche andre Tempel und Monumente, welche Pausanias nennt, deren Lage sich aber heute nicht mehr nachweisen läßt. Überreste alter Bäder finden sich nordwestlich und südöstlich vom Theater, Reste einer alten Brücke über den Eurotas an der heutigen Straße nach Argos und Tegea. Erst die Anlage der Stadt Misthra (s. d.), westlich von S., veranlaßte ihre Verödung. Die jetzige Stadt S. (s. Sparti), erst 1836 gegründet, nimmt den südlichen Teil des alten S. ein. [Geschichte.] Als älteste Einwohner werden die Pelasger genannt; frühzeitig gründeten die Phöniker Niederlassungen an der Küste Lakoniens, um die dort häufigen Purpurschnecken zu sammeln. Diesen folgten kleinasiatische Griechen, Leleger genannt, und Einwanderer von Norden her. Die durch die Einwanderungen vermehrte und veränderte Bevölkerung wird in der ältesten Überlieferung unter dem Namen "Achäer" zusammengefaßt. Ihr sagenhaftes Herrschergeschlecht waren die Tyndariden, dann die Atriden (der Atride Menelaos). Infolge der Dorischen Wanderung (1104 v. Chr.) kam S. an die Dorier (s. d.). Nach der gewöhnlichen Sage fiel Lakonien den beiden Söhnen des Aristodemos, Eurysthenes und Prokles, zu. In Wirklichkeit war die erste dorische Eroberung eine unvollständige. Die Achäer behaupteten sich in einem großen Teil Lakoniens; die Dorier setzten sich zunächst bloß am rechten Ufer des Eurotas fest, wo sie als feste Niederlassung S. gründeten. Von hier aus breiteten sie sich allmählich über die übrigen Gemeinden aus und vermischten sich mit den Achäern, deren ursprüngliche Ebenbürtigkeit auch daraus sich ergibt, daß eins der spartanischen Königsgeschlechter, die Agiaden, achäisch war. Diese unfertigen Zustände stürzten den Staat in eine Verwirrung, aus der ihn erst die Gesetzgebung des Lykurgos (s. d.), welche freilich so, wie sie bestand, nicht auf einmal angeordnet, sondern allmählich entstanden ist, herausriß. Dieser stellte den innern Frieden her und begründete danach eine neue Staatsordnung auf der Vorherrschaft und strengen Organisation der dorischen Bevölkerung, der Spartiaten. Diese wurden in der Mitte des Landes vereinigt und 4500 (später 9000) gleiche Ackerlose unter sie verteilt, über welche sie weder durch Kauf oder Verkauf, noch durch Schenkung oder Testament frei verfügen durften. Sie waren in die drei Phylen der Hylleer, Pamphyler und Dymanen, diese wieder in zehn Oben geteilt und an Rang und Rechten einander gleich. Außer den Spartiaten gab es noch zwei untergeordnete Klassen der Bevölkerung, Periöken und Heloten. Die Periöken (Lakedämonier) waren persönlich frei, aber ohne Anteil am Stimmrecht in der Volksversammlung und an den Ehrenrechten, leisteten Zins an den Staat und wurden mit den Spartiaten zur Verteidigung des Vaterlandes aufgeboten. Die Heloten waren Leibeigne des Staats und wurden hauptsächlich dazu verwandt, die Ländereien der Spartiaten zu bebauen und letztere im Krieg als Leichtbewaffnete zu begleiten. Zur Zeit der Blüte Spartas zählte man an Einwohnern ungefähr 40,000 Spartiaten, 120,000 Periöken und 200,000 Heloten. Die Verfassung war eine aristokratische. An der Spitze des Staats standen die zwei Könige. Ihnen zur Seite stand der Rat der Alten, die Gerusia, mit Einschluß der beiden Könige, die aber nur je eine Stimme hatten, aus 30 Mitgliedern, den Ältesten der Oben, bestehend. Die Volksversammlung (Agora) hatte nur die Anträge des Rats der Alten (später auch der Ephoren) entweder anzunehmen oder zu verwerfen, nicht aber selbst Anträge zu stellen. Die Könige gelangten nach Erbrecht und Erstgeburt zur Regierung. Durch Wohnung, Ländereien, ihnen zukommende Lieferungen von Opfervieh und Beute etc. vor allen andern Bürgern ausgezeichnet, waren sie Oberpriester, Feldherren und Richter. Aber ihre Macht, in älterer Zeit nicht genau begrenzt, war späterhin, namentlich nach dem Aufkommen der Ephoren (s. d.) seit den Messenischen Kriegen, sehr beschränkt. Möglichste Gleichheit der Bürger, kriegerische Tüchtigkeit und ausschließliches Interesse derselben für des Staats Macht und Ruhm hervorzubringen, war der Zweck der Lykurgischen Gesetzgebung. Der Spartiate gehörte nicht sich, sondern dem Staat an; daher war das Leben ein fast durchaus öffentliches: Jagden, Leibesübungen, Teilnahme an den Volksversammlungen, an Opfern und feierlichen Chören, Zuschauen bei den gymnastischen Spielen der Jugend u. dgl. füllten, wenn nicht Krieg war, die Zeit des Tags aus. Gewerbe und Künste, Schiffahrt und Handel zu treiben, galt eines Spartiaten für unwürdig. Bereicherung durch Handel war durch das Gesetz, bloß eiserner Münzen sich zu bedienen, ausgeschlossen. Auch die Erziehung war durchaus Sache des Staats, öffentlich und gemeinschaftlich und bildete ein künstlich gegliedertes System; ihr vorherrschender Zweck war körperliche Kräftigung und Abhärtung, selbst bei der weiblichen Jugend, und Gewöhnung an streng militärischen Gehorsam. Durch Übung in der Kürze des Ausdrucks (Lakonismus) gewann der junge Spartiate jene Intensität und Sammlung des Geistes, jene gedrungene und kernige Persönlichkeit, die ihn auszeichnete; durch Erlernung dorischer Nationallieder wurde Begeisterung für das Vaterland geweckt. Damit nicht von außen Gefährliches sich einschleiche, durfte kein Spartaner ohne ausdrückliche Erlaubnis ins Ausland reisen; Fremde wurden nur eingelassen, wenn sie mit den Behörden zu verhandeln hatten, und durften nicht länger als nötig verweilen. Der Sparta (Geschichte). Staat wachte über Einfachheit in dem Bau und der Einrichtung der Häuser, über die Kleidung, über die Zucht der Frauen, selbst über die Musik. Die Männer (immer je 15) mußten sich, um jeden Luxus im Essen zu verhindern, zu gemeinsamen einfachen Mahlzeiten (Pheiditien oder Syssitien) vereinigen. Die Ehe war geboten, und es fand öffentliche Anklage statt gegen die, welche gar nicht, spät oder unpassend sich verehelichten. Eine kinderlose Ehe wurde gar nicht als solche angesehen, sondern ihre Auflösung vom Staat verlangt. Mißgestaltete und schwächliche Kinder wurden, nachdem sie den Ältesten des Geschlechts vorgezeigt worden waren, in den Schluchten des Taygetos ausgesetzt, d. h. als Periökenkinder erzogen, während Kinder von Periöken und Heloten, wenn sie spartiatische Erziehung genossen und von einem Spartiaten adoptiert waren, mit Erlaubnis der Könige in die Doriergemeinde aufgenommen werden konnten; dieselben hießen Mothaken. Durch das Übergewicht der dorischen Spartiaten wurde Lakonien erst zu einem dorischen Staat gemacht. Das gesteigerte Stammesgefühl traf zusammen mit der nur auf kriegerische Tüchtigkeit und Thatkraft gerichteten Lebensordnung, um den Eroberungsgeist in den Spartanern zu erwecken und zu nähren. Der erneuerte Kampf mit den alten Einwohnern hatte die völlige Unterwerfung derselben zur Folge. Durch Grenzstreitigkeiten entstanden die Kriege mit Messenien (s. d.), die mit der Unterjochung dieses Landes endigten. Langwierige Kriege hatte S. mit Arkadien zu führen. Erst um 600 v. Chr. gewannen die Spartaner die Oberhand und zwangen Tegea zur Anerkennung ihrer Hegemonie, die sich damals bereits über den größten Teil des Peloponnesos erstreckte. Die Olympischen Spiele waren das gemeinschaftliche Fest der unter Spartas Oberhoheit vereinigten Staaten. Mit Klugheit und Umsicht waren die Spartaner darauf bedacht, durch Erhaltung der alten staatlichen Ordnungen in den Nachbarländern, namentlich durch Bekämpfung der Tyrannis, ihren politischen Einfluß zu befestigen, und wurden hierbei von der delphischen Priesterschaft unterstützt. Beim Beginn der Perserkriege scharte sich ganz Griechenland um die Spartaner, welche den Oberbefehl führten, aber sich in denselben wenig Ruhm erwarben; aus Eifersucht auf Athen nahm S. am Kampf bei Marathon nicht teil, und nur gezwungen schlug es die Schlacht bei Salamis; sein Glanzpunkt war die Aufopferung des Leonidas und seiner Dreihundert bei den Thermopylen. Die Fortführung des Kampfes in größerm Maßstab und die Gründung eines großen hellenischen Gemeinwesens unter spartanischer Hegemonie vertrug sich nicht mit der auf strenge Abgeschlossenheit berechneten Verfassung Spartas. So überließ es, wenn auch von Neid erfüllt, die Führung der Griechen im Seekrieg den kühnern thatkräftigern Athenern, zumal es von innern Erschütterungen heimgesucht wurde. Einen Aufstand der Arkadier und der mit diesen verbündeten Argiver dämpfte S. zwar glücklich; aber ein Aufstand der Messenier (464-455) lähmte des Staats Kraft im Innern und zwang ihn sogar, bei Athen Hilfe zu suchen. Als S. ein Hilfskorps, welches Kimon von Athen 461 zuführte, schimpflich zurückschickte, entstand offener Bruch zwischen beiden Staaten. Um den Athenern im Norden ein Gegengewicht zu beschaffen, stellte S. durch den Sieg bei Tanagra 457 Thebens Hegemonie in Böotien her. Die Schlacht bei Önophyta vernichtete aber diese wieder, und 450 ward unter dem Einfluß friedfertig gesinnter Staatsmänner ein fünfjähriger Waffenstillstand und 445 ein 30jähriger Friede zwischen Athen und S. geschlossen, in welchem beide Staaten sich den Besitz ihrer Hegemonie garantierten. Der tiefer liegende Gegensatz jedoch zwischen dem ionischen und dem dorischen, dem demokratischen und aristokratischen Element sowie der Neid der auf Athens Macht und Blüte eifersüchtigen Verbündeten Spartas, namentlich Korinths und Thebens, ließen es zu keiner dauernden Versöhnung kommen, und im Peloponnesischen Krieg (431-404) fand der schroffe Gegensatz seinen Ausdruck. S. ging aus demselben als Sieger und scheinbar mächtiger hervor, als es je zuvor gewesen war. Alle frühern Bundesgenossen Athens waren ihm zugefallen; aber im Innern geschwächt und durch Beseitigung weiser Gesetze der Grundlagen seiner Verfassung beraubt, verstand es nicht, den gewonnenen Besitz mit Mäßigung und Klugheit zu behaupten. Gewalt und Treulosigkeit waren die Grundsätze der Politik eines Lysandros und Agesilaos. Überall wurden unter Spartas bewaffnetem Schutz oligarchische Verfassungen eingerichtet, die feindlichen Parteien mit blutiger Gewalt unterdrückt. Ein Hauptziel der spartanischen Politik war die Wiedergewinnung der kleinasiatischen Küste, welche im Peloponnesischen Krieg den Persern preisgegeben worden war. Deshalb unterstützten die Spartaner den jüngern Kyros gegen Artaxerxes und sandten 399 Thimbron, dann Derkyllidas und zuletzt Agesilaos mit Heeresmacht nach Kleinasien. Aber die glänzenden Erfolge des letztern vermochten nicht, die Stellung Spartas im Mutterland zu sichern. Auf Anstiften der Perser verbündeten sich Athen, Theben, Korinth, Argos u. a. gegen S., und es entstand 395 der sogen. Korinthische Krieg (s. d.), den S. durch den mit Persien vereinbarten Antalkidischen Frieden (387) beendete. Es gab die kleinasiatischen Griechen den Barbaren preis und hoffte, durch das Verbot aller Bünde zwischen griechischen Staaten seine Herrschaft dauernd zu begründen. Es zwang Theben, seine Städte freizugeben, Argos, seine Besatzung aus Korinth zurückzuziehen, und schaltete im Peloponnes als unumschränkter Herr. Die Besetzung der Kadmeia in Theben (382) führte jedoch den Sturz von Spartas unwürdiger Gewaltherrschaft herbei. Theben erkämpfte sich 379 seine Freiheit und die Hegemonie über Böotien wieder. In dem Kampf, den S. nunmehr gegen Athen und Theben unternahm, verlor es an ersteres seine Herrschaft zur See, und die Schlacht bei Leuktra (371) erschütterte auch seine Macht zu Lande für immer. Epameinondas verwüstete 369 Lakonien, vernichtete seine Hegemonie über den Peloponnes, machte Messenien selbständig und brachte so S. an den Rand des Verderbens, aus dem es auch der Tod des Epameinondas nicht erretten konnte. Die von Lykurg gegebene Verfassung war im Lauf der Zeit untergraben worden, und der Verkehr mit dem üppigen Persien und dem asiatischen Griechenland hatte verderbend auf die einheimische Sitte eingewirkt. S. wurde eine der reichsten Städte Griechenlands. Infolge der immerwährenden Kriege sank aber die Zahl der männlichen Bevölkerung, und zur Zeit des Aristoteles stellte es nicht viel über 1000 Hopliten. Wenn dieser Stand der Bevölkerung von selbst die Vermögensgleichheit aufheben mußte, so wurde diese Störung noch mehr gefördert durch das Gesetz des Ephoren Epitadeus, welches durch Schenkung oder Testament frei über das Ackerlos zu verfügen gestattete. Die Verfassung ging allmählich in eine engherzige, selbstsüchtige Oligarchie über. Im Innern krank und seiner Bundesgenossen beraubt, Sparta, Herzog von - Spartieren. konnte sich S. seit der Schlacht bei Leuktra nie wieder zu seinem frühern Einfluß erheben. Alexander d. Gr. versagten sie zwar die Heeresfolge, aber König Agis II. machte 330 einen fruchtlosen Versuch, die makedonische Herrschaft zu stürzen. Die Spartaner mußten sogar, um sich gegen neue Angriffe des Demetrios (296) und des Pyrrhos (272) zu schützen, ihre Stadt stark befestigen. Die Spartiaten würdigten sich zu Mietlingen des Auslandes herab. Zur Zeit des Königs Agis III. war ihre Zahl auf 700 geschmolzen. Die schwindende Volkszahl und die überhandnehmende Sitte der Mitgiften machten das Mißverhältnis im Besitz immer größer. Agis' III. (244-240) Versuch, die Lykurgische Verfassung wiederherzustellen, scheiterte. Kleomenes III. begann nach seinem ruhmreichen Kriege gegen die Achäer 226 seine Reformen mit dem Sturz der Ephoren und der Verbannung der oligarchischen Gegner. Ohne weiteres Hindernis wurden die Schulden getilgt, die Bürgerschaft durch Aufnahme von Periöken auf 4000 gebracht, die Ländereien unter sie neu verteilt und die Lykurgische Zucht wieder eingeführt. Auch die Hegemonie im Peloponnes und in Griechenland wollte Kleomenes seinem Vaterland wieder erkämpfen, und schon war er nach der Eroberung von Argos nahe daran, an die Spitze des Achäischen Bundes zu treten, als Antigonos Doson, von Aratos herbeigerufen, 221 in der Schlacht bei Sellasia die Macht des kaum verjüngten Staats brach. S. mußte sich an Antigonos ergeben, der sofort die Reformen wieder aufhob und das Ephorat wiederherstellte. Der Staat trat dem Achäischen Bund bei, behielt aber im übrigen seine Unabhängigkeit. In dem Usurpator Machanidas (211-207) erhielt S. seinen ersten Tyrannen; er hob das Ephorat auf, trat als unumschränkter Herr auf und machte sich an der Spitze seiner Söldnerscharen im Peloponnes furchtbar, doch fiel er schon 207 gegen Philopömen bei Mantineia. Die Regierung seines Nachfolgers Nabis (206-192) war eine fast ununterbrochene Reihe von Kriegen und ein Gewebe von verräterischer Politik. Nach der Ermordung des Nabis durch die Ätolier (192) gewann Philopömen S. wieder für den Achäischen Bund, aber der alte Haß der Spartaner gegen die Achäer blieb. Als S. 188 vom Bund abfiel und sich unter römischen Schutz stellte, rückte Philopömen vor S., ließ die Häupter der Empörung hinrichten, die Mauern niederreißen und die fremden Söldner sowie die von den Tyrannen unter die Bürger aufgenommenen Heloten entfernen. S. mußte nun achäische Einrichtungen annehmen. Rom sah zu, wie sich die Achäer und Spartaner gegenseitig durch ihre Streitigkeiten entkräfteten, bis der geeignete Zeitpunkt zum Eingreifen gekommen war. Nach der Vernichtung des Achäischen Bundes und der Unterwerfung von ganz Griechenland (146) teilte S. das ziemlich leidliche Los der übrigen griechischen Staaten; ja, es soll den Spartanern von den Römern besondere Ehre zu teil geworden sein: sie blieben frei und leisteten keine andern als Freundschaftsdienste. Unter den Kaisern nach Augustus blieb den Lakedämoniern kaum noch ein Schatten von Freiheit. Die Lykurgischen Einrichtungen bestanden noch bis ins 5. Jahrh. fort; erst das Christentum verdrängte die letzten Reste derselben. Vgl. Manso, Sparta (Leipz. 1800-1805, 3 Tle.); O. Müller, Die Dorier (2. Aufl., Bresl. 1844, 2 Bde.); Lachmann, Die spartanische Staatsverfassung in ihrer Entwickelung und ihrem Verfall (das. 1836); Trieber, Forschungen zur spartanischen Verfassungsgeschichte (Berl. 1871); Gilbert, Studien zur altspartanischen Geschichte (Götting. 1872); Busolt, Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen (Leipz. 1878, Bd. 1); E. v. Stern, Geschichte der spartanischen und thebanischen Hegemonie (Dorp. 1884); Fleischanderl, Die spartanische Verfassung bei Xenophon (Leipz. Sparta, Herzog von, Titel des griech. Kronprinzen Konstantin (geb. 2. Aug. 1868), des ältesten Sohns des Königs Georg von Hellas. Spartacus, Anstifter des Sklavenkriegs und Führer in demselben, 73-71 v. Chr., Thraker von Geburt, früher ein freier Mann, ward römischer Sklave und kam in die Gladiatorenschule zu Capua. Er entfloh 73 aus dieser mit etwa 70 Genossen, brachte am Vesuv einem Legaten des Prätors P. Varinius eine völlige Niederlage bei, schlug noch zwei andre Legaten und dann auch den Prätor selbst, worauf durch den allgemeinen Zulauf von Sklaven sich bald ein Heer von mehr als 100,000 Mann um ihn sammelte. Mit diesen trat er 72 den Marsch nach Norden an, um sie über die Alpen nach ihrer Heimat, Gallien und Thrakien, zurückzuführen. Ein Teil des Heers, der sich unter Führung des Crixus von ihm trennte, wurde am Berge Garganus in Apulien geschlagen; er selbst aber brachte den beiden Konsuln des Jahrs, Gnäus Lentulus und L. Gellius, die ihm den Weg verlegen wollten, schwere Niederlagen bei und schlug auch den Prokonsul Gajus Cassius bei Mutina. Nun wurde er aber von seinem Heer, in dem die Beutelust von neuem erwachte, genötigt, wieder nach Süden umzuwenden. In Rom aber beauftragte man 71 den Prätor M. Licinius Crassus mit Führung des Kriegs. Diesem gelang es, S. in der Südwestspitze von Italien einzuschließen; er bahnte sich zwar durch seine Tapferkeit den Weg durch die feindlichen Linien, aber nun wurde ein Teil des Heers, der sich wiederum von ihm getrennt hatte, geschlagen und völlig aufgerieben, und er selbst ward von seinen Leuten wider seinen Willen zur Schlacht gezwungen, in der er unterlag und tapfer kämpfend fiel; 60,000 Sklaven sollen darin getötet und 6000 Gefangene auf der Straße zwischen Capua und Rom gekreuzigt worden sein. Pompejus, von Spanien zurückkehrend, vertilgte den letzten Rest der Sklaven. Spartel, Kap (Cabo Espartel, Râs Ischberdil), Vorgebirge an der Küste Marokkos, am Westeingang der Straße von Gibraltar, 314 m hoch, bildet die Nordwestspitze von Afrika. Es ist das Cotes promontorium der Alten. Sparten ("die Gesäeten"), im griech. Mythus die aus den von Kadmos gesäeten Drachenzähnen entsprossenen geharnischten Männer und ihre Nachkommen (s. Kadmos); auch dichterischer Name für die gesamten Thebaner. Sparterie (franz.), Flechtwerk, s. Geflechte. Sparti (Neu-Sparta), Hauptstadt des griech. Nomos Lakonia, 1836 auf der Stelle von Alt-Sparta durch Übersiedelung der Bewohner von Misthra (s. d.) gegründet, Sitz eines Erzbischofs, mit einem Gymnasium, kleinem Altertümermuseum, regelmäßigen Straßen und gleichförmigen, dem Klima wenig angemessenen, meist zerstreuten Häusern, schön, aber ungesund gelegen. S. hatte 1879 mit dem Nachbardorf Psychiko zusammen 3595 Einw. Spartianus, Älius, einer der Scriptores historiae Augustae (s. d.), lebte gegen Ende des 3. Jahrh. n. Chr. unter Diokletian, Verfasser der Biographien der Kaiser Hadrian, Verus, Julian, Septimius Severus, Pescennius Niger, Caracalla und Spartiaten, die dorischen Vollbürger in Sparta. Spartieren (ital.), das Umschreiben der in Stim- Spartium - Spateisenstein. men gedruckten oder geschriebenen ältern Kompositionen in moderne Partitur (spartito). Spartium L. (Besenginster, Pfriemen), Gattung aus der Familie der Papilionaceen, Sträucher mit langen, rutenförmigen, eckig gefurchten Ästen, wenig zahlreichen gedreiten, am obern Teil auch einfachen Blättern und gestielten Blüten in Trauben oder Ähren. S. scoparium L. (Sarothamnus vulgaris Wimm., Besenpfriemen, Besenkraut), ein 3 m hoher Strauch, bisweilen mit echtem Stamm, ziemlich gerade aufsteigenden, grünen Ästen, kleinen, rundlichen, behaarten Blättchen, goldgelben Blüten in Trauben und schwärzlichen Hülsen, in Mitteleuropa, liefert in den Ästen Material zu Besen; auch hat man die Blüten zum Färben und die Knospen als Kapernsurrogat benutzt. Er gedeiht vortrefflich auf sandigem, schlechtem Boden und wird auf solchem bisweilen als Futterpflanze, zu forstlichen Zwecken und als Hecke angepflanzt; anderseits wird er im Forstbetrieb auch ein lästiges Unkraut. Mehrere Varietäten kultiviert man als Ziersträucher. Ein in der Pflanze enthaltenes Alkaloid, Spartein, wird bei Herzschwäche und organischen Herzfehlern wie Digitalis benutzt. S. junceum L. (Sparthiantus junceus Lk., wohlriechende Pfriemen, Binsenpfriemen, spanischer Ginster), ein hoher Strauch mit wenigen einfachen, sehr schmalen Blättern, gelben, wohlriechenden Blüten in schlaffer Ähre und langen, schmalen Hülsen, in den Mittelmeerländern, liefert in den zähen, biegsamen Ästen Material zu Flechtwerk, außerdem Bastfasern zu Geweben. Als Zierstrauch hält er bei uns nur schwierig aus. Schon im Altertum wurde diese Pflanze zu Schiffsseilen, Decken, Schuhen benutzt, auch die Faser zu Geweben verarbeitet. Spartivénto, Kap (im Altertum Herculis promontorium), die Südspitze des italienischen Festlandes im Ionischen Meer; zwischen hier und Melito landete Garibaldi 25. Aug. Sparto, s. Esparto. Spasimo di Sicilia (ital.), die nach dem Kloster Santa Maria dello Spasimo in Palermo benannte, jetzt im Museum zu Madrid befindliche Kreuztragung Christi von Raffael (s. d., S. 551). Spask, 1) Kreisstadt im russ. Gouvernement Rjäsan, am Spaskischen See im Thal der Oka, ein armer Ort mit (1885) 4383 2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an der Besdna (Nebenfluß der Wolga), mit Getreidehandel und (1885) 3227 3) Kreisstadt im russ. Gouvernement Tambow, am Stadenez, hat einige Fabrikthätigkeit, Handel mit Getreide, Hanf, Flachs, Leinsaat, Pottasche, Borsten, Wolle und Leder (nach Moskau, Rybinsk und Rostow) und (1885) 5484 Einw. Spasmus (griech.), Krampf; daher spasmodisch, spastisch, s. v. w. krampfhaft. Spasowicz (spr. -witsch), Wladimir, poln. Litterarhistoriker, geb. 16. Jan. 1829 zu Rzeczyca (Gouvernement Minsk), studierte in Petersburg die Rechte, war bis 1862 Professor des Strafrechts an der dortigen Universität, dann Dozent an der Rechtsschule daselbst. Infolge seines "Lehrbuchs des Kriminalrechts" (Petersb. 1863, russ.) verlor er jedoch diese Stelle und wirkt seit 1866 als namhafter Advokat in Petersburg, besonders bekannt durch sein Auftreten als Verteidiger in den Hochverrats- und Nihilistenprozessen. S. ist seit 1876 Herausgeber der in Warschau erscheinenden Monatsschrift "Ateneum", verfaßte in der "Geschichte der slawischen Litteraturen" von Pipin den die polnische Litteratur betreffenden Teil (deutsch, Leipz. 1883) und schrieb zahlreiche Monographien über dieses Fach. S. gilt als das Haupt einer Partei, welche eine polnisch-russische Verständigung auf liberaler Grundlage anstrebt; dafür wirbt er namentlich, allerdings mit geringem Erfolg, in der 1883 von ihm begründeten polnischen Wochenschrift "Kraj", die in Petersburg erscheint. Spat, alte bergmännische Bezeichnung für Mineralien mit deutlicher Spaltbarkeit. Spat (Spath), chronische Gelenkentzündung mit Knochenauflagerung (Exostose, Spaterhöhung) an der innern Seite des Sprunggelenks und zwar an den beiden untern Artikulationen desselben. Bei vielen Pferden entsteht der S. als eine unbedeutende Abnormität, welche den Gebrauch nicht beeinträchtigt. Oft aber bedingt derselbe eine Lahmheit, wobei der leidende Schenkel schneller und etwas zuckend gehoben, weniger weit nach vorn und nicht so fest aufgesetzt wird. Dieser abnorme Gang wird bei fortgesetzter Bewegung weniger merklich, tritt aber, nachdem das Pferd einige Zeit ruhig gestanden, sofort wieder hervor. Nach und nach steigert sich das Lahmgehen, das Tier tritt bei beginnender Bewegung nur mit der Spitze des Hufs auf und hinkt oft die ersten Schritte auf drei Beinen. Manchmal läßt dieses Lahmgehen nach Jahresfrist von selbst nach und hört wohl auch ganz auf, doch nicht, ohne eine gewisse Steifigkeit im Sprunggelenk zu hinterlassen. Der Knochenauswuchs entwickelt sich zuweilen erst einige Wochen nach Beginn des Lahmgehens. An der innern Sprunggelenkfläche, nahe dem Schienbein, als kleine, kaum bemerkbare Erhöhung sitzend, nimmt er nach und nach an Umfang und Höhe zu, und zwar fühlt er sich, als mit dem Knochen in Verbindung stehend, hart an. Bei einigen Pferden beginnt der S. mit einer intensiven Entzündung der Gelenkkapsel, so daß die Tiere eine Zeitlang noch keine Spaterhöhung, wohl aber die Symptome der Spatlahmheit bekunden (unsichtbarer S.). Bei längerer Dauer des Lahmgehens tritt oben am Schenkel in der Regel Schwund ein. Der S. entwickelt sich vorzugsweise bei jungen Tieren zwischen dem 3. und 6. Jahr, selten später, und zwar besonders infolge von übermäßigen Anstrengungen. Schwäche der Sprunggelenke disponiert dazu. Vollständige Heilung ist insofern nicht möglich, als sich die zerstörte Gelenkfläche nicht wiederherstellen und die vorhandene Knochenauflagerung nicht beseitigen läßt. Nur dem Lahmgehen kann abgeholfen werden und zwar durch Anwendung eines scharfen Pflasters oder des Brenneisens, vorzugsweise aber durch die Operation des Spatschnitts; nach jeder Behandlung muß dem Tier ununterbrochene mehrwöchentliche Ruhe gegönnt werden. Vgl. Dieckerhoff, Pathologie und Therapie des S. (Berl. Spataugenkalk, s. Kreideformation, S. 183. Spateisenstein (Eisenspat, Siderit, vulgär: Stahlstein, Flinz), Mineral aus der Ordnung der Carbonate, kristallisiert rhomboedrisch, oft mit sattelförmig oder linsenartig gekrümmten Flächen (s. Tafel "Mineralien und Gesteine", Fig. 3), findet sich häufig derb in klein- und großkörnigen Aggregaten, selten in kleintraubigen und nierenförmigen Gestalten (Sphärosiderit), häufig in dichten und feinkörnigen, thonhaltigen Varietäten, welche teils in runden oder ellipsoidischen Nieren, teils in stetig fortsetzenden Lagen und zuweilen rogensteinähnlich ausgebildet sind (thoniger Sphärosiderit). Er ist durchscheinend, gelblichgrau bis erbsengelb, mit Glas- bis Perlmutterglanz, während die Zersetzung, namentlich die sehr gewöhnliche Umwandlung in Brauneisenstein, dunklere Farbennüancen und Undurchsichtigkeit erzeugt Spatel - Specht. (Blau-, Braunerz). Härte 3,5-4,5, spez. Gew. 3,7-3,9. S. ist wesentlich kohlensaures Eisenoxydul FeCO3 mit 48,3 Proz. Eisen, enthält aber ganz gewöhnlich Mangan, Magnesium, Calcium und Zink nicht sowohl als Verunreinigungen wie als isomorphe Beimischungen, durch welche Übergänge zu den mit S. isomorphen Mineralspezies Manganspat, Magnesit, Kalkspat und Zinkspat gebildet werden. Solche Mittelspezies sind: Oligonspat (mit bis 20 Proz. Mangan), Sideroplesit (mit 6-7 Proz. Magnesium), Pistomesit (mit 12 Proz. Magnesium), Zinkeisenspat (mit 14-20 Proz. Zink). Kommt im thonigen Sphärosiderit außer Thon noch Kohle hinzu (Kohleneisenstein, Blackband der Engländer), so entstehen schwarze, glanzlose, gewöhnlich dickschieferige Massen mit 35-78 Proz. Eisencarbonat. Der Verwitterung zu Eisenhydroxyd ist der S. so leicht ausgesetzt, daß gewiß viele Brauneisensteine auf diesem Weg entstanden sind, wie denn sehr häufig das Ausgehende von Spateisensteingängen als den Atmosphärilien zugänglich in Brauneisenstein umgewandelt ist. S. bildet Gänge, Nester und Lager in verschiedenen Formationen; der (echte) Sphärosiderit tritt als Zersetzungsprodukt in Hohlräumen basaltischer Gesteine, der thonige S. in Flözen, meist der Steinkohlenformation, dem Rotliegenden oder der Braunkohlenformation angehörig, auf. Hauptfundorte für kristallisierten und derben S. sind: Lobenstein im Reußischen, Freiberg in Sachsen, Klausthal am Harz, Müsen bei Siegen, Eisenerz in Steiermark, Hüttenberg in Kärnten; des Sphärosiderits: Steinheim bei Hanau und Dransberg bei Göttingen; des thonigen Spateisensteins und des Kohleneisensteins: Westfalen, Banat, England und Schottland. Alle Varietäten des Spateisensteins (mit Ausnahme des nur in kleinen Mengen vorkommenden echten Sphärosiderits) sind höchst wichtige Eisenerze; sie sind das Haupterz in Steiermark, bei Müsen etc.; thonige Sphärosiderite und namentlich Kohleneisensteine, für welche die enge Verknüpfung mit dem zur metallurgischen Verwendung notwendigen Brennmaterial besonders günstig ins Gewicht fällt, werden in Westfalen, Belgien, England, Schottland verhüttet. Spatel (Spachtel, franz. Amassette), ein kleiner Spaten; ein messerklingenartiges, vorn abgestumpftes Werkzeug zum Umrühren von Flüssigkeiten, zum Streichen von Pflastern, zum Verkitten von Fugen etc.; auch Malerinstrument, womit die Farben auf dem Mahlstein oder auf der Palette zusammengescharrt und gemischt, auch bisweilen zur Erzielung einer pastosen Wirkung direkt auf die Leinwand aufgetragen werden. Spatenkultur, die Bearbeitung des Bodens mit dem Spaten, der Grabgabel oder Haue, besonders gebräuchlich im Garten, aber auch auf dem Acker (Feldgärtnerei), wo sie höhern Ertrag gewährt als die Bearbeitung mit dem Pflug, aber auch mehr Zeit und Kraft in Anspruch nimmt und daher nur da vorteilhaft ist, wo der Bauer mit seiner Familie die Feldarbeit allein zu bewältigen vermag, bei großer Ertragsfähigkeit des Bodens oder bei hohem Preis der Bodenprodukte. In größern Wirtschaften wird S. nur ausnahmsweise, z. B. beim Möhrenbau, angewandt. Spatenrecht (Spaderecht, Spatelandsrecht, Jus ligonarium), s. Deich, S. 622. Spätgang, der Gang des Wildes gegen Morgen über den gefallenen Tau. Spätgeburt, eine Geburt, resp. ein Kind, welches nach dem Ablauf der gewöhnlichen Schwangerschaftsdauer, d. h. nach 280 Tagen, vom Tag der Befruchtung an gerechnet, geboren wird. Nach den vorliegenden Beobachtungen kann die S. bis vier Wochen nach dem normalen Termin erfolgen, ist jedoch ziemlich selten. Die S. gilt im Todesfall des Erzeugers unter Umständen nach römischem Recht nicht als ehelich; doch ist diese Regel nur eine Praesumtio juris und läßt Gegenbeweis zu, der durch ärztliches Gutachten zu begründen sein wird. Spatha (griech.), s. v. w. Blütenscheide, s. Blütenstand, S. 79. Spatha (lat.), eine Art Schwert (s. d.). Spatium (lat.), Raum, Zwischenraum; auch s. v. w. Frist, z. B. S. deliberandi, Bedenkzeit. In der Buchdruckerei heißen Spatien die feinsten Ausschließungen (s. Buchdruckerkunst, S. 558); in der Musik der Raum zwischen den einzelnen Linien des Notenliniensystems. Spatula, s. Enten, S.671. Spatz, s. Sperling. Spavénta, Bertrando, ital. Philosoph, geb. 1817 in einem Dorf der Provinz Chieti, widmete sich mit Eifer dem Studium der deutschen Sprache und Philosophie, wurde 1859 zum Professor der Philosophie an der Universität zu Modena, 1860 an der zu Bologna ernannt und trat zuerst hervor mit der Schrift "La filosofia di Kant e la sua relazione colla filosofia italiana" (Turin 1860), in welcher er den Nachweis zu führen suchte, daß Rosmini trotz seiner polemischen Stellung zu Kant doch im Wesen seiner Spekulation und in deren Ergebnissen mit dem Kritizismus des deutschen Philosophen zusammenhänge. Nachdem er noch "Carattere e sviluppo della filosofia italiana" (Mod. 1860) veröffentlicht, erhielt er 1861 eine Professur der Philosophie zu Neapel, die er noch heute bekleidet. Sein energisches Eintreten für die deutsche Philosophie und die Kritik, die er an den philosophischen Systemen seiner eignen Nation übte, hatten ihm namentlich in orthodoxen Kreisen zahlreiche Gegner erweckt. Er antwortete diesen in einer Einleitung, die er seinen öffentlichen Vorträgen in Neapel vorausschickte und die er dann auch 1862 im Druck veröffentlichte. Bald danach erschien sein Hauptwerk: "La filosofia di Gioberti" (Neap. 1863). Hierauf folgten die kleinern Abhandlungen: "Le prime categorie della logica di Hegel" (Neap. 1864); "Spazio e tempo nella prima forma del sistema di Gioberti" (das. 1865); "Il concetto dell' opposizione e lo Spinozismo" (das. 1867); "La scolastica e Cartesio" (das. 1867); "Saggi di critica filosofia, politica e religiosa" (Studien über Giordano Bruno, Campanella, Mamiani etc., das. 1867). Spaventas eignes System ("Principj di filosofia", Neap. 1867) steht im wesentlichen auf dem Standpunkt Hegels, dessen entschiedenster Vorkämpfer in Italien er mit Augusto Vera bis heute geblieben ist. Er veröffentlichte noch: "Paolottismo, positivismo, razionalismo" (Bolog. 1868); "Studî sull' etica di Hegel" (Neap. 1869); "Idealismo o realismo" (das. 1874); "La legge del più forte" (das. 1874). Viermal wurde S. ins italienische Parlament gewählt. Vgl. Siciliani, Gli Hegeliani in Italia (Bolog. 1868). - Sein Bruder Silvio, eine Zeitlang Minister der öffentlichen Arbeiten des Königreichs Italien, beschäftigte sich ebenfalls mit deutscher Philosophie. Speaker (engl., spr. spih-), Sprecher, im englischen Parlament Vorsitzender des Unterhauses. Specht, Friedrich August Karl von, Militärschriftsteller, geb. 23. Sept. 1802 zu Brandenburg, trat nach sehr ungenügender Erziehung mit 14 Jahren in den kurhessischen Militärdienst, wurde 1822 Leutnant, kam 1847 als Hauptmann in den General- Spechte - Spechter. stab, machte 1849 den Feldzug gegen Dänemark mit und wurde nach Beendigung desselben zum Oberstleutnant, 1854 zum Generalmajor befördert. Infolge einer Duellaffaire mit dem General v. Haynau 1863 wurde S. als Kommandant nach Fulda versetzt. 1866 zur Disposition gestellt, lebte er bis 1872 in Marburg und Eisenach, wo er 12. Juli 1879 starb. Er galt als Hauptvertreter der liberalen Partei in Hessen, gehörte auch 1850 zu den verfassungstreuen Offizieren und forderte damals seinen Abschied. Er schrieb: "Das Königreich Westfalen und seine Armee im Jahr 1813 sowie die Auflösung desselben durch den russischen General Czernicheff" (Kass. 1848); "Geschichte der Waffen" (Berl. 1868-77, 3 Bde.; Bd. 4 u. 5 noch unvollendet); "Das Festland Asien-Europa und seine Völkerstämme, deren Verbreitung, der Gang ihrer Kulturentwickelung mit besonderer Berücksichtigung der religiösen Ideen" (das. 1879). Spechte (Picidae), Familie aus der Ordnung der Klettervögel, gestreckt gebaute Vögel mit starkem, geradem, meißelförmig zugeschärftem, auf dem Rücken scharfkantigem Schnabel, welcher meist so lang oder länger als der Kopf ist, dünner, langer, platter, horniger, weit vorstreckbarer Zunge mit kurzen Widerhaken am Ende, mittellangen, etwas abgerundeten Flügeln, unter deren Schwingen die dritte und vierte am längsten sind, keilförmigem Schwanz, dessen Steuerfedern steife, spitze Schaftenden besitzen, kurzen, starken Füßen mit langen, paarig gestellten Zehen und großen, starken, scharfen, halbmondförmigen Nägeln. S. sind mit Ausnahme Neuhollands über alle Erdteile verbreitet. Sie leben ungesellig in Wäldern, Baumpflanzungen und Gärten, scharen sich nur ausnahmsweise, besonders in der Strich- und Wanderzeit, zu starken Gesellschaften, vereinigen sich aber bisweilen mit kleinen Strichvögeln, denen sie zu Führern werden. Sie bewegen sich fast nur kletternd, hüpfen auf dem Boden ungeschickt und fliegen ungern weit. Sie suchen ihre Nahrung, die hauptsächlich aus Kerbtieren besteht, hinter Baumrinde, welche sie, an den Bäumen aufwärts kletternd, mit dem Schnabel abmeißeln. Einige fressen auch Beeren und Sämereien und legen selbst Vorratskammern an. Die Stimme ist ein kurzer, wohllautender Ruf; mit dem Schnabel bringen sie außerdem ein im Wald weithin schallendes Knarren hervor, vielleicht um Kerbtiere aufzuscheuchen und hervorzulocken, vielleicht als Herausforderung zu Kampf und Streit. Sie nisten stets in selbstgezimmerten, nur mit einigen Spänen ausgekleideten Baumhöhlen und legen 3-8 weiße Eier, welche von beiden Geschlechtern ausgebrütet werden. Die S. gehören durch Vertilgung schädlicher Insekten, und indem sie in morschen Bäumen Höhlungen als Niststätten für Höhlenbrüter erzeugen, zu den nützlichsten Waldvögeln. Sie wählen zur Herstellung des Brutraums regelmäßig nur Bäume mit morschem Kern, fressen freilich Waldsämereien, Ameisen, auch wohl Bienen und berauben bisweilen junge Stämmchen ringsum der Rinde; doch kommt dies gegenüber dem großen Nutzen, welchen sie gewähren, kaum oder nur unter besondern Verhältnissen in Betracht. Der Schwarzspecht (Luderspecht, Holz-, Hohlkrähe, Tannenroller, Dryocopus martius Boie), 50 cm lang, 75 cm breit, mattschwarz, am Oberkopf (Männchen) oder Hinterkopf (Weibchen) rot, mit gelben Augen, hellgrauem Schnabel und grauen Füßen, findet sich in Mittel- und Nordeuropa und in ganz Asien südlich bis zum Himalaja in großen Waldungen, weniger in gut geordneten Forsten, als Standvogel, ist bei uns selten geworden und meidet die Nähe menschlicher Wohnungen. Er ist sehr munter und gewandt, fliegt besser als die andern Arten, nährt sich besonders von Roßameisen und ihren Puppen sowie von allen Larven, die im Nadelholz leben, und meißelt, um diese zu erlangen, oft große Stücke aus den Bäumen und Stöcken heraus. Die Bruthöhle wird meist in Buchen und Kiefern angelegt und ist etwa 40 cm tief bei 15 cm Durchmesser; im April legt das Weibchen 3-5 porzellanweiße Eier, s. Tafel "Eier I". Der Buntspecht (Rot-, Schildspecht, Dendrocopus major Koch, s. Tafel "Klettervögel"), 25 cm lang, 48 cm breit, ist oberseits schwarz, unterseits gelbgrau, mit gelblichem Stirnband, weißen Wangen, Halsstreifen, Schulterflecken und Flügelbändern, schwarzen Streifen an der Halsseite, am Hinterkopf und Unterbauch rot; die Augen sind braunrot, Schnabel und Füße grau. Er findet sich in Europa und Nordasien, besonders in Kiefernwäldern, erscheint im Herbst und Winter in den Gärten und streift dann auch mit Meisen und andern Vögeln umher; er nährt sich von allerlei Kerbtieren, besonders von den unter der Rinde der Nadelhölzer lebenden Käfern, von Nüssen und Beeren, namentlich auch von Fichten- und Kiefernsamen, zu dessen Gewinnung er oft in einen Ast ein Loch hackt, um den Zapfen darin festzuklemmen. Zur Anlegung seiner Bruthöhle bevorzugt er weiche Holzarten, doch beginnt er viele Höhlungen auszuarbeiten, bevor er eine einzige vollendet. Er legt 4-6 weiße Eier. In der Gefangenschaft ist er sehr unterhaltend und gewöhnt sich bald an ein Ersatzfutter. In den Laubwaldungen der Ebene gesellt sich zu ihm der etwas kleinere Mittelspecht (Dendrocopus medius Koch), welcher fast ausschließlich von Kerbtieren lebt, und ebendaselbst findet sich auch der Kleinspecht (Grasspecht, Sperlingsspecht, Piculus minor Koch) von nur 16 cm Länge, welcher wohl ausschließlich Kerbtiere frißt und am liebsten in Weiden brütet. In der Gefangenschaft ist auch er sehr unterhaltend. Der Grünspecht (Grasspecht, Picus viridis L.), 31 cm lang, 52 cm breit, ist auf der Oberseite hochgrün, auf der Unterseite hell graugrün, im Gesicht schwarz mit rotem (Männchen) Wangenfleck, am Oberkopf und Nacken rot, am Bürzel gelb, Ohrgegend, Kinn und Kehle weißlich, die Schwingen sind braunschwarz, gelblich oder bräunlichweiß gefleckt, die Steuerfedern grüngrau, schwärzlich gebändert; die Augen sind bläulichweiß, Schnabel und Füße bleigrau. Er bewohnt Europa und Vorderasien, bevorzugt Gegenden, in denen Baumpflanzungen mit freien Strecken wechseln, schweift im Winter weit umher, erscheint auch oft in Gärten, bewegt sich mehr und geschickter als die andern S. am Boden, hämmert weniger an Bäumen als die andern S., sucht viele Würmer und Larven auf dem Boden, bevorzugt die rote Ameise, plündert Bienenstöcke, frißt auch zuweilen Vogelbeeren. Er legt 6-8 weiße Eier (s. Abbildung auf Tafel "Eier I", Fig. 3 u. 4). In der Gefangenschaft ist er stürmisch, unbändig und schwer zu erhalten. Vgl. Malherbe, Monographie des Picides (Par. 1859, 4 Bde.); Sundevall, Conspectus avium Picinarum (Stockh. 1866); Altum, Unsre S. und ihre forstliche Bedeutung (Berl. 1878); Homeyer, Die S. und ihr Wert in forstlicher Beziehung (2. Aufl., Frankf. 1879). Spechter, altdeutsches Trinkgefäß von hoher, cylindrischer Form aus grünem Glas, mit und ohne Fuß. Ursprünglich glatt und mit farbiger Emailmalerei verziert, wurden die S. auch in eiserne Modelle geblasen, wodurch sie mit parallelen oder spiralförmigen Streifen gerieft wurden oder Spechthausen - Speckstein. eckige, in Reihen angeordnete Erhöhungen erhielten (s. Abbildung). Erst später wurden Buckel und Knöpfe angeschmelzt. Spechthausen, Fabrikort im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Oberbarnim, südwestlich von Eberswalde, hat eine Papierfabrik, in welcher der größte Teil der deutschen Staatspapiere angefertigt wird, u. (1885) 275 Einw. Spechtmeise, s. Kleiber. Spechtwurzel, s. Dictamnus. Special, Species (lat.), s. Spezial, Spezies. Species facti (lat., Thatbericht), Erzählung des Thatbestandes bei einem Rechtsfall, namentlich der bei einer militärgerichtlichen Untersuchung von dem mit Strafgewalt ausgestatteten Vorgesetzten des Angeschuldigten an den Gerichtsherrn erstattete Bericht, welcher die dabei in Betracht kommenden Thatumstände darlegt. Specifica (lat.), s. Spezifische Arzneimittel. Specimen (lat.), Probe, Probearbeit. Speck (Lardum), das feste und derbe Fett, welches sich zwischen der Haut und dem Fleisch mancher Tiere, namentlich der Schweine (im geräucherten Zustand wichtiger Handelsartikel), dann auch der Robben und Walfische (dient zur Darstellung von Thran) ansetzt. Speckbacher, einer der Anführer des Tiroler Aufstandes von 1809, geb. 13. Juli 1767 auf dem Hof Gnadenwald, zwischen Innsbruck und Hall, verbrachte seine Jugend teils als Wildschütz, teils als Landwirt und kämpfte schon 1797, 1800 und 1805 gegen die Franzosen; vom Gut seiner Frau hieß er der "Mann vom Rinn". Einer der Vertrauten des Sandwirts Hofer, überfiel er 12. April 1809, am Tag des Ausbruchs der Insurrektion, die bayrische Garnison zu Hall, nahm mit dem dortigen Kronenwirt Joseph Straub die von Innsbruck entkommene bayrische Kavallerie gefangen, focht hierauf in den Treffen vom 25. und 29. Mai, welche Tirol zum zweitenmal befreiten, bei der Blockade von Kufstein in den Treffen vom 4., 6. und 7. Aug., einen zehnjährigen Sohn an der Seite, und in der Schlacht am Isel 13. Aug., nach welcher der Marschall Lefebvre Tirol räumen mußte. Nachdem sich auch das Salzburger Gebirgsland erhoben, errang S. im September bei Lofer und Luftenstein bedeutende Vorteile, ward aber l6. Okt. bei Melleck geschlagen, wobei sein Sohn in Gefangenschaft fiel. S. floh darauf von Alp zu Alp, verbarg sich eine Zeitlang unter Schnee und Eis in einer Höhle und war dann sieben Wochen lang in seinem eignen Stall verborgen, bis er endlich im Mai 1810 über die Gebirge nach Wien gelangte. Hier erhielt er die Pension eines Obersten und den Auftrag, die für die Tiroler im Temesvárer Banat neugestiftete Kolonie Königsgnad einzurichten, die aber bald bei der Ungunst der Verhältnisse ein klägliches Ende nahm. Nach dem Ausbruch des Kriegs von 1813 wagte er sich wieder nach Tirol und leistete hier, obwohl es zu keiner entscheidenden Waffenthat kam, treffliche Dienste. Dafür zum Major ernannt, starb er 28. März 1820 in Hall und ward 1858 in der Innsbrucker Hofkirche neben Hofer und Haspinger beigesetzt. Vgl. Mayr, Der Mann vom Rinn und die Kriegsereignisse in Tirol (Innsbr. 1851); Knauth, Jos. S., der Jugend erzählt (Langensalza 1868). Speckentartung, s. Amyloidentartung. Speckkäfer (Dermestini Latr.), Käferfamilie aus der Gruppe der Pentameren, kleine Käfer von länglich oder kurz ovalem Körper mit kurzen, zurückziehbaren, gekeulten Fühlern, gesenktem, mehr oder weniger einziehbarem Kopf, meist einem einzelnen Stirnauge und kurzen, einziehbaren Beinen, leben auf Blüten oder in morschen Bäumen, die meisten aber an toten Tierstoffen, welche von den Larven benagt werden. Man trifft sie daher besonders in naturhistorischen Sammlungen und Pelzlagern, wo sie oft großen Schaden anrichten. Beim Angreifen stellen sie sich durch Anziehen der Beine und Fühler tot. Die Larven sind langgestreckt, cylindrisch oder breit gedrückt, an der Oberfläche mit langen, aufgerichteten, nach hinten gewöhnlich zu dichten Büscheln vereinigten Haaren besetzt, mit kurzen Fühlern, meist sechs Nebenaugen und kurzen Beinen, nähren sich von abgestorbenen tierischen Stoffen; bei der Verpuppung platzt ihre Haut nur auf dem Rücken und bleibt als Puppenhülse bestehen. Der S. (Dermestes lardarius L.), 7,6 mm lang, schwarz, auf den Flügeldecken mit breiter, hellbrauner, schwarz gepunkteter Querbinde, überall in Häusern, auf Taubenschlägen, in Sammlungen und im Freien an Aas. Ebendaselbst findet sich seine unterseits weiße, oberseits braune Larve. Der Pelzkäfer (Attagenus pellio L.), 4-5 mm lang, schwarz oder pechbraun, oberhalb schwarz behaart, mit je einem weißhaarigen Punkt auf den Flügeldecken, findet sich in Blüten des Weißdorns, der Doldenpflanzen etc., auch in Häusern, wo die Larve besonders Pelz- und Polsterwaren, wollene Teppiche etc. zerstört. In Sammlungen hausen am schlimmsten die Larven des Kabinettkäfers (Anthrenus museorum L), 2,5 mm lang, dunkelbraun, mit drei undeutlichen, graugelben Flügelbinden, und des A. varius Fab., gelb, mit drei weißlichen Wellenbinden. Der Himbeerkäfer (Byturus tomentosus L.), 4 mm lang, durch dicht anliegende Behaarung gelbgrau, an Fühlern und Beinen rotgelb, legt seine Eier an unreife Himbeeren, in welchen sich die dunkelgelbe, auf dem Rücken braungelbe, am Hinterleibsende in zwei nach oben gekrümmte, braunrote Dornspitzchen auslaufende Larve (Himbeermade) entwickelt. Sie verpuppt sich in Holzritzen in einer elliptischen Hülle, und die Puppe überwintert. Speckkrankheit, s. v. w. Amyloidentartung. Speckleber, s. Leberkrankheiten, S. 599. Speckmaus, s. v. w. gemeine Ohrenfledermaus. Speckmelde, s. Mercurialis. Speckmilz, s. Milzkrankheiten. Specköl, s. v. w. Schmalzöl, s. Schmalz. Speckstein (Steatit, Schmeerstein), Mineral aus der Ordnung der Silikate (Talkgruppe), bildet die kryptokristallinischen Varietäten des Talks (s. d.). Was als sogen. Specksteinkristalle beschrieben worden ist, sind Afterkristalle nach Quarz, Dolomit, Spinell etc. Der S. findet sich derb, eingesprengt, die nierenförmigen oder knolligen Massen sind weiß mit rötlichen, grünlichen und gelblichen Nüancen, matt, nur im Striche glänzend, an den Kanten durchscheinend. Er fühlt sich fettig an, hängt aber nicht an der Zunge. Die geringe Härte (1,5) des ungeglühten Materials steigert sich nach dem Glühen bis zu der Fähigkeit, Glas zu ritzen. Spez. Gew. 2,6-2,8. S. ist ein Magnesiumsilikat H2Mg3Si4O12. Er bildet bei Göpfersgrün unweit Wunsiedel im Fichtelgebirge ein Lager zwischen Glimmerschiefer und Granit, welche Gesteine sich an der Grenze gegen den S. in einer eigentümlichen halben Umwandlung zu S. befinden, die theoretisch ebenso schwierig zu erklären ist wie Speckter - Spee. Entstehung der meisten der oben erwähnten Pseudomorphosen. Außerdem findet sich S. bei Lowell in Massachusetts und bei Briançon. S. ist schneidbar und wird auf der Drehbank zu Pfeifenköpfen, säurefesten Stöpseln etc. verarbeitet. Er dient auch zum Zeichnen auf Tuch, Seide und Glas (spanische, Briançoner, venezianische, Schneiderkreide), zum Entfetten von Zeugen, zur Darstellung von Schminke, als Poliermaterial für Spiegel, als Einstreupulver in Stiefel und Handschuhe, als Schmiermittel von Maschinenteilen, als Zusatz zur Porzellanmasse und Seife, gebrannter S. zu Lavagasbrennern und zu Wasserleitungsröhren. Abfall von der Verarbeitung wird zu Gabbromasse benutzt. Chinesischer S., s. Agalmatolith. Speckter, 1) Erwin, Maler, geb. 18. Juli 1806 zu Hamburg, bildete sich in München unter Cornelius und widmete sich seit 1824 in Italien vorzugsweise der religiösen Malerei. Doch malte er auch Landschaften mit Staffage und Architekturen und hinterließ eine bedeutende Anzahl von Zeichnungen. Er starb 23. Nov. 1835. Aus seinem Nachlaß erschienen die "Briefe eines deutschen Künstlers aus Italien" (Leipz. 1846, 2 2) Otto, Zeichner und Radierer, Bruder des vorigen, geb. 9. Nov. 1807 zu Hamburg, machte sich zuerst durch Lithographien (unter andern den Einzug Christi von Overbeck) bekannt und widmete sich dann der Illustration von Büchern durch Arabesken, Vignetten und Figurenbilder. So illustrierte er: Luthers "Kleinen Katechismus"; Böttigers "Pilgerfahrt der Blumengeister"; Kl. Groths "Quickborn"; Eberhards "Hannchen und die Küchlein"; Reuters "Hanne Nüte"; den "Gestiefelten Kater" u. a. Die größte Verbreitung fanden seine Bilder zu Heys "50 Fabeln für Kinder". Er starb 29. April 1871 in Hamburg. Spectator (lat., auch engl., spr. specktéhter, "Zuschauer"), Titel einer berühmten von Addison (s. d.) herausgegebenen Wochenschrift. Speculum (lat.), Spiegel; in der Chirurgie meist röhrenförmiges, vorn oder seitlich offenes Instrument, welches in Körperhöhlen eingeführt wird, um tiefere Teile der Besichtigung und Behandlung zugänglich zu machen, z. B. der Mutterspiegel, Ohren-, Kehlkopfspiegel etc. Spedition (ital. Spedizione. franz. Expedition), Beförderung von Waren, die nicht direkt an ihren Bestimmungsort verladen werden; dann überhaupt die Übernahme und Ausführung von Aufträgen zur Besorgung der Versendung von Gütern; Speditionshandel, der gewerbsmäßige Betrieb solcher Geschäfte. Ein derartiger Gewerbebetrieb heißt Speditionsgeschäft; doch wird der letztere Ausdruck auch für den einzelnen Vertrag gebraucht, welchen jemand gewerbsmäßig abschließt, um im eignen Namen für fremde Rechnung Güterversendung durch Frachtführer (Eisenbahnen, Fuhrleute, Lastboten, Flußschiffer, Fährenbesitzer etc.) oder Schiffer, d. h. Seeschiffsführer, ausführen zu lassen. Wer Speditionsgeschäfte gewerbsmäßig ausführt, heißt Spediteur (franz. expéditeur, entrepreneur, commissionnaire pour le transport). Derselbe haftet für jeden Schaden, welcher aus der Vernachlässigung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns bei der Empfangnahme und Aufbewahrung des Gutes, bei der Wahl der Frachtführer, Schiffer oder Zwischenspediteure und überhaupt bei der Ausführung der von ihm übernommenen Versendung der Güter entsteht. Er hat nötigen Falls die Anwendung dieser Sorgfalt zu beweisen. Das französische Recht läßt ihn sogar unbedingt bis an die Grenze der "höhern Gewalt" (s. d.) haften. Dagegen hat er eine Provision (Speditionsprovision, Speditionsgebühren, Spesen) sowie die Erstattung dessen zu fordern, was er an Auslagen und Kosten oder überhaupt zum Zweck der Versendung als notwendig oder nützlich aufgewendet hat. Wegen dieser Forderungen sowie wegen der dem Versender auf das Gut geleisteten Vorschusse hat er ein Pfandrecht an dem Gut, sofern er dasselbe noch in seinem Gewahrsam hat oder in der Lage ist, darüber zu verfügen. Geht das Speditionsgut durch die Hände mehrerer Spediteure (Zwischenspediteure), um an den auftragsmäßigen Bestimmungsort zu gelangen, so hat der nachfolgende Spediteur das Pfandrecht nicht bloß für die bei ihm erwachsenen, sondern auch für die bei dem vorausgehenden Spediteur bereits entstandenen Kosten geltend zu machen. Dem letzten Spediteur (Abrollspediteur) liegt daher die Geltendmachung des Pfandrechts im Interesse aller Kosten ob, die bei sämtlichen Spediteuren entstanden, welche mit dem Speditionsgut befaßt worden sind. Der Spediteur kann übrigens den Transport des Gutes auch selbst übernehmen, selbst ausführen oder durch seine Angestellten ausführen lassen, wofern ihm dies vertragsmäßig nicht ausdrücklich untersagt ist. Das Speditionsgeschäft, welches sonst mit dem Kommissionsgeschäft (s. d.) verwandt ist, geht alsdann in das Frachtgeschäft über, und der Spediteur kann neben den Speditionskosten auch die Fracht in Ansatz bringen. Vgl. Deutsches Handelsgesetzbuch, Art. 379 bis 389; Code de commerce, Art. 96-102. Spee, Friedrich von, Dichter, aus dem adligen Geschlecht der S. von Langenfeld, geb. 22. Febr. 1591 zu Kaiserswerth am Rhein, wurde im Jesuitengymnasium zu Köln erzogen, trat 1610 selbst in den Jesuitenorden und lehrte dann mehrere Jahre hindurch in Köln schöne Wissenschaften, Philosophie und Moraltheologie. Im Auftrag seines Ordens ging er 1627 nach Franken, wo er die Obliegenheit hatte, die zum Tod verurteilten vermeintlichen Hexen und Zauberer auf dem letzten Gang zu begleiten. Aus den tief erschütternden Erkenntnissen dieses Berufs, die sein Haar ergrauen machten, erwuchs seine Schrift "Cautio criminalis s. Liber de processu contra sagas" (Rinteln 1631 u. öfter, auch ins Holländische und Französische übersetzt), worin er zuerst den Hexenwahn im katholischen Deutschland mutvoll und nachdrücklich bekämpfte. Später wurde S. nach Westfalen gesendet, um hier die Gegenreformation durchzuführen. Sein Wirken war erfolgreich, aber für ihn selbst unheilvoll: es wurde ein Mordanfall auf ihn gemacht, der ihn elf Wochen in Hildesheim ans Krankenbett fesselte. 1631 nach Köln zurückberufen, war er wieder als Professor der Moraltheologie thätig und kam zuletzt nach Trier, wo er an einem Fieber, das er sich im Lazarett bei der Pflege der Kranken zugezogen, 7. Aug. 1635 starb. Seine erst nach seinem Tod erschienene Sammlung geistlicher Lieder: "Trutz-Nachtigall" (Köln 1649; neue Ausgabe von Brentano, Berl. 1817; von Balke, Leipz. 1879; von Simrock, Heilbr. 1875) gehört trotz mannigfaltiger Nachahmung der manieristischen Italiener, die der Zeit eigentümlich war, nach Inhalt und Form zu den besten Leistungen der deutschen Litteratur des 17. Jahrh. und atmet die milde, schlichte Frömmigkeit und Innigkeit des Dichters. Weniger bedeutend ist sein in Prosa geschriebenes, aber mit schönen Liedern durchwebtes "Güldenes Tugendbuch" (Köln 1647; neue Ausg., Freiburg 1887). Vgl. Diel, F. v. S. (Freiburg 1872). Speech - Speichern. Speech (engl., spr. spihtsch), Sprache, Rede. Speed (engl., spr. spihd'), Geschwindigkeit, z. B. eines Eisenbahnzugs, eines Pferdes etc. Speer, Urwaffe der Germanen, symbolisch das Zeichen der Macht, aus welchem das Zepter hervorging. Der S. diente zum Stoß, vorzugsweise zum Wurf (Wurfspeer) und bestand aus einer Holzstange mit 30-40 cm langer, breiter, zweischneidiger Eisenspitze. Um 600 n. Chr. wurde der S. Ger genannt und war auch Waffe der Reiter. Die langobardischen Reiter waren berühmte Gerwerfer; das 841 bei Fontenay veranstaltete Speerrennen war der Ursprung der Hastiludien. Später entstanden aus dem S. der Spieß und die Pike (s. d.). Speer, Berg, s. Appenzeller Alpen. Speerfeier (Speerfreitag), s. Lanzenfest. Speerkies, s. Markasit. Speerreiter, s. Lanciers. Speetonclay (spr. spiht'n-kleh). s. Kreideformation, S. Speiche, Teil eines Rades, s. Rad; in der Anatomie einer der Unterarmknochen, s. Arm. Speichel (Saliva), das Sekret der Speicheldrüsen (s. d.). Der S. reagiert alkalisch und enthält durchschnittlich 0,5 Proz. feste Bestandteile. Unter den letztern sind hervorzuheben: Mucin, Eiweißstoffe und ein diastatisches Ferment, das Ptyalin (Speichelstoff), welches Stärkemehl in Zucker überführt. Er ist in den Speicheldrüsen oder deren Ausführungsgängen nicht frei enthalten, sondern entsteht erst aus einer von den Speicheldrüsen gelieferten Muttersubstanz bei Zutritt der Luft. Die Speichelabsonderung erfolgt nur, wenn die an die Speicheldrüsen tretenden Fasern des sympathischen Nervs und des Angesichtsnervs direkt oder reflektorisch gereizt werden. Je nach den Drüsen, welche den S. liefern, unterscheidet man Parotidenspeichel, Submaxillarspeichel und Sublingualspeichel. In der Mundhöhle findet sich ein Gemisch dieser verschiedenen Speichelarten mit Mundschleim vor; es wird als gemischter S. bezeichnet. Mit der Speichelbildung gehen morphologische Veränderungen der Drüsenzellen Hand in Hand; weiter ist mit ihr eine so bedeutende Wärmebildung verknüpft, daß das mit großer Heftigkeit der Drüse entströmende venöse Blut nicht selten um 1-1,5°C. wärmer ist als das Karotidenblut. Die in 24 Stunden abgesonderte Menge des Speichels bei erwachsenen Menschen wird auf 1,5 kg geschätzt. Eine zeitweise verstärkte Sekretion wird meist auf reflektorischem Weg durch besondere Einflüsse hervorgerufen, zunächst als Folge von Reizungen der Geschmacksnerven durch in die Mundhöhle eingeführte Geschmacksstoffe, ferner als Folge von Reizungen der Tastnerven der Mundhöhle, der Geruchsnerven und Magennerven. Auch beim Kauen und Sprechen sowie durch die dem Brechakt vorausgehenden heftigen Bewegungen der Mund- und Schlundmuskeln wird die Speichelabsonderung vermehrt. Endlich geschieht dies auch durch die Vorstellung von Speisen, besonders bei Hungernden, sowie krankhafterweise durch gewisse Arzneimittel etc. (s. Speichelfluß). Der S. löst die löslichen Substanzen der Nahrungsmittel auf, mischt sich mit den trocknen Speisen zu einem feuchten Brei und macht diese zum Abschlucken wie für die Magenverdauung geeignet; endlich wirkt er durch seinen Gehalt an Ptyalin verdauend auf die Kohlehydrate (s. Speichelbefördernde Mittel (Ptyalagoga, Salivantia), Arzneimittel, welche eine vermehrte Speichelabsonderung bewirken. Hierher gehören die Quecksilberpräparate, Gold, Jod, Blei, Spießglanz, Kupfer, Arsenik, Chlormittel, Königswasser und vor allem das Pilokarpin (s. Pilocarpus). Speicheldrüsen (Glandulae salivales), die drüsigen Organe zur Absonderung des Speichels (s. d.), also sowohl Bauch- als Mundspeicheldrüsen, im engern Sinn gewöhnlich nur die letztern. Diese liegen durchaus nicht immer im oder am Mund, sondern bei niedern Tieren zuweilen weit nach hinten in der Brust, ergießen jedoch ihre Absonderung stets in den Mund oder wenigstens in den Anfang der Speiseröhre. Manchmal sind sie zu mehreren Paaren vorhanden und haben dann auch wohl zum Teil die Bestimmung als Giftdrüsen. Bei den Vögeln und Säugetieren kann man, abgesehen von der Bauchspeicheldrüse (s. d.), fast allgemein drei Gruppen von S. unterscheiden: die Unterzungen-, Unterkiefer- und Ohrspeicheldrüsen (s. d.). Doch fehlen sie den Walen gänzlich, den Robben nahezu, sind dagegen bei Pflanzenfressern am stärksten entwickelt. S. auch Tafel "Mundhöhle etc.", Speicheldrüsenentzündung, s. Ohrspeicheldrüsenentzündung. Speichelfluß (Salivatio, Ptyalismus), krankhaft vermehrte Absonderung des Speichels, kommt bei allen Entzündungszuständen der Mundschleimhaut in mehr oder minder hohem Grad vor, ferner bei Vorhandensein von Geschwüren, namentlich Krebsen der Zunge und Wange, ganz besonders aber nach übermäßiger Einführung von Quecksilber in den Organismus. Am häufigsten werden solche Menschen vom S. ergriffen, welche viel mit Quecksilberpräparaten umzugehen haben und in einer mit Quecksilberdämpfen geschwängerten Atmosphäre atmen (z. B. die Bergleute in Quecksilberminen, die Arbeiter in Spiegelfabriken). Auch die unvorsichtige und übermäßige Anwendung von Quecksilberpräparaten zu medizinischen Zwecken kann S. hervorrufen. S. wird ferner erzeugt durch den Genuß einer Abkochung von Jaborandiblättern oder des in denselben enthaltenen Alkaloids Pilokarpin. S. wird herabgesetzt bei Entzündungs- und Verschwärungszuständen durch fleißige Ausspülung des Mundes mit desinfizierenden Wässern: Lösung von chlorsaurem und übermangansaurem Kali u. Speichelstoff, s. Speichel. Speichern (Spicheren), Pfarrdorf im deutschen Bezirk Lothringen, Kreis Forbach, hat 880 Einw. Hier fand 6. Aug. 1870 eine Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen statt. Nach dem unbedeutenden Gefecht bei Saarbrücken 2. Aug. hatte das 2. französische Korps (Frossard) auf den Höhen von S., südlich von Saarbrücken, ein Lager aufgeschlagen und die natürliche Verteidigungsfähigkeit seiner Stellung noch durch Schützengräben und Batterieeinschnitte künstlich erhöht; namentlich der festungsartige Rote Berg und das massive Dorf Stieringen-Wendel waren vortreffliche, kaum angreifbare Stützpunkte der Stellung. Dennoch griffen die Vortruppen der ersten und zweiten deutschen Armee, als sie 6. Aug. die Saar überschritten, diese Stellung an, zuerst die Brigade François von der 14. Division (Kameke), dann die 5., 13. und 16. Division; General v. François erstürmte den Roten Berg mit dem 39. und 74. Regiment, fand dabei aber selbst den Tod. Die brandenburgischen Regimenter der 5. Division eroberten die waldigen Hänge rechts und links am Roten Berg, während gleichzeitig Stieringen-Wendel den Franzosen entrissen wurde. Hierauf trat Frossard, der vergeblich auf Hilfe, namentlich vom 3. Korps (Bazaine), gewartet, den Rückzug nach Saargemünd Speidel - Speier. Sein Verlust belief sich auf 320 Tote, 1660 Verwundete und 2100 Gefangene, zahlreiches Lagergerät und Armeevorräte. Die Preußen verloren 850 Tote und 4000 Verwundete. Speidel, Wilhelm, Klavierspieler und Komponist, geb. 3. Sept. 1826 zu Ulm, erhielt seine Ausbildung am Münchener Konservatorium, bereiste darauf als Virtuose alle größern Städte Deutschlands, ward 1854 Musikdirektor in seiner Vaterstadt und drei Jahre später Lehrer an dem von ihm mitbegründeten Konservatorium in Stuttgart, in welcher Stellung er bis 1874 thätig war. Im genannten Jahr begründete er ein eignes Musikinstitut, nahm aber 1884 seine Thätigkeit am Konservatorium wieder auf. Zugleich ist er seit 1857 Dirigent des Stuttgarter Liederkranzes. Als Komponist hat sich S. durch zahlreiche Klavierwerke (Trios, Sonaten, Charakterstücke), Lieder, Männer- und gemischte Chöre sowie Orchestersachen vorteilhaft bekannt gemacht. - Sein Bruder Ludwig, geb. 11. April 1830 zu Ulm, ist namhafter Feuilletonist und Theaterkritiker an der "Neuen Freien Presse" in Speier (Speyer), ehemals reichsunmittelbares Bistum im oberrheinischen Kreis, umfaßte 1542 qkm (28 QM.) mit 55,000 Einw. Der Bischof hatte ein Einkommen von 300,000 Gulden und im Reichsfürstenrat auf der geistlichen Bank zwischen den Bischöfen von Eichstätt und Straßburg seinen Sitz, auf den oberrheinischen Kreistagen die zweite Stelle. Er war Suffragan des Erzbistums Mainz. Der fränkische König Dagobert I. soll zu Anfang des 7. Jahrh. das Bistum S. neu errichtet haben, doch ist erst Bischof Principius zwischen 650 und 659 urkundlich beglaubigt. Durch den Revolutionskrieg kamen 661 qkm (12 QM.) am linken Rheinufer an Frankreich, später an Bayern, der Rest am rechten Ufer, mit der ehemaligen bischöflichen Residenz Bruchsal, 1803 an Baden. Durch das Konkordat von 1817 wurde das Bistum wiederhergestellt und der Erzdiözese Bamberg überwiesen; sein Sprengel erstreckt sich über die bayrische Rheinpfalz. Vgl. Remling, Geschichte der Bischöfe zu S. (Mainz 1852-54, 2 Bde. und 2 Bände "Urkundenbuch"); Derselbe, Neuere Geschichte der Bischöfe zu S. (Speier Speier (Speyer), Hauptstadt des bayr. Regierungsbezirks Pfalz und ehemalige freie Reichsstadt, an der Mündung des Speierbachs in den Rhein, Knotenpunkt der Linien Schifferstadt-Germersheim und S.-Heidelberg der Bayrischen Staatsbahn, 105 m ü. M., hat breite, aber unregelmäßige Hauptstraßen und trotz ihres hohen Alters doch im allgemeinen nur wenige altertümliche Gebäude. Das merkwürdigste unter denselben ist der Dom, dessen Bau von Konrad II., dem Salier, 1030 begonnen und 1061 unter Heinrich IV., der 1064 noch die Afrakapelle hinzufügte, vollendet ward. Er ist im Rundbogenstil von roten Sandsteinquadern aufgeführt, hat eine Länge von 147 m, eine Breite im Querschiff von 60 m und 4 Türme. Das 12 Stufen über das Schiff sich erhebende Königschor enthält die Grabmäler von acht deutschen Kaisern (Konrad II., Heinrich III., Heinrich IV. u. Heinrich V., Philipp von Schwaben, Rudolf von Habsburg, Adolf von Nassau und Albrecht I.) und das der Bertha, der Gemahlin Heinrichs IV., das der Beatrix, der zweiten Gemahlin Friedrichs I., sowie ihrer Tochter Agnes. Das Innere schmücken prachtvolle Fresken (32 große Kompositionen, 1845-54 von Schraudolph ausgeführt). In der Vorhalle (Kaiserhalle) sind seit 1858 die acht großen Standbilder der hier begrabenen Kaiser aufgestellt (größtenteils von Fernkorn ausgeführt). Die untere Kirche (Krypte) stützen massive niedrige Säulen. In den Anlagen um den Dom sind der Domnapf, welcher früher vor dem Dom stand und den bischöflichen Immunitätsbezirk begrenzte, die Antikenhalle, ehemals eine Sammlung römischer Altertümer bergend, der Ölberg (eine mit eingemeißelten bildlichen Darstellungen der Leiden Christi, Blätterwerk und anderm Zierat geschmückte Steinmasse), das Heidentürmchen, dessen Unterbau wahrscheinlich aus der Römerzeit stammt, die Kolossalbüste des Professors Schwerd und die des frühern Regierungspräsidenten v. Stengel hervorzuheben. Nachdem der Dom schon 1159 und 1289 durch Feuersbrünste gelitten, wurde er 6. Mai 1540 von einem bedeutenden Brand heimgesucht, aber binnen 18 Monaten wiederhergestellt. Die ärgste Zerstörung richteten indessen die Franzosen 31. Mai 1689 an: eine Feuersbrunst zerstörte die drei westlichen Türme und das Gebäude selbst bis auf die Umfassungsmauern, sogar die alten Kaisergräber wurden aufgerissen und die Gebeine umhergestreut. Erst in den Jahren 1772-84 ward der Dom wieder aufgebaut, aber schon 1794 von den Franzosen abermals demoliert und in ein Heumagazin verwandelt. Nachdem durch den König Maximilian I. seine Herstellung erfolgt war, konnte er 19. Mai 1822 wieder eingeweiht werden. Später wurden auch die westlichen Türme mit dem Umbau und Neubau der Fassade wieder ersetzt und der alte Kaiserdom wieder eingeweiht. Außer dem katholischen Dom hat S. noch 2 evangelische und 2 kathol. Kirchen. Aus alter Zeit stammen noch: das Altpörtel (Alta porta), bereits 1246 erwähnt, jetzt Stadtturm mit Uhr, und die Überreste eines alten Judenbades sowie des Retschers, eines alten, wohl bischöflichen Palastes, der 1689 mit der sogen. Neuen Kirche, dem Gymnasium etc. zerstört wurde. Gegenwärtig wird der Bau einer neuen Kirche (Retscher- oder Protestationskirche) vorbereitet. Das alte Kaufhaus, ein prächtiger Bau und früher das Haus der Münzer, ist im alten Stil wiederhergestellt und um ein Stockwerk erhöht und enthält jetzt das Oberpostamt. Die Einwohnerzahl betrug 1885 mit der Garnison (3 Pionierkompanien Nr. 2) 16,064 (darunter ca. 8100 Katholiken, 7400 Evangelische und 532 Juden). Die Industrie beschränkt sich auf Buntpapier-, Tabaks-, Zigarren-, Leim-, Zucker-, Bleizucker- und Essigfabrikation, Bierbrauerei, Gerberei, Ziegelsteinbrennerei, Wein- und Tabaksbau, Schiffahrt etc. Der lebhafte Handel wird unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, eine Filiale der Bayrischen Notenbank und andre Geldinstitute. S. ist Sitz einer Kreisregierung, eines Bezirksamtes, Amtsgerichts, Oberpostamtes, Forstamtes, eines Bischofs, eines evangelischen Konsistoriums etc., hat ein Gymnasium, eine Realschule, ein Lehrerseminar, eine Präparandenschule, ein bischöfliches Klerikal- und ein Knabenseminar, ein Waisenhaus, eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder, eine Diakonissenanstalt etc. Ferner befinden sich dort ein städtisches Museum, eine Bildergalerie, eine Bibliothek und ein botanischer Garten mit Baumschule. - S. ist das römische Noviomagus, die Stadt der Nemeter, und hieß seit dem 7. Jahrh. Spira. Um 30 v. Chr. wurde die Stadt [Abb.: Wappen von Speier.] Speierbach - Speiseröhre. von den Römern erobert und befestigt. Von den Alemannen zu Ende des 3. und Anfang des 4. Jahrh. mehrmals zerstört, wurde sie von den Kaisern Konstantin und Julian wiederhergestellt, hatte aber im 5. Jahrh. von den Einfällen der Vandalen und Hunnen wieder viel zu leiden. Im 6. Jahrh. ging die Stadt an die Franken, 843 an das ostfränkische Reich über. Neben dem bischöflichen Schultheißen, dem die niedere Gerichtsbarkeit zustand, hatte hier bis 1146 ein königlicher Burggraf seinen Sitz. Damals ging auch dies Amt auf den Bischof über, bis es zu Anfang des 13. Jahrh. wieder von der Stadt erworben wurde, was dann zu langwierigen Streitigkeiten mit dem Bischof führte. Nachdem schon Heinrich V. eine Ratsverfassung gegeben hatte, welche Philipp von Schwaben 1198 bestätigte, schwang sich S. im 13. Jahrh. zur freien Reichsstadt empor, erwarb jedoch kein Gebiet und zählte im 14. Jahrh. kaum 30,000 Einw. Als Sitz des Reichskammergerichts, das 1513 nach S. kam und, nur zeitweilig verlegt, bis 1689 hier seinen Sitz hatte, erhielt die Stadt großen Ruf. Als Reichsstadt hatte sie unter den Reichsstädten der rheinischen Bank den fünften Platz, auch Sitz und Stimme auf den oberrheinischen Kreistagen. Unter den Reichstagen, welche zu S. (meist in einem Gebäude des Ratshofs) gehalten wurden, sind besonders die von 1526 (vgl. Friedensburg, Der Reichstag zu S. 1526, Berl. 1887) und von 1529 wichtig, von denen der erste die Ausführung des Wormser Edikts vertagte, der zweite die Einigung der Evangelischen zu einer Protestationsschrift (daher "Protestanten") veranlaßte. Städtetage haben 1346 und 1381 stattgefunden. Der Friede zu S. 1544 enthielt den Verzicht des Hauses Habsburg auf die Krone von Dänemark-Norwegen. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Stadt 1632-35 abwechselnd von den Schweden, den Kaiserlichen und den Franzosen erobert. Durch Kapitulation wurde sie 1688 wiederum an die Franzosen übergeben, die sie aber 1689 (im Mai) beim Anrücken der Alliierten wieder räumten, nachdem sie die Festungswerke geschleift und die Stadt zum Teil niedergebrannt hatten. Anfang Oktober 1792 wurde die Stadt von den Franzosen unter Custine eingenommen und gebrandschatzt. Von 1801 bis 1814 war S. die Hauptstadt des franz. Depart. Donnersberg, wurde aber 1815 bayrisch. Vgl. Geissel, Der Kaiserdom zu S. (Mainz 1826-28, 3 Bde.); Zeuß, Die freie Reichsstadt S. vor ihrer Zerstörung (Speier 1843); Remling, Der Speierer Dom (Mainz 1861); Derselbe, Der Retscher in S. (das. 1858); Weiß, Geschichte der Stadt S. (Speier 1877); Hilgard, Urkunden zur Geschichte der Stadt S. (Straßb. 1885). Speierbach, Flüßchen im bayr. Regierungsbezirk Pfalz, entspringt auf dem Oselkopf unweit Kaiserslautern und fällt bei Speier in den Rhein. Hier im spanischen Erbfolgekrieg Sieg der Franzosen unter Tallard über das zum Entsatz von Landau ausgesandte niederländische Hilfskorps unter dem Grafen von Nassau-Weilburg und dem Erbprinzen von Hessen (15. Nov. 1703). Die Redensart: "Revanche für S." wird auf letztern zurückgeführt, der damit Tallard begrüßt haben soll, als dieser später nach der Schlacht bei Höchstädt gefangen vor ihn geführt Speierling, s. Sorbus. Speigatten, Löcher in der Schiffswand, durch welche das Wasser vom Deck nach der See abfließen kann; auch die Öffnungen in den Verbandteilen eines Schiffs, durch welche das Leckwasser nach den Pumpen geleitet wird. Speik, blauer, s. Primula. Speischlange, s. Brillenschlange. Speise, ein auf Hüttenwerken bei Schmelzprozessen entstehendes, aus Arsen- und Antimonmetallen bestehendes Produkt von weißer Farbe und größerer Dichtigkeit als diejenige der Leche (s. Lech), unter welchen sich die S. bei gleichzeitiger Entstehung beider Produkte absetzt. Zur Speisebildung, d.h. zur Verbindung mit Arsen und Antimon, sind besonders Nickel, Kobalt und Eisen geneigt; doch finden sich in den Speisen auch Gold, Silber und Kupfer. Dieselben werden entweder absichtlich erzeugt (Nickel- und Kobaltspeisen), oder sie fallen als Nebenprodukte (Kupfer- und Bleispeise), die man ungern sieht, weil sich aus denselben die nutzbaren Metalle meist nur mit größeren Verlusten darstellen lassen. Glockenspeise nennt man die zur Glockengießerei angewendete Legierung (s. Glocken). S. auch s. v. w. Mauerspeise, s. Mörtel. Speiseapparate, s. Dampfkesselspeiseapparate. Speisebrei, s. Chymus. Speisegesetze, die vom mosaischen und talmudischen Gesetz gegebenen, die Reinheit und durch diese die Heiligkeit der Israeliten bezweckenden religiösen Vorschriften hinsichtlich der Nahrungsmittel. Der Pentateuch gibt 3. Mos. 11 und 5. Mos. 14 als reine, zum Genuß erlaubte Tiere an: 1) von den Vierfüßern die, welche gespaltene Klauen haben und wiederkäuen, 2) von den Wassertieren nur die Fische, welche Schuppen und Floßfedern haben, verbietet dagegen die Raubvögel und Kriechtiere. Von Insekten ward die Heuschrecke gegessen. Verboten war und ist ferner der Blutgenuß, der Gebrauch des für den Altar bestimmten Opferfettes, die Vermischung von Fleisch mit Milch oder Butter (gegründet auf die Bibelstelle: "Du sollst das Lämmlein nicht in der Mutter Milch kochen"), das Genießen eines Gliedes eines noch lebenden Tiers. Die Schenkel der Vierfüßer dürfen erst gebraucht werden, nachdem die Spannader daraus entfernt ist (1. Mos. 32, 32). Säugetiere und Vögel müssen nach besonderm Ritus (s. Schächten) geschlachtet, ihr Fleisch muß vor dem Gebrauch zur Entfernung des Bluts entadert (geporscht, getriebert), in Wasser gelegt und gesalzen (koscher gemacht) werden. Von neugeerntetem Getreide durfte vor Ablauf des Tags, an welchem ein Omer (Mäßchen) Gerste von derselben Ernte im Tempel geweiht worden, nichts genossen werden. Verboten war auch der Genuß von Trauben und andern Fruchtgattungen, welche vermischt gepflanzt worden waren, von allen Früchten, welche ein Baum in den ersten drei Jahren trug, von Wein, der den Götzenbildern als Opfer dargebracht worden war, und vom gesäuerten Brot während des Passahfestes. Alle diese S. waren bei den Talmudisten Gegenstand einer sehr komplizierten Speisepumpe, s. Dampfkesselspeiseapparate. Speiseröhre (Schlund, Oesophagus), derjenige Teil des Vorderdarms, welcher die Verbindung zwischen Mund und Magen herstellt und die Speisen in letztern zu befördern hat. Bei den Fischen ist sie sehr weit und geht allmählich in den Magen über; ähnliches gilt von manchen Amphibien und Reptilien; bei den Vögeln ist gewöhnlich ein Teil von ihr zur Bildung eines Kropfes (s. d.) erweitert; dagegen findet bei Säugetieren eine scharfe Trennung derselben vom Magen statt. Beim Menschen (s. Tafel "Eingeweide II", Fig. 1 und 3, und "Mundhöhle", Fig. 2) speziell ist sie ein häutiger, etwa fingerdicker, aber stark ausdehnbarer Kanal, dessen Wände platt aufeinander liegen, wenn nicht gerade ein Bissen durch ihn hindurchgeht. Zwischen der Luftröhre und der Speisesaft - Spektralanalyse. Wirbelsäule tritt die S. in den Brustraum ein, läuft neben der rechten Seite der absteigenden Brustaorta bis zum Zwerchfell und gelangt durch einen Spalt des letztern in der Höhe des neunten Brustwirbels in die Bauchhöhle, wos ie sich zum Magen erweitert. Die S. besteht aus einer Schleimhaut und einer umgebenden Muskelhaut. Krankheiten der S. sind selten, meist mit Schlingbeschwerden und Schmerzen im Rücken verbunden. Leichtere Entzündungen kommen vor als Fortsetzungen eines Rachenkatarrhs oder entzündlicher Mundkrankheiten, z. B. der Schwämmchen. Schwere Entzündungen der Schleimhaut treten ein bei Vergiftungen mit ätzenden und scharfen Substanzen (Ätzkali, Schwefelsäure etc.) und beim Genuß sehr heißer Speisen. Die wichtigste Krankheit der S. ist der Krebs, welcher in der S. stets primär unter der Form des sogen. Kankroids auftritt und zwar am häufigsten am Eingang vom Schlund zur S., am Eingang der S. zum Magen und zwischen diesen beiden Orten an der Engigkeit im mittlern Dritteil, wo der linke Bronchus die S. kreuzt (s. Tafel "Halskrankheiten", Fig. 4). Der Krebs ist selten eine umfängliche Geschwulst, welche die S. bis zum Verschluß verengert, meist ist er als fressendes Geschwür vorhanden, welches zwar gleichfalls Verengerungen bedingt, außerdem aber noch dadurch gefährlich wird, daß die Wand der immerhin nicht sehr dicken Röhre durchbrochen werden kann. Hierbei kommt es leicht vor, daß eine freie Verbindung mit einem Brustfellsack hergestellt wird, so daß die verschluckten Speisen in diesen gelangen und tödliche Brustfellentzündung veranlassen; ferner sind Fälle beobachtet worden, in denen die Luftröhre oder ein Bronchus geschwürig zerstört und die Speisen direkt in die Lungen geschluckt wurden, in noch andern bewirkte eine krebsige Durchwachsung der Aorta plötzlichen Tod durch Blutsturz. Eine Heilung des Krebses der S. kommt nicht vor. In den Fällen, deren Hauptsymptom die Striktur (Verengerung) ist, muß, wie bei Narbenschrumpfung nach Ätzung, die Behandlung in vorsichtiger Erweiterung der Striktur durch Bougies und in Ernährung durch die Schlundsonde bestehen. Fremde Körper in der S. bilden nicht selten Gelegenheit zu operativem Einschreiten. Man muß versuchen, diese mit geeigneten Instrumenten, "Münzenfänger" etc., herauszuholen, oder sie in den Magen hinabstoßen. Nur in verzweifelten Fällen schreitet man zur Eröffnung der S. durch den Speiseröhrenschnitt (griech. Ösophagotomie), indem man von außen durch die Haut und Muskeln des Halses die Speiseröhre eröffnet. Diese Operation ist schwierig und nicht gefahrlos; sie wird auch ausgeführt, wenn nach Schwefelsäure- oder Laugevergiftungen oder im Gefolge krebsiger Zerstörungen solche Verengerungen der Speiseröhre entstanden sind, daß nicht einmal flüssige Nahrung in den Magen gelangt und der Tod durch Verhungern droht. Speisesaft, s. Chylus. Speiseventil etc., s. Dampfkesselspeiseapparate. Speisewalzen, an Maschinen die das Material zuführenden Walzenpaare. Speisewasser, das zur Versorgung eines Dampfkessels dienende Wasser. Speiskobalt (Smaltin, Smaltit), Mineral aus der Ordnung der einfachen Sulfuride, kristallisiert regulär, findet sich auch derb, eingesprengt und in mannigfaltig gruppierten Aggregaten, ist zinnweiß bis grau, mitunter bunt angelaufen oder durch beginnende Zersetzung zu Kobaltblüte an der Oberfläche rot gefärbt. Härte 5,5, spez. Gew. 6,4-7,3, besteht aus Kobaltarsen CoAs2 mit 28,2 Proz. Kobalt, enthält aber meist auch Eisen, Nickel und Schwefel. In bestimmten Varietäten wird der Gehalt an Nickel so bedeutend, daß dieselben eher dem Chloanthit (s. d.) zuzuzählen sein würden, während man die eisenreichen als graue Speiskobalte (Eisenkobaltkiese) von den weißen als den wesentlich nur Kobalt führenden trennt. Ein bis zu 4 Proz. Wismut enthaltendes Mineral wird als Wismutkobaltkies unterschieden. S. kommt meist auf Gängen, seltener auf Lagern der kristallinischen Schiefer und der Kupferschieferformation vor und ist das wichtigste Erz zur Blaufarbenbereitung, wobei Nickel und weißer Arsenik als Nebenprodukte gewonnen werden. Hauptfundorte sind: Schneeberg, Annaberg und andre Orte im sächsisch-böhmischen Erzgebirge, Richelsdorf und Bieber in Hessen, Dobschau in Ungarn, Allemont in Frankreich, Cornwall und Missouri. Speiteufel, Pilz, s. Agaricus III. Speke (spr. spihk), John Hanning, engl. Reisender, geb. 14. Mai 1827 zu Jordans bei Ilchester in Somerset, stellte sich die Aufgabe, die Nilquellen aufzufinden, und unternahm 1854 mit Burton die Bereisung des Somallandes, wobei er von den Eingebornen schwer verwundet wurde. Im folgenden Jahr beteiligte er sich an dem Krimkrieg; später (1857-59) treffen wir ihn mit Burton wieder in Afrika, wo er Ende Juli 1858 den Ukerewe oder Victoria Nyanza entdeckte. Mit J. A. Grant unternahm er 1860 von Sansibar aus eine neue Reise, von der er 1863 wieder zu Gondokoro am obern Nil eintraf, und die ihm die Überzeugung brachte, daß der Weiße Nil den Ausfluß jenes Sees bilde. S. ist somit als der Entdecker der Nilquellen anzusehen. Er starb 15. Sept. 1864 durch einen unglücklichen Schuß auf der Jagd bei Bath in England. Die Resultate seiner Reisen sind niedergelegt im "Journal of the discovery of the source of the Nile" (Lond. 1863, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1864, 2 Bde.). Spektabilität (v. lat. spectabilis, "ansehnlich"), auf einigen Universitäten Titel der Dekane der philosophischen Spektakelstück (Ausstattungs- oder Sonntagsstück), jedes mit Zügen, Tänzen, Gefechten etc. ausgestattete Schauspiel, dessen Wirkung vorzüglich auf die große Masse des Publikums berechnet ist. Spektral (lat.), auf das Spektrum (s. d.) Spektralanalyse (hierzu Tafel "Spektralanalyse"), Untersuchung des Spektrums des von einem Körper ausgesendeten oder von ihm durchgelassenen Lichts in der Absicht, die stoffliche Beschaffenheit des Körpers zu ergründen. Zur Beobachtung des Spektrums dienen die verschiedenen Arten der Spektroskope. Im Bunsenschen Spektroskop (Fig. 1, S. 118) steht ein Flintglasprisma P, dessen brechender Winkel 60° beträgt, mit vertikaler brechender Kante und in der Stellung der kleinsten Ablenkung auf einem gußeisernen Stativ. Gegen das Prisma sind drei horizontale Röhren A, B und C gerichtet. Die erste (A), das Spaltrohr oder der Kollimator, trägt an ihrem dem Prisma zugekehrten Ende eine Linse a (Fig. 2), in deren Brennpunkt sich ein vertikaler Spalt l befindet, der vermittelst einer in Fig. 1 sichtbaren Schraube enger oder weiter gestellt werden kann; die von einem Punkte des erleuchteten Spalts ausgehenden Lichtstrahlen werden durch die Linse a, weil sie aus deren Brennpunkt kommen, mit der Achse des Rohrs A parallel gemacht, treffen, nachdem sie durch das Prisma abgelenkt worden, ebenfalls unter sich parallel auf die Objektivlinse b des Fernrohrs B und werden durch diese in ihrer Brennebene rv in dem Punkt r ver- Spektralanalyse Spektren der Fixsterne und Nebelflecke, verglichen mit dem Sonnenspektrum und den Spektren einiger Nichtmetalle. Spektren der Alkali- und Erdalkali-Metalle. Nach Bunsen und Spektralanalyse (Apparatbeschreibung). einigt. Sind die durch den Spalt einfallenden Strahlen homogen rot, so entsteht bei r ein schmales rotes Bild des vertikalen Spalts; gehen aber auch violette Strahlen von dem Spalt aus, so werden diese durch das Prisma stärker abgelenkt und erzeugen ein violettes Spaltbild bei v. Dringt weißes Licht, das sich bekanntlich (s. Farbenzerstreuung) aus unzählig vielen verschiedenfarbigen und verschieden brechbaren Strahlenarten zusammensetzt, durch den Spalt ein, so legen sich die unzählig vielen entsprechenden Spaltbilder in ununterbrochener Reihenfolge nebeneinander und bilden in der Brennebene des Objektivs ein vollständiges Spektrum r v, welches nun durch das Okular o wie mit einer Lupe betrachtet wird. Im Spektrum des Sonnenlichts oder Tageslichts (s. die Tafel) gewahrt man mit großer Schärfe die Fraunhoferschen Linien (s. Farbenzerstreuung). Um das Spektrum mit einer Skala vergleichen zu können, trägt ein drittes Rohr C (das Skalenrohr) an seinem äußern Ende bei s eine kleine photographierte Skala mit durchsichtigen Teilstrichen, an seinem innern Ende dagegen eine Linse c, welche um ihre Brennweite von der Skala entfernt ist. Durch eine Lampenflamme wird die Skala erleuchtet. Die von einem Punkte der Skala ausgehenden Strahlen, durch die Linse c parallel gemacht, werden an der Oberfläche des Prismas auf die Objektivlinse o des Fernrohrs reflektiert und von dieser in dem entsprechenden Punkt ihrer Brennebene vereinigt. Durch das Okular schauend, erblickt man daher gleichzeitig mit dem Spektrum ein scharfes Bild der Skala, das sich an jenes wie ein Maßstab anlegt. Die Skala ist willkürlich festgestellt. Eine von Willkür freie Skala müßte nach den Wellenlängen der verschiedenfarbigen Strahlen eingeteilt sein. Da aber die Wellenlängen für die Fraunhoferschen Linien bekannt sind, so kann man für jedes Spektroskop mit willkürlicher Skala leicht eine Tabelle oder eine Zeichnung entwerfen, aus welcher für jeden Teilstrich die zugehörige Wellenlänge abgelesen werden kann. Die unmittelbare Vergleichung zweier Spektren verschiedener Lichtquellen wird durch das Vergleichsprisma (Fig. 3) ermöglicht, ein kleines gleichseitiges Prisma a b, welches, indem es die untere Hälfte des Spalts m n verdeckt, in diese kein Licht der vor dem Spalt aufgestellten Lichtquelle F (Fig. 1), wohl aber durch totale Reflexion auf dem Weg L r t (Fig. 4) das Licht der seitlich aufgestellten Lichtquelle L (f, Fig. 1) eindringen läßt. Man erblickt alsdann im Gesichtsfeld unmittelbar übereinander die Spektren beider Lichtquellen. Läßt man Tageslicht auf das Vergleichsprisma fallen, so können die Fraunhoferschen Linien seines Spektrums gleichsam als Teilstriche einer Skala dienen. Wegen der Ablenkung, die das Prisma hervorbringt, bilden Spaltrohr u. Fernrohr des Bunsenschen Spektroskops einen dieser Ablenkung entsprechenden Winkel miteinander, u. die Visierlinie des Instruments ist geknickt. Durch passende Zusammensetzung von Flint- und Crownglasprismen kann man aber sogen. geradsichtige Prismenkombinationen (à vision directe) herstellen, durch welche die Ablenkung der Strahlen, nicht aber die Farbenzerstreuung aufgehoben wird, und mit ihrer Hilfe geradsichtige Spektroskope konstruieren, welche die Lichtquelle direkt anzuvisieren erlauben. Ein solches ist das in Fig. 5 in natürlicher Größe dargestellte Browningsche Taschenspektroskop; s ist der Spalt, C die Kollimatorlinse, p der aus 3 Flint- und 4 Crownglasprismen, die mittels Ka- Fig. 1 u. 2. Bunsens Spektroskop. Spektralanalyse (Ergebnisse und praktische Verwendung). nadabalsams aneinander gekittet sind, zusammengesetzte Prismenkörper und O die Öffnung fürs Auge. Eine vollständigere Ausbreitung des Farbenbildes, als durch ein solches einfaches Spektroskop möglich ist, wird erzielt durch eine Reihe hintereinander gestellter Prismen. Schon Kirchhoff bediente sich eines zusammengesetzten Spektroskops mit vier Flintglasprismen. Littrow zeigte, daß man die Wirkung eines jeden Prismas verdoppeln kann, indem man die Strahlen mittels Spiegelung durch dieselbe Prismenreihe wieder zurücksendet; dabei werden die Prismen unter sich u. mit dem Beobachtungsfernrohr durch einen Mechanismus derart verbunden, daß sie sich, wenn das Fernrohr auf irgend eine Stelle des Spektrums gerichtet wird, von selbst (automatisch) auf die kleinste Ablenkung für die betreffende Farbe einstellen. Vorteilhaft wendet man statt einfacher Prismen Prismensätze an, welche bei größerer Dispersion kleinere Ablenkung und geringern Lichtverlust geben. Zur Beobachtung der Protuberanzen, der Flecke, der Chromosphäre, der Korona etc. der Sonne hat man besondere Spektroskope, welche statt des Okulars an das astronomische Fernrohr angeschraubt werden, so daß das von dem Objektiv desselben entworfene Sonnenbild auf die Spaltfläche des Spektroskops fällt und der Spalt auf beliebige Teile dieses Sonnenbildes eingestellt werden kann. Da das Bild eines Fixsterns im Fernrohr nur als ein Lichtpunkt erscheint, so würde sein Spektrum einen sehr schmalen Streifen bilden, in welchem, weil die Ausdehnung in die Breite fehlt, dunkle Linien nicht wahrgenommen werden könnten; dieselben werden jedoch wahrnehmbar bei Anwendung einer geeigneten Cylinderlinse, welche das schmale Spektrum in die Breite dehnt. Das Prisma der Spektroskope kann auch durch ein Gitter (s. Beugung) ersetzt werden (Gitterspektroskope). Das Taschenspektroskop von Ladd unterscheidet sich von dem Browningschen bloß dadurch, daß es statt des Prismensatzes ein photographiertes Gitter enthält. Weißglühende feste Körper sowie die hell leuchtenden Flammen der Kerzen, Lampen und des Leuchtgases, in welchen feste Kohlenteilchen in weißglühendem Zustand schweben, geben kontinuierliche Spektren, in welchen alle Farben vom Rot bis zum Violett vertreten sind. Die Spektren glühender Gase und Dämpfe dagegen bestehen aus einzelnen hellen Linien auf dunklem oder schwach leuchtendem Grunde, deren Lage und Gruppierung für die chemische Beschaffenheit des gasförmigen Körpers charakteristisch ist. Bringt man z. B. in die schwach leuchtende Flamme eines Bunsenschen Brenners eine in das Öhr eines Platindrahts (Fig. 1) eingeschmolzene Probe eines Natriumsalzes (etwa Soda oder Kochsalz), so färbt sich die Flamme gelb, und im Spektroskop erblickt man eine schmale gelbe Linie am Teilstrich 50 der Skala. Diese Linie ist für das Natrium charakteristisch und verrät die geringsten Spuren dieses Elements; noch der dreimillionste Teil eines Milligramms Natriumsalz kann auf diesem Weg nachgewiesen werden. Von ähnlicher Empfindlichkeit ist die Reaktion des Lithiums, dessen Spektrum durch eine schwache orangegelbe und eine intensiv rote Linie sich kennzeichnet. Kalisalze geben ein schwaches kontinuierliches Spektrum mit einer Linie im äußersten Rot und einer andern im Violett. Bunsen, welchem mit Kirchhoff das Verdienst gebührt, die S. zu einer chemischen Untersuchungsmethode ausgebildet zu haben, fand auf spekralanalytischem Weg die bis dahin unbekannten Metalle Rubidium und Cäsium auf, und andre Forscher entdeckten mittels derselben Methode das Thallium, Indium und Gallium. Die Temperatur der Bunsenschen Flamme, in welcher die Salze der Alkali- und Erdalkalimetalle leicht verdampfen, reicht zur Verflüchtigung andrer Körper, namentlich der meisten schweren Metalle, nicht aus. In diesem Fall bedient man sich des Ruhmkorffschen Funkeninduktors, dessen Funken man zwischen Elektroden, welche aus dem zu untersuchenden Metall verfertigt oder mit einer Verbindung desselben überzogen sind, überschlagen läßt. Auch die Spektren der schweren Metalle sind durch charakteristische, oft sehr zahlreiche helle Linien ausgezeichnet; im Spektrum des Eisens z. B. zählt man deren mehr als 450. Um Salze, die in Flüssigkeiten gelöst sind, im Induktionsfunken zu glühendem Dampf zu verflüchtigen, bringt man ein wenig von der Flüssigkeit auf den Boden eines Glasröhrchens, in welchen ein von einer Glashülle umgebener Platindraht eingeschmolzen ist, der mit seiner Spitze nur wenig über die Oberfläche der Flüssigkeit hervorragt; der Induktionsfunke, welcher zwischen diesem und einem zweiten von oben in das Röhrchen eingeführten Platindraht überschlägt, reißt alsdann geringe Mengen der Lösung mit sich und bringt sie zum Verdampfen. Um ein Gas glühend zu machen, läßt man die Entladung des Induktionsapparats mittels der eingeschmolzenen Drähte a und b durch eine sogen. Geißlersche Spektralröhre (Fig. 6) gehen, welche das Gas in verdünntem Zustand enthält. Befindet sich z. B. Wasserstoffgas in der Röhre, so leuchtet ihr mittlerer enger Teil mit schön purpurrotem Lichte, dessen Spektrum aus drei hellen Linien besteht, einer roten, welche mit der Fraunhoferschen Linie C, einer grünblauen, die mit F, und einer violetten, die nahezu mit G zusammenfällt. Viel komplizierter ist das Spektrum des Stickstoffs, welches aus sehr zahlreichen hellen Linien und Bändern besteht. Eine wichtige technische Anwendung hat die S. bei der Gußstahlbereitung durch den Bessemer-Prozeß gefunden. Die aus der Mündung des birnförmigen Gefäßes, in welchem dem geschmolzenen Gußeisen durch einen hindurchgetriebenen Luftstrom ein Teil seines Kohlenstoffs entzogen wird, hervorbrechende glänzende Flamme zeigt im Spektroskop ein aus hellen farbigen Linien bestehendes Spektrum, welches im Lauf des Prozesses sich ändert, und an dem gesteigerten Glanz gewisser grüner Linien den Augenblick erkennen läßt, in welchem die Oxydation des Kohlenstoffs den gewünschten Grad erreicht hat und der Gebläsewind abgestellt werden muß. Auch die dunkeln Absorptionsstreifen auf hellem Grund, Spektralanalyse (Bedeutung für die Astronomie etc.). welche farbige Körper im Spektrum des durchgelassenen Tages- oder Lampenlichts hervorbringen, sind für die chemische Beschaffenheit dieser Körper charakteristisch und gestatten, dieselben spektralanalytisch zu erkennen. Das Spektroskop kann daher in vielen Fällen dazu dienen, die Echtheit oder Verfälschung von Nahrungsmitteln, Droguen etc. nachzuweisen. Das Mikrospektroskop, ein mit einem Prismensatz ausgerüstetes Mikroskop, gestattet, diese Untersuchungsmethode auf die kleinsten Mengen anzuwenden. Auch in die gerichtliche Medizin hat die S. Eingang gefunden, weil sie die geringsten Mengen Blut nachzuweisen Die spektroskopische Untersuchung der Absorptionsspektren kann sogar dazu dienen, die Menge der in einer Lösung enthaltenen färbenden Substanz zu ermitteln (quantitative S.). Zu diesem Zweck besteht der Spalt (nach Vierordt) aus einer obern und untern Hälfte, deren jede unabhängig von der andern enger und weiter gemacht werden kann. Tritt nun z. B. durch die obere Hälfte des Spalts das ungeschwächte Licht, durch die untere das durch die absorbierende Substanz gegangene Licht ein, so erblickt man im Gesichtsfeld unmittelbar übereinander zwei Spektren und bewirkt nun durch Verengerung der obern Spalthälfte, daß irgend eine Farbe in beiden Spektren die gleiche Helligkeit zeigt. Die Lichtstärken dieser Farben in den beiden Strahlenbündeln verhalten sich dann umgekehrt wie die durch Mikrometerschrauben zu messenden Spaltbreiten. Die absorbierende Wirkung einer und derselben gelösten Substanz steigt aber mit der Konzentration; man kann daher aus der durch ein solches Spektrophotometer bewirkten Messung der Lichtstärken unter Berücksichtigung des bekannten Absorptionsgesetzes auf die Menge der Substanz schließen. Bei andern Spektrophotometern (Glan) wird die Schwächung des einen Strahlenbündels durch Polarisation bewirkt. Schon Fraunhofer hatte beobachtet, daß die helle gelbe Linie des Natriumlichts dieselbe Stelle im Spektrum einnimmt wie die dunkle Linie D des Sonnenlichts. Kirchhoff zeigte nun, daß ein gas- oder dampfförmiger Körper genau diejenigen Strahlengattungen absorbiert, welche er im glühenden Zustand selbst aussendet, während er alle andern Strahlenarten ungeschwächt durchläßt. Bringt man z. B. eine Spiritusflamme, deren Docht mit Kochsalz eingerieben ist, zwischen das Auge und ein Taschenspektroskop und blickt durch letzteres nach einer Lampenflamme, so sieht man das umgekehrte Spektrum des Natriums, d. h. die Natriumlinie erscheint dunkel auf hellem Grund, weil die Natriumflamme für Strahlen von der Brechbarkeit derer, welche sie selbst aussendet, undurchsichtig, für alle andern Strahlen aber durchsichtig ist. Bei genauer Vergleichung der Fraunhoferschen dunkeln Linien mit den hellen Linien irdischer Stoffe stellte sich nun heraus, daß eine sehr große Anzahl jener mit diesen genau übereinstimmt; so hat z. B. jede der mehr als 450 hellen Linien des Eisens ihr dunkles Ebenbild im Sonnenspektrum. Es erscheint demnach Kirchhoffs Schluß berechtigt, daß die Sonne ein glühender Körper ist, dessen Oberfläche, die Photosphäre, weißes Licht ausstrahlt, welches an und für sich ein kontinuierliches Spektrum geben würde, und daß die Photosphäre rings von einer aus glühenden Gasen und Dämpfen bestehenden Hülle von niedrigerer Temperatur (der Chromosphäre) umgeben ist, durch deren absorbierende Wirkung die Fraunhoferschen Linien hervorgebracht werden. Die S. des Sonnenlichts gibt uns demnach Aufschluß über die chemische Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre. Die vergleichenden Untersuchungen über die Spektren der Sonne und irdischer Stoffe sind in ausgedehnten sorgfältigen Zeichnungen niedergelegt; diejenige Kirchhoffs stellt das prismatische Spektrum dar und ist auf eine willkürliche Skala bezogen. Später hat Angström unter Mitwirkung von Thalen ein 3,5 m langes Bild des Gitterspektrums entworfen, in welches die Linien nach ihren Wellenlängen eingetragen sind. Für die brechbaren Teile des Spektrums vom Grün an und insbesondere auch für die ultravioletten Strahlen erhält man das Spektralbild statt durch mühsame Zeichnung leicht auf dem Weg der Photographie. Besonders schön und ausgedehnt ist die von Rowland mit Hilfe eines Reflexionsgitters hergestellte Photographie des Spektrums. Den ultraroten Teil des Spektrums hat Becquerel unter Zuhilfenahme von Phosphoreszenz gezeichnet, und Abney ist es gelungen, auch die roten und ultraroten Strahlen zu photographieren. - Außer den unzweifelhaft der Sonne angehörigen Spektrallinien gewahrt man im Sonnenspektrum noch andre dunkle Linien, welche erst durch die absorbierende Wirkung der Erdatmosphäre entstanden sind und deshalb atmosphärische Linien heißen. Die Fraunhoferschen Linien A und B erscheinen um so dunkler, je tiefer die Sonne steht, und verraten dadurch ihren irdischen Ursprung; nach Angström rühren sie wahrscheinlich von der Kohlensäure unsrer Atmosphäre her. Andre dunkle Linien und Bänder zwischen A und D, namentlich ein Band unmittelbar vor D, sind dem Wasserdampf der Atmosphäre zuzuschreiben. Man nennt sie Regenbänder, weil sie durch ihr Dunklerwerden bevorstehende Niederschläge ankündigen. - Der Mond und die Planeten, welche mit erborgtem Sonnenlicht leuchten, müssen natürlich ebenfalls die Fraunhoferschen Linien zeigen. Das Spektrum des Mondes stimmt mit demjenigen der Sonne vollkommen überein, ein neuer Beweis dafür, daß der Mond keine Atmosphäre hat. Venus, Mars, Jupiter und Saturn dagegen lassen in ihren Spektren deutlich den Einfluß ihrer Atmosphären erkennen, welche unzweifelhaft Wasserdampf enthalten. Die Spektren der Fixsterne zeigen, ähnlich demjenigen unsrer Sonne, dunkle Linien, welche jedoch unter sich und von denen im Sonnenspektrum zum Teil verschieden sind. Im Aldebaran z. B. vermochte Huggins Natrium, Magnesium, Calcium, Eisen, Wismut, Tellur, Antimon, Quecksilber und Wasserstoff nachzuweisen, wovon weder Wismut noch Tellur auf unsrer Sonne vorkommen; Beteigeuze enthält dieselben Elemente wie Aldebaran, mit Ausnahme von Quecksilber und Wasserstoff. Auch die Farben der Sterne erklären sich aus der Beschaffenheit ihres Spektrums. Von den beiden Sternen z. B., welche den Doppelstern ß [beta] im Schwan bilden, erscheint der eine gelbrot, weil dunkle Linien hauptsächlich im Blau und Rot seines Spektrums auftreten, der andre blau, weil das Rot und Orange seines Spektrums mit dicht gedrängten dunkeln Linien erfüllt ist. Über die Einteilung der Fixsterne nach ihrem spektralen Verhalten s. Fixsterne, S. 325. Als im Mai 1866 der bisher nur teleskopisch sichtbare Stern T im Sternbild der Nördlichen Krone fast plötzlich bis zur zweiten Größe aufleuchtete, zeigte sein Spektrum auf kontinuierlichem, mit dunkeln Linien durchzogenem Grund mehrere helle Linien, von denen zwei (C und F) dem Wasserstoff angehörten, und welche nach zwölf Tagen, nachdem der Stern von der zweiten bis zur achten Größe herabgesunken war, wieder verschwunden waren. Das Aufleuchten des Sterns erklärt sich demnach Spektralapparate - Spekulation. durch einen vorübergehenden Ausbruch glühenden Wasserstoffs. Über die Spektren der Kometen und Nebelflecke s. Wenn eine Lichtquelle mit großer Geschwindigkeit, welche mit derjenigen des Lichts vergleichbar ist, sich uns nähert oder von uns entfernt, so müssen von jeder homogenen Lichtsorte, welche sie aussendet, im ersten Fall mehr, im letzten Fall weniger Schwingungen pro Sekunde auf das Auge oder das Prisma treffen, als wenn die Lichtquelle stillstände. Da aber die Farbe und die Brechbarkeit eines homogenen Lichtstrahls durch die Anzahl seiner Schwingungen bedingt sind, so muß jene im erstern Fall etwas erhöht, im letztern Fall etwas erniedrigt sein, d. h. die Spektrallinie, welche dieser Strahlenart entspricht, wird nach dem violetten Ende des Spektrums verschoben erscheinen, wenn die Lichtquelle sich nähert, dagegen nachdem roten Ende, wenn die Lichtquelle sich entfernt. Man nennt diesen Satz, welcher für jede Wellenbewegung gilt und für Schallschwingungen direkt nachgewiesen ist, das Dopplersche Prinzip. Als Huggins die Linie F des Siriusspektrums mit der gleichnamigen Wasserstofflinie einer Geißlerschen Röhre verglich, konstatierte er eine meßbare Verschiebung der erstern gegen die letztere nach dem roten Ende hin und berechnete daraus, daß sich der Sirius mit einer Geschwindigkeit von 48 km pro Sekunde von der Erde entfernt. In dieser Weise können mittels des Spektroskops Bewegungen wahrgenommen und gemessen werden, welche in der Gesichtslinie selbst auf uns zu oder von uns weg gerichtet sind, während ein Fernrohr nur solche Bewegungen wahrzunehmen gestattet, welche senkrecht zur Gesichtslinie erfolgen. So hat Lockyer aus den eigentümlichen Verschiebungen und Verzerrungen, welche die dunkle Linie F des Sonnenspektrums und die helle Linie F der Chromosphäre bisweilen zeigen, den Schluß ziehen können, daß in der Sonnenatmosphäre Wirbelstürme wüten, deren Geschwindigkeit gewöhnlich 50-60, ja manchmal 190 km beträgt, während die heftigsten Orkane unsrer Erdatmosphäre höchstens eine Geschwindigkeit von 45 m in der Sekunde erreichen. Vgl. Schellen, Die S. (3. Aufl., Braunschw. 1883); Roscoe, Die S. (deutsch von Schorlemmer, 2. Aufl., das. 1873); Zech, das Spektrum und die S. (Münch. l875); Vogel, Praktische S. irdischer Stoffe (2.Aufl., Nördling. 1888); Lockyer, Das Spektroskop (deutsch, Braunschw. 1874); Derselbe, Studien zur S. (deutsch, Leipz. 1878); Vierordt, Quantitative S. (Tübing. 1875); Klinkerfues, Die Prinzipien der S. und ihre Anwendung in der Astronomie (Berl. 1878); Kayser, Lehrbuch der S. (das. 1883). Spektralapparate (lat.), optische Apparate zur Erzeugung und Beobachtung des Spektrums: Spektrometer und Spektroskop. Spektralfarben, die Farben des Spektrums (s. d.). Spektrometer (lat.-griech.), Apparat zur genauen Messung der Ablenkung der verschiedenen homogenen farbigen Strahlen eines durch ein Prisma oder Gitter entworfenen Spektrums. Das Meyersteinsche S. (s. Figur) ist ähnlich eingerichtet wie das Bunsensche Spektroskop (s. Spektralanalyse), und die Wirkungsweise der entsprechenden Teile ist die nämliche. Das Spaltrohr und das Fernrohr sind nach der Mitte des Tischchens gerichtet, auf welchem das Prisma (oder das Gitter etc.) aufgestellt wird. Zwei geteilte Kreise, ein kleinerer und ein größerer, sind unabhängig voneinander um ihre vertikalen Achsen drehbar; der letztere dreht sich mit dem Fernrohr und gestattet, an den feststehenden Nonien die jeweilige Ablenkung der am Fadenkreuz des Fernrohrs erscheinenden Spektrallinie abzulesen, während der erstere. das Prisma tragende durch eine Klemme festgehalten wird. Läßt man dagegen den größern Kreis feststehen, während man durch das ebenfalls feststehende Fernrohr das an einer Prismenfläche gespiegelte Spaltbild anvisiert, und dreht nun den kleinern Kreis samt dem von ihm getragenen Prisma, bis das an der zweiten Prismenfläche gespiegelte Spaltbild am Fadenkreuz erscheint, so erfährt man aus der Drehung, welche man am Nonius des kleinern Kreises abliest, den brechenden Winkel des Prismas; das S. spielt in diesem letztern Fall die Rolle eines Reflexionsgoniometers (s. Goniometer). Das Instrument liefert demnach bequem und sicher die beiden Daten, den brechenden Winkel und die kleinste Ablenkung, welche zur Berechnung der Brechungsverhältnisse (s. Brechung des Lichts) erforderlich sind. Vgl. Meyerstein, Das S. (2. Aufl., Götting. [Abb: Meyersteins Spektrometer.] Spektrophon (lat.-griech.), s. Radiophonie. Spektroskop (lat.-griech.), s. Spektralanalyse. Spektrum (lat., "Gespenst"), das Farbenbild, in welches zusammengesetztes Licht durch Dispersion mittels eines Prismas oder durch Beugung ausgebreitet wird; s. Farbenzerstreuung, Spektralanalyse. Spekulation (lat.) hat in den verschiedenen philosophischen Schulen eine verschiedene Bedeutung, indem man darunter bald ein streng begriffmäßiges (wissenschaftliches) Denken und Erkennen, bald ein von vernünftigem Reflektieren absehendes visionäres Schauen versteht. In letzterer Bedeutung nahmen die S. zuerst die Neuplatoniker und neuerlich die Schulen des transcendentalen und absoluten Idealismus auf. Die Hegelsche Schule versteht unter S. dasjenige Denken, welches streng methodisch alle Gegensätze und Widersprüche in den Begriffen in höhere Einheiten aufzulösen sucht. Herbart stellt der spekulativen Philosophie die Aufgabe, die in der Erfahrung enthaltenen Widersprüche darzulegen und mittels logischer Bearbeitung der Begriffe zu beseitigen. - Im gewöhnlichen Leben, insbesondere im Handel, nennt man S. jede auf die Durchführung sol- Spekulationsverein - Spencer. cher Unternehmungen gerichtete Erwägung, bei welchen der erwartete Gewinn durch Eintritt oder Ausbleiben von Ereignissen bedingt ist, die von dem Willen des Unternehmers (Spekulanten) selber unabhängig sind. Eine jede Unternehmung beruht mehr oder weniger auf spekulativer Grundlage, und die S. ist als eine Berücksichtigung zukünftiger Möglichkeiten an und für sich eine unerläßliche Bedingung geordneter Bedarfsdeckung und eines geregelten Wirtschaftslebens. Zu unterscheiden von der soliden S. ist das Spekulationsmanöver, welches unter Benutzung monopolistischer Stellung durch Aufkauf und "Erwürgen" (Vorschreibung harter Bedingungen für bedrängte Schuldner) oder auch durch betrügerische Anpreisung, unzulässige Verteilung zu hoher Dividenden etc. die Preise künstlich zu verändern sucht. Spekulationspapiere sind solche Wertpapiere, welche starken Kursschwankungen unterworfen und daher zur Gewinnerzielung aus Kauf und Verkauf sehr geeignet sind. Über Spekulationskauf vgl. Börse, S. 235. Spekulationsverein (franz. Association en participation), s. Gelegenheitsgesellschaft. Spekulativ (lat.), auf Spekulation gerichtet, bezüglich, begründet; spekulieren, sich mit Spekulationen beschäftigen. Spello, Stadt in der ital. Provinz Perugia, Kreis Foligno, an der Eisenbahn Florenz-Foligno-Rom, mit 2 alten Kirchen (mit Gemälden von Pinturicchio und Perugino), einem Konviktkollegium und (1881) 2419 Einw.; das alte Hispellum, wovon noch ansehnliche Reste vorhanden sind. Spelt, s. Spelz. Spelter, s. v. w. Zink. Spelunke (lat.), Höhle; höhlenartige, dunkle, versteckte Räumlichkeit. Spelz (Spelt, Dinkel, Dinkelweizen, Triticum Spelta L.), Pflanzenart aus der Gattung Weizen, mit vierseitiger, wenig zusammengedrückter, lockerer Ähre, meist vierblütigen Ährchen und breit eiförmigen, abgeschnittenen, zweizähnigen Deckspelzen, gibt beim Dreschen nicht Körner, sondern nur die von der Spindel abgesprungenen Ährchen (Vesen). Der Dinkel, aus Mesopotamien und Persien stammend, wurde schon von den alten Griechen kultiviert und ist die Zea der Römer, wird auch seit alter Zeit in Schwaben und der Schweiz als Brotfrucht gebaut (der Lech scheidet ziemlich scharf das Roggen- vom Spelzland). Er ist dem Weizen in mancher Hinsicht vorzuziehen, hat aber trotzdem wenig Verbreitung gefunden, weil die Vesen besondere Mahleinrichtungen fordern und das Dinkelbrot schon am dritten Tag Risse bekommt. Der S. enthält im Mittel 11,02 Proz. eiweißartige Körper, 2,77 Fett, 66,44 Stärkemehl und Dextrin, 5,47 Holzfaser, 2,21 Asche und 12,09 Proz. Wasser. Das Amelkorn (Gerstendinkel, Reisdinkel, Zweikorn, Emmer, Ammer, Sommerspelz, T. amyleum Ser., T. dicoccum Schrk.), mit zusammengedrückter, dichter Ähre, zweizeilig stehenden, meist vierblütigen Ährchen mit zwei Körnern und zwei Grannen und schief abgeschnittenen, an der Spitze mit einem eingebogenen Zahn, auf dem Rücken mit hervortretendem Kiel versehenen Deckspelzen, wird im Dinkelgebiet und in Südeuropa seit alters her hauptsächlich als Sommerfrucht gebaut und liefert vortreffliche Graupen und vorzügliches Pferdefutter, aber rissiges Gebäck. Das Einkorn (Peterskorn, Blicken, Pferdedinkel, in Thüringen Dinkel, T. monococcum L.), mit zusammengedrückter Ähre, meist dreiblütigen, reif nur einkörnigen, eingrannigen Ährchen und an der Spitze mit einem geraden, zahnförmigen Ende des Kiels und zwei seitlichen geraden Zähnen versehenen Deckspelzen, wird im Gebirge auf magerm Boden gebaut, gibt dort nur das dritte Korn und wird als treffliches Pferdefutter verwertet. Einkorn ist das in der Bibel vorkommende Kussemeth, aus welchem Syrer und Araber ihr Brot machten. Es hat wenig Verbreitung Spelzblütige, s. Glumifloren. Spelzen, die Deckblätter der Ährchen (s. d.), besonders bei den Gräsern. Spencemetall (Eisenthiat), ein von Spence angegebenes zusammengeschmolzenes Gemisch von Schwefeleisen, Schwefelzink, Schwefelblei mit Schwefel, ist metallähnlich, dunkelgrau, fast schwarz, vom spez. Gew. 3,5-3,7; es ist sehr zäh, etwas elastisch, die Zugfestigkeit beträgt 45 kg pro 1 qcm, es leitet die Wärme schlecht und schmilzt bei 156-170°. Auf der Bruchfläche ist es dem Gußeisen ähnlich, und der Ausdehnungskoeffizient scheint sehr klein zu sein. Beim Erstarren dehnt es sich wie Wismut und Letternmetall aus, liefert sehr scharfe Abgüsse und eignet sich zur Verbindung von Gas- und Wasserröhren. Im Vergleich mit andern metallischen Substanzen widersteht das S. den Säuren und Alkalien sehr gut, auch nimmt es hohe Politur an und verliert diese nicht unter dem Einfluß der Witterung. Es läßt sich auch sehr gut bearbeiten, und bei seinem niedrigen Preis und dem geringen spezifischen Gewicht stellt sich die Benutzung ungemein billig. Da es von Wasser nicht angegriffen wird, eignet es sich vorzüglich zur Herstellung von Wasserzisternen, wegen des schlechten Wärmeleitungsvermögens zur Bekleidung von Wasserröhren, die es auch vor Rost schützt. In chemischen Fabriken dürfte das S. vielfach als Surrogat des Bleies verwendbar sein; auch eignet es sich als Verbindungsmittel für Eisen mit Stein oder Holz, zum hermetischen Verschluß von Flaschen und Büchsen, zum Einhüllen von Früchten und Lebensmitteln, zu Zeugdruckwalzen, Zapfenlagern, Gußformen, als Unterlage von Klischees etc. S. bildet auch ein gutes Material für Kunstguß und Klischees, es gibt die feinsten Details außerordentlich scharf wieder, und durch geeignete Behandlung kann man den Gegenständen eine dunkelblaue Farbe oder eine Gold- oder Silber- oder eine der grünen Bronzepatina ähnliche Farbe geben. Die Gußformen können aus Metall, Gips, selbst aus Gelatine bestehen, da das S. schnell genug erstarrt, um einen scharfen Abguß zu liefern, bevor noch die Form zerstört wird. Spencer, 1) Georg John, Graf, engl. Bibliophile, geb. 1. Sept. 1758 als Sohn des Lords S., der 1761 zum Viscount Althorp und 1765 zum Grafen S. erhoben wurde, machte seine Studien auf der Universität zu Cambridge, bereiste dann Europa und wurde nach seiner Rückkehr in das Parlament gewählt. Nach dem Tod seines Vaters trat er 1783 in das Oberhaus ein, wurde 1794 zum ersten Lord der Admiralität ernannt, zog sich dann 1801 mit Pitt zurück, übernahm aber in Fox' und Grenvilles Ministerium auf kurze Zeit von neuem das Staatssekretariat des Innern und lebte seitdem in Zurückgezogenheit, bis er 10. Nov. 1834 starb. Durch Ankauf der Büchersammlung des Grafen von Rewiczki 1789 hatte er den Grund zu einer Bibliothek gelegt, die er in der Folge durch umfassende und kostspielige Neuerwerbungen zur größten und glänzendsten Privatbüchersammlung von ganz Europa erhob. Sie zählt über 45,000 Bände und befindet sich zum größ- Spencer-Churchill - Spener. ten Teil auf dem Stammsitz der Familie zu Althorp in Northamptonshire, der Rest in London. Über den Reichtum derselben an ältesten Buchdruckereierzeugnissen und ersten Klassikerausgaben vgl. Dibdin, Bibliotheca Spenceriana (Lond. 1814, 4 Bde.). Auch eine reichhaltige Gemäldesammlung hatte S. angelegt, welche Dibdin in Bd. 1 seines Werkes "Aedes Althorpianae" (Lond. 1822) beschreibt, während er in Bd. 2 als Nachtrag zu der "Bibliotheca Spenceriana" eine Beschreibung der kostbarsten, 1815-1822 noch angeschafften alten Drucke gibt. 2) John Charles, Graf von, brit. Staatsmann, bekannter unter dem Namen Lord Althorp, geb. 30. Mai 1782, trat nach Vollendung seiner Studien zu Cambridge 1803 ins Unterhaus und war unter Fox und Grenville Lord des Schatzes. Er stand auf seiten der Whigs. Im Ministerium Grey (1830) wurde er Kanzler der Schatzkammer und galt in allen finanziellen und staatswirtschaftlichen Fragen als Autorität. Er legte auch 2. Febr. 1833 dem Unterhaus die irische Kirchenreformbill vor, welche der Appropriationsklausel wegen im Kabinett selbst eine Spaltung hervorrief. Als er 1834 durch den Tod seines Vaters Mitglied des Oberhauses ward, mußte er sein Schatzkanzleramt niederlegen und widmete sich fortan landwirtschaftlicher Beschäftigung. Später trat er zu der Anticornlawleague. Er starb 1. Okt. 1845. Vgl. Le Marchant, Memoirs of John Charles Viscount Althorp, third Earl of S. (Lond. 3) Frederick, vierter Graf von, Bruder des vorigen, geb. 14. April 1798, trat in den Marinedienst, zeichnete sich in der Schlacht von Navarino aus, erbte 1845 Titel und Güter seines Bruders, war vom Juli 1846 bis September 1848 Lord-Oberkammerherr, avancierte 1852 zum Konteradmiral und übernahm Anfang 1854 als Nachfolger des Herzogs von Norfolk das Amt eines Lord-Steward; er starb 27. Dez. 1857. 4) John Poynty, fünfter Graf von, brit. Staatsmann, Sohn des vorigen, geb. 27. Okt. 1835, erzogen zu Harrow und Cambridge, war bis zum Tod seines Vaters (27. Dez. 1857) für Northampton Mitglied des Unterhauses, wo er sich der liberalen Partei anschloß, und trat dann in das Oberhaus ein. Von 1859 bis 1861 war er Oberkammerherr (groom of the stole) des Prinzen Albert und bekleidete dann von 1862 bis 1867 das gleiche Amt in der Hofhaltung des Prinzen von Wales. Als im Dezember 1868 Gladstone ein neues Ministerium bildete, wurde S. zum Vizekönig von Irland ernannt, nahm aber im Februar 1874 beim Sturz der liberalen Partei seine Entlassung. Im neuen Gladstoneschen Kabinett (1880-85) erhielt er erst das Amt eines Präsidenten des Geheimen Rats, dann 1882 das des Vizekönigs von Irland und übernahm 1886 auf kurze Zeit wieder das Präsidium des Geheimen Rats. 5) Herbert, engl. Philosoph, geb. 1820 zu Derby, wurde von seinem Vater, einem Lehrer der Mathematik, und seinem Oheim Thomas S., einem liberalen Geistlichen, erzogen, zuerst Zivilingenieur, sodann Journalist und (von 1848 bis 1859) Mitarbeiter an dem von J. Wilson herausgegebenen "Economist", an der "Westminster" und "Edinburgh Review" und andern Zeitschriften, endlich philosophischer Schriftsteller und Begründer eines eignen Systems, das er als Evolutions- oder Entwickelungsphilosophie bezeichnete. Seine erste bedeutende Schrift war eine Statistik der Gesellschaft unter dem Titel: "Social statics" (1851, 1868) nebst einem Auszug daraus: "State education self defeating" (1851), welcher die "Principles of psychology" (1855) folgten; 1860 begann er nach dem Vorbild von Comtes "Cours de philosophie positive" eine zusammenhängende Folge von philosophischen Werken ("System of synthetic philosophy"), in welchen "nach ihrer natürlichen Ordnung" die Prinzipien der Biologie, Psychologie, Sociologie und Moral entwickelt werden sollen. Die bisher erschienenen Bände derselben umfassen: "First principles" (1862, 5. Aufl. 1884; deutsch von Vetter, Stuttg. 1876-77), "Principles of biology" (1865, 2 Bde.), eine Umarbeitung der "Principles of psychology" (1870; 3. Aufl. 1881, 2 Bde.), "Principles of sociology" (1876-79, 2 Bde.; deutsch von Vetter, Stuttg. 1877 ff.), "Ceremonial institutions" (1879), "Political institutions" (1882), "Ecclesiastical institutions" (1885) und "The data of ethics" (1879). Außerdem veröffentlichte S.: "Education: intellectual, moral and physical" (1861, 16. Aufl.1885; deutsch von Schultze, 3. Aufl., Jena 1889); "Essays, scientific, political and speculative" (1858 bis 1863, 2 Bde.; 4. Aufl. 1885, 3 Bde.); "Classification of the sciences" (1864, 3. Aufl. 1871); "Recent discussions in science, philosophy and morals" (1871); "Study of sociology" (1873, 14. Aufl. 1889; deutsch von Marquardsen, Leipz. 1875, 2 Bde.); "Descriptive sociology" (mit Callier, Scheppig und Duncan, 1873 ff, 6 Bde.); "The rights of children and the true principles of family government" (1879) u. a. Vgl. Fischer, Über das Gesetz der Entwickelung auf physisch-ethischem Gebiet mit Rücksicht auf Herbert S. (Würzb. l875); Guthrie, On Spencer's unification of knowledge (Lond. 1882); Michelet, Spencers System der Philosophie (Halle 1882). Spencer-Churchill, s. Marlborough 3-6). Spencer-Gewehr, s. Handfeuerwaffen, S. 107. Spencergolf, großer, tief in das Land eindringender Golf der Kolonie Südaustralien, zwischen der Eyria- und der Yorkehalbinsel. Seine Küsten enthalten eine Reihe mittelmäßiger Häfen, der bedeutendste an seiner Nordspitze ist Port Augusta, nächstdem Port Pirie, Port Broughton und Wallaroo. An seinem Südwestende bildet Port Lincoln einen der vortrefflichsten Häfen der Welt, leider bietet aber das Land in seiner Umgebung dem Ansiedler sehr Spendieren (ital.), freigebig sein, zum besten geben, schenken; spendabel, freigebig. Spener, Philipp Jakob, der Stifter des Pietismus, geb. 13. Jan. 1635 zu Rappoltsweiler im Oberelsaß, widmete sich zu Straßburg theologischen Studien, war 1654-56 Informator zweier Prinzen aus dem Haus Pfalz-Birkenfeld und besuchte seit 1659 noch die Universitäten Basel, Genf und Tübingen. Der Aufenthalt in Genf war insofern für seine spätere Entwickelung von Bedeutung, als er hier zu Labadie (s. d.) und damit zum reformierten Pietismus in Beziehung trat. Aber sein Interesse galt damals mehr der Heraldik; Früchte seiner darauf bezüglichen Studien waren: "Historia insignium" (1680) und "Insignium theoria" (1690), welche Werke in Deutschland die wissenschaftliche Behandlung der Heraldik begründeten. 1663 ward S. Freiprediger zu Straßburg, 1664 daselbst Doktor der Theologie, 1666 Senior der Geistlichkeit in Frankfurt a. M. In dieser Stellung begann er, durchdrungen von dem Gefühl, daß man in Gefahr stehe, das christliche Leben über dem Buchstabenglauben zu verlieren, seit 1670 in seinem Haus mit einzelnen aus der Gemeinde Versammlungen zum Zweck der Erbauung (collegia pietatis) zu halten, welche 1682 in die Kirche verlegt wurden. Seine reformatorischen Ansichten vom Kirchentum sprach er aus in seinen "Pia desideria, oder herz- Spengel - Spenser. liches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche" (Frankf. 1675; neue Ausg., Leipz. 1846) und in seiner "Allgemeinen Gottesgelahrtheit" (Frankf. 1680), wozu später noch seine "Theologischen Bedenken" (Halle 1700-1702, 4 Bde.; in Auswahl das. 1838) kamen. Der große Streit über den Pietismus (s. d.) war schon entbrannt, als S. 1686 Oberhofprediger in Dresden wurde. Bald ward er in denselben persönlich verwickelt, als er gegenüber dem Hamburger Prediger Mayer und dessen Genossen seine Freunde in Schutz nahm. 1695 entbrannte der Kampf zwischen S. und dem Pastor Schelwig in Danzig, der jenem nicht weniger als 150 Häresien vorwarf. Unterdessen aber war S. mit der theologischen Fakultät in Leipzig und später auch mit dem Kurfürsten Johann Georg III., dem er als Beichtvater in einem Briefe Vorstellungen wegen seines Lebenswandels gemacht, zerfallen und hatte 1691 einen Ruf als Propst und Inspektor der Kirche zu St. Nikolai und Assessor des Konsistoriums nach Berlin angenommen, wo er seine Wirksamkeit unter fortdauernden Angriffen seitens der orthodoxen Lutheraner fortsetzte. Leider fehlte es ihm an Energie, um sich scharf gegen die Ausschreitungen seiner Gesinnungsgenossen, insbesondere gegen die Visionen und Offenbarungen des pietistischen Frauenkreises in Halberstadt, auszusprechen. Während die 1694 gestiftete Universität Halle ganz unter seinem Einfluß stand, ließ die theologische Fakultät zu Wittenberg 1695 durch den Professor Deutschmann 264 Abweichungen Speners von der Kirchenlehre zusammenstellen, und letzterm gelang es nicht, durch seine "Aufrichtige Übereinstimmung mit der Augsburger Konfession" die Gegner zu beschwichtigen. Selbst nach seinem Tod (5. Febr. 1705) wurde der Streit bis gegen die Mitte des Jahrhunderts fortgeführt. Behauptete doch der Rostocker Professor der Theologie, Fecht, daß man S. wegen seiner "unmäßigen und unersättlichen Neuerungslust" nicht als einen "Seligen" bezeichnen dürfe. Vgl. Hoßbach, Phil. Jak. S. und seine Zeit (3. Aufl., Berl. 1861); Thilo, S. als Katechet (das. 1840); Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2 (Bonn 1881). Spengel, Leonhard, Philolog, geb. 24. Sept. 1803 zu München, gebildet daselbst, studierte, nachdem er die Prüfung für das Lehramt am Gymnasium glänzend bestanden, seit 1823 in Leipzig und Berlin, wurde 1826 Lektor, 1830 Professor an dem alten Gymnasium seiner Vaterstadt und war daneben seit 1827 Privatdozent an der Universität und zweiter Vorstand des philologischen Seminars. 1842 ging er als ordentlicher Professor nach Heidelberg, kehrte 1847 als solcher nach München zurück und starb dort hochgeehrt 9. Nov. 1880. Er war seit 1835 Mitglied der bayrischen, seit 1842 auch der preußischen Akademie der Wissenschaften. Seine litterarische Thätigkeit erstreckte sich besonders auf die griechische Rhetorik und Aristoteles. Von den Arbeiten der erstern Art nennen wir: "???????? ?????? s. artium scriptores ab initiis usque ad editos Aristotelis de rhetorica libros" (Stuttg. 1828), "Anaximenis ars rhetorica" (Zürich u. Winterthur 1844), "Rhetores graeci" (Leipz. 1853-56, 3 Bde.); von denen der letztern: "Aristotelische Studien" (Münch. 1864-68, 4 Tle.), "Aristotelis Ars rhetorica" (Leipz. 1867, 2 Bde.) sowie "Alexandri Aphrodisiensis quaestionum naturalium et moralium ad Aristotelis philosophiam illustrandam libri IV" (Münch. 1842), "Incerti auctoris paraphrasis Aristotelis elenchorum sophisticorum" (das. 1842), "???????? '???????????? ??????" (das. 1859), "Themistii Paraphrases Aristotelis librorum" (Leipz. 1866, 2 Bde.), "Eudemi Rhodii Peripatetici fragmenta quae supersunt" (Berl. 1866, 2. Ausg. 1870). In seinen vielseitigen Aufsätzen, die meist in den "Abhandlungen der bayrischen Akademie" erschienen sind, hat er sich auch um die herculaneischen Rollen sowie um die richtige Beurteilung einzelner Autoren gegenüber einer übertriebenen Lobpreisung große Verdienste erworben. Von anderweitigen Ausgaben sind hervorzuheben: "M. Terentii Varronis de lingua latina libri" (Berl. 1826; neu hrsg. von seinem Sohn Andreas S., das. 1885); "C. Caecilii Statii deperditarum fabularum fragmenta" (Münch. 1829). Vgl. Christ, Gedächtnisrede auf Leonh. v. S. (Münch. 1881). Spengler (Spängler), s. v. w. Klempner. Spengler, Lazarus, geistlicher Liederdichter, geb. 1479 zu Nürnberg, ward nach beendeten Rechtsstudien 1507 Ratsschreiber daselbst, that viel für Durchführung des Reformationswerks in seiner Vaterstadt und ward von derselben zum Reichstag nach Worms sowie zu dem nach Augsburg gesandt; starb 7. Sept. 1534. Von ihm sind die Lieder: "Durch Adams Fall ist ganz verderbt" und "Vergebens ist all Müh' und Kost". Sein Leben beschrieben Engelhardt (Bielef. 1855) und Pressel (Elbers. Spennymoor (spr. -muhr), Stadt in der engl. Grafschaft Durham, südlich von Durham, mit Kohlengruben, Eisenhütten und (1881) 5917 Einw. Spenser, Edmund, engl. Dichter, geb. 1553 zu London, vielleicht aus vornehmer, sicher unbemittelter Familie, studierte bis 1576 im Pembroke College zu Cambridge, lebte dann in einer der herrlichen Grafschaften des Nordens und kam 1578 nach London, wo er mit Sir Philip Sidney und durch diesen mit dem Grafen von Leicester bekannt wurde. Er scheint sich um ein Hofamt beworben, auch, wie eine Stelle in seinem "Mother Hubbard's tale" zeigt, die Enttäuschungen des Hoflebens gekostet zu haben. 1580 begleitete er den Statthalter von Irland, Lord Grey, als Sekretär nach Dublin. Sie blieben nur zwei Jahre, doch erhielt S. 1586 in der Grafschaft Cork Landgebiet und lebte fortan, wenige Besuche in London abgerechnet, ausschließlich dort auf Kilcolman Castle, meist als Beamter der Regierung, zuletzt als Clerk des Rats von Munster thätig. Mit den Verhältnissen der Insel vertraut, schrieb er 1596 für die Regierung das dialogische "A view of the present state of Ireland". Dem bald darauf ausbrechenden Aufstand fiel er zum Opfer: sein Haus wurde verbrannt, er selbst gezwungen, mit seiner Familie nach London zu fliehen. Hier starb er 13. Jan. 1599 und ward in der Westminsterabtei begraben, wo ihm die Gräfin Dorset 1620 ein Denkmal setzte. Seinen Ruhm dankt S. zwei größern Dichtungen. "The shepherd's calendar", Ph. Sidney gewidmet, umfaßt zwölf Hirtengedichte, jedes einem Monat entsprechend; die Schäfer klagen ihren Liebesschmerz, erörtern religiöse Fragen, preisen die Königin. "The Faery Queen" ist ein romantisch-allegorisches Epos nach dem Muster Ariosts und Tassos. Die 3 ersten Bücher erschienen 1590 und wurden der Königin gewidmet, welche die vielen Schmeicheleien des Dichters mit einer jährlichen Pension von 50 Pfd. Sterl. erwiderte. Die nächsten 3 Bücher wurden 1596 veröffentlicht. Es sollten noch 6 andre folgen, doch blieb zu ihrer Abfassung dem Dichter weder Ruhe noch Zeit; nur Fragmente sind erhalten. Jedes Buch beschreibt ein Abenteuer, das ein Ritter am Hof der Feenkönigin besteht, und feiert gleichzeitig die Thaten irrender Ritterschaft Spenzer - Spergula. und den Triumph einer Tugend. Aber die Allegorie geht noch weiter: unter der Maske der Feen und Ritter verbirgt der Dichter Personen seiner Zeit. Das Metrum ist die sogen. Spenserstanze (s. Stanze), die Sprache schwungvoll, doch nicht frei von Archaismen. Außer diesen Werken schrieb S. Elegien, Sonette und Hymnen. Die beste Ausgabe seiner Werke lieferte Collier (Lond. 1861, 5 Bde.). Vgl. Craik, S. and his poetry (Lond. 1871, 3 Bde.); Dean Church, E. S. (2. Aufl., das. 1887). Spenzer (Spencer, Spenser), nach seinem Erfinder, Lord Spencer (unter Georg III.), benanntes eng anschließendes Ärmeljäckchen. Speranskij, Michael, Graf, russ. Staatsmann und Publizist, geb. 1. Jan. 1772 zu Tscherkutino im Gouvernement Wladimir, besuchte die geistliche Akademie zu Petersburg, war 1792-97 an derselben Professor der Mathematik und Physik und ward 1801 vom Kaiser Alexander I. zum Staatssekretär beim Reichsrat ernannt. In dieser Stellung verfaßte er die wichtigsten Staatsschriften jener Periode, organisierte 1802 das Ministerium des Innern, sodann auch den Reichsrat neu und trat 1808 an die Spitze der Gesetzkommission, welche ihm einen festern Geschäftsgang verdankt. 1808 ward er Kollege des Justizministers und Staatsrat und 1809 zum Wirklichen Geheimen Rat ernannt, 1812 aber auf Verdächtigungen hin zuerst nach Nishnij Nowgorod, dann nach Perm in die Verbannung geschickt. Schon 1814 ward er aber in den Staatsdienst zurückberufen und erhielt das Gouvernement der Provinz Pensa und 1819 das Generalgouvernement von Sibirien. Hier wirkte er besonders segensreich für das Schicksal der Verbannten und Angesiedelten, bis er im März 1821 zum Mitglied des Reichsrats ernannt wurde. Kaiser Nikolaus beauftragte ihn mit der Sammlung des russischen Gesetzbuchs. Dies veranlaßte ihn zu dem gediegenen "Précis de notions historiques sur la réformation du corps de lois russes, etc." (Petersb. 1833). Zuletzt in den Grafenstand erhoben, starb er 23. Febr. 1839 in Petersburg. Vgl. M. Korff, Leben des Grafen S. (St. Petersb. 1861, 2 Bde.; russisch). Seine Tochter Elisabeth von Bagrejew-S., geb. 17. Dez. 1799 zu Petersburg, hat sich als Schriftstellerin bekannt gemacht. Sie folgte 1812 ihrem Vater in die Verbannung nach Nishnij Nowgorod sowie 1819 nach Sibirien und verheiratete sich dort mit Herrn v. Bagrejew, mit dem sie nach Petersburg zurückkehrte. Zur Ehrendame der Kaiserin Elisabeth ernannt, wurde sie der Mittelpunkt eines auserlesenen Kreises von Gelehrten, Künstlern und Staatsmännern, zog sich aber nach dem Tod ihres Vaters (1839) auf ihre Güter in der Ukraine zurück. Der Tod ihres einzigen Sohns veranlaßte sie zu einer Pilgerfahrt nach Jerusalem, die sie in dem Werk "Les pelerins russes" (Brüssel 1854, 2 Bde.) beschrieb. Sie starb 4. April 1857 in Wien. Sie schrieb noch: "Méditations chrétiennes"; "La vie de château en Ukraine"; Briefe über Kiew, kleine Erzählungen u. a. Vgl. Duret, Un portrait russe (Leipz. Speránza (ital.), Hoffnung (als Zuruf Speratus, Paul, Beförderer der Reformation und geistlicher Liederdichter, geb. 13. Dez. 1484, aus dem schwäbischen Geschlecht der von Spretten, studierte zu Paris und in Italien Theologie und wirkte für Verbreitung der Reformation in Augsburg, Würzburg, Salzburg und seit 1521 in Wien, von wo er sich, infolge einer Predigt über die Mönchsgelübde nicht mehr vor dem Ketzergericht sicher, zuerst nach Ofen, dann nach Iglau begab. Hier wie dort vertrieben, kam er 1524 nach Wittenberg, wo er Luther in seiner Sammlung deutscher geistlicher Lieder unterstützte. 1525 ward er Hofprediger beim Herzog Albrecht von Preußen in Königsberg und 1529 Bischof von Pomesanien, als welcher er sich um die Organisation des evangelischen Kirchenwesens in Preußen verdient machte. Er starb 17. Dez. 1551 in Marienwerder. Von ihm stammt unter andern das Lied "Es ist das Heil uns kommen her etc." Sein Leben beschrieben Cosack (Braunschw. 1861), Pressel (Elberf. 1862), Trautenberger ("S. und die evangelische Kirche in Iglau", Brünn 1868). Sperber (Nisus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der Raubvögel, der Familie der Falken (Falconidae) und der Unterfamilie der Habichte (Accipitrinae), Vögel mit gestrecktem Leib, kleinem Kopf, zierlichem, scharfhakigem, undeutlich gezahntem Schnabel, bis zur Schwanzmitte reichenden Flügeln, in denen die vierte und fünfte Schwinge die längsten sind, langem, stumpf gerundetem Schwanz und hohen, schwachen Läufen mit äußerst scharf bekrallten Zehen. Beide Geschlechter sind gleich gefärbt. Der S. (Finkenhabicht, Schwalben-, Sperlings-, Stockstößer, Sprinz, Schmirn, N. communis Cuv., s. Tafel "Raubvögel"), (Weibchen) 41 cm lang, 79 cm breit, oberseits schwärzlich aschgrau, unterseits weiß mit rostroten Wellenlinien und Strichen, fünf- bis sechsmal schwarz gebändertem und an der Spitze weiß gesäumtem Schwanz, blauem Schnabel mit gelber Wachshaut, goldgelbem Auge und blaßgelben Füßen, findet sich in Europa und Mittelasien, streicht im Winter umher und geht bis Nordafrika und Indien. Er bewohnt besonders Feldgehölze, oft in der Nähe von Ortschaften, kommt auch in die Städte, hält sich meist verborgen, geht hüpfend und ungeschickt, fliegt aber schnell und gewandt; er ist ungemein mutig und dreist und verfolgt alle kleinen Vögel, welche ihn als ihren furchtbarsten Feind fliehen, wagt sich aber auch an Tauben und Rebhühner. Er nistet in Dickichten nicht sehr hoch über dem Boden, am liebsten auf Nadelhölzern und legt im Mai oder Juni 3-5 weiße, graue oder grünliche, rot und blau gefleckte Eier (s. Tafel "Eier I"), welche das Weibchen allein ausbrütet. Der S. ist ein sehr schädlicher Raubvogel und verdient keine Schonung. In der Gefangenschaft wird er durch seine Scheu, Wildheit und Gefräßigkeit abstoßend; im südlichen Ural, in Persien und Indien aber ist er ein hochgeachteter Beizvogel. Sperberfalke, s. v. w. Habicht. Sperberkraut, s. Sanguisorba. Sperbervogelbeere, s. Sorbus. Spercheios, Fluß, s. Hellada. Sperenberg, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Teltow, am Ursprung der Notte, 42 km südlich von Berlin, durch eine Militäreisenbahn mit der Bahnlinie Berlin-Dresden verbunden, hat eine evang. Kirche, bedeutende Gipssteinbrüche, Gipsmühlen und (1885) 971 Einw. 1867 ward hier unter dem Gips ein Steinsalzlager in einer Tiefe von 89 m erbohrt; die Bohrungen setzte man bis zu einer Tiefe von 1334 m fort, ohne das untere Ende des Lagers zu erreichen. Wärmemessungen, welche man im Bohrloch anstellte, ergaben bei fast stetiger Zunahme in der Tiefe 51° C. Eine Ausbeutung des Steinsalzlagers ist für die nächste Zeit nicht in Aussicht gestellt. 4 km südlich von S., durch Eisenbahn verbunden, ein großer Artillerieschießplatz. Spergula L. (Spergel, Spörgel, Spark, Knöterich), Gattung aus der Familie der Karyo- Sperling - Sperlingsvögel. phyllaceen, ein- oder zweijährige, zweigabelig oder wirtelig ästige Kräuter mit scheinbar quirlständigen, fädigen Blättern, endständigen, ausgespreizten Doldentrauben und fünfklappiger Kapsel mit runden, geflügelten Samen. Der gemeine Spergel (Ackerspergel, Mariengras, S. arvensis L.), bisweilen 60-90 cm hoch, mit unterseits längsfurchigen Blättern, weißen Blüten und schwarzen, warzigen, schmal berandeten Samen, wächst bei uns auf sandigen Feldern im Getreide, erreicht zumal auf Leinfeldern eine bedeutende Größe und wird besonders in dieser Varietät (S. maxima) am Niederrhein und im Münsterland seit mehreren Jahrhunderten gebaut. Er gedeiht in gutem Sandboden bei hinreichender Feuchtigkeit vortrefflich und eignet sich auch auf geringem Boden noch zur Weide. Er nimmt den Boden nicht in Anspruch, verbessert ihn vielmehr, bleibt als Brachfrucht für Futter nicht über zwei Monate im Acker, gibt vorzügliches Futter für Kühe, als Heu auch für Schafe und wird von Pferden in jeder Beschaffenheit gern gefressen. Das Spergelheu ist dem besten Wiesenheu gleich zu achten, auch die Spergelsamen haben nicht unbedeutenden Nährwert. Die Aussaat pro Hektar beträgt 19-20 kg, der Ertrag 8-12 hl Samen oder 1500-2000 kg Kraut; ein Hektoliter wiegt 58-62 kg; die Keimfähigkeit der Samen dauert drei Jahre. Sperling (Spatz, Passer L.. Pyrgita C.), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Finken (Fringillidae) und der Unterfamilie der eigentlichen Finken (Fringillinae), meist gedrungen gebaute, sehr einfach gefärbte Vögel mit starkem, dickem, kolbigem Schnabel, welcher an beiden Kinnladen etwas gewölbt ist, kurzen, stämmigen Füßen mit schwachen Nägeln und mittellangen Zehen, kurzen, stumpfen Flügeln, unter deren Schwingen die zweite bis vierte die Spitze bilden, und kurzem oder mittellangem, am Ende wenig oder nicht ausgeschnittenem Schwanz. Der Haussperling (P. domesticus L.), 15-16 cm lang, 24-26 cm breit, ist auf dem Scheitel graublau, auf dem Mantel braun mit schwarzen Längsstrichen, auf den Flügeln mit gelblichweißer Querbinde, an den Wangen grauweiß, an der Kehle schwarz, am Unterkörper hellgrau. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, im Winter hellgrau, der Fuß gelbbräunlich. Beim Weibchen ist Kopf und Kehle grau, und über dem Auge verläuft ein blaß graugelber Streifen. Der S. bewohnt den ganzen Norden der Alten Welt südlich bis Nordafrika und Südasien, ist in Nordamerika, Australien, Neuseeland und auf Java akklimatisiert, hält sich überall zu den Menschen und nistet auch stets in unmittelbarer Nähe der Ortschaften, bez. in den Häusern selbst, soweit ihm dadurch Gelegenheit zu sorgenloser Ernährung geboten wird, und entfernt sich kaum jemals weit von der Ortschaft, in welcher er geboren wurde. Er ist einer der klügsten Vögel und durch den Verkehr in der Nähe des Menschen nur noch listiger, verschlagener geworden. Seine Bewegungen sind ziemlich plump, auch sein Flug weder geschickt noch ausdauernd. Höchst gesellig, trennt er sich nur in der Brutzeit in Paare, und oft steht ein Nest dicht neben dem andern. Er brütet mindestens dreimal im Jahr, das erste Mal schon im März, baut ein kunstloses Nest in Höhlungen in Gebäuden, Baumlöchern, Starkasten, Schwalbennestern, im Unterbau der Storchnester, im Gebüsch und auf Bäumen und legt 5-8 bläulich- oder rötlichweiße, braun und aschgrau gezeichnete Eier, welche Männchen und Weibchen 13 bis 14 Tage bebrüten. Die Jungen schlagen sich sofort nach dem Ausfliegen mit andern in Trupps zusammen, welche bald zu Flügen anwachsen, denen sich nach der Brütezeit auch die Alten zugesellen. Der S. nährt sich vorzugsweise von Sämereien, besonders Getreide, beißt die Knospen der Obstbäume ab, benascht auch das Obst und kann bei massenhaftem Auftreten in Kornfeldern, Getreidespeichern und Gärten und auch dadurch recht schädlich werden, daß er Stare, Meisen und andre nützliche Vögel verdrängt. Hier und da, besonders in Italien, wird er gern gegessen. Der Feldsperling (Holz-, Wald-, Rohr-, Bergsperling, P. montanus L.), etwas kleiner als der vorige, am Oberkopf rotbraun, an der Kehle schwarz, auch mit schwarzem Zügel und Wangenfleck, sonst am Kopf weiß, auf der Unterseite hellgrau, auf den Flügeln mit zwei weißen Querbinden, bewohnt Mittel- und Nordeuropa, Mittelasien und Nordafrika, dringt bis über den Polarkreis vor, ersetzt in Indien, China, Japan den Haussperling und ist in Australien und auf Neuseeland akklimatisiert worden. Er bevorzugt das freie Feld und den Wald und kommt nur im Winter auf die Gehöfte. Er nistet zwei- bis dreimal im Jahr in Baumlöchern, legt 5-7 Eier, welche denen des Haussperlings ähnlich sind, und erzeugt mit dem letztern angeblich fruchtbare Junge. Sperlingskauz, s. Eulen, S. 906. Sperlingsstößer, s. Sperber. Sperlingsvögel (Passeres, hierzu Tafeln "Sperlingsvögel I u. II"), die artenreichste Ordnung der Vögel, Nesthocker von gewöhnlich kleinem Körper, mit Schnabel ohne Wachshaut und mit Wandel-, Schreit- oder Klammerfüßen. Sie leben meist in Gesträuch und auf Bäumen, fliegen vortrefflich und bewegen sich auf dem Boden hüpfend, seltener schreitend. Ihre Nester sind meist kunstvoll gebaut; gebrütet wird ein- bis dreimal im Jahr und zwar von beiden Geschlechtern. Viele S. sind an dem untern Kehlkopf der Luftröhre (s. Vögel) mit einem besondern Singapparat versehen, welcher aus zwei Paar Stimmbändern und einer Anzahl zu ihrer Regulierung dienender Muskeln besteht und in verschiedenem Maß ausgebildet ist. Man teilt nach diesem Charakter die S. wohl in Singvögel (Oscines) und Schreivögel (Clamatores) ein. Sehr verschieden ist der Schnabel geformt, bald breit, flach und tief gespalten, bald kegelförmig, bald dünn und pfriemenförmig etc. - Die Anzahl der lebenden Arten beträgt gegen 5700, die in 870 Gattungen und 51 Familien gestellt werden; fossile S. sind nur aus den jüngsten Schichten (Diluvium) bekannt. Ganz oder nahezu kosmopolitisch sind nur wenige Familien (Schwalben, Raben, Bachstelzen, Drosseln); in Südamerika findet sich fast ein Drittel aller Arten vor. Die Gruppierung der Familien ist bei den Autoren mehr oder weniger willkürlich, da die natürlichen Verwandtschaftsbeziehungen noch nicht bekannt sind; es genügt daher hier eine Aufzählung der wichtigsten. 1) Drosseln (Turdidae), Körper kräftig, Kopf groß, Hals kurz, Schnabel gerade, mit seichter Kerbe vor der Spitze, Flügel mittellang. Etwa 25 Gattungen mit 230 Arten; fehlen in Neuseeland. Man zerfällt sie in mehrere Unterabteilungen: Wasserstare, Drosseln und Spottdrosseln. 2) Sänger (Sylviidae), Schnabel dünn, pfriemenförmig, Flügel mittellang, Gefieder weich, Außenzehe meist lang. Über 70 Gattungen mit etwa 650 Arten; fehlen in Amerika südlich von Brasilien. Von den 7 Unterfamilien sind bemerkenswert die Flüevögel, Sänger (Laubsänger, Gartensänger, Goldhähnchen und Grasmücke), Schilfsänger, Nachtigallen (Nachtigall, Rotkehlchen, Blaukehlchen und Rotschwanz) und Steinschmätzer (Steinschmätzer, Steindrossel und Wiesenschmätzer). Letztere beiden Gruppen werden vielfach zu den Drosseln Sperlingsvögel I. Sperlingsvögel II. Sperma - Sperrgetriebe. 3) Zaunkönige oder Schlüpfer (Troglodytidae), Schnabel schlank, pfriemenförmig, Flügel kurz, gerundet, Lauf lang. Etwa 20 Gattungen mit über 90 Arten; hauptsächlich in Amerika verbreitet. 4) Baumläufer (Certhiidae), Schnabel schlank und lang, Hinterzehe lang und scharf bekrallt, Schwanz zuweilen mit Stemmfedern, die beim Klettern an den Bäumen Verwendung finden. 5 Gattungen mit 17 Arten; hauptsächlich in Europa und 5) Spechtmeisen (Sittidae), ähnlich den vorigen, doch Schwanz stets weich. 6 Gattungen mit über 30 Arten; fehlen in Mittel- und Südamerika sowie im tropischen Afrika 6) Meisen (Paridae), Schnabel kurz, fast kegelförmig, Flügel und Schwanz mittellang. 14 Gattungen mit über 90 Arten; zahlreich in der Alten Welt und in Nordamerika. 7) Pirole (Oriolidae), Schnabel lang, kegelförmig, Flügel lang, Schwanz mittellang. 5 Gattungen mit 40 Arten; in der Alten Welt. 8) Fliegenfänger (Muscicapidae), Schnabel kurz, hakig, Flügel lang. Über 40 Gattungen mit gegen 280 Arten; fehlen in Amerika gänzlich. 9) Würger (Laniidae), Körper kräftig, Schnabel hakig, stark gezahnt, Schwanz meist lang. Räuberische Vögel; etwa 20 Gattungen mit 150 Arten, fehlen nur in Süd- und Mittelamerika sowie auf Neuseeland; am zahlreichsten 10) Raben oder Krähen (Corvidae), Körper sehr kräftig, Schnabel stark und groß, am Grund mit Bartborsten, Flügel mittellang, Füße groß. 30 Gattungen mit etwa 200 Arten; fast kosmopolitisch (fehlen nur auf Neuseeland). Von den 5 Unterfamilien sind bemerkenswert die Häher und Raben (Tannenhäher, Elster und Rabe). 11) Paradiesvögel (Paradiseidae), Schnabel lang, schlank, Flügel und Schwanz mittellang, jedoch einzelne Flügel- oder Schwanzfedern oft enorm verlängert, Füße kräftig, Zehen groß. Etwa 20 Gattungen mit über 30 Arten; nur in Australien und auf den benachbarten Inseln (Paradiesvögel und Kragenvogel). 12) Honigsauger (Meliphagidae), Schnabel meist lang und spitz, Flügel mittellang, Schwanz lang und breit, Füße kurz, Zunge vorstreckbar, an der Spitze pinselförmig. Holen aus den Blumen Insekten und Nektar hervor. Über 20 Gattungen mit 140 Arten; nur in Australien und den benachbarten Inseln sowie 13) Sonnenvögel (Nectariniidae), Schnabel lang, spitz, Flügel kurz, Füße ziemlich lang, Zunge vorstreckbar, röhrenförmig. Lebensweise wie bei der vorigen Familie. 11 Gattungen mit über 120 Arten; in den heißen Gegenden der Alten Welt. 14) Seidenschwänze (Ampelidae), Schnabel kurz, Flügel ziemlich lang. 4 Gattungen mit 8 Arten; Europa, Nordasien, Nord- und Mittelamerika. 15) Schwalben (Hirundinidae), Schnabel ziemlich kurz, mit sehr weiter Spalte, Flügel lang, Schwanz gabelig, Zehen meist lang. 9 Gattungen mit über 90 Arten; kosmopolitisch, sogar im hohen 16) Stärlinge oder Trupiale (Icteridae), Schnabel lang, kegelförmig, Flügel spitz, Schwanz lang, abgerundet, Füße stark, mit langer Hinterzehe, Gefieder meist schwarz mit gelb oder orange. 24 Gattungen mit 110 Arten; nur in Amerika (Trupial, Kuhvogel). 17) Tanagriden oder Tangaren (Tanagridae), Schnabel mit Zahn, Flügel mittellang, Beine kurz, Hinterzehe lang. Fruchtfresser. Über 40 Gattungen mit gegen 300 Arten; in ganz Süd- sowie dem östlichen Teil von Nordamerika. 18) Finken (Fringillidae), Schnabel meist kegelförmig, stets am Grund mit einem Wulst, Flügel und Schwanz mittellang, Beine meist kurz. Über 80 Gattungen mit gegen 500 Arten, die in eine Anzahl Unterfamilien verteilt werden; fehlen nur in Australien, den benachbarten Inseln und Polynesien. Bemerkenswert sind die Ammern, Kreuzschnäbel, Gimpel (Girlitz und Kanarienvogel), Finken (Kernbeißer, Sperling, Fink, Leinfink, Hänfling, Stieglitz, Zeisig und Grünfink) und Papageifinken (Kardinal). 19) Webervögel oder Weberfinken (Ploceidae), Schnabel stark, kegelförmig, Flügel meist mittellang, Schwanz meist kurz, bauen vielfach beutelförmige Nester. Etwa 30 Gattungen mit 250 Arten; in den Tropen Asiens und Afrikas sowie in Australien und Polynesien, aber nicht auf Neuseeland. 20) Stare (Sturnidae), Schnabel ziemlich, lang, stark, Flügel lang, spitz, Schwanz meist lang, Beine kräftig, Hinterzehe lang. Etwa 30 Gattungen mit 130 Arten; in der Alten Welt, mit Ausnahme jedoch des australischen Festlandes (Star, Madenhacker und Hirtenstar). 21) Lerchen (Alaudidae), Schnabel mittellang, gerade, Flügel lang und breit, Schwanz kurz, Hinterzehe mit langer, gerader Kralle. 15 Gattungen mit 110 Arten; fast nur in der Alten Welt mit Ausnahme Australiens, besonders in Südafrika. 22) Bachstelzen (Motacillidae), Schnabel schlank, ziemlich lang, Flügel und Schwanz lang. 9 Gattungen mit 80 Arten; mit Ausnahme Polynesiens überall verbreitet. 23) Königswürger (Tyrannidae), Schnabel stark, lang und breit, Flügel lang, spitz, Beine stark. Über 70 Gattungen mit gegen 330 Arten; nur in Amerika. 23) Schwätzer oder Schmuckvögel (Cotingidae), Schnabel ziemlich groß, Spitze hakig, Flügel lang, spitz, Beine kurz. Etwa 30 Gattungen mit über 90 Arten; in den Tropen Amerikas, hauptsächlich in den Wäldern des Amazonenstroms. 24) Leierschwänze (Menuridae), Schnabel mittellang, Flügel kurz, Beine lang, Schwanz mit sehr langen Federn, von denen die äußern leierartig geschwungen sind. Nur die Gattung Menura mit 2 Arten; im südlichen und östlichen Sperma (griech.), Same; S. ceti, Walrat. Spermatien, bei Rostpilzen, Kernpilzen und Flechten in besondern Behältern, den Spermagonien, entstehende sehr kleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen, welche in der Regel nicht keimfähig sind und bisweilen, z. B. bei den Flechten, die Rolle männlicher Befruchtungselemente spielen. Auch bei den Florideen unter den Algen kommen S. vor, sie entstehen hier als kugelige oder birnförmige, unbewegliche Körper in den Antheridien und haften bei der Befruchtung dem weiblichen Organ an (vgl. Algen und Pilze). Spermatitis (griech.), Samenstrangsentzündung. Spermatophoren (griech., Samenpatronen), Portionen von Samenfäden, in besonderer, oft sehr komplizierter Umhüllung, welche bei manchen Tieren, wie Kopffüßern, Grillen etc., vom Männchen gebildet werden und bei der Begattung in die Weibchen gelangen, in deren Geschlechtsorganen die Umhüllung platzt oder sich auflöst, so daß die Samenfäden frei werden. Spermatorrhöe (griech.), s. v. w. Spermatozoiden (Spermatozoen, Antherozoiden, griech., Samentierchen, Samenfäden), die geformten Elemente des männlichen Befruchtungsstoffs bei den Tieren; s. Same. - In der Botanik bewegliche, in den männlichen Geschlechtsorganen bei vielen Thallophyten, allen Muscineen und den Gesäßkryptogamen entstehende Formelemente von verschiedener Gestalt, welche aus besondern Mutterzellen austreten, sich mittels Wimpern im Wasser frei bewegen und zuletzt in die Eizelle der weiblichen Geschlechtsorgane eindringen, um dieselbe zu befruchten (s. Algen, Moose und Gefäßkryptogamen). Spermestes, Amadine; Spermestinae, s. v. w. Prachtfinken. Spermogonium (lat.), bei Rostpilzen, Kernpilzen und Flechten Behälter, die in ihrer Höhlung an besondern Fäden kleine, häufig stabförmige oder ovale Zellen, die Spermatien (s. d.), abschnüren. Spermöl, s. v. w. Walratöl. Spermophilus, Zieselmaus. Sperrfort, s. Festung, S. 186. Sperrgesetz, Zollgesetz, welches dann erlassen wird, wenn eine Zollerhöhung in Aussicht steht, zur Verhütung einer größern Einfuhr von Waren, welche durch das bevorstehende Gesetz mit einem Zoll oder mit einem höhern Zoll belegt werden sollen; auch Bezeichnung für das sogen. Brotkorbgesetz (s. d.). Sperrgetriebe (Schaltwerk), ein Mechanismus zur Hervorbringung einer ruck- oder absatzweise erfolgenden Bewegung derart, daß zwischen zwei Bewegungsperioden eine unbeabsichtigte Bewegung entweder nur nach einer bestimmten Richtung oder Sperrgut - Spessart. [Fig. 1. Laufendes Sperrgetriebe.] nach jeder Richtung hin ausgeschlossen ist (einseitige, bez. vollständige Sperrung). S., bei welchen nur eine einseitige Sperrung stattfindet, heißen laufende S., solche mit vollständiger Sperrung dagegen ruhende S. Ein laufendes S. in seiner einfachsten Form zeigt Fig. 1. Dasselbe besteht aus einem Sperrrad S, in dessen Zähne die um einen festen Punkt drehbare Sperrklinke K (Sperrhebel, Sperrkegel, Sperrzahn) unter der Einwirkung einer Feder so eingreift, daß das Rad zwar in der Pfeilrichtung herumgedreht werden kann (wobei die Sperrklinke über die schrägen Flächen der Zähne hinweggleitet), an einer Drehung nach der andern Seite jedoch durch die einfallende und sich gegen die geraden Zahnflächen stemmende Sperrklinke gehindert wird. Um die Achse des Rades S ist noch ein Hebel drehbar, der mit einer Sperrklinke K1 versehen ist. Wird der Hebel an seinem Griff H hin u. her bewegt, so gleitet bei der dem Pfeil entgegengesetzten Bewegung die Klinke K1 über die Zähne des nach derselben Richtung hin durch die Klinke K gesperrten Rades S hinweg. Bei einer darauf folgenden Drehung des Hebels H in der Richtung des Pfeils fällt jedoch seine Klinke K1 in das Sperrrad ein u. nimmt dasselbe mit herum. Derartige laufende S. haben eine außerordentlich große Verbreitung, ganz besonders als Vorrichtungen zum Vorrücken des Werkzeugs gegen das Arbeitsstück oder umgekehrt, ferner bei Zählwerken, Hubzählern, Rechenstiften, als Aufziehvorrichtung, bei Musikwerken, als Hebewerkzeug bei Wagenwinden etc. Als ein ruhendes S. zeigt sich das sogen. Einzahnrad (Fig. 2). Hierbei ist S ein Sperrrad, welches zur Sperrung mit kreisförmigen Ausschnitten k versehen ist, während zwischen je zwei derselben eine Zahnlücke l zur Fortbewegung angebracht ist. In die Ausschnitte k legt sich eine genau hineinpassende Scheibe E, die im allgemeinen am Rand glatt bearbeitet ist und nur an einer Stelle einen Zahn mit zwei benachbarten Lücken hat (daher der Name Einzahnrad). Das Sperrrad wird so lange an jeder Bewegung nach rechts oder links verhindert werden, als sich der kreisförmige Teil von E in einem der Ausschnitte k befindet. Sobald man jedoch die Scheibe E so dreht, daß der Zahn z mit der benachbarten (linken oder rechten) Lücke des Rades S in Eingriff kommt, so bewegt sich S nach rechts oder links um einen Ausschnitt herum, wird jedoch im nächsten Augenblick durch die in den Ausschnitt eintretende Peripherie von E wieder festgehalten. Dieses Einzahnrad findet unter anderm Verwendung an den Federgehäusen der Federuhren als Schutzvorrichtung gegen das übermäßige Aufziehen, wobei zwischen zwei der Lücken l die Radperipherie voll kreisförmig stehen gelassen ist, so daß das Rad nach rechts und links immer nur bis zu dieser Stelle gedreht werden kann. In etwas abgeänderter Form erscheint das Einzahnrad als sogen. Johanniterkreuz. Hierbei wird der Zahn z durch einen zur Ebene des Rades E senkrecht stehenden Stift ersetzt, welcher in entsprechende Schlitze des Rades S greift. [Fig. 2. Ruhendes Sperrgetriebe.] Sind vier solche Schlitze vorhanden, so erhält Rad S das Aussehen eines Johanniterkreuzes. Statt des einen Zahns z können auch mehrere nebeneinander liegende Zähne angebracht sein, für welche dann im Rad S eine entsprechende Anzahl nebeneinander liegender Lücken l vorhanden sein muß. Auf dem Prinzip des Einzahnrades beruhen die sogen. französischen Schlösser, nur wird hier zur Sperrung nicht die ungezahnte Peripherie von E, sondern ein besonderer Sperrzahn (die sogen. Zuhaltung) benutzt, welcher jedesmal von dem den Zahn z ersetzenden Schlüssel erst ausgehoben sein muß, bevor die Bewegung von S (welches bei Schlössern in der Regel durch einen geradlinig geführten Riegel ersetzt ist) erfolgen Sperrgut, s. Maßgüter und Gut, S. 946. Sperrsystem, das staatswirtschaftliche System, welches durch Verbote, hohe Zölle etc. das Inland gegen fremde Länder absperrt. Sperrventil, in der Orgel eine Klappe im Hauptkanal, welche den Zugang des Windes zum Windkasten völlig absperrt und durch einen besondern Registergriff regiert wird. Sperrvögel (Hiantes Brehm), Ordnung der Vögel: Schwalben, Segler, Nachtschwalben, Schwalme. Sperrzeug, s. Jagdzeug. Spervogel, Dichter des 12. Jahrh., wahrscheinlich bürgerlichen Standes und aus Oberdeutschland gebürtig. Die Handschriften unterscheiden einen ältern und einen jüngern S., ohne jedoch ihre Gedichte zu trennen. Letztere bestehen in Liedern (Weihnachts- und Osterlieder), lehrhaften Sprüchen, Fabeln etc. (hrsg. von Gradl, Prag 1869). Vgl. Henrici, Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik (Berl. Spes, bei den Römern Personifikation der "Hoffnung", besonders auf Ernte- und Kindersegen; ward dargestellt als ein schlankes Mädchen, auf den Zehen leicht hinschwebend, in der Rechten eine Blume, im Typus den altertümlichen Bildern der voll gekleideten Aphrodite gleichend, zur Seite die Krähe, das Symbol der langen Dauer. Eine inschriftlich gesicherte Statue der S. besitzt die Villa Ludovisi in Rom. Spesen (ital.), Auslagen, Unkosten; im engern Sinn allerlei Nebenkosten, wie diejenigen an Abgaben, Sensarie, Provision, Verpackung etc. Im weitern Sinn überhaupt alle Ausgaben, welche einem Handelsgeschäft erwachsen, wie Handlungsspesen (Ausgaben an Lohn, Miete etc.), Reisespesen; so insbesondere auch die Auslagen und Gebühren, welche für die Besorgung fremder Geschäfte berechnet werden, wie namentlich die S. des Spediteurs (s. Spedition), dessen darüber ausgestellte spezifizierte Rechnung Spesennota genannt wird, und die sogen. Inkassospesen, welche für das Einkassieren einer fremden Forderung in Ansatz kommen. Von Spesennachnahme spricht man, wenn Spesen des Spediteurs nach Herkommen oder Verabredung vom Frachtführer, der den Weitertransport besorgt, erhoben und von diesem dann bei Ablieferung des Gutes eingezogen werden. Spessart (Speßhart, im Nibelungenlied Spechteshart, "Spechtswald"), Waldgebirge im westlichen Deutschland, liegt innerhalb des Bogens, welchen der Main von der Mündung der Fränkischen Saale und der Sinn bei Gemünden bis zur Mündung der Kinzig bei Hanau macht, und wird im N. durch die Kinzig vom Vogelsberg und im NO. durch die Sinn von der Rhön geschieden. Seine äußersten Verzweigungen erstrecken sich bis gegen Salmünster, Schlüchtern und Brückenau hin. Er gehört größtenteils zum bayrischen Regierungsbezirk Unterfranken, zum Teil auch Spessartin - Spezia. zum preußischen Regierungsbezirk Kassel und erscheint als waldiges Massengebirge mit abgerundeten, wenig über die Gesamthöhe sich erhebenden Kuppen. Der Hauptrücken zieht sich von Süden, Miltenberg gegenüber, 75 km lang nach N. bis zur Quelle der Aschaff in der Gegend von Schlüchtern und steigt zu einer Höhe von 450-600 m an. Hier sind der Engelsberg bei Großheubach (mit Kapuzinerkloster) und der 615 m hohe Geiersberg, die höchste Erhebung des ganzen Gebirges, nördlich vom Rohrbrunner Paß, durch welchen die Straße von Aschaffenburg nach Würzburg führt, während die Eisenbahn das Gebirge weiter nördlich von Aschaffenburg ostwärts nach Gemünden durchschneidet. Die Hauptmasse des Spessarts besteht aus Granit, Gneis und Glimmerschiefer mit aufgelagertem roten und gefleckten Sandstein. An den untern Abhängen bebaut, ist der S. auf den Höhen mit prachtvollem Eichen- und Buchenwald bedeckt. Der äußere Saum längs des Mains, namentlich im W., wird als Vorspessart, das innere, aus dicht zusammenschließenden Bergen bestehende Waldgebirge, welches keine breite Bergebene aufweist, als Hochspessart, die plateauartige Absenkung gegen die Kinzig und Kahl hin, welche auch das sogen. Orber Reisig (s. d.), mehrere mit Eichengebüsch bedeckte Anhöhen, bis zur Stadt Orb umfaßt, als Hinterspessart bezeichnet. Die Bewohner beschäftigen sich viel mit Verarbeitung des Holzes, namentlich zu Faßdauben. Der Bergbau ist nicht bedeutend. Eine Saline ist zu Orb in Betrieb; auch gibt es mehrere Glashütten. Auf der Scheide der nach W. und O. dem S. entfließenden Gewässer zieht sich vom Engelsberg über den Geiersberg bis zum Orber Reisig der uralte Eselspfad (ähnlich dem Rennstieg im Thüringer Wald). Unter den zahlreichen Bächen des Spessarts sind die Sinn, Lohr, Hafenlohr, Elsawa, Aschaff, Bieber und Kahl die ansehnlichsten. Erst neuerdings ist es dem Spessartklub gelungen, die Aufmerksamkeit der Reisenden auf die Schönheiten dieses bisher wenig besuchten Gebirges hinzulenken. Vgl. Behlen, Der S. (Leipz. 1823-27, 3 Bde.); Schober, Führer durch den S. etc. (Aschaffenb. 1888); Herrlein, Sagen des S. (2. Aufl., das. 1885): Welzbacher, Spezialkarte vom S., 1:100,000 (5. Aufl., Frankf. 1885). Spessartin, s. Granat. Spetsä (Spezzia, Petsa, im Altertum Pityussa), eine zum griech. Nomos Argolis und Korinth gehörige Insel, östlich am Eingang des Golfs von Nauplia, 17 qkm (0,30 QM.) groß, mit steinigem, wenig fruchtbarem Boden und (1879) 6899 Einw. Auf der Nordostküste liegt der gleichnamige Hauptort, mit guter Reede, einer Marineschule und (1879) 6495 Einw. Südlich von S. die unbewohnte Insel Spetsopulon (2 qkm), wo die Venezianer 1263 über die Griechen siegten. Speusippos, griech. Philosoph, Schwestersohn des Platon, geboren zwischen 395 und 393 v. Chr., trat nach Platens Tod (347) an dessen Stelle in der Akademie, zog sich aber nach acht Jahren wieder zurück und machte seinem Leben freiwillig ein Ende (jedenfalls vor 334). In seiner Lehre sich im ganzen eng an Platon anschließend, soll er nur darin von ihm abgewichen sein, daß er zwei Kriterien der Wahrheit, eins für das Denkbare und eins für das sinnlich Wahrnehmbare, aufstellte. Seine zahlreichen Schriften sind sämtlich verloren gegangen. Vgl. Fischer, De Speusippi Atheniensis vita (Rastatt 1845); Ravaisson, Speusippi placita (Par. 1838). Spey (spr. speh), Fluß in Schottland, entspringt auf dem Grampiangebirge in der Landschaft Badenoch, fließt durch ein wildromantisches Thal und mündet bei Garmouth in die Nordsee. Er ist 154 km lang, wird aber erst kurz vor seiner Mündung schiffbar. Speyer, Stadt, s. Speier. Spezereien (ital. spezierie, franz. épiceries), Gewürzwaren, würzige, wohlriechende Pflanzenstoffe. Spezia, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Genua, im Hintergrund des tiefen Golfs von S., Station der Eisenbahn Genua-Pisa, ist der seit 1861 im Bau begriffene große Kriegshafen Italiens an herrlicher Bucht, welche die ganze italienische Flotte aufnehmen kann, und deren Höhen nebst der am Eingang liegenden Insel Palmaria mit starken Forts besetzt sind. Der Hafen umfaßt 4 große Docks, 2 innere Hafenbassins, Schiffswerften und ein Arsenal. Auch befinden sich hier eine große Eisengießerei, Kabelfabrik, Maschinenbauwerkstätte, Bleiweiß-, Leder- und Segeltuchfabriken u. a. Der Handelshafen ist gleichfalls vortrefflich (1887 liefen 2585 Schiffe von 362,627 Ton. ein) und bedarf zu seiner Belebung nur der Vollendung der in Angriff genommenen Eisenbahn über die Apenninen nach Parma. Die Stadt hat (1881) 19,864 Einw. Sie ist Sitz eines Marinedepartementkommandos, eines Hafenkapitanats, mehrerer Konsulate (darunter auch eines deutschen) und hat eine Schule für Nautik und Schiffbau, ein Lyceum und Gymnasium und eine technische Schule. Wegen seines milden Klimas, seiner Seebäder und seiner herrlichen Umgebung ist S. von Fremden (auch im Winter) viel besucht. Am Hafen befinden sich schöne Promenaden. Hier (im Fort Varignano) wurde Garibaldi 1862 nach seiner Verwundung am Aspromonte und 1867 nach der verunglückten Unternehmung wider Rom eine Zeitlang gefangen gehalten. Die Umgegend liefert treffliches Olivenöl; westlich von S., bei Vernazzo, wächst der berühmte Wein Cinque-Terre. Östlich von S. liegen die Ruinen der alten Stadt Luna, nach welcher der Golf im Altertum Portus Lunae hieß. [Situationsplan von Spezia.] Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Spezial - Spezifisches Gewicht. Spezial (lat.), das Einzelne, Besondere betreffend, meist in Zusammensetzungen gebraucht, z. B. Spezialkarte (im Gegensatz zu General-); als Hauptwort s. v. w. Vertrauter, Busenfreund, auch Spezereihändler. Spezialien, Einzelheiten, besondere Spezialakten, s. Generalien. Spezialetat, s. Etat. Spezialhandel, s. Handelsstatistik, S. 99. Spezialinquisition, s. Strafprozeß. Spezialisation (lat.), in der Morphologie die Ausbildung der Organe für einen besondern, beschränktern Wirkungskreis, um die dafür passende Arbeit in höherer Vollkommenheit zu liefern. Im Gegensatz hierzu steht eine allgemeinere, noch den verschiedensten Zwecken dienstbare, ursprüngliche Organisation. Die S. prägt sich am meisten in den Sinnesorganen, dem Gebiß und in der Bildung der Endgliedmaßen aus. So sind die fünfgliederigen Füße der Vierfüßer, solange Finger und Zehen frei sind, in der Regel zu den verschiedensten Thätigkeiten als Greif-, Schreit-, Kletterfüße etc. brauchbar; sind dagegen die Zehen durch Flug- oder Schwimmhaut (z. B. bei Fledermäusen und Robben) verbunden oder vermindert sich die Zehenzahl (bei den Huftieren) auf zwei oder ein Glied, so haben wir spezialisierte Organe, die nur noch als Flug-, Schwimm- und Lauffüße brauchbar sind, aber diese Arbeit dafür in höchster Vollkommenheit leisten. Vgl. Arbeitsteilung. Spezialisieren (franz.), im einzelnen und besondern anführen, bestimmen. Spezialist (franz.), einer, der einem besondern Fach der Wissenschaft sich ausschließlich widmet, z. B. ein Spezialarzt für Halsleiden etc. Spezialität (lat.), Einzelheit, Besonderheit; Spezialfach eines Wissens oder einer Thätigkeit. Im Pfandrecht versteht man unter dem Prinzip der S. den Grundsatz, wonach nur an bestimmten einzelnen Vermögensgegenständen und nicht an dem ganzen Vermögen einer Person ein Pfandrecht bestellt werden kann (s. Hypothek). Spezialmandat (Spezialvollmacht), s. Mandat. Spezialtarife, s. Eisenbahntarife. Spezialwaffen (Spezialtruppen), ein nicht feststehender Begriff, durch den meist die Waffen außer Infanterie und Kavallerie bezeichnet werden. Speziell (lat.), s. v. w. spezial (s. d.), besonders, einzeln, im Gegensatz zu generell und universell. Spezies (lat. species), Erscheinungsform, Gestalt, Bild, Schein (z. B. sub specie, unter dem Schein; sub utraque specie, unter beiderlei Gestalt); in der Naturwissenschaft s. v. w. Art; in der Technik und Pharmazie Bezeichnung für Waren, Gewürze, Spezereien, besonders Mischungen aus zerschnittenen vegetabilischen Substanzen, wie Species aromaticae, aromatische Kräuter (s. d.), S. ad decoctum lignorum, Holztrank (s. d.), S. laxantes St.-Germain, St.-Germainthee (s. Sennesblätter), S. pectorales, Brustthee (s. d.); in der Arithmetik (vier S.) Bezeichnung der vier Grundrechnungsarten: Addition, Subtraktion, Multiplikation u. Division; auch s. v. w. Speziesthaler. Spezieskauf, Kauf genau bestimmter einzelner Gegenstände; s. Gattungskauf. Speziesthaler (Spezies, harter Thaler), in mehreren Staaten, zuletzt noch in Österreich, ausgeprägte Silbermünze. Der österreichische S. war bis zur Münzkonvention von 1857 die Einheit der österreichischen Münze, = 2 Konventionsgulden = 4,20 Mark; 10 österreichische S. = 1 kölnische Mark fein Silber. Der dänische S. = 4,551 Mark. In Norwegen ist der S. derselbe wie in Dänemark, er wird seit 1. Jan. 1874 zu 4 Kronen à 30 Skillinge oder à 100 Öre = 400 Öre gerechnet. Spezifikation (lat.), Aufzählung von Einzelheiten, die ein Ganzes bilden; in der Rechtssprache die Verfertigung einer neuen Sache aus einem vorhandenen Stoff und zwar so, daß sich der letztere nicht wiederherstellen läßt. Spezifisch (lat.), in der Physik Bezeichnung einer Eigenschaft, welche einem bestimmten Stoff seiner Natur nach zukommt, eigen ist, z. B. spezifisches Gewicht, spezifische Wärme, spezifisches Volumen. Spezifische Arzneimittel (Specifica), besonders wirksame Mittel, von denen man früher annahm, daß sie die als Einheit gedachte Krankheit bekämpften und nur auf die erkrankten Organe wirkten, während man jetzt weiß, daß auch diese Arzneien auf alle Gewebe Einfluß üben und nur einzelne derselben besonders stark betreffen. Als s. A. gelten Quecksilber gegen Syphilis, Chinin gegen Wechselfieber Spezifische Energie, s. Sinne, S. 993. Spezifisches Gewicht (Dichte, Dichtigkeit) eines Körpers ist die Zahl, welche angibt, wie vielmal der Körper schwerer ist als ein gleiches Volumen Wasser von 4° C. Man findet demnach das spezifische Gewicht eines Körpers, wenn man sein absolutes Gewicht durch das Gewicht eines gleichen Volumens Wasser dividiert. Bezeichnet man mit s das spezifische Gewicht des Körpers, mit p sein absolutes Gewicht und mit v das absolute Gewicht eines gleich großen Raumteils Wasser, so ist s = p/v, folglich auch v = p/s und p = v s. Wenn, wie bei dem metrischen Maßsystem, das Gewicht der Volumeinheit Wasser zur Gewichtseinheit gewählt ist (1 g = dem Gewicht von 1 ccm Wasser bei 4° C.), so drückt die Zahl v, welche das Gewicht des gleichen Wasservolumens (in Grammen) angibt, zugleich das Volumen des Körpers (in Kubikzentimetern) aus. Wir können daher obige Beziehungen auch wie folgt aussprechen: man findet das spezifische Gewicht eines Körpers, wenn man sein absolutes Gewicht durch sein Volumen dividiert; man findet sein Volumen, indem man das absolute durch das spezifische Gewicht dividiert; das absolute Gewicht eines Körpers ergibt sich, wenn man sein Volumen mit seinem spezifischen Gewicht multipliziert. Das spezifische Gewicht eines Körpers kann demnach auch bezeichnet werden als das Gewicht der Volumeneinheit. Um das spezifische Gewicht eines Körpers zu bestimmen, braucht man nur nebst seinem absoluten Gewicht noch sein Volumen oder, was dasselbe ist, das Gewicht eines gleich großen Volumens Wasser zu ermitteln. Bei Flüssigkeiten geschieht dies mit Hilfe des Pyknometers (Tausendgranfläschchens, Dichtigkeitsmessers), eines 8-20 ccm fassenden Glasfläschchens (Fig.1), dessen eingeriebener Stöpsel aus einem Stück Thermometerröhre verfertigt ist, damit bei etwaniger Erwärmung ein Teil der Flüssigkeit durch die feine Öffnung austreten könne, ohne den Stöpsel zu heben oder das Gefäß zu gefährden. Wägt man das tarierte Fläschchen zuerst mit der Flüssigkeit, deren s. G. bestimmt werden soll, sodann mit Wasser gefüllt, so erfährt man das spezifische Gewicht durch Division des ersten Gewichts durch das zweite. Auch zur Bestimmung des spezifischen Gewichts fester Körper kann das Pyknometer gebraucht werden. Man wägt zuerst das Fläschchen mit Wasser gefüllt, Spezifisches Gewicht. Stückchen von Schrotgröße zerkleinerten Körper auf die nämliche Wagschale und bestimmt sein absolutes Gewicht. Wirft man nun die Stückchen in das Fläschchen, so muß notwendig so viel Wasser ausfließen, als von den hineingeworfenen Stückchen verdrängt wird, und man erfährt nun durch eine abermalige Wägung, wieviel ein dem Volumen der Körperstückchen gleiches Volumen Wasser wiegt. Eine andre gleichfalls vorzügliche Methode der Bestimmung des spezifischen Gewichts gründet sich auf das sogen. Archimedische Prinzip, wonach jeder in eine Flüssigkeit getauchte Körper so viel von seinem Gewicht verliert, wie die verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt. Man bedient sich hierzu der sogen. hydrostatischen Wage (s. Hydrostatik, S.842), deren eine Wagschale kürzer aufgehängt und unten mit einem Häkchen versehen ist, woran man mittels eines möglichst dünnen Drahts den zu untersuchenden Körper aufhängt, um ihn zuerst wie gewöhnlich in der Luft und dann, nachdem er in ein untergestelltes Gefäß mit Wasser eingetaucht ist, nochmals im Wasser zu wägen. Die Gewichte, welche man im letztern Fall von der ersten Wagschale wegnehmen oder auf die kürzer aufgehängte Wagschale zulegen muß, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, geben das Gewicht der verdrängten Wassermenge an, mit welchem man nur in das absolute Gewicht des Körpers zu dividieren braucht, um sein s. G. zu erfahren. Ist der Körper in Wasser löslich, so taucht man ihn in eine andre Flüssigkeit, in welcher er sich nicht löst, und bestimmt seinen Gewichtsverlust; ist das spezifische Gewicht derselben bekannt, so findet man durch eine einfache Rechnung den Gewichtsverlust, welchen er im Wasser erlitten haben würde. Einen Körper, welcher spezifisch leichter ist als Wasser und daher in demselben nicht untertaucht, verbindet man mit einem schwerern Körper, dessen Gewichtsverlust bereits bestimmt ist. Auch das spezifische Gewicht von Flüssigkeiten läßt sich mittels der hydrostatischen Wage leicht finden. Man bringt nämlich einen unter der kürzern Wagschale aufgehängten beliebigen Körper, z. B. ein Glasstück, in der Luft durch eine auf die andre Wagschale gelegte Tara ins Gleichgewicht und bestimmt nun seinen Gewichtsverlust zuerst in der zu untersuchenden Flüssigkeit und dann in Wasser; jener Verlust, durch diesen dividiert, gibt das gesuchte spezifische Gewicht. Der Gewichtsverlust, welchen ein und derselbe Körper in verschiedenen Flüssigkeiten erleidet, ist dem spezifischen Gewicht offenbar proportional. Auf diesen Satz gründet sich die Mohrsche Wage (Fig. 2), welche das spezifische Gewicht von Flüssigkeiten sehr rasch und bequem zu bestimmen erlaubt. An dem einen Arm des Wagebalkens hängt mittels eines feinen Platindrahts das Senkgläschen A, ein zugeschmolzenes, zum Teil mit Quecksilber gefülltes oder ein kleines Thermometer enthaltendes Glasröhrchen, welches durch die Wagschale B gerade im Gleichgewicht gehalten wird. Die Gewichte bestehen aus hakenförmig gebogenen Messingdrähten P, von denen zwei jedes genau so viel wiegen, wie der Gewichtsverlust des Senkgläschens im Wasser ausmacht, während ein drittes 1/10 P, ein viertes 1/100 P wiegt. Der Wagebalken, an welchem das Senkgläschen hängt, ist in 10 gleiche Teile geteilt. Will man nun das spezifische Gewicht einer Flüssigkeit bestimmen, so bringt man dieselbe in das Standgefäß CC und taucht das Senkgläschen in sie ein. Ist die Flüssigkeit z. B. konzentrierte Schwefelsäure, so muß man, um das Gleichgewicht herzustellen, das eine Gewicht P an das Ende h des Wagebalkens, das andre Gewicht P bei 8, das Gewicht 1/10 P bei 4 und das Gewicht 1/100 P wieder bei 8 anhängen und hat hiermit das spezifische Gewicht der Schwefelsäure = 1,848 gefunden. Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts durch Aräometer, welche sich ebenfalls auf das Archimedische Prinzip gründen, s. d. In einer zweischenkeligen Röhre (kommunizierende Röhren) b e d (Fig.3) halten sich zwei Flüssigkeiten das Gleichgewicht, wenn ihre von der Trennungsschicht a c aus gerechneten Höhen a b und c d sich umgekehrt verhalten wie ihre spezifischen Gewichte; alsdann üben sie nämlich auf die im gleichen Niveau gelegenen Querschnitte a und c, unterhalb welcher die Flüssigkeitsmenge a e c für sich schon im Gleichgewicht ist, gleichen Druck aus. Befindet sich z. B. in dem einen Schenkel und in der Biegung Quecksilber, im andern Schenkel Wasser, so ist im Fall des Gleichgewichts die Höhe c d der Quecksilbersäule 13,6mal geringer als diejenige der Wassersäule a b, woraus sich die Zahl 13,6 als s. G. des Quecksilbers ergibt. Darauf gründet sich Musschenbroeks Aräometer (Hygroklimax), welches in der Form, die Ham ihm gegeben hat, in Fig. 4 dargestellt ist. Zwei Glasröhren sind oben durch eine Metallröhre, an die ein mit einem Hahn verschließbares, nach oben gerichtetes Röhrchen angesetzt ist, verbunden und tauchen mit ihren offenen Enden in zwei Gläser, deren eins Wasser, das andre die zu untersuchende Flüssigkeit enthält. Verdünnt man durch Saugen an dem Röhrchen die innere Luft und schließt den Hahn, so werden die Flüssigkeiten durch den äußern Luftdruck in die Röhren gehoben, und man kann ihre Höhen, nachdem mittels Schrauben die Flüssigkeitsoberflächen in den Gläsern auf das gleiche Niveau gebracht sind, an der Skala ablesen; die Höhe der Wassersäule, durch die Höhe der andern Flüssigkeit- [Fig. 2. Mohrsche Wage.] [Fig. 3. Kommunizierende Röhren.] [Fig. 4. Musschenbroeks Aräometer.] Spezifisches Gewicht - Spezifische Wärme. säule dividiert, gibt das spezifische Gewicht der letztern. Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts pulverförmiger Körper s. Stereometer. Um das spezifische Gewicht eines Gases zu bestimmen, wird ein Glasballon von 8-10 Lit. Inhalt, dessen Hals mittels einer Messingfassung, die durch einen Hahn verschließbar ist, auf die Luftpumpe geschraubt werden kann, möglichst luftleer gepumpt und nun gewogen. Alsdann füllt man ihn bei 0° mit dem trocknen Gas und wägt ihn nochmals. Der Unterschied der beiden Gewichte ist das Gewicht des Gases bei 0° und dem gerade herrschenden Barometerstand und braucht nur durch das zuvor genau ermittelte Volumen des Ballons dividiert zu werden, um das spezifische Gewicht des Gases für diesen Druck zu liefern. Mit Hilfe des Mariotteschen Gesetzes kann daraus leicht das spezifische Gewicht bei dem Normalbarometerstand von 760 mm gefunden werden. Überhaupt müssen bei der Bestimmung des spezifischen Gewichts der Gase Temperatur, Druck und andre Umstände sorgfältige Berücksichtigung finden. Um die Korrektion wegen des Gewichtsverlustes, welchen der Ballon durch die umgebende atmosphärische Luft erleidet, zu umgehen, hing Regnault an den andern Wagebalken einen ganz gleichen Glasballon, dessen äußeres Volumen dem des ersten vollkommen gleich gemacht war. Da die spezifischen Gewichte der Gase, auf Wasser bezogen, durch sehr kleine Zahlen ausgedrückt sind, so nimmt man für sie gewöhnlich die Luft als Einheit. Ein sehr sinnreiches Verfahren zur Bestimmung der spezifischen Gewichte der Gase wurde von Bunsen auf den Satz gegründet, daß die Ausströmungsgeschwindigkeit der Gase den Quadratwurzeln aus ihren spezifischen Gewichten umgekehrt proportional sind, oder, was dasselbe ist, daß ihre spezifischen Gewichte sich verhalten wie die Quadrate der Ausströmungszeiten gleicher Volumina. Das Gas befindet sich in der Glasröhre A A (Fig. 5), die sich oben in ein Röhrchen B verengert, in welches bei v ein dünnes Platinplättchen mit einer feinen Öffnung eingeschmolzen ist, aus der nach Wegnahme des Stöpsels s das Gas ausströmt. Die Röhre A A wird, während der Stöpsel aufgesetzt ist, so tief in das Quecksilber des Standgefäßes C C hinabgedrückt, daß die Spitze r des gläsernen Schwimmers D D genau im Niveau des Quecksilbers erscheint. Wird nun der Stöpsel weggenommen, so beginnt das Gas auszuströmen, und man braucht nun nur die Zeit zu beobachten, welche von der Wegnahme des Stöpsels an vergeht, bis die am Schwimmer angebrachte Marke t das Quecksilberniveau erreicht hat. Hat man z. B. auf diese Weise gefunden, daß gleiche Raumteile von atmosphärischer Luft und von Knallgas bez. 117,6 und 75,6 Sekunden zum Ausströmen gebrauchen, so ist das spezifische Gewicht des Knallgases, auf Luft bezogen, = 75,6² : 117,6² = 0,413. Über die Bestimmung des spezifischen Gewichts der Dämpfe s. Dampfdichte. [Fig. 5. Bunsens Apparat zur Bestimmung des spezifischen Gewichts der Gase.] Spezifische Wärme (Wärmekapazität), die Wärmemenge, welche 1 kg eines Körpers bedarf, um sich um 1° C. zu erwärmen. Gleiche Massen verschiedener Stoffe erfordern für die gleiche Temperaturerhöhung einen sehr ungleichen Aufwand von Wärme. Will man z. B. 1 kg Wasser und 1 kg Quecksilber von 0° auf 100° erwärmen, so bemerkt man leicht, daß bei gleicher Wärmezufuhr das Quecksilber viel rascher die gewünschte Temperatur erreicht als das Wasser. Ja sogar, wenn man von beiden Flüssigkeiten je 1 Lit. nimmt, also dem Gewicht nach 13,6mal soviel Quecksilber als Wasser, wird man bei jenem mit einer Heizflamme das Ziel schneller erreichen als bei diesem mit zwei ebensolchen Flammen. Erkaltet ein warmer Körper wieder auf seine ursprüngliche Temperatur, so gibt er die Wärmemenge, welche er vorher zu seiner Erwärmung verbraucht hatte, an seine Umgebung wieder ab; man wird daher, indem man diese Wärmeabgabe beobachtet, zugleich den zur Erwärmung nötigen Wärmebedarf kennen lernen; alle Verfahrungsarten zur Ermittelung der "spezifischen Wärme" der Körper beruhen in der That aus der Bestimmung der beim Erkalten abgegebenen Wärmemenge. Erwärmen wir drei gleich schwere Kugeln von Kupfer, Zinn und Blei in siedendem Wasser auf 100° u. bringen sie rasch auf eine Wachsscheibe, so fällt die Kupferkugel sehr bald durch das Loch, das sie aufgeschmolzen hat, die Zinnkugel dringt tief in die Scheibe ein, während die Bleikugel nur ganz wenig einsinkt. Es ist hierdurch augenfällig, daß das Kupfer die größte Wärmemenge abgegeben hat und demnach unter diesen Metallen die größte s. W. besitzt, das Zinn eine mittlere, das Blei die kleinste. Genaueres über das Verhältnis der spezifischen Wärmen dieser Körper erfahren wir jedoch durch diesen Versuch nicht; hierzu wäre es notwendig, die abgegebenen Wärmemengen wirklich zu messen, d. h. in "Wärmeeinheiten "auszudrücken. Als Einheit der Wärmemenge oder Wärmeeinheit hat man diejenige Wärmemenge festgesetzt, welche erforderlich ist, um 1 kg Wasser um 1° C. zu erwärmen, oder, was dasselbe ist, man hat die s. W. des Wasser = 1 angenommen. Vorrichtungen zur Messung von Wärmemengen nennt man Kalorimeter. Um die s. W. eines Körpers nach dem Schmelzverfahren zu bestimmen, kann das Eiskalorimeter von Lavoisier und Laplace (Fig. 1) dienen. Dasselbe besteht aus drei sich der Reihe nach umhüllenden Blechgefäßen, von denen das innerste c siebartig durchlöchert ist oder auch nur aus einem Drahtkorb besteht. Der Zwischenraum a a zwischen dem äußersten und mittlern Gefäß sowie der hohle Deckel des letztern [Fig. 1 Eiskalorimeter von Lavoisier und Laplace.] Spezifische Wärme. werden mit Eisstücken gefüllt, die dazu dienen, die Wärme der äußern Umgebung von dem Raum b b zwischen dem mittlern und innersten Gefäß, der ebenfalls mit Eisstücken gefüllt ist, abzuhalten; das in dem Raum a a durch die äußere Wärme erzeugte Schmelzwasser fließt durch den Hahn d ab. Bringt man nun einen Körper von bekanntem Gewicht und bekannter Temperatur (z. B. eine in den Dämpfen siedenden Wassers auf 100° erhitzte eiserne Kugel) in das innerste Gefäß, so wird derselbe, indem er von dieser Temperatur auf 0° erkaltet, eine gewisse Menge Eis schmelzen, welche man durch Wägung des durch den Hahn e abgelaufenen Schmelzwassers ermittelt. Da man nun weiß, daß zur Schmelzung von 1 kg Eis 80 Wärmeeinheiten erfordert werden (s. Schmelzen), so kann man leicht die Wärmemenge berechnen, welche jener Körper bei seinem Erkalten abgegeben hat, und erfährt sonach auch die Wärmemenge, welche derselbe für 1 kg und für 1° C. enthielt, d. h. seine s. W. Das weit genauere Eiskalorimeter von Bunsen gründet sich auf die Thatsache, daß beim Schmelzen des Eises eine Zusammenziehung stattfindet, indem das entstandene Schmelzwasser einen kleinern Raum einnimmt als das Eis (s. Ausdehnung). In das weitere Glasgefäß W (Fig. 2), welches sich unten in das umgebogene und wieder aufsteigende Glasrohr Q Q fortsetzt, ist das Probierröhrchen w eingeschmolzen; das Gefäß W wird mit luftfreiem Wasser gefüllt, welches durch das im untern Teil von W und in der Röhre befindliche Quecksilber Q Q abgesperrt ist. Indem man tief erkalteten Weingeist durch das Proberöhrchen strömen läßt, umkleidet sich dasselbe mit einer Eishülle E. Wirft man nun einen auf bekannte Temperatur erwärmten Körper in das Proberöhrchen, welches etwas Wasser von 0° enthält, so wird etwas Eis geschmolzen, infolge der eintretenden Raumverminderung tritt mehr Quecksilber in das Gefäß W, und in dem engen Glasröhrchen q, welches mittels eines Korks in das Rohr Q eingesetzt ist, zieht sich der Quecksilberfaden zurück; aus der Größe seiner Verschiebung ergibt sich die Menge des entstandenen Schmelzwassers und demnach auch die von dem Körper an das Eis abgegebene Vermischt man 1 kg Wasser von 10° mit 1 kg Wasser von 50°, so zeigt die Mischung, wenn alle Wärmeverluste vermieden wurden, die mittlere Temperatur von 30°. Das eine Kilogramm Wasser gab nämlich, indem es von 50° auf 30° erkaltete, die 20 Wärmeeinheiten ab, welche notwendig waren, um das andre Kilogramm Wasser von 10° auf 30° zu erwärmen. Mischt man dagegen 1 kg Wasser von 10° mit 1 kg Terpentinöl von 60°, so zeigt das Gemisch nur etwa 24°. Um die 14 Wärmeeinheiten zu liefern, welche zur Erwärmung des einen Kilogramms Wasser von 10° auf 24° erforderlich waren, mußte also das Kilogramm Terpentinöl um 36° erkalten; umgekehrt werden diese 14 Wärmeeinheiten auch wieder hinreichen, um 1 kg Terpentinöl um 36° zu erwärmen. Zur Erwärmung von 1 kg Terpentinöl um 1° sind daher 14/36 oder 0,4 Wärmeeinheiten erforderlich, oder 0,4 ist die s. W. des Terpentinöls. Um dieses Mischungsverfahren mit der erforderlichen Genauigkeit auszuführen, bediente sich Regnault der in Fig. 3 gebildeten Vorrichtung. Der obere Teil wird von drei einander umhüllenden Blechcylindern gebildet, deren innerster A oben durch einen Kork, in welchem ein Thermometer steckt, unten durch einen leicht abnehmbaren Blechdeckel verschlossen ist. In der Mitte von A hängt an einem durch den Kork gehenden Faden ein ringförmiges Drahtkörbchen, welches den zu untersuchenden Körper, entweder in Stücken oder in dünnwandige Glasröhrchen eingeschmolzen, aufnimmt und in seiner innern Höhlung das Gefäß des Thermometers einschließt. In den Raum B wird aus einem seitlich aufgestellten Dampfkessel durch die Röhre a Wasserdampf eingeleitet, welcher den Körper auf 100° erwärmt und durch die Röhre c wieder abströmt. Ist diese Temperatur erreicht, so wird nach Wegnahme des untern Deckels das Drahtkörbchen in das mit einer gewogenen Wassermenge gefüllte Wasserkalorimeter D herabgelassen und die Mischungstemperatur beobachtet, woraus sich die von dem Körper an das Wasser abgegebene Wärmemenge und sonach auch seine s. W. leicht ableiten läßt. Durch einen mit kaltem Wasser d d angefüllten Blechmantel ist das Kalorimeter D vor Erwärmung von dem Dampfkessel oder dem Dampfraum B B her Ein drittes Verfahren zur Bestimmung der spezifischen Wärme, das besonders von Dulong und Petit angewendete Abkühlungsverfahren, gründet sich auf den Satz, daß ein erwärmter Körper im luftleeren Raum, wo er nur durch Wärmestrahlung sich abkühlen kann, unter sonst gleichen äußern Umständen um so langsamer erkaltet, eine je größere Wärmemenge er enthält; bei gleicher Temperaturerniedrigung verhalten sich hiernach die von [Fig 2. Eiskalorimeter von Bunsen.] [Fig. 3. Wasserkalorimeter von Regnault.] Spezifizieren - Sphaerococcus. denen Körpern abgegebenen Wärmemengen wie die Abkühlungszeiten. Die spezifischen Wärmen der Körper nehmen mit höherer Temperatur zu, indem sie sich einem festen Endwert nähern; zwischen 0° und 100° ist indessen die Änderung so gering, daß man die s. W. innerhalb dieser Grenzen als unveränderlich betrachten kann. Die spezifischen Wärmen einiger Grundstoffe sind: Aluminium 0,214 Schwefel 0,203 Kupfer 0,095 Silber 0,057 Antimon 0,051 Quecksilber 0,033 Platin 0,032 und diejenigen einiger Flüssigkeiten: Alkohol 0,566 Glycerin 0,555 Benzin 0,392 Chloroform 0,233 Die s. W. des Eises ist 0,505. Dulong und Petit entdeckten das wichtige Gesetz, daß die spezifischen Wärmen der festen chemischen Elemente (Grundstoffe) sich umgekehrt verhalten wie ihre Atomgewichte, so daß das Produkt aus Atomgewicht und spezifischer Wärme für alle diese Körper unveränderlich das nämliche und zwar nahezu gleich 6 ist. Das Dulong-Petitsche Gesetz läßt sich sonach auch folgendermaßen aussprechen: die durch die Atomgewichte ausgedrückten Mengen der festen Elemente bedürfen zu gleicher Temperaturerhöhung gleich großer Wärmemengen, oder: die Atomwärmen der Grundstoffe sind gleich. Neumann wies ferner nach, daß auch die spezifischen Wärmen chemischer Verbindungen von ähnlicher Zusammensetzung im umgekehrten Verhältnis der Atomgewichte stehen, und Kopp stellte den Satz auf, daß die Molekularwärme einer chemischen Verbindung gleich der Summe der Atomwärmen ihrer Elemente sei (vgl. Die luftförmigen Körper bedürfen zur Erwärmung gleicher Raumteile auch gleicher Wärmemengen; und da nach dem Gesetz von Avogadro alle Gase bei gleichem Druck und gleicher Temperatur in gleichen Raumteilen gleich viele Moleküle enthalten, so folgt, daß alle Gase gleiche Molekularwärme haben. Eine gegebene Gewichtsmenge eines Gases verbraucht bei gleicher Temperaturerhöhung eine größere Wärmemenge, wenn sie bei gleichbleibendem Druck sich ausdehnt, als wenn sie unter Steigerung des Drucks ihren Rauminhalt unverändert beibehält, d. h. die s. W. bei konstantem (unverändertem) Druck ist größer als diejenige bei konstantem Volumen; für atmosphärische Luft beträgt jene 0,2377, diese 0,1686. Für alle Gase ist das Verhältnis der spezifischen Wärme bei konstantem Druck zu derjenigen bei konstantem Volumen das gleiche, nämlich = 1,41 (vgl. Wärme). Spezifizieren (lat.), im einzelnen angeben. Speziös (lat.), in die Augen fallend, von schöner Erscheinung; auch s. v. w. durch den Schein täuschend, scheinbar. Spezzia, Insel, s. Spetsä. Sphacelarieen, Familie der Algen aus der Ordnung der Fukoideen; s. Algen (11), S. 345. Sphacelia, s. Mutterkorn. Sphacelus, feuchter Brand, s. Brand, S. 313. Sphagnaceen, Ordnung der Moose (s. d., S. 791). Sphagnum Ehrh. (Torfmoos), Moosgattung aus der Ordnung der Sphagnaceen, charakterisiert durch aufrechte, cylindrische, beblätterte Stengel mit zweierlei Zweigen: gerade abwärts gerichteten, dem Stengel dicht anliegenden und schief abstehenden oder aufrechten, an der Spitze des Stengels schopfartig gehäuften. Die weiblichen Blüten stehen endständig auf aufrechten Zweigen, die männlichen kätzchenförmig an den Spitzen schiefer Zweige. Mit den auch sonst ähnlichen Laubmoosen stimmt die Gattung in der mit einem Deckel aufgehenden Büchse überein, unterscheidet sich aber durch den Mangel der Borste und durch die an der Spitze zerreißende, daher die Büchse anfangs scheidenartig umgebende Haube. Die Blätter bestehen aus großen, leeren, lufthaltigen, mit Verdickungsfasern versehenen, durch weite Poren nach außen geöffneten Zellen, zwischen denen sehr enge, chlorophyllhaltige Zellen liegen, daher diese Moose von bleicher Farbe sind und vermittelst der porösen Zellen, wie ein Schwamm, Wasser einsaugen. Es sind ansehnliche, weißliche, bräunliche oder rötliche, in hohen, elastisch schwammigen Polstern wachsende Moose, welche in einigen 20 Arten über die Erde verbreitet sind und zu den wichtigsten Torfpflanzen gehören, indem sie von der Ebene bis in die alpinen Gebirgshöhen, auf Torfsümpfen, in morastigen Wäldern und auf feuchten Felsen gesellig in ausgedehnten Beständen wachsen und wesentliche Erzeuger des Torfs sind. Sie erhalten in Wäldern und Gebirgen die Feuchtigkeit des Bodens. Die häufigsten der zwölf deutschen Arten sind das kahnblätterige Torfmoos (S. cymbifolium Ehrh.), mit kahnförmigen, an der Spitze kappenförmigen Zweigblättern, und das spitzblätterige Torfmoos (S. acutifolium Ehrh.), mit lang zugespitzten, an der Spitze gestutzten und gezahnten, länglich-eiförmigen Blättern. Vgl. Warnstorff, Die europäischen Torfmoose (Berl. 1881). Sphakioten, Volksstamm, s. Kreta. Sphakteria (jetzt Sphagia), griech. Insel im Ionischen Meer, an der Westküste von Messenien (Bai von Pylos), 5 km lang, schmal und felsig. Während des Peloponnesischen Kriegs wurde S. 425 v. Chr. von 420 Spartanern besetzt, aber nach 72tägiger Verteidigung den Athenern unter Kleon übergeben, wobei 292 Spartaner in deren Gewalt fielen. Sphalerit, s. Zinkblende. Sphäre (griech.), Kugel; in der Geometrie die Kugeloberfläche (daher Sphärik, die Lehre von den Figuren auf der Kugel); in der Astronomie s. v. w. Himmelskugel, Weltkörper, dann Kreis, Kreisbahn (der Planeten); bildlich s. v. w. Bereich, Geschäfts-, Wirkungskreis, Erkenntniskreis; Lebensstellung. Sphärenmusik, s. Harmonie der Sphären. Sphärisch, auf der Kugel, eine Figur auf der Oberfläche einer Kugel gelegen. Sphärischer Exzeß, s. Kugel. Sphärístik (griech.), Kunst des Ballspiels Sphaerococcus Grev. (Knopftang), Algengattung aus der Familie der Florideen, mit meist dichotom verzweigtem, rundem oder zusammengedrückt linealischem, knorpeligem oder heutigem Thallus und eingesenkten, aber knopf- oder warzenförmig hervorragenden Früchten (Cystokarpien), ist gegenwärtig nach dem innern Bau der letztern in eine Anzahl Gattungen zerteilt worden. Chondrus crispus Lyngb. (S. crispus Ag., gemeiner Knorpeltang, Gallertmoos, Carragaheenmoos, irländisches Perlmoos), 7-32 cm lang, 0,2-2,7 cm breit, zusammengedrückt linealisch oder keilförmig, an den Spitzen wiederholt dichotom geteilt und kraus, knorpelig, rot oder violett, wächst an Steinen in den europäischen Meeren, wird vorzüglich an den Küsten der nördlichen Länder gesammelt und getrocknet als Carragaheen (s. d.) in den Handel gebracht. Aus Gracilaria lichenoides Ag. (S. lichenoides Ag., Ceylonmoos), mit 7-11 cm langem, zwirnfadendickem, dichotom ästigem, gallertigem Thallus, im Indischen Meer, auf Ceylon und Java, bereiten die Japaner eins ihrer gewöhnlichsten Nahrungsmittel Sphäroid - Sphinx. (Dschin-Dschen). Dasselbe gilt von den ähnlichen Arten: Euchema spinosum Ag. (S. spinosus Ag.), E. gelatinae Ag. (S. gelatinus Ag.) und E. speciosum Ag., in den Meeren Indiens und Australiens, welche auch nach Europa (s. Agar-Agar) in den Handel kommen. Auch Gracilaria lichenoides, im Indischen Meer und im Stillen Ozean, wird gegessen. Sphäroid (griech., "kugelähnlich"), bei den alten Geometern der Körper, welcher durch Umdrehung einer Ellipsenfläche um eine der beiden Achsen erzeugt wird. Ist a die halbe Rotationsachse, b die andre Halbachse (vgl. Ellipse), so ist das Volumen des Körpers = 3/4 a² b ^? (^? = 3,1416, vgl. Kreis), gleichgültig, ob a größer oder kleiner als b ist. Schon Archimedes hat dies bewiesen. Gegenwärtig nennt man den Körper (und ebenso die ihn begrenzende Fläche) ein Rotationsellipsoid (vgl. Sphäroidaler Zustand, s. Leidenfrostscher Sphärolithe, die kugeligen Aggregate, welche in vielen Gesteinen eine besondere kugelige oder sphärolithische Struktur hervorrufen, und die man, je nachdem sie selbst strukturlos sind oder eine radialfaserige Zusammensetzung erkennen lassen, und je nach der Natur der gruppierten Elemente mit verschiedenen Namen (Kumulite, Globosphärite, Belonosphärite, Felsosphärite, Granosphärite) belegt. Tafel "Mineralien und Gesteine" zeigt in Fig. 16 und 17 sphärolithische Struktur in körnigem und in glasigem Gestein. Speziell nennt man S. die kugeligen, aber schon deutlich kristallinischen Ausscheidungen in gewissen Perlsteinen (s. d.), von den aus bloßer Glasmasse bestehenden kugeligen Körnern der meisten Perlsteine zu unterscheiden. Gesteine, welche fast nur aus solchen Sphärolithen zusammengesetzt sind und beinahe gar keine glasige Zwischenmasse erkennen lassen, heißen Sphärolithfels. Lokal und genetisch sind dieselben mit den Pechsteinen oder den Perlsteinen eng Sphärolithischer Aphanit, s. Blatterstein. Sphärologie (griech.), Kugellehre, Lehre von der Kugelgestalt der Weltkörper. Sphärometer (griech., "Kugelmesser"), Instrument zur Bestimmung der Gestalt der Linsengläser und zur Messung der Dicke dünner Blättchen, welche die bekannten farbigen Erscheinungen im polarisierten Licht zeigen, besteht nach der ihm von Cauchoix gegebenen Einrichtung im wesentlichen aus einer mit einem Dreifuß verbundenen Mikrometerschraube, deren kreisförmiger Kopf eine Teilung besitzt. Sphärometrie (griech.), Kugelmessung. Sphäropleen, Ordnung der Algen (s. d., S. 343). Sphärosiderit, s. Spateisenstein. Sphen, s. Titanit. Sphendone (griech.), Schleuder; auch eine in der Mitte breite Haarbinde der griechischen Frauen, die dergestalt um den Kopf gebunden wurde, daß das Haar ringsum in Ringeln Sphenoide, vierflächige Kristallgestalten, Hemieder der quadratischen oder rhombischen Pyramide; vgl. Kristall, S. Sphenophyllum, s. Lykopodiaceen, S. 6. Sphingidae (Schwärmer), Familie aus der Ordnung der Schmetterlinge (s. d.). Sphinkter (griech.), Schließmuskel (s. d.). Sphinx, Schmetterlingsgattung aus der Familie der Schwärmer (Sphingidae oder Crepuscularia), zu welcher der Windig, Liguster-, Kiefernschwärmer u. a. gehören. Sphinx, Name oft kolossaler Steinbilder, gewöhnlich aus Granit oder Porphyr, auch Kalkstein, von Löwengestalt mit Menschenkopf, liegend auf Postament, die Vorderbeine vorwärts gestreckt, die Hinterbeine untergeschlagen. Diese phantastischen Gebilde stammen aus dem Orient: aus Assyrien (Palast zu Nimrud und Portal von Chorsabad) und insbesondere aus Ägypten. Hier standen sie meist am Eingang des Tempels, doch auch einzeln. Die ägyptischen Sphinxbilder sind immer männlichen Geschlechts und dienen meist zur Darstellung eines Königs, weshalb sie die Uräusschlange vor der Stirn tragen. Die kolossalste ist die S. bei den Pyramiden von Gizeh, aus dem Felsen gehauen, 55 m lang, an 20 m hoch, aus der ältesten Zeit der ägyptischen Geschichte vor Cheops stammend (s. Tafel "Baukunst III", Fig. 1). Diese merkwürdige Bildung entsprach demselben Hang zum Mystizismus, der auch die Götterbilder mit Tierköpfen versah. Auch bei den Sphinxen beschränkte man sich nicht auf Mischung der Löwengestalt mit der menschlichen, sondern setzte auch wohl Widder- (Kriosphinxe, s. Tafel "Bildhauerkunst I", Fig. 2) und Sperberköpfe auf. Im allgemeinen betrachtete man die Sphinxe als die mystischen Hüter und Schutzgeister der Tempel und Totenwohnungen. Ganze Alleen von riesigen Sphinxen führten oft zum Eingang des Tempels. Mannigfaltiger nach Gestalt und Bedeutung erscheinen die Sphinxe in Griechenland, wo sie immer als weibliche Gestalten aufgefaßt werden. Ursprünglich ein geflügelter Löwenkörper mit Kopf und Brust einer Jungfrau (s. Abbildung), wurden sie später von Dichtern und Künstlern in den abenteuerlichsten Gestalten dargestellt, z. B. als Jungfrau mit Brust, Füßen und Krallen eines Löwen, mit Schlangenschweif, Vogelflügeln, oder vorn Löwe, hinten Mensch, mit Geierkrallen und Adlerflügeln, und zwar nicht immer liegend, sondern auch in andern Stellungen. Berühmt ist die thebaische S. im böotischen Mythus, Tochter des Typhon und der Schlange Echidna, welche jedem, der ihr nahte, das Rätsel aufgab: Welches Geschöpf geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien, am Abend auf dreien? Wer es nicht lösen konnte, mußte sich vom Felsen in den Abgrund stürzen. Ödipus deutete es richtig auf den Menschen, worauf sich die S. vom Berg herabstürzte. Von der griechischen Kunst aus der ägyptischen und orientalischen frühzeitig übernommen und eigentümlich (immer weiblich) umgebildet, galt hier die S. als Sinnbild des unerbittlichen Todesgeschicks und ward daher auf Gräbern oft dargestellt (vgl. Bachofen, Gräbersymbolik der Alten, Bas. 1859). Auch an altchristlichen Kirchen kommen die Sphinxe manchmal vor. Wieder angewendet wurden sie von der Spätrenaissance, insbesondere häufig aber von der Barockkunst, die mit denselben Eingänge zu Palästen, Gärten u. dgl. verzierte. [Sphinx (Berliner Museum).] Sphragid - Spiegel. Sphragid, s. Bolus. Sphragistik (griech.), Siegelkunde, s. Siegel. Sphragmit, s. Grauwacke. Sphygmograph (griech., "Pulsschreiber"), Instrument, mit Hilfe dessen sich die Pulsbewegung bleibend in Gestalt einer Kurve darstellen läßt, an welcher man alle Eigentümlichkeiten der Pulsbewegung genau studieren kann. Bei allen Sphygmographen setzt die abwechselnd sich ausdehnende und kontrahierende Arterie ein kleines Plättchen in Bewegung, welches wiederum aus einen langen Hebelarm wirkt. Dieser Hebelarm schreibt die Bewegung der Arterienwand in vergrößertem Maßstab auf einen Streifen Papier, welcher durch ein Uhrwerk in gleichmäßige Bewegung versetzt und vor der Spitze des Hebelarms vorbeigeführt wird. Auf dem Papier bilden sich die Pulsbewegungen in Gestalt einer je nach der Art des untersuchten Pulses mannigfach modifizierten Wellenlinie ab. Kennt man die Geschwindigkeit, mit welcher das Papier an der Hebelspitze vorübergeht, so kann man die Dauer einer Pulswelle berechnen; außerdem kann man an der Kurve das allmähliche An- und Absteigen der Pulswellen, ihre Aufeinanderfolge etc. genau verfolgen. Für physiologische Forschungen ist der S. ein ganz unentbehrliches Hilfsmittel. Vgl. Dudgeon, The s., its history and use (Lond. 1882). Sphygmophon (griech.), ein mit galvanischer Batterie und Telephon verbundener federnder Stromunterbrecher welcher, auf die Arterie gesetzt, den Pulsschlag u. seine Modifikationen laut hörbar macht. Sphyrna, Hammerfisch. Spiauter (Spialter, holländ.), s. v. w. Zink. Spica (lat.), Ähre, eine Form des Blütenstandes (s. d.); spicatus, in eine Ähre zusammengestellt. Spiccato (ital.), deutlich gesondert (musikal. Vortragsbezeichnung). Spicheren, s. Speichern. Spicilegium (lat.), Ährenlese. Spicknadel, eine Nadel mit zweimal gespaltenem Kopf, dient zum Einziehen von Speckstreifen in Braten (Spicken). Spicknarden, s. Valeriana. Spicula (lat.), s. Ährchen. Spiegel, Körper mit glatter Oberfläche, welche zur Erzeugung von Spiegelbildern benutzt werden. Man unterscheidet Planspiegel mit vollkommen ebener und Konvex- und Konkavspiegel mit gekrümmter Spiegelfläche, wendet aber im gewöhnlichen Leben meist Planspiegel an. Als solche benutzte man im Altertum, zum Teil schon in vorgeschichtlicher Zeit, runde, polierte, gestielte Metallscheiben aus Kupfer (Ägypter, Juden), Bronze (Römer, besonders brundusische S.), Silber, Gold (seit Pompejus, Gold auch schon bei Homer). Manche Legierungen geben eine besonders stark spiegelnde Oberfläche und werden deshalb als Spiegelmetall (s. d.) zusammengefaßt. Auch Glasspiegel kamen früh in Gebrauch; man benutzte dazu obsidianartige, dunkle, undurchsichtige Massen mit glatter, polierter Oberfläche, welche in die Wand eingelassen wurden. Vielleicht aber kannte man schon zur Zeit des Aristoteles Glasspiegel, deren Rückseite mit Blei und Zinn belegt war. Sichere Nachrichten über diese S. hat man indes erst aus dem 13. Jahrh. Man schnitt sie in Deutschland aus Glaskugeln, die inwendig mit geschmolzener Bleiantimonlegierung überzogen worden waren. Im 14. Jahrh. kamen die mit Blei-, dann mit Zinnamalgam belegten ebenen S., wie wir sie jetzt benutzen, in Gebrauch. Zur Darstellung derselben breitet man auf einer horizontalen, ebenen Steinplatte ein Blatt kupferhaltige Zinnfolie (Stanniol) aus, dessen Größe die des Spiegels etwas übertrifft, übergießt es 2-3 mm hoch mit Quecksilber, welches mit dem Zinn ein Amalgam bildet, schiebt die polierte und sorgfältig gereinigte Glasplatte so über die Zinnfolie, daß ihr Rand stets in das Quecksilber taucht, beschwert sie dann mit Gewichten, gibt der Steinplatte eine ganz geringe Neigung, damit das überschüssige Quecksilber abfließt, und legt den S. nach 24 Stunden mit der Amalgamseite nach oben auf ein Gerüst, welches man allmählich mehr und mehr neigt, bis der S. schließlich senkrecht steht. Nach 8-20 Tagen ist er verwendbar. 50 qdcm erfordern 2-2,5 g Amalgam, welches aus etwa 78 Zinn und 22 Quecksilber besteht. In neuerer Zeit benutzt man vielfach Silberspiegel, d. h. auf der Rückseite versilbertes Spiegelglas, wie es zuerst von Drayton 1843 vorgeschlagen wurde. Zur Versilberung sind viele Vorschriften gegeben worden; doch beruhen alle darauf, daß man eine Silberlösung mit einem reduzierend wirkenden Körper vermischt und mit der zu versilbernden Glasfläche in Berührung bringt. Das Silber schlägt sich dann auf das Glas nieder und wird zum Schutz mit einem Anstrich aus Leinölfirnis und Mennige überzogen, auch wohl zunächst galvanisch verkupfert. Bei Herstellung größerer S. gießt man die Versilberungsflüssigkeit auf die Glasplatte, welche auf einem gußeisernen Kasten liegt, der mit Wasser gefüllt ist und eine Dampfschlange enthält, um die Platte erwärmen zu können. Kleinere Platten stellt man je zwei mit dem Rücken aneinander reihenweise in die Versilberungsflüssigkeit. Auf 1 qm Glas kann man 29-30 g Silber ablagern. Diese Silberspiegel, deren Fabrikation erst seit 1855 durch Petitjean und Liebig, welche zweckmäßige Versilberungsflüssigkeiten angaben, praktische Bedeutung gewann, sind billiger als die belegten; größere aber sind schwer herzustellen, und über die längere Haltbarkeit fehlen noch Erfahrungen. Man hat auch Platinspiegel hergestellt, für welche man nur auf einer Seite geschliffenen Glases bedarf. Man trägt die Mischung von Platinchlorid mit Lavendelöl, Bleiglätte und borsaurem Bleioxyd auf das Glas auf und brennt das ausgeschiedene Metall ein. Da das Platin an der Luft nicht anläuft, so halten sich diese S. sehr gut, und der Metallüberzug ist so dünn, daß das Glas durchsichtig bleibt. Über Herstellung etc. des Spiegelglases s. Glas, S.322. Vgl. Benrath, Glasfabrikation (Braunschw. 1875); Cremer, Fabrikation der Silber- und Quecksilberspiegel (Wien 1887). - Die für die Toilette der Frauen bestimmten Handspiegel des Altertums wurden am Griff und auf der Rückseite der Scheibe künstlerisch verziert, auf letzterer bei den Griechen, Römern etc. meist mit eingravierten mythologischen u. genrehaften Darstellungen geschmückt (Fig. 1-3). Antike S. [Fig. 1-3. Römische Handspiegel.] Spiegel - Spiegelinstrumente. zahlreich in den verschütteten Vesuvstädten und in den Gräbern gefunden worden. Eine Spezialität bilden die etruskischen S., welche ebenfalls mit Darstellungen aus dem etruskischen Götterkreis und mit Inschriften versehen sind (Fig. 4). Sie wurden von E. Gerhard ("Die etruskischen S.", Berl. 1843-68, 4 Bde.; fortgesetzt von Klügmann und Körte 1884 ff.)beschrieben. Die antike Grundform des Handspiegels erhielt sich das ganze Mittelalter und die Folgezeit hindurch bis jetzt. Nur wurde die Spiegelfläche nicht bloß oval, sondern auch rund, viereckig und vielseitig gestaltet, von einem mehr oder minder reichverzierten Rahmen eingefaßt und in der Rückseite mit Schnitzwerk, Reliefarbeit etc. geschmückt. Die Einfassung des Handspiegels, dessen Spiegelfläche anfangs noch meist aus Metall, dann aus Glas bestand, wurde in Holz, Elfenbein, Metall und andern Materialien ausgeführt. Zur Renaissancezeit trugen die Damen Handspiegel am Gürtel. Im Mittelalter kamen auch Taschenspiegel und S. zum Aufhängen an Wänden auf, die seit dem 16. Jahrh. immer größer wurden und sich nach der Erfindung des Spiegelglases (1688) zu den von der Decke bis zum Fußboden reichenden Trümeaus entwickelten. Im Mittelalter waren Venedig und Murano die Hauptsitze der Spiegelfabrikation, welche die ganze kultivierte Welt mit venezianischen Spiegeln versorgten. Die Einrahmung der Wandspiegel, welche anfangs durch gekehlte Leisten, später durch reich ornamentiertes Schnitzwerk erfolgte, wurde ein besonderer Zweig der Möbeltischlerei. Doch wurden früher und werden gegenwärtig noch in Venedig und Murano Wandspiegel mit Rahmen aus geschliffenem und geblasenem Glas angefertigt. Solche Rahmen werden häufig aus naturalistischen farbigen Blumen (Rosen u. dgl.) und Rankenwerk gebildet. In übertragenem Sinn bezeichnet S. überhaupt jede glatte, glänzende Fläche (z. B. Eis-, Wasserspiegel); sodann in der Weidmannssprache den hellen Fleck um das Weidloch der Hirsche und Rehe, auch den weißen oder metallglänzenden Fleck auf den Flügeln der Enten sowie den weißen Schulterfleck des Auer- und Birkwildes; ferner einen Teil der Hinterseite des Schiffs (s. Heck); in der Struktur des Holzes die Markstrahlen (s. Holz, S. 669) etc. Da endlich der S. als Symbol der Selbstprüfung und des Gewissens, als Emblem der Wahrheit dient, so ist das Wort auch häufig als Titel für belehrende Schriften, besonders moralischen, pädagogischen und politischen Inhalts, worin Musterbilder zur Nacheiferung aufgestellt werden, verwendet worden, z. B. Fürstenspiegel, Jugendspiegel, Ritterspiegel, Laienspiegel, die Gesetzsammlungen Sachsenspiegel und Schwabenspiegel etc. [Fig.4. Etruskischer (sogen. Semele-) Spiegel] Spiegel, medizinisches Instrument, s. Speculum. Spiegel, Friedrich (von), namhafter Orientalist, der bedeutendste Kenner des Zendavesta, geb. 11. Juli 1820 zu Kitzingen, widmete sich in Erlangen, Leipzig und Bonn orientalischen Sprachstudien, durchforschte 1842-47 die Bibliotheken zu Kopenhagen, London und Oxford und ist seit 1849 Professor der orientalischen Sprachen an der Universität Erlangen. Nachdem er durch seine Ausgaben des "Kammavâkya" (Bonn 1841) und der "Anecdota palica" (Leipz. 1845) dem Studium der damals noch wenig bekannten Pâlisprache und des südlichen Buddhismus einen wesentlichen Dienst geleistet hatte, konzentrierte er seine Forschungen auf die iranischen Sprachen und die Zoroastrische Religion und lieferte namentlich eine kritische Ausgabe der wichtigsten Teile des Zendavesta samt der alten Pehlewiübersetzung derselben und eine vollständige Verdeutschung, die erste wissenschaftliche Übertragung dieses wichtigen Religionsbuchs (Leipz. 1852-63, 3 Bde.), der er einen "Kommentar über das Avesta" (das. 1865-69, 2 Bde.) und eine "Grammatik der altbaltrischen Sprache" (das. 1867) folgen ließ. Außerdem veröffentlichte er eine "Chrestomathia persica" (Leipz. 1845), die erste "Grammatik der Pârsisprache" (das. 1851), eine "Einleitung in die traditionellen Schriften der Parsen" (das. 1856-60, 2 Bde.), "Die altpersischen Keilinschriften im Grundtext, mit Übersetzung, Grammatik und Glossar" (das. 1862, 2. Aufl. 1881), "Erân, das Land zwischen dem Indus und Tigris" (Berl. 1863), "Arische Studien" (Leipz. 1873). Gewissermaßen das Fazit all seiner Forschungen zieht er in seiner "Erânischen Altertumskunde" (Leipz. 1871-78, 3 Bde.), welcher die "Vergleichende Grammatik der alterânischen Sprachen" (das. 1882) und das Werk "Die arische Periode und ihre Zustände" (das. 1887) folgten. Zahlreiche kleinere Arbeiten, z. B. über die iranische Stammverfassung, über das Leben Zoroasters u. a., veröffentlichte er in den Abhandlungen der königl. bayrischen Akademie, in den "Beiträgen zur vergleichenden Sprachforschung", in der "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" und andern Zeitschriften. Spiegelberg, Otto, Mediziner, geb. 9. Jan. 1830 zu Peine in Hannover, studierte am Collegium Carolinum zu Braunschweig, dann in Göttingen, habilitierte sich 1853 daselbst als Privatdozent und ging dann auf eine längere Studienreise nach England. 1861 folgte er einem Ruf als Professor der Geburtshilfe und Gynäkologie nach Freiburg, 1864 nach Königsberg und 1865 nach Breslau, wo er 10. Aug. 1881 starb. Er begründete mit Credé das "Archiv für Gynäkologie" und schrieb ein großes "Lehrbuch der Geburtshilfe" (2. Aufl., Lahr 1880). Spiegelbergs Verdienste bestehen in der Einführung der Errungenschaften der neuern Gynäkologie in die Praxis, in der sichern Diagnostik, in der präzisen Indikationenstellung und der Anbahnung radikaler operativer Heilung von bis dahin für schwer oder nicht heilbar erachteten Krankheiten, wodurch er die Gynäkologie zur erfolgreichen Nebenbuhlerin der Chirurgie Spiegelfasern, s.v.w. Markstrahlen, s. Holz, S. 669. Spiegelgranaten, kleinere Granaten, welche in größerer Zahl mit Einem Wurf aus großen Mörsern geworfen wurden. Spiegelinstrumente, Vorrichtungen zum Messen von Winkeln mit gewöhnlich zwei Spiegeln, von denen der eine nur halbhoch (zum Durchsehen, Okularspiegel), der andre in ganzer Fläche (Objektivspiegel) mit Amalgam belegt ist. Entweder stehen beide fest einander schräg gegenüber auf der hohen Kante, oder der eine ist drehbar. Der vom Beobach- Spiegelkreis - Spiegelung. tungsobjekt B ausgehende Strahl trifft den Objektivspiegel, wird von ihm in den Okularspiegel und von diesem in das dem Okularspiegel gegenübergestellte Beobachterauge O gelenkt. Bei parallelen Spiegelflächen sind Eingangsstrahl (in den Objektivspiegel) und Ausgangsstrahl (aus dem Okularspiegel ins Auge) ebenfalls parallel, der Winkel beider Strahlen gleich Null, d. h. man sieht durch den Glasteil des Okularspiegels das Objekt B im Original und darunter im Spiegelteil desselben Spiegels dasselbe Objekt im Bild. Sind die Spiegelflächen divergierend gestellt, so bilden Ein- und Ausgangsstrahl einen doppelt so großen Winkel als die beiden Spiegel. Man kann, auf diesem Satz fußend, also den Winkel AOB messen, welchen die Sehstrahlen des Auges O direkt über den Okularspiegel nach einem Objekt A mit dem eingespiegelten Objekt B bilden (wobei das Instrument selbst im Vergleich zu der Länge der Absehlinien im Feld als unendlich klein, gleich einem Punkt O gedacht werden kann, d. h. die Parallaxe des Instruments fällt weg). Es kommt also darauf an, den Divergenzwinkel beider Spiegel oder, wenn einer davon feststeht, den Achsendrehungswinkel des andern zu kennen; dies geschieht mittels eines an der Achse befestigten Radius (Alhidade), der an einem Gradbogen der Grundfläche des Instruments entlang geführt wird. 1) Unvollkommene S. Beide Spiegel stehen in Kapsel fest, so daß ? AOB nur = 1 Rechten ist, so haben wir den a) einfachen Winkelspiegel oder Spiegelwinkel; zum Absehen und Abstecken rechter Winkel (z. B. Ordinatenabsteckung von einer Grundlinie aus); b) Spiegelrichtmaß (équerre à miroir): Mehrere Spiegel sind so vereinigt, daß man 15°, 30, 45, 60, 90° absehen kann. Das Instrument muß dicht ans Auge gehalten werden, ohne es zu drehen, und ist zu beobachten, ob die Objektpunkte A und B genau im Okularspiegel senkrecht untereinander erscheinen A (Original)/B (im Spiegelbild). [A 2) Vollkommene S. a) Ist der auf dem "Körper" angebrachte Gradbogen ein Sechstelkreis, so haben wir den Spiegelsextanten (s. d.), analog den Spiegelquadranten, -Oktanten, und bei Vollkreisen den Spiegelkreis. b) Ist mit der die Objektivspiegeldrehung anzeigenden Alhidade mittels mechanischer Konstruktion ein Lineal so verbunden, daß man im stande ist, unmittelbar nach der Messung mit dem so geöffneten Instrument den gemessenen Winkel auch graphisch aufzutragen, so haben wir den Reflektor; verschiedene Konstruktionen sind: der Douglassche, besser der Hornersche Reflektor, doch beide nur zum Krokieren geeignet. c) Ist nur für graphische Auftragung gesorgt, während der Gradbogen zum Ablesen wegfällt, so erscheint der graphische Spiegelwinkel. Sollen mit diesen Instrumenten nicht nur Horizontalwinkel, sondern auch Vertikalwinkel gemessen werden, so muß die eine Absehlinie entweder in eine natürliche Horizontfläche (Wasserspiegel) gelegt, oder ein künstlicher Horizont (Quecksilber) zur Kontrolle des wagerechten Winkelschenkels geschafft werden (z. B. bei den Polhöhemessungen, zur Ermittelung der geographischen Breite, oder bei Höhenmessungen). Vielfache Mängel der Spiegel haben dazu geführt, auch gut geschliffene Glasprismen, welche eine totale Reflexion hervorbringen, statt der Spiegel zu verwenden (Prismeninstrumente). Dazu gehören: der Prismenkreis von Pistor, der jetzt viel statt des Sextanten verwendet wird, das Winkelprisma von Ertel, das Prismenkreuz von Bauernfeind. Spiegelkreis, s. Prismenkreis und Spiegelinstrumente. Spiegelmetall, Kupferzinnlegierungen (Bronze), welche sich durch weiße Farbe, Härte und höchste Politurfähigkeit auszeichnen. Ein altrömisches S. enthielt 71-72 Kupfer, 18-19 Zinn, 4-4,5 Antimon und Blei, ein chinesischer Metallspiegel 80,8 Kupfer, 9,1 Blei, 8,4 Antimon. Ein S. von unübertrefflich weißer Farbe erhält man aus gleichen Teilen Platin und Stahl, ein andres platinhaltiges S. besteht aus 350 Kupfer, 165 Zinn, 20 Zink, 10 Arsen, 60 Platin. Vgl. Bronze, S. 460. Spiegelrichtmaß, s. Spiegelinstrumente. Spiegelrinde, Eichenrinde, die noch nicht mit Borke bedeckt ist. Spiegelsextant, Instrument zu Höhen- und Distanzmessungen, besteht aus einem Kreissektor von etwas über 60°, um dessen Mittelpunkt sich eine Alhidade dreht. Diese trägt an dem einen Ende über dem Mittelpunkt des Kreissektors einen Spiegel, welcher senkrecht auf der Ebene des Sektors steht. Ein andrer, kleinerer Spiegel steht gleichfalls senkrecht auf der Ebene des Sektors und ist zugleich so an dem Sextanten befestigt, daß er mit dem großen Spiegel parallel steht, wenn die Alhidade auf den Nullpunkt der Teilung weist. Die obere Hälfte des letztern Spiegels ist nicht mit Amalgam belegt, so daß ein Lichtstrahl von einem entfernten Objekt durch den Spiegel unmittelbar in das Auge des Beobachters oder in das gewöhnlich dabei angebrachte kleine Fernrohr, statt dessen für nahe Gegenstände eine bloße Röhre ohne Gläser gebraucht wird, gelangt. Will man den Winkelabstand zweier Objekte messen, so visiert man mit dem Fernrohr durch den zweiten Spiegel nach dem einen Objekt und bringt durch Drehung der Alhidade das Spiegelbild des andern Objekts in dem ersten Spiegel auf den zweiten, bis beide Objekte in derselben Richtung stehen. Sobald sie sich im Fernrohr decken, ist der Winkel, welchen beide Spiegel miteinander machen, oder der Bogen, welchen die Alhidade durchlaufen hat, gleich der Hälfte des gesuchten Winkels, den beide Gegenstände im Auge des Beobachters machen. Der Bequemlichkeit halber ist aber der Umfang des Spiegelsextanten in halbe Grade geteilt, welche für ganze Grade gerechnet werden. Die erste Idee zu diesem dem Seefahrer unentbehrlichen Instrument verdankt man Newton; Hadley aber brachte den ersten Spiegelsextanten wirklich zu stande, daher er auch als dessen Erfinder gilt. Praktisch ist der durch Breithaupt verbesserte englische Dosensextant. Eine Verbesserung des Spiegelsextanten ist der Reflexionskreis, welcher statt des Kreissektors einen ganzen Kreis von 15-25 cm Durchmesser und statt des zweiten Spiegels ein Prisma enthält. Bei Steinheils Prismenkreis sind beide Spiegel durch Prismen ersetzt. Auf demselben Prinzip beruhen der veraltende katoptrische Zirkel und die Reflektoren (s. Spiegelinstrumente). Spiegelteleskop, s. v. w. katoptrisches Fernrohr. s. Fernrohr, S. 151. Spiegelung, regelmäßige Zurückwerfung (Reflexion) des Lichts. Fällt ein Lichtstrahl fn (Fig. 1) auf einen Spiegel s s' (so nennt man jede glatte Fläche), so wird ein Teil desselben in ganz bestimmter Richtung n d von der Fläche in den vor ihr befindlichen Raum zurückgeworfen. Um die Richtungen des einfallenden (fn) und des zurückgeworfenen Strahls (nd) bequem zu bezeichnen, denkt man sich auf der spiegelnden Fläche in dem Punkt n, wo der einfallende Strahl dieselbe trifft, eine Senkrechte, das Einfallslot, errichtet. Die durch den einfallenden Strahl und das Einfallslot gelegte Ebene (die Ebene der Zeichnung), welche senkrecht steht auf der spiegelnden Fläche, heißt die Einfallsebene; sie wird, weil sie stets auch den zurückgeworfenen Strahl enthält, auch Zurückwerfungs- oder Reflexionsebene genannt. Die Richtungen des einfallenden und des zurückgeworfenen Strahles werden bestimmt durch den Einfallswinkel (Inzidenzwinkel) i und den Zurückwerfungswinkel (Reflexionswinkel) r, welche jeder dieser Strahlen mit dem Einfallslot bildet. Der Zurückwerfungswinkel ist stets dem Einfallswinkel gleich. Ein auf einen Spiegel senkrecht auffallender Strahl (p n) wird in sich selbst (nach n p) zurückgeworfen. Aus diesem Gesetz folgt unmittelbar, daß alle Strahlen (lr, lr'... Fig. 2), welche, von einem hellen Punkt l ausgehend, auf einen ebenen Spiegel (Planspiegel) treffen, von demselben so zurückgeworfen werden (rs, r's'...), als kämen sie von einem Punkt l', welcher auf der von dem Lichtpunkt aus auf den Spiegel gezogenen Senkrechten lpl' ebenso weit hinter der spiegelnden Ebene liegt, wie der Lichtpunkt l vor derselben. Ein Auge, das sich vor dem Spiegel (z. B. in s'') befindet, empfängt daher die zurückgeworfenen Strahlen gerade so, als ob der Punkt l', von dem sie auszugehen scheinen, selbst ein heller Punkt wäre; es sieht in (d. h. hinter) dem Spiegel in der Richtung s''l' den Punkt l' als Bild des vor dem Spiegel befindlichen Punktes l. Jedem Punkt eines leuchtenden oder beleuchteten Gegenstandes entspricht in derselben Weise ein Bildpunkt hinter dem Spiegel, und aus der Gesamtheit aller Bildpunkte entsteht das Spiegelbild des Gegenstandes, welches diesen mit einer Treue nachahmt, die sprichwörtlich geworden ist. Um dieses Bild im Geist (oder in einer Zeichnung) zu entwerfen, denke man sich von jedem Punkte des Gegenstandes eine Senkrechte auf die Spiegelebene gezogen und hinter derselben um ebensoviel verlängert, als jener Punkt vor ihr liegt. Wir sehen daher, wenn wir in einen Spiegel blicken, unser eignes Bild, getreu in Größe, Gestalt und Farbe, ebenso weit hinter dem Spiegel, als wir selbst vor demselben stehen; aber völlig gleich ist das Spiegelbild seinem Original doch nicht; denn könnten wir die Person, welche aus dem Spiegel herausschaut, hinter demselben hervortreten lassen, so würden wir bemerken, daß sie unsre rechte Hand an ihrer linken Seite hat, und daß überhaupt unsre rechte Seite ihre linke Seite ist, und umgekehrt. Ebenso werden die Buchstaben in dem Spiegelbild eines Buches von rechts nach links gehen und nicht von links nach rechts wie in dem Buch selbst. Da die zurückgeworfenen Strahlen von dem Bild hinter einem Spiegel gerade so ausgehen wie von einem wirklich dort befindlichen Gegenstand, so kann jedes Spiegelbild einem zweiten Spiegel gegenüber wieder die Rolle eines Gegenstandes spielen; bei Anwendung zweier Spiegel, deren spiegelnde Flächen einander zugewendet sind, entstehen daher außer den beiden unmittelbaren Spiegelbildern (erster Ordnung) noch solche zweiter, dritter und höherer Ordnung, welche aber wegen der Lichtverluste bei den wiederholten Zurückwerfungen immer lichtschwächer werden. Bringt man z. B. eine brennende Kerze zwischen zwei einander parallel gegenüberhängende Spiegel, so erblickt man in jedem eine unabsehbare Reihe von Kerzenflammen, welche sich in unendlicher Ferne zu verlieren scheint. Die Zahl der Bilder wird eine begrenzte, wenn die beiden Spiegel einen Winkel miteinander bilden (Winkelspiegel, Fig. 3). Die Spiegel MO und RN liefern von dem zwischen ihnen befindlichen Gegenstand A die Bilder erster Ordnung B und B1. Indem das Bild B hinter dem ersten Spiegel seine Strahlen dem zweiten Spiegel zusendet, entwirft dieser ein Bild zweiter Ordnung C1 und ebenso der erste Spiegel ein Bild C des Bildes B1. Damit ist aber für den in der Zeichnung angenommenen Winkel von 72° die Anzahl der Bilder erschöpft. Ein zwischen die Spiegel blickendes Auge O sieht die Bilder nebst dem Gegenstand auf einem um den Kreuzungspunkt der beiden Spiegel beschriebenen Kreis regelmäßig angeordnet, und zwar trifft auf jeden Winkelraum, welcher dem Winkel der beiden Spiegel gleich ist, je ein Bild. Das Auge O sieht daher den Gegenstand so vielmal, als dieser Winkel in dem ganzen Umfang enthalten ist. Auf die regelmäßige Anordnung der Bilder der Winkelspiegel gründet sich die anmutige Wirkung des Kaleidoskops (s. Eine kugelförmig gekrümmte Schale, welche auf ihrer Innenseite glatt poliert ist, bildet einen Hohlspiegel (Konkavspiegel). Der Mittelpunkt der Hohlkugel, von welcher die Schale ein Abschnitt ist, heißt der Krümmungsmittelpunkt oder geometrische Mittelpunkt und jede durch ihn gezogene gerade Linie eine Achse desselben; unter ihnen wird diejenige, welche die Schale in ihrem mittelsten tiefsten Punkte (dem optischen Mittelpunkt des Spiegels) trifft, als Hauptachse bezeichnet. Jeder längs einer Achse sich fortpflanzende Strahl (Achsenstrahl) trifft senkrecht auf den Spiegel und wird daher in sich selbst zurückgeworfen. Läßt man ein Bündel paralleler Sonnenstrahlen (Fig. 4) auf einen Hohlspiegel fallen, so werden dieselben in Form eines Lichtkegels zurück- [Fig. 1. Zurückwerfung des Lichts.] [Fig. 2. Entstehung des Bildpunktes bei einem ebenen [Fig. 3. Winkelspiegel.] geworfen, dessen Spitze F vor dem Spiegel auf der mit den einfallenden Strahlen parallelen Achse liegt. Dieser Punkt F, durch welchen sämtliche auf den Spiegel parallel mit der Achse treffende Strahlen hindurchgehen, heißt der zu dieser Achse gehörige Brennpunkt. Auf einem Papierblättchen, welches man an seine Stelle bringt, erscheint er als weißer Fleck von blendender Helligkeit, bis das Papier unter der kräftigen Wärmewirknng der vereinigten Strahlen Feuer fängt und dadurch zeigt, daß der Name "Brennpunkt" ein wohlverdienter ist. Wegen dieser Wirkung nennt man den Hohlspiegel auch Brennspiegel. Der Brennpunkt liegt auf jeder Achse gerade in der Mitte zwischen dem Spiegel und dessen Krümmungsmittelpunkt, oder die Brennweite ist die Hälfte des Kugelhalbmessers. Jeder Strahl, welcher nicht durch den Kugelmittelpunkt (C, Fig. 4) geht, trifft schräg auf die Spiegelfläche und wird so zurückgeworfen, daß er mit dem an seinem Einfallspunkt auf der Spiegelfläche errichteten Einfallslot beiderseits gleiche Winkel bildet. Das Einfallslot ist aber jedesmal der vom Krümmungsmittelpunkt zum Einfallspunkt gezogene Kugelhalbmesser. Man bemerkt nun leicht, daß die Kugelhalbmesser, d. h. die Einfallslote, in demselben Maße stärker zur Achse geneigt sind, als die Punkte des Spiegels, zu denen sie gehören, weiter von der Achse abstehen. Deshalb muß auch jeder mit der Achse parallele Strahl in dem Maße stärker gegen die Achse zu aus seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt werden, als er weiter entfernt von der Achse auf den Spiegel trifft. Aus diesem Verhalten, welches die Fig. 4 deutlich wahrnehmen läßt, erklärt es sich, warum sämtliche auf den Hohlspiegel parallel zur Achse treffende Strahlen nach der Zurückwerfung durch einen und denselben Punkt gehen müssen. Befindet sich im Brennpunkt F eine Lichtquelle, so werden ihre auf den Spiegel treffenden Strahlen, indem sie dieselben Wege in entgegengesetzter Richtung einschlagen, parallel zu der Achse zurückgeworfen. Fällt von einem Lichtpunkt a (Fig. 5), der zwischem dem Brennpunkt F und dem Kugelmittelpunkt C liegt, ein Strahlenbüschel auf den Spiegel, so treffen die einzelnen Strahlen jetzt minder schräg auf den Spiegel, als wenn sie aus dem Brennpunkt kämen, und werden daher auch weniger stark von der Achse weggelenkt; sie laufen daher nach der Zurückwerfung nicht mit der Achse parallel, sondern schneiden sie jenseit des Mittelpunktes C und zwar, da ihre Ablenkung um so größer ist, je weiter der getroffene Spiegelpunkt von der Achse absteht, in einem einzigen Punkt A, welchen man das Bild des Punktes a nennt. Bringt man nach A einen Lichtpunkt, so müssen seine Strahlen, indem sie sich auf denselben Bahnen in entgegengesetzter Richtung bewegen, im Punkt a zusammentreffen. Die Punkte a und A gehören also in der Weise zusammen, daß jeder das Bild des andern ist, und heißen deshalb zusammengehörige oder konjugierte Punkte. Ist ein Lichtpunkt (A, Fig. 6) um weniger als die Brennweite F vom Spiegel entfernt, so vermag dieser die zu stark auseinander fahrenden Strahlen nicht mehr in einem vor dem Spiegel gelegenen Punkt zu vereinigen, sondern die zurückgeworfenen Strahlen gehen jetzt auseinander, jedoch so, als ob sie von einem hinter dem Spiegel gelegenen Punkt a ausgingen. Da umgekehrt Strahlen, welche nach dem hinter dem Spiegel gelegenen Punkt a hinzielen, im Punkt A vor dem Spiegel vereinigt werden, so sind auch in diesem Fall die Punkte A und a als zusammengehörige (konjugierte) zu betrachten. Da jedem Punkt eines leuchtenden oder beleuchteten Gegenstandes, der sich vor einem Hohlspiegel befindet, ein auf der zugehörigen Achse gelegener Bildpunkt entspricht, so entsteht aus der Gruppierung sämtlicher Bildpunkte ein Bild des Gegenstandes. Befindet sich z. B. ein Gegenstand A B (Fig. 7) zwischen dem Brennpunkt F und dem Krümmungsmittelpunkt C, so liegt das Bild des Punktes B auf der Achse B C in b, dasjenige des Punktes A auf der Achse A C in a u.s.f. Es entsteht daher jenseit C ein umgekehrtes vergrößertes Bild a b. Wäre a b ein Gegenstand, welcher um mehr als die doppelte Brennweite vom Spiegel entfernt ist, so würde derselbe ein umgekehrtes verkleinertes Bild in A B zwischen dem Brennpunkt F u. dem Kugelmittelpunkt C liefern. Man erkennt aus der Zeichnung, daß Bild u. Gegenstand einander ähnlich sind, u. daß ihre Größen sich zu einander verhalten wie ihre Abstände vom Spiegel. Je weiter sich der Gegenstand vom Spiegel entfernt, desto näher rückt sein Bild dem Brennpunkt. Das Bild eines unermeßlich weit entfernten Gegenstandes, z. B. eines Gestirns, entsteht im Brennpunkt selbst. Der helle Fleck im Brennpunkt eines Hohlspiegels, auf den man die Sonnenstrahlen fallen läßt (s. oben), ist eigentlich nichts andres als ein kleines Bild der Sonne. Diese Bilder unterscheiden sich nun sehr wesentlich von den Bildern, welche die ebenen Spiegel liefern. Sie entstehen nämlich dadurch, daß die von einem jeden Punkte des Gegenstandes ausgehenden Strahlen in einem Punkt vor dem Spiegel wirklich vereinigt oder gesammelt werden; ein solches Bild kann daher auf einem Schirm aufgefangen werden und erscheint auf demselben, nach allen Seiten hin sichtbar, wie ein in den zartesten Farben ausgeführtes Gemälde. Bilder dieser Art nennt man [Fig. 4. Brennpunkt eines Hohlspiegels.] [Fig. 5. Reeller Bildpunkt.] [Fig. 6. Virtueller Bildpunkt.] [Fig. 7. Entstehung eines reellen Bildes bei einem Hohlspiegel.] Spiegelversicherung - Spiel. wirkliche (reelle) oder Sammelbilder. Die Bilder der ebenen Spiegel dagegen entstehen durch Strahlen, welche vor dem Spiegel auseinander gehen und sich zerstreuen, indem sie von hinter der Spiegelfläche liegenden Punkten auszugehen scheinen, und werden nur gesehen, wenn diese Strahlen unmittelbar in das Auge dringen. Sie werden daher scheinbare (virtuelle) oder Zerstreuungsbilder genannt. Auch die reellen Bilder der Sammelspiegel (so nennt man häufig die Hohlspiegel) können ohne Auffangsschirm unmittelbar wahrgenommen werden, wenn man das Auge in den Weg der Strahlen bringt, welche nach der Vereinigung von den Punkten des Bildes aus wieder auseinander gehen. Das Bild scheint alsdann vor dem Spiegel in der Lust zu Sammelbilder liefert ein Hohlspiegel nur von Gegenständen, welche um mehr als die Brennweite von ihm abstehen. Von einem dem Spiegel nähern Gegenstand (A B, Fig. 8) kann derselbe, weil die von jedem Punkt kommenden Lichtstrahlen nach der Zurückwerfung auseinander gehen, nur noch ein scheinbares Bild (a b) entwerfen, welches einem in den Spiegel blickenden Auge aufrecht hinter der Spiegelfläche und größer als der Gegenstand erscheint. Die Figur zeigt den Gang der Lichtstrahlen im gegenwärtigen Fall. Wegen dieser vergrößernden Wirkung werden die Hohlspiegel auch Vergrößerungsspiegel genannt und zu Zwecken der Toilette (als Rasierspiegel) verwendet. Jede auf der äußern gewölbten Seite polierte Kugelfläche bildet einen Konvexspiegel oder Zerstreuungsspiegel. Da ein solcher die von einem Punkt (B, Fig. 9) ausgehenden Strahlen stets so zurückwirft, daß sie von einem hinter dem Spiegel liegenden Punkt b noch stärker als vorher auseinander gehen, so kann derselbe von einem Gegenstand A B nur ein scheinbares oder Zerstreuungsbild a b liefern, welches hinter dem Spiegel in aufrechter Stellung gesehen wird. Da das Bild stets kleiner ist als der Gegenstand, so nennt man die Konvexspiegel auch Verkleinerungsspiegel und verwendet sie ihrer niedlichen Bilder wegen als Taschentoilettenspiegel. - Bezeichnet a die Entfernung des Lichtpunktes, b diejenige des Bildpunktes von einem Konkav- oder Konvexspiegel und f seine Brennweite, so gilt die Gleichung: 1/a + 1/b = 1/f. Hieraus ergibt sich, wenn der Bildpunkt virtuell ist, die Größe b negativ; für Konvexspiegel ist die Brennweite f negativ zu nehmen, für Hohlspiegel positiv. Alles von den kugelförmig gekrümmten oder sphärischen Spiegeln bisher Gesagte gilt jedoch nur, wenn ihre Öffnung klein ist. Bei Hohlspiegeln von größerer Öffnung werden z. B. die parallel zur Achse in der Nähe des Randes auffallenden Strahlen nach einem Punkte der Achse gelenkt, welcher dem Spiegel näher liegt als der für die näher der Mitte auffallenden Strahlen gültige Brennpunkt, ein Fehler, der dadurch vermieden werden kann, daß man dem Spiegel eine parabolische Gestalt gibt. Man nennt daher diesen Fehler die "Abweichung wegen der Kugelgestalt" oder die sphärische Aberration. Die Lehre von der S. (Reflexion oder regelmäßigen Zurückwerfung) des Lichts wird Katoptrik genannt. Über Brennlinie s. d. Über die Erklärung der S. aus der Wellenbewegung s. d. [Fig. 8. Entstehung eines virtuellen Bildes bei einem Hohlspiegel.] [Fig. 9. Konvexspiegel.] Spiegelversicheruug, s. Glasversicherung. Spiegelversuch, s. Fresnels Spiegelversuch. Spiegelwinkel, s. Spiegelinstrumente. Spiek, Pflanze, s. Spik. Spiekeroog, Insel in der Nordsee, an der Küste von Ostfriesland, zum preuß. Regierungsbezirk Aurich, Kreis Wittmund gehörig, 14 qkm groß, hat hohe Dünen, Viehzucht, Seehundsfang, Fischerei, ein aufblühendes Seebad und (1885) 243 evang. Einwohner. Vgl. Nellner, Die Nordseeinsel S. (Emden 1884). Spiel, eine Beschäftigung, die um der in ihr selbst liegenden Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung willen, meist mit andern in Gemeinschaft, vorgenommen wird. Man teilt die Spiele am besten ein in Bewegungsspiele, zu denen unter andern die Ball-, Kugel-, Kegel- und Fangspiele gehören, und in Ruhespiele, die solche zur Schärfung der Beobachtung und der Aufmerksamkeit, zur Betätigung von Witz und Geistesgegenwart, also die meisten unsrer sogen. Gesellschaftsspiele, dazu Karten-, Brettspiele, das Schach u. a., umfassen. Glücksspiele (s. d.), um Gewinn betrieben, fallen nicht unter diesen Begriff des Spiels. Wenngleich manche Spiele über viele Völker der Erde verbreitet sind, so ist doch im ganzen die Art der Spiele eines Volkes bezeichnend für seinen Charakter wie für seine Bildungsstufe. Das S. beruht daher meist auf volkstümlicher oder örtlicher Sitte; es kann aber auch pädagogisch und planmäßig zur Förderung leiblicher oder geistiger Kräfte benutzt werden. Der Wert des Spiels in letzterer Hinsicht, den schon Gesetzgeber und Philosophen des Altertums erkannt hatten, ist besonders durch die von Rousseau, den Philanthropisten, Pestalozzi und Fröbel (s. Kindergärten) ausgehenden erzieherischen Bestrebungen zur Geltung gekommen. Die Bewegungsspiele hat auch die Turnkunst, insbesondere das Schulturnen, in ihren Bereich gezogen. Großer Wert wird diesen Spielen in England beigelegt, wo an allen Unterrichts- und Erziehungsanstalten bis zu den Universitäten hinauf Wettspiele im Schwange sind. In Deutschland hat der preußische Kultusminister von Goßler der Sache der Jugendspiele durch seinen Erlaß vom 27. Okt. 1882 erfreulichen Aufschwung gegeben. Vgl. Schaller, Das S. und die Spiele (Weim. 1851); Lazarus, Über die Reize des Spiels (Berl. 1883); insbesondere die Spielsammlung von Guts Muths (7. Aufl., hrsg. von Schettler, Hof 1885); Jakob, Deutschlands spielende Jugend (3. Aufl., Leipz. 1883); Kohlrausch und Marten, Turnspiele, Wettkämpfe, Turnfahrten (3. Aufl., Hannov. 1884); Kupfermann, Turnunterricht und Jugendspiele (Bresl. 1884); Georgens, Das S. und die Spiele der Jugend (Leipz. 1884); Köhler, Die Bewegungsspiele des Spiel - Spielhagen. Kindergartens (8. Aufl., Weim. 1888); Wagner, Illustriertes Spielbuch für Knaben (10. Aufl., Leipz. 1888); Gayette-Georgens, Neues Spielbuch für Mädchen (Berl. 1887); Wolter, Das S. im Hause (Leipz. 1888). Über Gesellschafts- u. Unterhaltungspiele im allgemeinen vgl. Alvensleben, Handbuch der Gesellschaftsspiele (8. Aufl., Weim. 1889); "Encyklopädie der Spiele" (3. Aufl., Leipz.1878); Georgens, Illustriertes Familien-Spielbuch (das. 1882). - Bei den Alten nahmen die großen öffentlichen Kampfspiele (s. d.) die oberste Stelle ein, aber auch gesellige Spiele hatten sie in nicht geringer Zahl, namentlich die Griechen, so bei Gelagen den Weinklatsch (s. Kottabos), das bei Griechen und Römern sehr beliebte Ballspiel (s. d.) und Würfelspiel (s. Würfel), das Richterspiel der Kinder etc. Ein Brettspiel (petteia), nach der Sage eine Erfindung des Palamedes, erscheint bereits bei Homer als Unterhaltung der Freier in Ithaka ("Odyssee", I, 107); doch fehlt uns nähere Kunde über die Art der griechischen Brettspiele. Unserm Schach- oder Damenspiel scheint das sogen. Städtespiel ähnlich gewesen zu sein. Von den verschiedenen Gattungen der römischen Brettspiele sind einigermaßen bekannt der ludus latrunculorum (Räuberspiel), eine Art Belagerungsspiel, wobei die Steine in Bauern und Offiziere geteilt waren und es galt, die feindlichen Steine zu schlagen oder festzusetzen, und der ludus duodecim scriptorum, das S. der 12 Linien, bei welchem auf einem in zweimal 12 Felder geteilten Wurfbrett das Vorrücken der 15 je weißen und schwarzen Steine durch die Höhe des jedem Zug vorangehenden Würfelwurfs bestimmt wurde. Sehr beliebt war im Altertum das Fingerraten, noch heute in Italien verbreitet als Moraspiel (s. Mora). Vgl. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum (Würzb. 1864-81, 3 Tle.); Becq de Fouqiers, Les jeux des anciens (2. Aufl., Par. 1873); Ohlert, Rätsel und Gesellschaftsspiele der alten Griechen (Berl. 1886); Richter, Die Spiele der Griechen und Römer (Leipz. 1887). - Aus der deutschen Vorzeit wird als vornehmstes Volksspiel der Schwerttanz erwähnt, neben welchem Steinstoßen, Speerwerfen, Wettlaufen beliebt waren. Auch das Kegeln und das stets mit Leidenschaft betriebene Würfelspiel sind uralt. Während das Landvolk an diesen Spielen festhielt, wandten sich die höfischen Kreise der Ritterzeit vorwiegend den Kampfspielen zu, aus denen sich unter fremdem Einfluß die eigentlichen Ritterspiele (Tjost, Buhurt, Turnier) entwickelten. Daneben wurde das Ballspiel (von der weiblichen Jugend) und als beliebteste Verstandesspiele das Brettspiel und das Schachspiel (seit dem 11. Jahrh.) eifrig betrieben. In der spätern Zeit des Mittelalters trat, namentlich in den Städten, das Spielen um Geld in den Vordergrund. Vgl. Schultz, Das höfische Leben im Mittelalter, Bd. 1 (2. Aufl., Leipz. 1889); Kriegk, Deutsches Bürgertum im Mittelalter (Frankf. 1868 u. 1871); Weinhold, Die deutschen Frauen im Mittelalter (2. Aufl., Wien 1882). Spiel (Stoß), in der Jägersprache der Schwanz des Fasans sowie des Auer- und Birkwildes. Spielart, s. Art. Spielbanken, s. Glücksspiele. Spielbein, s. Standbein. Spielberg, 1) ehemalige Festung, s. Brünn. - 2) Berg im Frankenjura, s. Hahnenkamm. Spielhagen, Friedrich, hervorragender Romanschriftsteller, geb. 24. Febr. 1829 zu Magdeburg als Sohn eines preußischen Regierungsrats, verbrachte seine Jugend in Stralsund und ward an diesem Teil der Ostseeküste und auf der Insel Rügen im eigentlichsten Wortsinn heimisch, so daß diese Landschaften den Hintergrund für beinahe alle seine spätern poetischen Schöpfungen abgeben. Nachdem er das Gymnasium zu Stralsund absolviert, studierte er von 1847 an, die ursprünglich geplanten medizinischen Studien bald aufgebend, Philologie und Philosophie zu Bonn, Berlin und Greifswald, war einige Zeit Hauslehrer in einer aristokratischen Familie und ging 1854 nach Leipzig, um sich als Dozent an der Universität zu habilitieren. Seine litterarischen Studien und Beschäftigungen führten ihn inzwischen um so ausschließlicher auch dem litterarischen Beruf zu, als er die Unvereinbarkeit einer philologischen Dozentenkarriere und poetischer Bestrebungen erkannte. Neben kritischen Essays trat er mit vorzüglichen Übertragungen, z. B. von Emersons "Englischen Charakterzügen" (Hannov. 1858), Roscoes "Lorenzo von Medici" (Leipz. 1859), Michelets Werken: "Die Liebe" (das. 1859), "Die Frau" (das. 1860) und "Das Meer" (das. 1861) sowie mit der Sammlung "Amerikanische Gedichte" (das. 1859, 3. Aufl. 1871), hervor. Die Hauptsache aber blieb die eigne Produktion. Die Novelle "Klara Vere" (Hannov. 1857) und das graziöse Idyll "Auf der Düne" (Hannov. 1858) wurden nur von kleinen Kreisen als Proben eines ungewöhnlichen Talents beachtet. Eine um so glänzendere Aufnahme fand der erste größere Roman des Autors: "Problematische Naturen" (Berl. 1860, 4 Bde.; 12. Aufl., Leipz. 1887), mit seiner abschließenden Fortsetzung: "Durch Nacht zum Licht" (Berl. 1861, 4 Bde.; 10. Aufl. 1885). Dieser Roman gehörte durch Originalität der Erfindung, durch psychologische Feinheit der Charakteristik, höchste Lebendigkeit des Kolorits und eine in den meisten Partien künstlerisch vollendete Darstellung zu den besten deutschen Romanproduktionen der Neuzeit und lenkte die Aufmerksamkeit der gebildeten Lesewelt dauernd auf den Autor. S. war inzwischen 1859 von Leipzig nach Hannover übergesiedelt, hatte dort die Redaktion des Feuilletons der "Zeitung für Norddeutschland" übernommen und sich verheiratet. Ende 1862 nahm er seinen dauernden Wohnsitz in Berlin, von wo aus er größere Reisen (nach der Schweiz, Italien, England, Paris etc.) unternahm, redigierte hier kurze Zeit die "Deutsche Wochenschrift" und das Dunckersche "Sonntagsblatt", trat mehrfach mit öffentlichen Vorträgen auf, konzentrierte sich aber zuletzt immer ausschließlicher auf die Produktion. Auch von der Herausgabe von Westermanns "Illustrierten deutschen Monatsheften", die er 1878 übernommen, trat er 1884 wieder zurück. Sein zweiter großer Roman: "Die von Hohenstein" (Berl. 1863, 4 Bde.; 6. Aufl. 1885), der die revolutionäre Bewegung des Jahrs 1848 zum Hintergrund hatte, eröffnete eine Reihe von Romanen, welche die Bewegungen der Zeit und zwar ebensowohl die zufälligen und äußerlichen wie die wirklich tief eingreifenden und echte Menschennaturen wahrhaft bewegenden zu spiegeln unternahmen. War hierdurch ein gewisses Übergewicht des tendenziösen Elements gegenüber dem poetischen unvermeidlich, und standen die Romane: "In Reih und Glied" (Berl. 1866, 5 Bde.; 5. Aufl. 1880, 2 Bde.) und "Allzeit voran!" (das. 1872, 3 Bde.; 6. Aufl. 1880) wie die Novelle "Ultimo" (Leipz. 1873) allzu stark unter der Herrschaft momentan in der preußischen Hauptstadt herrschender Interessen, Erscheinungen und Stimmungen, welche der Dichter mit all seiner Kunst nicht zur Poesie zu erheben vermochte, so erwiesen andre freiere Schöpfungen den Gehalt, die Spielhonorar - Spielkarten. Lebensfülle und die künstlerische Reife des Spielhagenschen Talents. Neben der Novelle "In der zwölften Stunde" (Berl. 1862), den unbedeutendern: "Röschen vom Hof" (Leipz. 1864), "Unter den Tannen" (Berl. 1867), "Die Dorfkokette" (Schwer. 1868), "Deutsche Pioniere" (Berl. 1870), "Das Skelett im Hause" (Leipz. 1878) u. den Reiseskizzen: "Von Neapel bis Syrakus" (das. 1878) schuf S., unabhängig von den momentanen Tagesereignissen oder sie nur in ihren großen, allgemein empfundenen Wirkungen auf das deutsche Leben darstellend, die Romane: "Hammer und Amboß" (Schwerin 1868, 5 Bde.; 8. Aufl. 1881), "Was die Schwalbe sang" (Leipz. 1872, 2 Bde.; 6. Aufl. 1885) und "Sturmflut" (das. 1876, 3 Bde.; 5. Aufl. 1883), ein Werk, worin der Dichter, besonders im ersten und letzten Teil, auf der vollen Höhe seiner Darstellungskraft und Darstellungskunst steht; den Roman "Platt Land" (das. 1878); die feine, in Motiven und Detaillierung etwas allzusehr zugespitzte Novelle "Quisisana" (das. 1879) sowie die neuesten Romane: "Angela" (das. 1881, 2 Bde.), "Uhlenhans" (das. 1884, 2 Bde.), "Was will das werden" (das. 1886, 3 Bde.), "Noblesse oblige" (das. 1888), "Ein neuer Pharao" (1889) u. a. Nur in den kleinern Werken: "Deutsche Pioniere" und "Noblesse oblige", streifte S. vorübergehend das Gebiet des historischen Romans, sonst schöpfte er Handlungen und Gestalten aus der jüngsten Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart. Mit dem nach einer eignen Novelle (7. Aufl., Leipz. 1881) bearbeiteten und an mehreren Theatern erfolgreich aufgeführten Schauspiel "Hans und Grete" (Berl. 1876) wendete sich der Dichter auch der Bühne zu. Größern Erfolg hatte das Schauspiel "Liebe für Liebe" (Leipz. 1875), in dem die Kritik neben novellistischen Episoden einen wahrhaft dramatischen Kern anerkannte. Neuerdings brachte er die Schauspiele: "Gerettet" (Leipz. 1884) und "Die Philosophin" (das. 1887). Von S. erschienen außerdem: "Vermischte Schriften" (Berl. 1863-l868, 2 Bde.), "Aus meinem Skizzenbuch" (Leipz. 1874), "Skizzen, Geschichten und Gedichte" (das. 1881), und "Beiträge zur Theorie und Technik des Romans" (das. 1883). Von seinen "Sämtlichen Werken", die auch die bis dahin zerstreuten innigen und formschönen Gedichte des Autors enthalten, erschienen bisher 18 Bände (Leipz. 1875-87). Vgl. Karpeles, Friedr. S. (Leipz. 1889). Spielhonorar, am Theater die dem Darsteller für sein jedesmaliges Auftreten festgesetzte, in der Gage nicht mit inbegriffene Summe. Der Brauch stammt aus Frankreich und war bereits im 18. Jahrh. in Deutschland eingeführt. Spielhuhn, s. v. w. Birkhuhn. Spielkarten, länglich-viereckige Blätter von steifem Papier, welche auf einer Seite mit Figuren und Zeichen von besonderer Bedeutung bemalt sind, und die in bestimmt zusammengesetzter Anzahl "ein Spiel Karten" bilden, mittels dessen man eine große Menge von Hasard- und Unterhaltungsspielen ausführt. Absehend von der früh und selbständig entstandenen chinesischen Karte (bemalte Holz- oder Elfenbeintäfelchen), unterscheidet man zwei Hauptgattungen: die Tarock- und die Vierfarbenkarte. Alle Formen der Tarockkarte, ältere wie neuere, bieten 21 besondere Bilder (Tarocks), deren Rang durch aufsteigende Ziffern bezeichnet ist, ferner einen Harlekin von der Größe des ganzen Blattes (den Sküs) und 4 Reiterbilder (Kavalls). Von Vierfarbenkarten gibt es drei Arten, als deren gemeinschaftliches Merkmal gilt, daß dieselben Wertzeichen viermal in einem Spiel unter verschiedener Auszeichnung (Farben) vorhanden sind. Die Trappola- oder Trappelierkarte, die älteste der in Deutschland eingeführten Karten, kam wahrscheinlich aus Italien. Sie besteht aus viermal 13 Blättern: Re, Cavallo, Fante, Zehn, Neun, Acht, Sieben, Sechs, Fünf, Vier, Drei, Zwei und Asso mit den Emblemen Spade (Schwerter), Coppe (Kelche), Denari (Pfennige) und Bastoni (Stöcke). Meist braucht man von diesen Karten 40 (Zehn, Neun, Acht werden abgelegt). In der schlesischen Trappelierkarte fehlen Sechs, Fünf, Vier, Drei; sie hat also 36 Blätter. Die deutsche Karte zählt 32 Blätter, von denen je acht Daus (As), König, Ober, Unter, Zehn, Neun, Acht und Sieben darstellen und durch die Farben Eicheln (Eckern), Grün, Rot (Herzen) und Schellen unterschieden sind. Die früher noch vorhandenen Sechsen sind jetzt fast in allen Gegenden aus der deutschen Karte geschwunden. Die jetzt wohl am meisten verbreitete französische Karte (Whistkarte) von 52 Blättern hat Treff (schwarze Kleeblätter), Pik (schwarze Lanzenspitzen), Coeur (rote Herzen) und Karo (rote Vierecke) zu Unterscheidungszeichen und besteht aus König, Dame, Bube und der Zahlenfolge Eins bis Zehn (52). In Süddeutschland, wo man vielfach französische Karten benutzt, heißen die vier Farben Kreuz (Treff), Schippen (Pik), Herz (Coeur) und Eckstein (Karo). Der Ursprung der S. bedarf noch sehr der Aufhellung. Zwar nicht eigentliche S., aber doch ähnlichen Zwecken dienende elfenbeinerne und hölzerne, mit Figuren bemalte Täfelchen hatten die Chinesen und Japaner schon längst, ehe die Karten bei uns bekannt waren. Wer sie in Europa eingeführt hat, darüber wissen wir nichts Sicheres. Die erste sicher beglaubigte Erwähnung der S. datiert aus dem Jahr 1392, wo der Schatzmeister Karls VI. von Frankreich in seinem Ausgabebuch eine Zahlung für drei Spiele Karten in Gold und Farben an den Maler Jacquemin Gringonneur verzeichnet hat. Die S. können also nicht erst, wie behauptet worden, zur Unterhaltung für den geisteskranken König Karl erfunden worden sein. Wahrscheinlich ist es, daß die Sarazenen die S. in Europa eingeführt haben. Die ältesten S. wurden gemalt, oft mit Aufwand großer Kunstfertigkeit. Besonders waren die deutschen Kartenmacher, welche um 1300 bereits Innungen gebildet zu haben scheinen, berühmt. Nachdem die Erfindung der Holzschneidekunst und des Kupferstichs schrankenlose Vervielfältigung ermöglicht hatte, stieg der Export billiger Karten aus Deutschland außerordentlich, besonders entwickelten Ulm, Augsburg und Nürnberg eine gewinnreiche Kartenindustrie. Wegen ihrer Bedeutung für die Entstehungsgeschichte der Typographie, wegen der Trachtenbilder, welche auf ihnen erhalten sind, nach welcher Richtung hin spätere Abarten der französischen Karte besonders interessantes Material liefern, sind die S. früherer Zeiten von besonderm kulturgeschichtlichen Interesse und werden darum gesammelt (Sammlung von Weigel in Leipzig, hrsg. das. 1865; "Die ältesten deutschen S. des königlichen Kupferstichkabinetts zu Dresden", hrsg. von Lehrs, Dresd. 1885, u. a.). Bei der großen Beliebtheit, deren sich das Kartenspiel bei den gebildeten Nationen erfreut, ist auch heute die Kartenfabrikation ein wichtiger Industriezweig, besonders in Frankreich und Deutschland (Stralsund, Hamburg, Kassel, Naumburg a. S., Frankfurt a. M, München, Stuttgart, Ravensburg, Ulm, Mainz etc.). In den meisten Ländern unterliegen die S. einer Stempelsteuer (s. unten). Die Kartenspiele, deren Zahl sich ins Unübersehbare vermehrt Spielkartenstempel - Spiera. hat, sind teils Glücksspiele (s. d.), teils sogen. Kammer- oder Kommerzspiele, bei welch letztern nicht bloß das Glück, sondern auch die Geschicklichkeit und die Verstandeskräfte der Spielenden ausschlaggebend sind. Die beliebtesten Kartenspiele sind das englische Whist, ferner Skat, Solo, Boston, Mariage etc. Die S. dienen ferner zu Kartenkunststücken, wovon die interessantesten auf gewissen Kunstgriffen (Volteschlagen), einige auf Berechnung arithmetischer Verhältnisse, alle auf Geschwindigkeit und Geschicklichkeit in der Handhabung beruhen. Endlich ist das Kartenschlagen oder Kartenlegen, die Kunst der Kartomantie, welche arabischen Ursprungs sein soll, noch gegenwärtig eins der beliebtesten Mittel, vorzüglich bei den Frauen aus den niedern Volksschichten, um den Schleier der Zukunft zu lüften, und ist besonders bei den Zigeunern zu einem Haupterwerbsmittel ausgebildet worden. Die berühmteste Kartenschlägerin der Neuzeit war die Lenormand (s. d.). Theoretisch behandelten die Kunst Francesco Marcolini in seinen "Sorti" (Vened. 1540) und der Pariser Kupferstichhändler Aliette unter dem Anagramm Etteila im "Cours théorétique et pratique du livre de Thott" (Par. 1790). Die wichtigsten Werke über die Geschichte der S. sind: J. B. Thiers, Traité des jeux (Par. 1686); Breitkopf, Versuch, den Ursprung der S. etc. zu erforschen (Leipz. 1784); Leber, Jeux des tarots et des cartes numérales (Par. 1844, mit 100 Kupfern); Singer, Researches into the history of playing cards (Lond. 1848); Chatto, Origin and history of playing cards (das. 1848); Taylor, History of playing cards (das. 1865); Merlin, Origine des cartes à jouer (Par. 1869). Anweisung zur Erlernung sämtlicher Kartenspiele geben die "Encyklopädie der Spiele" (3. Aufl., Leipz. 1879) und Opel (Erf. 1880). Vgl. auch Schröter, Spielkarte und Kartenspiel (Jena 1885); Signor Domino, Das Spiel, die Spielerwelt und die Geheimnisse der Falschspieler (Bresl. 1886). Spielkartenstempel, eine unter Anwendung der Abstempelung von Spielkarten erhobene Aufwandsteuer. Ein solcher wurde mit der für Sicherung des Eingangs erforderlichen Beaufsichtigung und Kontrollierung der Fabrikation und des Handels 1838 in Preußen eingeführt, nachdem bis dahin der Staat den Alleinhandel mit Spielkarten sich vorbehalten hatte. Eine solche Steuer bestand auch in den meisten andern deutschen Ländern, seit 1878 ist an deren Stelle der S. als Reichsabgabe getreten (30 u. 50 Pf. vom Spiel). Ertrag 1888/89: 1,066 Mill. Mk. Ein solcher Stempel besteht auch in Österreich (30 und 15 Kr. vom Spiel) und in England (seit 1828: 1 Schilling, seit 1862: 3 Pence vom Spiel). Frankreich sichert sich die richtige Erhebung der Spielkartensteuer (50 u. 57 Cent.) dadurch, daß der Staat den nur am Sitz von Steuerdirektionen gestatteten Fabriken das für die Hauptseiten der Karten erforderliche Papier liefert. Die Einfuhr ausländischer Karten ist verboten; wo sie auf Grund von Verträgen zugelassen ist, wird von solchen Karten neben dem Stempel noch ein Zoll erhoben. England erhebt eine jährliche Lizenzgebühr vom Verkäufer von Spielkarten, daneben besteht ein S. In Griechenland hat der Staat seit 1884 das Monopol der Erzeugung und des Verkaufs. Spielleute (Spilman), im Mittelalter Bezeichnung für die fahrenden Sänger, Musikanten, Gaukler etc., welche um Geld ihre Künste vorführten (s. Fahrende Leute). Jetzt heißen S. (Signalisten) die Tamboure und Hornisten der Infanterie im deutschen Heer, deren je zwei bei der Kompanie sind, und die für ihre Ausbildung unter dem Bataillonstambour (beim ersten Bataillon jedes Regiments Regimentstambour genannt) stehen. Reservespielleute sind je zwei Mann pro Kompanie, welche im Gebrauch der Instrumente ausgebildet werden, aber sonst Dienst mit der Waffe thun. Spielmarke, s. Jeton. Spieloper, eine Oper mit lustspielartiger Handlung und leichter, gefälliger Musik, im Gegensatz zur ernsten dramatischen Musik der großen Oper. Spielpapiere, s. v. w. Spekulationspapiere (s. Spekulation). Spieluhr, ein Uhrwerk, welches zu bestimmten Zeiten, etwa nach Ablauf einer Stunde, ein oder mehrere musikalische Stücke spielt. Bei den Glockenspieluhren, welche früher nicht selten mit Turmuhren verbunden wurden, schlagen kleine, durch eine Stift- oder Daumenwalze gehobene Hämmer in bestimmter Abwechselung taktmäßig an abgestimmte Glocken. In ähnlicher Weise wurden auch Flötenwerke und Harfensaiten mit Uhrwerken in Verbindung gebracht. Gegenwärtig sind die sogen. Stahlspielwerke (Carillons) am gebräuchlichsten, welche sich in einem kleinen Raum (in Taschenuhren, Dosen, Albums etc.) unterbringen lassen. Sie bestehen aus abgestimmten Stahlfedern, welche durch die Stifte einer mittels des Uhrwerks in Umdrehung versetzten Walze geschnellt werden. Befindet sich ein solches Spielwerk in einer Uhr, so ist dasselbe von dem Gang- und Schlagwerk derselben ganz unabhängig, indem es selbständig durch ein Gewicht oder eine Feder getrieben wird, und es findet eine Verbindung zwischen beiden nur in der Weise statt, daß das Uhrwerk in bestimmten Zeiten das Spielwerk auslöst, d. h. seine Triebkraft frei macht, worauf letzteres sofort zu spielen beginnt und damit fortfährt, bis es durch die Arretierung wieder zum Stillstehen gebracht wird. Die Stahlspielwerke werden hauptsächlich in der Schweiz angefertigt. Spielwaren, Arbeiten aus verschiedenen Stoffen (Metall, Elfenbein, Knochen, Holz, Pappe, Papiermaché, Leder, Wachs, Kautschuk etc.) zur Unterhaltung und Beschäftigung der Kinder, gegenwärtig Gegenstand eines bedeutenden Industriezweigs, der für die ganz ordinären bis mittelfeinen Artikel seinen Hauptsitz im sächsischen Erzgebirge (Seiffen, Grünhainichen etc.), in Oberammergau und in der Rauhen Alb in Württemberg, für mittelfeine bis feinere Waren in Sonneberg und Umgegend in Thüringen, für noch bessere und beste Qualität in Nürnberg, Stuttgart und Berlin hat. Nürnberg und Stuttgart konkurrieren in hochfeiner Ware erfolgreich mit Paris. Die Gesamtproduktion Deutschlands schätzt man auf 400,000 Ztr. im Wert von 30-36 Mill. Mk. Die Herstellung von S. reicht zurück bis in die prähistorische Zeit. In den bronzezeitlichen Pfahlbauten der Westschweiz wurden bronzene und irdene Gegenstände ausgegraben, die den heutigen Kinderrappeln ähneln und offenbar demselben Zweck wie diese gedient haben. Ähnliche Objekte wurden auch in Schlesien, der Mark Brandenburg etc., Spielwürfel aus Knochen oder Bronze zu La Tène (s. Metallzeit, S. 528), unweit Este und zu Sackrau (bei Breslau) ausgegraben. Die in alten Gräbern aufgefundenen Sprungbeine (astragali) von Schafen, Ziegen und Kälbern haben nach Bolle zum Knöchelspiel gedient. Spiera, Francesco, "der Apostat", geboren um 1498, war als Rechtsgelehrter zu Citadella bei Padua 1542 evangelisch geworden, schwor aber, von der Inquisition bedroht, 1547 die gewonnene Überzeugung Spieren - Spill. ab, um sofort ein Opfer rasender Verzweiflung zu werden. Sein 1548 erfolgtes trauriges Ende war entscheidend für den Übertritt des P. P. Vergerio (s. d.). Sein Leben beschrieben Comba (ital., Flor. 1872) und Rönneke (Hamb. 1874). Spieren, die Rundhölzer des Schiffs, besonders diejenigen zum Ausspannen der Leesegel an ihrem untern Liek; unbearbeitete Hölzer, welche Schiffe zum Ersatz zerbrechender Raaen und Stengen mitnehmen. Spierlingsvogelbeere, s. Sorbus. Spierstaude (Spierstrauch), s. Spiraea. Spieß, Stoßwaffe mit langem Schaft und dünner Eisenspitze, s. v. w. Pike (s. d.). Spieß, 1) Christian Heinrich, Schriftsteller auf dem Gebiet des niedern Romans, geb. 1755 zu Freiberg i. S., war längere Zeit Mitglied einer wandernden Schauspielergesellschaft und wurde darauf als Wirtschaftsbeamter auf dem Schloß Betzdiekau in Böhmen angestellt, wo er 17. Aug. 1799 starb. Anfangs schrieb er Schauspiele; später lieferte er besonders Romane, jede Messe einige Bände (z. B. "Der alte Überall und Nirgends", Geistergeschichte, 1792; "Das Petermännchen", 1793; "Der Löwenritter", 1794; "Die zwölf schlafenden Jungfrauen", 1795, etc.), die wohl noch jetzt in den untern Schichten der Gesellschaft Leser finden und sich insgemein durch wüste Erfindung und platte Ausführung charakterisieren. Vgl. Appell, Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik (Leipz. 1859). 2) Adolf, Begründer einer neuen Richtung des Schulturnens, geb. 3. Febr. 1810 zu Lauterbach am Vogelsberg, wuchs in Offenbach auf und widmete sich mehr und mehr der Pflege und Förderung der Leibesübungen, nachdem er das anfänglich ergriffene Studium der Theologie aufgegeben hatte. 1833-44 an den Schulen von Burgdorf im Kanton Bern, dann 1844-48 in Basel angestellt, entfaltete er hier eine erfolgreiche, eigenartige Thätigkeit als Turnlehrer und Schriftsteller. 1848 zur Leitung des hessischen Schulturnens nach Darmstadt berufen, wirkte er in dieser Stellung mit weit über die Grenzen dieses Landes hinausgehendem Erfolg, bis ihn 1855 ein von früh an in ihm keimendes Lungenleiden, dem er 9. Mai 1858 erlag, von seiner Thätigkeit zurückzutreten zwang. S.' Verdienst ist es, die Gebiete der Freiübungen (s. d.) und Ordnungsübungen (s. d.) für die Turnkunst erschlossen und systematisch erschöpft sowie die Betriebsform der Gemeinübungen auch für andre Turngebiete eingeführt zu haben. Auch hat er dem Mädchenturnen zuerst entscheidend Bahn gebrochen und überhaupt ein eigentliches Schulturnen erst ins Leben gerufen. Sein Hauptwerk ist die systematische "Lehre der Turnkunst" (Basel 1840-46, 4 Tle.; 2. Aufl. 1867-85). Zur Anleitung für den Schulturnunterricht ist bestimmt sein "Turnbuch für Schulen" (Basel 1847-51, 2 Tle.; 2. Aufl. von Lion, 1880-89). S.' "Gedanken über die Einordnung des Turnwesens in das Ganze der Volkserziehung" (Basel 1842) sind mit anderm zusammengefaßt nebst Beiträgen zu seiner Lebensgeschichte in seinen "Kleinen Schriften über Turnen" (hrsg. von Lion, Hof 1872). Vgl. Waßmannsdorff, Zur Würdigung der Spießschen Turnlehre (Basel 1845). Spießbock, s. Antilopen, S. 640. Spießbock, Käfer, s. Bockkäfer. Spießbürger, ursprünglich arme, nur mit Spießen bewaffnete Bürger als Fußsoldaten; jetzt verächtliche Bezeichnung für engherzige, beschränkte Kleinbürger. Spieße, s. Geweih. Spießer, in der Jägersprache der einjährige Hirsch; Spießbock, das einjährige männliche Reh, solange es Spieße trägt, was auch bisweilen noch bei ältern Stücken der Fall ist (s. Spießglanz, s. v. w. Antimon; Spießglanzbleierz, s. v. w. Bournonit; Spießglanzbutter, s. v. w. Antimonchlorid; Spießglanzkönig, s. v. w. Antimon. Spießglas, s. v. w. Antimon. Spießglassilber, s. Antimonsilber. Spießlein (Wurf), in Nürnberg s. v. w. Spießlerche, s. Pieper. Spießrecht (Recht der langen Spieße), das Recht der Landsknechtsregimenter, schwere Verbrechen selbst abzuurteilen, sowie der Rechtsgang dabei. Spießrutenlaufen (Gassenlaufen), militär. Leibesstrafe, welche früher wegen schwerer Vergehen durch Kriegs- oder Standgericht über gemeine Soldaten verhängt wurde, und bei deren Ausführung, unter Aufsicht von Offizieren, ein oder mehrere hundert Mann mit vorgestelltem Gewehr eine etwa 2 m breite Gasse bildeten, welche der bis zum Gürtel entblößte Verurteilte mit auf der Brust zusammengebundenen Händen und eine Bleikugel zwischen den Zähnen haltend, um "sich den Schmerz zu verbeißen", mehrmals langsam bei Trommelschlag durchschreiten mußte. Hierbei erhielt er von jedem Soldaten mit einer Hasel- oder Weidenrute (Spieß- oder Spitzrute) einen Schlag auf den Rücken. Bei der Kavallerie wurden, in Preußen bis 1752, statt der Ruten Steigbügelriemen (daher Steigriemenlaufen) verwendet. Um den Verurteilten am schnellen Gehen zu hindern, schritt ein Unteroffizier mit ihm vor die Brust gehaltener Säbelspitze voran. Ein sechsmaliges S. durch 300 Mann an 3 Tagen mit Überschlagen je eines Tags wurde der Todesstrafe gleich geachtet, hatte aber auch gewöhnlich den Tod zur Folge. Konnte der Verurteilte nicht mehr gehen, so wurde er auf Stroh gelegt und erhielt dann die festgesetzte Anzahl von Streichen. Diese barbarische Strafe wurde in Preußen 1806, in Württemberg 1818, in Österreich 1855, in Rußland erst 1863 abgeschafft. Ähnliche Strafen waren auch bei den Römern im Gebrauch, s. Fustuarium. Bei den Landsknechten (s. d.) war es das "Recht der langen Spieße", aus dem das S. Spießtanne, s. Cunninghamia. Spik, s. v. w. Lavandula Spica; s. auch Valeriana. Spiköl (Spicköl), s. Lavendelöl. Spilanthes Jacq. (Fleckblume), Gattung aus der Familie der Kompositen, meist behaarte, einjährige Kräuter mit einfachen, gegenständigen Blättern und einzeln stehenden, gelben Blütenköpfen. Von den mehr als 40 Arten in den Tropen der Alten und Neuen Welt wird S. oleracea Jacq., die Parakresse, in den Tropen als Salat- und Gemüsepflanze, bei uns als Zierpflanze kultiviert. In Südeuropa benutzt man sie gegen Skorbut und bei uns eine aus dem Kraut bereitete Tinktur (Paraguay-Roux) gegen Zahnschwerz. Spilimbergo, Distriktshauptstadt in der ital. Provinz Udine, am Tagliamento, hat ein altes Schloß, eine Kirche mit Gemälden von Pordenone u. a., Seidenfilanden, Handel und (1881) 1732 Einw. Spill, Vorrichtung zum Einwinden der Ankerkette, zum Einholen von Trossen, wenn ein Schiff verholt werden soll, oder zum Heben schwerer Lasten. Ein S. besteht aus einer eisernen, bei Gangspillen vertikal, bei Bratspillen horizontal gelagerten Welle (mit einer Armatur aus Gußeisen zur Aufnahme der Ankerkette und aus Holz zum Umlegen von Trossen) und dem Spillkopf, welcher Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Spillage - Spindler. nungen zum Einstecken der Spillspaken versehen ist, mit deren Hilfe man den Apparat in Rotation versetzt. Palldaumen oder Sperrklinken verhindern, daß das S. sich rückwärts dreht. Auf Dampfschiffen wird das S. gewöhnlich durch eine kleine Dampfmaschine in Bewegung gesetzt. In neuerer Zeit werden die Spille vielfach ganz aus Eisen gebaut. Spillage (spr. -ahsche), Verlust an auf Schiffen beförderten Waren infolge mangelhafter Verpackung. Spillbaum, s. Evonymus. Spille, im Altdeutschen s. v. w. Spindel oder Kunkel, daher die deutschrechtlichen Ausdrücke: Spillgelder, Spilllehen, Spillmage, Spillseite u. dgl. Spillgelder, s. Nadelgeld. Spilling, s. Pflaumenbaum. Spilllehen (Kunkellehen), ein Lehen, welches auch auf Frauen vererblich war. Spillseite (Spindelseite, Spillmagen), im altdeutschen Recht die Verwandten mütterlicherseits im Gegensatz zu der Schwertseite oder den Schwertmagen (s. d.), den Verwandten von der Seite des Schwerts, dem Mannesstamm. Vgl. Mage. Spilographa, s. Bohrfliege. Spin., Abkürzung für Max von Spinola, Graf von Tassarolo, geb. 1780 zu Toulouse, gest. 1857 auf Tassarolo bei Genua (Entomolog). Spina (lat.), Dorn, Stachel, Gräte; auch Rückgrat (S. dorsi); in der altrömischen Rennbahn die niedrige Mauer, an deren Enden die zu umkreisenden Ziele standen (s. Circus). S. bifida, Rückgratsspalte (s.d.). Spinacia Tourn. (Spinat), Gattung aus der Familie der Chenopodiaceen, einjährige, aufrechte, kahle Kräuter mit abwechselnden, gestielten, dreieckig ei- oder spießförmigen, ganzrandigen oder buchtig gezahnten Blättern, diözischen Blüten in geknäuelten Wickeln, die der weiblichen Pflanze meist unmittelbar in den Blattachseln, die der männlichen zu unverbrochenen, terminalen und achselständigen Scheinähren geordnet. Vier orientalische Arten. S. oleracea L. (gemeiner Spinat), 30-90 cm hoch, soll durch die Araber zuerst nach Spanien gebracht und von dort weiter verbreitet worden sein. Man kultiviert ihn jetzt als Gemüsepflanze in zwei Varietäten, als Sommerspinat (großer, holländischer Spinat, S. oleracea inermis Mönch), mit länglich-eirunden oder stumpf dreieckigen Blättern und glattem Fruchtperigon, und als Winterspinat (S. oleracea spinosa Mönch), mit spießförmig zweizähnigen Blättern und stachligem Fruchtperigon. Diese Varietät säet man im Herbst und schneidet sie im Frühjahr; den Sommerspinat bevorzugt man als Sommergewächs, weil er weniger leicht in Samen schießt. Die Blätter liefern ein zartes Gemüse, welches mild abführend wirkt. Es enthält 2,189 eiweißartige Körper, 0,292 Fett, 0,058 Zucker, 2,378 sonstige stickstofffreie Substanzen, 0,551 Cellulose, 1,152 Asche, 93,380 Wasser. In Griechenland füllt man Gebäck mit Spinat und einigen Gewürzkräutern als Fastenspeise; in Frankreich verbäckt man den Samen zu Brot. Spinalis (lat.), was auf das Rückgrat Bezug hat, daher Medulla s., das Rückenmark; Spinalkrankheiten, die Krankheiten des Rückenmarks. Spinalmeningitis, Entzündung der Rückenmarkshäute. Spinalnerven, s. Rückenmark. Spinalneuralgie (Spinalirritation), die im Verlauf der Rückenmarksnerven auftretenden Schmerzen, sind entweder bedingt durch anatomisch nachweisbare Erkrankungen 1) der Wirbelkörper, z. B. bei Frakturen der Wirbelknochen, durch Verrenkungen oder Quetschungen der Bandscheiben, durch eingedrungene Geschosse oder knöcherne Auswüchse, welche auf das Rückenmark oder die aus diesem entspringenden Empfindungsnerven einen Druck ausüben; 2) durch Entzündungen oder Geschwulstbildungen in den Rückenmarkshäuten, welche sich z. B. bei den häufigen syphilitischen Erkrankungen auch auf die Scheide der Nerven fortsetzen; 3) durch Entzündungen, Geschwülste, Entartungen des Rückenmarks selbst; S. ist daher ein regelmäßiges Symptom der Rückenmarksschwindsucht. Diese große Gruppe von Fällen bietet der ärztlichen Diagnose gewöhnlich keine besondere Schwierigkeit, da die S. als solche nur Teilerscheinung ist neben Lähmungen, Krampfzuständen und andern schweren, oft tödlichen Komplikationen, so daß demnach die S. bei der Behandlung nur als Symptom berücksichtigt wird. Als reine Neurose kommt die S. vor bei Personen, welche durch voraufgegangene schwere Gemütsbewegungen, körperliche oder geistige Überanstrengungen, Exzesse aller Art in ihrer Gesundheit tief erschüttert sind. Neben dem Gefühl von Kriebeln, Taubsein oder Kälte in der Haut des Rückens und der Extremitäten klagen die Kranken über Rückenschmerzen, welche besonders bei Druck auf die Dornfortsätze lebhaft werden (Irritatio spinalis), während Lähmungen meistens fehlen oder nur in untergeordnetem Grad auftreten. In diesen Fällen ist die S. eine bloße Funktionsstörung des spinalen Nervensystems, welche gewöhnlich Teilerscheinung einer allgemeinen Nervenschwäche ist, kein bedrohliches Symptom darstellt, sondern bei geeigneter Behandlung verschwindet (s. Nervenschwäche). Spinalsystem (Vertebralsystem), das Rückenmark mit den von ihm ausgehenden Nerven. Spinat, Pflanzengattung, s. Spinacia; englischer oder ewiger S., s. v. w. Rumex Patientia: neuseeländischer S., s. v. w. Tetragonia expansa; wilder S., s. Atriplex. Spina ventosa (lat.), s. Winddorn. Spinazzola, Stadt in der ital. Provinz Bari, Kreis Barletta, mit 6 Kirchen und (1881) 10,353 Einw.; Geburtsort des Papstes Innocenz XII. Spindel, in der Technik ein langer, dünner, an einem oder an beiden Enden zugespitzter Körper, wie er seit alters beim Spinnen benutzt wird; dann jede dünne stehende Welle (Bohrspindel, Schraubenspindel etc.), auch die Welle der Unruhe in den Spindeluhren. In der Botanik heißt S. (Rhachis) die Hauptachse der Ähre (s. Blütenstand, S. 80). Spindelbaum, Pflanzengattung, s. Evonymus. Spindelsträucher, s. Celastrineen. Spindeluhr, s. Uhr. Spindler, Karl, Romanschriftsteller, geb. 16. Okt. 1796 zu Breslau, ward in Straßburg erzogen. Das juristische Studium gab er auf, nachdem er sich dem französischen Kriegsdienst durch Flucht entzogen, und wurde Schauspieler, bis er in der Pflege seines außerordentlichen Erzählertalents seinen eigentlichen Beruf erkannte. Er lebte nacheinander in Hanau, Stuttgart, München, zuletzt in Baden-Baden und starb 12. Juli 1855 in Bad Freiersbach. Unter seinen zahlreichen Romanen (neue Ausg., Stuttg. 1854 bis 1856, 95 Bde.; Auswahl 1875-77, 14 Bde.) sind die bedeutendsten: "Der Bastard" (Zürich 1826, 3 Bde.; aus der Zeit Kaiser Rudolfs II.), "Der Jude" (Stuttg. 1827, 4 Bde.; eine Sittenschilderung aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh.), "Der Jesuit" (das. 1829, 3 Bde.), "Der Invalide" (das. 1831, 5 Bde.) und "Der König von Zion" (das. 1837, 3 Bde.), Spinell - Spinnen. deren Vorzüge ihm einen der ersten Plätze unter den deutschen Erzählern anweisen. 1829 erschien unter seiner Redaktion die "Damenzeitung", 1830-49 das Taschenbuch "Vergißmeinnicht". Spinell, Mineral aus der Ordnung der Anhydride, findet sich in gewöhnlich kleinen, regulären Kristallen, einzeln ein- oder aufgewachsen, sehr häufig, namentlich auf sekundärer Lagerstätte, in Kristallfragmenten u. Körnern. S. ist meist rot, auch braun, blau, grün und schwarz. Der rote wird beim Erhitzen vorübergehend grün, dann farblos, nach dem Erkalten aber wieder rot. Die licht gefärbten Spinelle sind durchsichtig, die dunklern durchscheinend bis undurchsichtig, alle glasglänzend. Härte 8, spez. Gew. 3,5-4,1. Der rote, durchsichtige (edle) S. ist ein Magnesiumaluminat MgAl2O4, wahrscheinlich durch etwas Chrom gefärbt. Eine blaue Abart enthält bis 2,5 Proz. Eisen, der grasgrüne Chlorospinell 6-10 Proz. Eisen und etwas Kupferoxyd als färbendes Prinzip, während der schwarze S. (Pleonast, Ceylanit) nach der Formel (Mg,Fe),(Al,Fe)2O4 zusammengesetzt ist. Edler S. (s. Tafel "Edelsteine", Fig. 14) findet sich fast nur auf sekundärer Lagerstätte, in Ceylon, Ostindien und Australien, der blaue zu Aker in Södermanland. Chlorospinell entstammt einem Chloritschiefer von Slatoust; Pleonast tritt in Silikatgesteinen und Kalken oder auch lose auf, so besonders am Monzoniberg in Südtirol, am Vesuv, auf Ceylon, zu Warwick und Amity in New York. S. ist ein geschätzter Edelstein und besitzt in seinen gesättigt ponceauroten Varietäten etwa den halben Wert eines gleichgroßen Diamanten. Tiefroter S. kommt auch als Rubinspinell, licht rosenroter als Rubinbalais (Balasrubin), violetter als Almandinspinell und gelbroter als Rubicell (Rubicill) in den Handel. Die zuletzt genannten drei Sorten stehen den edlen Spinellen an Wert bedeutend nach. Kochenille- und blutroter S. kursiert wohl auch als Goutte de Sang ("Blutstropfen"). Pleonaste dienen als Trauerschmuck. Eine Anzahl von Mineralspezies, deren einzelne Glieder als isomorphe Körper untereinander eng verknüpft sind, faßt man als Spinellgruppe zusammen. Sie kristallisieren sämtlich im regulären System, am häufigsten in Oktaedern und oktaedrischen Zwillingen, nach dem sogen. Spinalgesetz und sind übereinstimmend nach der allgemeinen Formel RII(RIV2)O4 [s. Bildansicht] zusammengesetzt. Die folgende Tabelle gibt die wichtigsten Spezies der Gruppe und die Elemente, welche sich an der Zusammensetzung beteiligen, in der Reihenfolge ihres Vorwaltens in der betreffenden Verbindung : Arten | RII | (R2)VI Edler Spinell . . . . | Mg, vielleicht Cr | Al Blauer Spinell . . . . | Mg | Al, Fe Chlorospinell . . . . . | Mg, etwas Cu | Al, Fe Pleonast . . . . . . | Mg, Fe | Al, Fe Pikotit . . . . . . . | Fe, Mg | Al, viel Cr Chrompikotit . . . . . | Fe, Mg | Cr, zurücktret. Al Hercynit . . . . . . | Fe, wenig Mg | Al Automolit (Gahnit, Zinkspinell) | Zn | A1 Kreittonit . . . . . . | Zn, Fe, Mg | Al, Fe Dysluit . . . . . . | Zn, Fe, Mn | Al, Fe Franklinit. . . . . . | Zn, Fe, Mn | Fe, Mn Chromit (Chromeisenerz) | Fe, Mg, Cr | Cr, Al, Fe Magneteisen (Magnetit) . | Fe | Fe Talkeisenstein. . . . . | Fe, Mg | Fe Jacobsit . . . . . . | Mn, Mg | Fe, Mn Magnoferrit (Magnesioferrit) | Mg | Fe Uranpecherz . . . . . | U | U Spinellan, s. Nosean. Spinelltiegel, s. Schmelztiegel. Spinett (franz. Epinette), veraltetes Tasteninstrument, kleines Klavicimbal (s. Klavier, S. 816). Spingole, s. Espingole. Spinndrüsen, bei Insekten, Spinnen und einigen andern Tiergruppen diejenigen Organe, welche einen zu feinen Fäden ausziehbaren, rasch erhärtenden Saft absondern und so den Stoff für die bekannten Spinnweben, Kokons und andre derartige Gebilde liefern. Die Larven (Raupen) von Insekten haben zwei sehr lange S., die im Hinterleib liegen und ihren Inhalt dicht am Mund ergießen; bei den Spinnen hingegen münden die S. am Hinterende des Körpers aus. Auch die Byssusdrüse der Muscheln (s. d.) wird wohl als Spinndrüse bezeichnet. Spinnen, s. Spinnentiere. Spinnen (hierzu Doppeltafel "Spinnmaschinen"), aus kurzen Fasern durch Zusammendrehen beliebig lange Fäden (Gespinst, Garn, s. d.) erzeugen. Damit das Garn die größte Gleichmäßigkeit und Festigkeit bekommt, müssen die Fasern nicht nur vor allen etwanigen Verunreinigungen sowie kurzen Härchen befreit, sondern auch gleichmäßig verteilt und in eine parallele Lage gebracht, demnach also gewissen Vorbereitungsarbeiten unterworfen werden, bevor das eigentliche S. stattfinden kann. Je nachdem die verschiedenen Operationen von der Hand mit einfachen Werkzeugen oder von mechanischen Vorrichtungen ausgeführt werden, unterscheidet man Hand- und Maschinenspinnerei. 1) Die Handspinnerei, durch die Maschinen fast verdrängt, wird nur noch von den Landbewohnern zum S. des Flachses und der Wolle benutzt, zeigt aber bereits deutlich die der Spinnerei zu Grunde liegenden Hauptoperationen. Der gehechelte Flachs oder die gewaschene und gekratzte Wolle werden um einen hölzernen Stock (Rocken) a (Textfig. 1) gewunden, den die Spinnerin neben sich aufstellt oder in den Gürtel steckt. Das Ordnen der Fasern bewirkt sie durch Ausziehen derselben mit der einen Hand, während sie mit der andern die Spindel am obern Ende dreht, an welchem der Faden mit einer Schlinge in einem Häkchen oder einem schraubenförmigen Einschnitt so befestigt ist, daß die Drehung auf ihn übertragen wird. Die Spindel b besteht aus einem hölzernen (selten eisernen) Stäbchen von 20-30 cm Länge, das etwa 8 cm vom untern Ende seine größte Stärke, 0,8-1,5 cm, hat u. sich von da aus nach beiden Enden zuspitzt. Etwas unter der stärksten Stelle befindet sich eine kleine Schwungmasse c (Wirtel) aus Zinn oder Horn, in den ältesten Zeiten aus einem durchbohrten Stein bestehend, durch welche die Drehung der Spindel länger erhalten wird, nachdem sie losgelassen und, an dem sich bildenden Faden hängend, allmählich zur Erde sinkt. Ist dies geschehen, so wird der Spinnen (Hand-, Maschinenspinnerei). vom obern Ende der Spindel abgelöst, aufgewickelt und von neuem festgehakt, die Spindel gedreht etc. Viel nutzbringender ist das S. mit dem Spinnrad (Handrad oder Trittrad), durch welches die beiden Operationen des Drehens und Aufwickelns der Hand abgenommen werden, während nur das Ordnen der Fasern (Ausziehen) derselben überlassen bleibt. Bei dem Handrad (Textfig. 2) wird die frei schwebende Spindel a durch das von der rechten Hand an der Kurbel b gedrehte Rad c mittels Schnur ohne Ende in Umdrehung versetzt, während man in der linken das Spinnmaterial (meist Wolle) hält und in geeigneter Menge durch die Finger gleiten läßt. Zunächst wird der Faden gedreht, indem man ihn in der Richtung 1, d. h. unter stumpfem Winkel, gegen die Spindel hält und sich allmählich mit der linken Hand von der Spindel entfernt; hierauf bringt man ihn in die Richtung 2, wodurch er aufgewickelt wird. Bei dem Trittrad (Textfig. 3) ist eine Spindel x y vorhanden, die an beiden Enden gelagert und bei y mit einem sogen. Kopfe versehen ist, welcher der Länge nach eine Durchbohrung mit einem Seitenloch sowie zwei Flügel a a besitzt. Auf der Spindel befindet sich eine hölzerne Spule b zum Aufwickeln des Garns i i. Die Spindel x y erhält nun durch die Schnurrolle r (Wirtel) und die Schnur s, die Spule b durch die Schnurrolle u und die Schnur t, beide von dem durch den Fußtritt f, Schubstange e und Kurbel d in Umdrehung versetzten Schwungrad c aus eine Drehbewegung. Der bei y durch den Kopf gehende, von dem Spinnrocken kommende Faden i wird zunächst durch diese Bewegung gedreht, dann aber über kleine Häkchen des Flügels auf die Spule b geleitet. Da nun letztere entweder einen kleinern oder größern Wirtel u hat als die Spindel, also mehr oder weniger Umdrehungen als diese macht, so muß dadurch das Garn aufgewickelt werden. Um hierbei ein regelmäßiges Bewickeln der Spule zu bewirken, wird der Faden der Reihe nach über andre Häkchen geleitet. 2) Die Maschinenspinnerei, welche jetzt die Regel bildet, erzeugt das Garn in der Weise, daß das Fasermaterial zunächst zum Zweck der Reinigung und Anordnung eine Reihe von Maschinen durchläuft, die dasselbe als ein zusammenhängendes Band abliefern, welches Vorgarn genannt und durch allmähliche Verfeinerung und Drehung in Garn (Feingarn) verwandelt wird. A. Baumwollspinnerei. Die zum Verspinnen bestimmte Baumwolle (s. d.) kommt in sehr stark zusammengepreßten Ballen in die Spinnereien und muß zur Abscheidung der Schmutzteile geöffnet werden. Dies erfolgt in dem Wolf (Öffner, Willow), der sehr verschieden konstruiert, aber in neuester Zeit hauptsächlich in der durch Fig. 4 dargestellten Einrichtung des vertikalen, konischen Willows angewendet wird. Auf der vertikalen Achse a a befinden sich 6-8 runde Blechscheiben 1-6, mit einer Anzahl von Stäben c versehen, welche mit der Achse a a sich mit großer Geschwindigkeit (1000- 1200 Umdrehungen in der Minute) drehen. Die durch den Kanal A zugeführte Baumwolle wird von diesen Schlägern gefaßt und gewaltsam gegen den konischen Korb o p geschleudert, welcher siebartig durchbrochen ist und daher den groben Staub durchläßt, der sich in der Kammer K K ansammelt und zeitweilig entfernt wird. Der feinere Staub dahingegen wird durch eine Trommel E abgesondert, deren Inneres mit dem Ventilator G in Verbindung steht, der dasselbe aussaugt. Obige Trommel G ist nun mit einem Drahtgewebe überspannt, gegen welches durch den Luftzug die aufgelockerte Baumwolle fliegt, um sich von dem Staub zu trennen, der in das Siebinnere und zum Staubturm H gejagt wird. Infolge einer langsamen Drehung der Siebtrommel gelangt die Baumwolle durch D auf das Tuch ohne Ende F, welches sie, im hohen Grad gelockert, aus der Maschine auswirft. Unmittelbar auf dieses Öffnen folgt eine noch weiter gehende Auflockerung und Reinigung in der gewöhnlich doppelten Schlag- oder Flackmaschine (Batteur), deren Einrichtung Fig. 5 im Längsschnitt zeigt. Das Wichtigste an dieser Maschine sind die Schlagvorrichtungen, welche sich in den Kasten c und e befinden und aus einer Welle bestehen, an der mittels Arme zwei Lineale (Schläger) t t befestigt sind, die sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 1500 Umdrehungen in der Minute drehen. Die Baumwolle wird nun auf das Tuch ohne Ende a gelegt und von diesem einem Walzenpaar (Speisewalzen) b übergeben, an dem die Schläger sehr nahe vorbeifliegen, und das sich so langsam dreht, daß auf etwa 1 mm des vorgeschobenen Materials 1 Schlag kommt. Der bei diesem Schlagen frei werdende Staub fliegt zum Teil durch die Roste r d, zum Teil durch die Siebtrommel d mit Ventilator k, während die Baumwolle erst auf der Siebtrommel d gesammelt und dann von dieser den Speisewalzen e1 zugeschoben wird, um in e noch einmal geschlagen, durch Rost s, Siebtrommel f f mit Ventilator m gereinigt zu werden. Aus f f gelangt sie zu den Preßwalzen g und endlich auf eine durch i i gedrehte Walze h zum Aufwickeln zu einem Wickel. Da die Baumwolle mindestens zwei-, oft mehrere Male auf der Schlagmaschine bearbeitet werden muß, so findet man gewöhnlich solche doppelte Schlagmaschinen und benutzt zwei derselben hintereinander. Dabei legt man mehrere Wickel (1, 2, 3) der ersten Schlagmaschine auf das Speisetuch a der zweiten sogen. Wattenmaschine, wodurch eine Mischung und die Spinnmaschinen. Fig. 23 Wollkämme Fig. 10. Häkchenstellung der Walzenkarde Fig. 4 Konischer Wolf Fig. 9. Deckelkratze Fig. 11. Walzenkarde (Seitenansicht). Fig. 5. Schlagmaschine. Meyers Konv.-Lex., 4. Aufl. Bibliogr. Institut in Leipzig. Zum Artikel "Spinnen". Spinnmaschinen. Fig. 15. Mulemaschine Fig. 13. Vorspinnmaschine (Flyer). Fig. 19. Waterspinnmaschine für Flachs. Fig. 16. Selbstspinner (Self-actor) Spinnmaschinen. Fig. 21. Reißwolf. Fig. 20. Schlagwolf. Fig. 17. Ringspindel Fig. 24. Igelstrecke. Fig. 18. Anlegemaschine. Fig. 22. Florteiler. Fig. 12. Streckwerk. Fig. 14. Waterspinnmaschine für Baumwolle. Spinnen (Baumwollspinnerei). Bildung einer regelmäßigen Watte erzielt wird (Duplieren). Der Abschluß der Reinigung und Auflockerung erfolgt sodann durch das Kratzen oder Krempeln auf der Kratzmaschine (Krempel, Karde), deren wesentlichster Teil der Auflockerungsapparat ist, welcher der ausgiebigen Wirkung wegen aus zwei Systemen von hakenartigen Zähnchen besteht, die aus hartem Draht, knieförmig gebogen, durch Lederstreifen gesteckt sind, so daß sie in großer Zahl dicht nebeneinander stehen und den Kratzenbeschlag (Textfig. 6) bilden. Zur Verdeutlichung des Vorganges dienen die untenstehenden Fig. 7 u. 8, welche Stücke eines Kratzenbeschlags in den zwei verschiedenen Stellungen zeigen. Denkt man sich in b b (Textfig. 7) Fasern und a a nach links bewegt, so erfolgt gar keine Wirkung oder ein Aufrollen des Materials zwischen den Kratzflächen; bewegt sich aber a a nach rechts, so findet ein Vorgang wie beim Kämmen, d. h. ein Kratzen, statt, welches in seiner Wirkung noch vermehrt wird wenn sich zugleich b b nach links bewegt. Geht in Textfig. 8 b b nach links, so spießt es die Wolle von a a auf, während bei der umgekehrten Bewegung, oder wenn a a sich nach links begibt, die Fasern in a a hängen bleiben. Bei dieser Häkchenstellung kann man also, je nach der Wahl der relativen Bewegungsrichtung, die Fasern beliebig von einem Beschlag in den andern überführen (Abnehmen, Wenden). Zur Bethätigung dieser Werkzeuge ist nun ein System stets auf einer großen cylindrischen Trommel (Tambour) von etwa 1 m Durchmesser angebracht, während das zweite System entweder auf Latten sitzt, welche die Trommel konzentrisch umgeben und die Deckel (Deckelkarde) bilden, oder auf passend gelagerten kleinern Walzen (Igel) angebracht ist (Walzenkarde). Die Einrichtung der Deckelkratze zeigt Fig. 9. Die von der zweiten Schlagmaschine kommende Watte wird bei a eingelegt, durch die drehende Walze b allmählich wieder abgewickelt und über die Platte c den Speisewalzen e übergeben, aus welchen sie von der sogen. Vorwalze f herausgezogen und an die große Trommel T abgeliefert wird. Diese dreht sich nun mit großer Geschwindigkeit (100- bis 160mal in der Minute) und kratzt das Material mit Hilfe der Deckel d d, dasselbe zugleich in ein äußerst zartes Vlies verwandelnd, welches vermittelst der mit Kratzenbeschlag garnierten Trommel K von der Trommel T abgenommen wird (Abnehmer, Kammtrommel). Zur Entfernung des Vlieses aus dieser Trommel K dient ein Kamm k (Hacker), welcher, durch eine schnell umlaufende Kurbel m auf und ab bewegt, das Vlies aushackt. Da letzteres sehr zart ist, so zieht man es bei n seitwärts zusammen und leitet es durch einen Trichter t, in dem es die Gestalt eines Bandes erhält, welches, zwischen den Walzen q noch zusammengepreßt, durch den Kopf u in den Topf p geleitet wird, in dem es sich in Spiralen ablagert, welche durch einen in u angebrachten Drehapparat gebildet werden. Statt der Deckelkratzen verwendet man ihrer größern Leistung wegen jetzt ebenso vielfach die Walzenkarden (Igelkrempel), deren Häkchenstellung neben der Haupttrommel a Fig. 10 zeigt, wo b Arbeiter und c Wender heißen, und deren Konstruktion aus Fig. 11 hervorgeht. Um die große Trommel T liegen die Arbeiter a und dazwischen die kleinern Wendern, welche fortwährend die in a sitzen bleibende Baumwolle von a auf T übertragen (wenden), um die Wirkung zu erhöhen. Die Wickel werden wie bei der Deckelkarde durch die Walze z abgewickelt, von dem Zufuhrapparat b c auf die Vorwalze d und von dieser auf die Trommel T gebracht, sodann durch die Walzen 1, 2, 3 gleichmäßiger verteilt, zwischen T und a gekratzt, um endlich auf die Kammwalze K mit Hacker k und auf die Wickelwalze q zu gelangen, oder durch einen Trichter die Bandform zu gewinnen. Die Drehung der Arbeiter erfolgt durch eine endlose, durch das Gewicht g gespannte Kette s von der Scheibe 7, die Drehung der Wender w, n sowie der Walzen d, 1, 2 und 3 durch Riemen r, t, u und Riemenscheiben 5 auf der Achse 4 und 12 auf der Achse B von der großen Trommelwelle A aus. Von 7 wird zugleich die Bewegung durch Kegelräder 8, 9, 10 auf c und weiter auf z übertragen. In der Regel wird die Baumwolle zweimal gekratzt: auf der Vorkarde und nach Behandlung auf der Lappingmaschine auf der Feinkarde, in welchem Fall mehrere Bänder der Vorkarde zusammengewickelt und als Bandwickel auf die Feinkarde gebracht werden. Um im Band eine vollständig gleiche, gestreckte, parallele Lage und gleiche Verteilung der Fasern zu bekommen, passieren sie eine Reihe von Walzen in der Weise, daß immer so viel Bänder vereinigt werden (Duplieren), als jedes Band verlängert (gestreckt) wird. Dazu dient ein Streckwerk (Laminirstuhl, Strecke), dessen Einrichtung (Fig. 12) folgende ist. In einem passenden Bock liegen vier Walzenpaare 1, 2, 3, 4, die die Bänder A dadurch verlängern, daß sie der Reihe nach von 4 nach 1 größere Umdrehgeschwindigkeiten, z. B. auf das Sechsfache gesteigert, erhalten. Die Oberwalzen sind mit Leder überzogen und durch Gewichte q q auf die geriffelten Unterwalzen gepreßt. Die (z. B. 6) gestreckten und vereinigten Bänder laufen als ein Band A durch eine Platte h, Walzen c und den drehenden Kopf T in die Kanne D D, welche sich durch eine Schnecke s mit Schneckenrad r um die Achse dreht, um dem Bande die Spirallage zu geben (Drehkanne). Wegen der Gleichmäßigkeit des Bandes muß die Strecke sofort stillstehen, wenn ein Band reißt. Dazu dienen der Hebel z y x und die Platte h (Bandwächter), die Spinnen (Baumwollspinnerei). von dem Band gehalten werden und sofort mit x oder p gegen die Zähne des Rades a fallen, wenn das Band bei b oder h reißt. Durch die Arretierung von a wird dann sofort die Strecke abgestellt. In dem gestreckten und duplierten Band sind die Fasern so verteilt und gelagert, daß dasselbe durch weitere Streckung und Drehung in Garn überführt werden kann. Der großen Lockerheit halber muß diese Operation aber in gewissen Abstufungen so erfolgen, daß die Zusammendrehung zunächst dem Band nur eine Festigkeit erteilt, welche das Weiterstrecken nicht hindert; dadurch entsteht das Vorgarn (Vorgespinst). Zur Erzeugung desselben dient der Flyer oder die Spindelbank, welche die früher üblichen Vorspinnmaschinen (Röhrchen-, Eklipsmaschine, Jackmaschine etc.) fast vollständig verdrängt hat. Der Flyer, welcher in mehreren Größenabstufungen (Grob-, Mittel-, Fein-, Feinfein- und Doppelfeinflyer) nacheinander in Verwendung kommt, erhält zuerst das Band aus den Kannen der Streckmaschinen, wickelt aber das Vorgarn auf Spulen, so daß vom Grobflyer abwärts das Garn auf Spulen gewickelt in die Maschine gelangt. Das Wesen eines Flyers zeigt Fig. 13 der Tafel. Von den Spulen a a läuft das Vorgarn in das Streckwerk b, von hier zu den Spindeln c c, mit den Flügeln d, welche durch die am Fuß angebrachten Kegelräder k in Umdrehung versetzt werden und dadurch dem Garn Draht geben. Indem das Garn zugleich durch den hohlen Flügelarm d und den Finger f auf die Spule e geleitet und letztere um die Spindel vermittelst schiefer Kegelräder i gedreht wird, wickelt es sich auf die Spule, welche aus einem hölzernen Rohr besteht und behufs regelmäßiger Bewickelung mit der sogen. Spulenbank (Wagen) g innerhalb der Flügel auf und ab steigt, bis sie gefüllt ist, um nach Abheben des Flügels von der Spindel abgezogen u. der nächstfolgenden Maschine übergeben zu werden. Ein sehr sinnreicher, aber komplizierter Mechanismus mit Differenzialräderwerk (Differenzialflyer) regelt die Aufwickelbewegung, welche sich nach jeder Garnschicht ändern muß. - Nachdem das Vorgarn den letzten (Fein-) Flyer etwa in der Dicke eines gewöhnlichen Bindfadens verlassen hat, empfängt dasselbe die endgültige Streckung und Drehung zur Verwandlung in Garn auf den Feinspinnmaschinen, die entweder nach dem Prinzip des Spinnrades oder des Handrades (s. S. 148) konstruiert sind und danach Watermaschinen oder Mule heißen. Die Watermaschine (Fig. 14) wird immer doppelt gebaut, d. h. es ist an derselben ein Träger (Aufsteckrahmen) für zwei Reihen mit Vorgarn gefüllter Spulen a a, zwei Reihen Streckwerke b b und Spindeln mit Flügeln und Spulen vorhanden. Das Garn geht von a nach b, sodann gestreckt durch ein Führungsauge n nach dem Flügel c und von diesem gedreht auf die Spule zwischen dem Flügel zum Aufwickeln. Die 120 Spindeln n o werden von den mit den Wellen g g sich drehenden Trommeln x x vermittelst Schnüre s und Wirtel t 3600-4500mal in der Minute gedreht, während die Spulenbank t mit den Stangen f f auf und nieder geht. Zu dem Zweck werden die letztern in den Büchsen z und y geführt und von den Schienen m m getragen, welche an Ketten k k hängen, die über die Rollen r r laufen und an den Winkeln e e befestigt sind, welche sich mit Rollen gegen eine Herzscheibe d legen, die eine solche Form hat, daß sie bei ihrer gleichmäßigen Drehung die Hebel und dadurch die Stangen f f abwechselnd auf und ab bewegt. Die Aufwickelung des Garns erfolgt durch ein Zurückbleiben der Spulen infolge einer starken Reibung auf der Bank t. Sämtliche Bewegungen gehen von einer der Wellen g aus, die direkt angetrieben wird, durch Zahnräder die Bewegung dem Streckwerk und durch das Zahnrad 2, Schnecke 3, Schneckenrad 4, Welle h und Schneckengetriebe 5 u. 6 der Herzscheibe d mitteilt. Während bei der Watermaschine Streckung, Drehung und Aufwickelung gleichzeitig und ununterbrochen vor sich gehen, sind bei der Mulemaschine diese Operationen getrennt. Sie besteht nämlich (Fig. 15 der Tafel) aus einem festen Gestell A mit Aufsteckrahmen für die mit Vorgarn gefüllten Spulen a a sowie Streckwerk b und einem Wagen B mit den Spindeln c, mit denen das Garn h verbunden ist. In der ersten Periode fährt der Wagen etwa 2 m vom Gestell weg aus, während sich sowohl die Streckwalzen b als die Spindeln c drehen, um das Garn zu spinnen. In der nun folgenden zweiten Periode fährt der Wagen dem Gestell zu ein, während das Streckwerk stillsteht, um das gesponnene Garn aufzuwickeln, zu welchem Zweck ein Draht gesenkt wird, der in Bügeln g über sämtlichen Fäden der Maschine liegt und deshalb auch durch Bewegung der Bügel g sämtliche (600-700) Fäden in die zum Aufwickeln erforderliche Lage zu den Spindeln bringt (Aufwindedraht). Bei den ersten Mulemaschinen führte ein Arbeiter sämtliche beim Einfahren stattfindende Bewegungen aus, weshalb die Zahl der gleichzeitig gesponnenen Fäden 300 nicht überschritt. Die jetzigen Mulemaschinen arbeiten dahingegen mit wenig Ausnahmen selbstthätig (Selbstspinner, Selfactor), indem nicht nur die Bewegungen, sondern namentlich die so wichtige und äußerst schwierige Regulierung von einer Stelle aus erfolgt; daher ist es möglich, sie mit 800-1100 Spindeln auszustatten. Einen Überblick über den höchst komplizierten Mechanismus eines Selfaktors gewährt Fig. 16 der Tafel. Die Transmissionsriemenscheibe I sitzt fest auf der Welle A und dreht einerseits durch Kegelräder die Strecken b, anderseits die große Schnurrolle R. Von b aus setzt sich die Drehung fort durch die Räder 1, 2, 3, 4 auf die Scheibe M, welche vermittelst der am Wagen B befestigten, durch M1 gespannten Wagenschnur W den Wagen ausfährt. Gleichzeitig dreht die um R und R1 gelegte, um Führungsrollen h und die Trommel f laufende Schnur s s die Trommel f und somit durch Schnüre e e die Spindeln c. Das Einfahren des Wagens erfolgt von der um A drehbaren Riemenscheibe I I aus durch Stirn- und Kegelräder i k, Welle l und Schnecke m vermittelst der zweiten um m1 gespannten Wagenschnur w1, die sich auf die Schnecke aufwickelt, um abwechselnd die Geschwindigkeit zu vergrößern und zu verkleinern, weil der Wagen anfangs beschleunigt und dann verzögert wird. Zur Bildung des Garnkörpers (Kötzer) senkt sich der Aufwinder g, während ein zweiter, unten hinlaufender Draht g1 (Gegenwinder) die Fäden gespannt hält, damit sie keine Knoten bekommen. Der Winder g wird dadurch bewegt, daß die Stange o mit einer Nase unter die Zahnstange z schnappt und sich dadurch hebt und senkt, daß ihre Rolle p auf einer an- und absteigenden Schiene q q q (Formplatte) rollt; z überträgt diese Vertikalbewegung durch ein Zahnrad auf eine Welle, an welcher die Arme g befestigt sind. Beim Ausfahren schnappt o wieder aus, wobei ein Gewicht in Wirkung tritt, das mit der Kette r g hebt und z senkt. Zur Bewegung der Spindeln c zum Zweck der Kötzerbildung dient der sogen. Quadrant Q, welcher durch ein mit M1 verbundenes Zahnrad, das in den Zahnquadranten y1 eingreift, hin und her bewegt wird Spinnen (Flachsspinnerei etc.). und diese Bewegung vermittelst der Kette t und Zwischenräder auf die Trommel f überträgt. Durch die Quadrantenschraube u u wird diese Aufwindebewegung aufs genaueste geregelt, da durch sie der Angriffspunkt y der Kette beliebig eingestellt werden kann. Neben den Water- und Mulemaschinen kommt immer mehr die Ringspindelbank in Aufnahme, deren Wesen Fig. 17 erkennen läßt. Der Faden gelangt zu der Spule S von einer Führungsöse a und einer kleinen Klammer b (Fliege), welche den Kopf des Ringes r r umfaßt. Indem nun die Spindel mit der Spule S durch den Wirtel w in Drehung versetzt wird, erhält der Faden zwischen a und b Draht, während die Fliege b zugleich auf dem Ring r r hinläuft und dadurch das Aufwickeln des Fadens bewirkt. Die Verteilung des Fadens über die ganze Spule erfolgt durch Auf- und Abbewegung der Ringbank R wie bei der Watermaschine. B. Flachspinnerei. Das Verspinnen des Flachses (s. d.) beginnt damit, daß man Bündel des je nach der Feinheit des Garns weniger oder mehr (bis fünfmal) gehechelten Flachses, sogen. Risten, zu einem Band vereinigt, wozu die in Fig. 18 skizzierte Anlegemaschine dient. Dieselbe besteht der Hauptsache nach aus zwei Walzenpaaren bei C und A mit einem dazwischenliegenden Hechelapparat E (Nadelstabstrecke). Das Einziehwalzenpaar C, dessen Oberwalze o durch ein Gewicht q mit 150 kg auf die untere Walze gepreßt wird, empfängt die auf einem Zuführtuch regelmäßig ausgebreiteten Risten über die Platte b, um sie den bei E sichtbaren, in der Pfeilrichtung bewegten Hechelstäben zu übergeben, welche sie dem Streckwalzenpaar A zutragen, dessen Oberwalze o mit 550 kg durch das Gewicht q belastet ist. Da die Streckwalzen A sich schneller drehen als C, so wird der Flachs nicht nur gestreckt, sondern auch fortgesetzt gehechelt und zu einem Band vereinigt, das über die sogen. Bandplatte B durch das Abzugswalzenpaar F in eine Kanne geleitet wird. Zu bemerken ist noch, daß die Schaber n und m die Oberwalzen, eine rauhe Walze mit rotierender Bürste die untere Streckwalze von Fasern frei halten, daß ein Gewicht p die untere Abzugswalze nachgiebig in der Schwebe hält, und daß die Hechelstäbe ihre obere Vorwärts- und untere Rückwärtsbewegung durch Schrauben erhalten (Schraubenstrecke). Auf ganz ähnlichen Maschinen (Durchzug, Flachsstreckmaschinen) mit immer feiner werdenden Hecheln erfolgt dann ein weiteres Strecken und Duplieren der Bänder und hierauf die Verwandlung in Vorgarn auf einer Vorspinnmaschine, welche sich von dem Flyer (s. oben) nur durch das Streckwerk unterscheidet, welches genau so eingerichtet ist wie bei der Anlegemaschine. Zum Feinspinnen dienen ausschließlich Watermaschinen, welche oft die Einrichtung haben, welche Fig. 19 zeigt. Bei a werden die Spulen mit Vorgarn aufgesteckt; b und d sind die Streckwalzen mit Zwischenwalzen c c zum Leiten des Garnes; die Flügelspindeln werden von der Schnurtrommel e durch die Schnüre f und Wirtel g gedreht, die Spulen h stecken lose auf den Spindeln und erhalten die zum Aufwickeln erforderliche Bremsung durch eine mit dem Gewicht i belastete Schnur, welche in einer um den untern Spulenrand laufenden Nute liegt. Das Heben und Senken der Spulen erfolgt wie bei der oben beschriebenen Watermaschine. Um den Flachsfasern im Augenblick des Zusammengehens die eigentümliche Sturheit zu benehmen und dadurch ein sehr glattes, schönes Garn spinnen zu können, führt man jetzt ganz allgemein das Garn vor der Drehung durch einen Trog mit etwa 80° warmem Wasser (Naßspinnen), der vor den Spindeln liegt. Solche Garne müssen gehaspelt und dann noch getrocknet C. Hanfspinnerei stimmt ganz mit der Flachsspinnerei D. Hede- (Werg-) Spinnerei unterscheidet sich von der Flachsspinnerei nur durch die Bildung des ersten Bandes, welche nach Art der Baumwollspinnerei auf einer groben Walzenkarde vorgenommen wird. E. Jutespinnerei erfolgt nach zwei verschiedenen Methoden. Nach der einen werden die 2-3 m langen Risten in kürzere, 760 mm lange Teile zerschnitten und dann genau wie Flachs verarbeitet, d. h. gehechelt, auf der Anlege in ein Band verwandelt, gestreckt, dupliert, in Vorgarn übergeführt und auf Watermaschinen trocken versponnen. Diese in England vorwiegend für feinere Garne gebrauchte Methode liefert das sogen. gehechelte oder Jute-Linen-Garn und verarbeitet nur ausgesuchte Fasern. Die zweite Methode, welche in Deutschland und Österreich allgemein eingeführt ist, liefert das sogen. kardierte oder Towgarn, weil die Fasern auf Karden bearbeitet und in Hede (Tow) verwandelt werden. In beiden Fällen geht dem Verspinnen eine Vorbereitungsarbeit voran, welche ein Geschmeidigmachen der Fasern bezweckt und darin besteht, daß man die aufgestapelten Risten mit Wasser und Thran besprengt, um sie einzuweichen (Einweichprozeß), und dann in einer Maschine quetscht, in der 20-40 Paar grob geriffelte Walzen auf einem horizontalen oder cylindrischen Gestell nebeneinander liegen und infolge einer drehenden Bewegung die Juteristen durchziehen, welche dabei derart geknetet werden, daß sie diese Quetschmaschine weich und geschmeidig verlassen. Nur die Wurzelenden bleiben mitunter hart und müssen abgerissen werden, was auf der Schnippmaschine geschieht, welche mit einer Hechelmaschine Ähnlichkeit hat. Nach dem Quetschen gelangen die bandartig zusammenhängenden Fasern auf eine Walzenkratze (Fig. 11) mit grobem Beschlag, um in kurze Faser zertrennt zu werden, welche sich zu einem Band vereinigen und in eine Kanne einlegen. Nach zweimaligem Kratzen folgt das Duplieren und Strecken auf 3-5 Nadelstabstrecken (Fig. 18), darauf die Bildung des Vorgarns auf Flyern und das Feinspinnen auf Watermaschinen (trocken), wie beim Flachsspinnen angegeben F. Wollspinnerei umfaßt die Herstellung von Streichgarn, Kammgarn und Halbkammgarn aus Wolle von verschiedener Beschaffenheit (s. Wolle), welche zunächst gewaschen, gespült und getrocknet wird. Die Streichwolle erfährt sodann eine gründliche Auflockerung im Wolf, der als Schlag- und Reißwolf angewendet wird. Ersterer hat in der Regel die in Fig. 20 skizzierte Einrichtung. Auf zwei Wellen a a befinden sich sechs Reihen von je sechs Stäben, welche mit den Wellen in der Pfeilrichtung sich mit 500-600 Umdrehungen in der Minute drehen, die durch das Tuch c zugeführte Wolle von dem Walzenpaar d e empfangen, durcheinander schlagen und aus h herauswerfen, während die Schmutzteile durch die Roste g f und f e fliegen. Der Reißwolf (Fig. 21) besteht der Hauptsache nach aus einer großen sich drehenden Trommel a, deren Oberfläche mit 5 cm langen radialen Zähnen besetzt ist, welche die auf das Zufuhrtuch z gelegte Wolle aus dem durch Verteilungswalze u, Speisewalze m und Klaviatur o gebildeten Speiseapparat herausreißen, zerteilen und bei q aus dem Gehäuse werfen, während der Schmutz durch den Rost p in den Raum k fällt. Nach dem Wolfen oder Spinnen (Woll-, Seidenspinnerei; Geschichtliches). während desselben wird die Streichwolle mit Olivenöl oder Petroleumrückständen gefettet, damit sie geschmeidig wird (Schmälzen). In diesem Zustand gelangt sie zum Krempeln, Kardätschen oder Streichen auf die Kratzmaschine (Krempel), um einen Pelz (Vlies, Fell) zu bilden, in dem die Fasern regelmäßig angeordnet sind, und durch dessen Teilung einzelne Bänder entstehen, die ohne weiteres Vorgarn liefern. Zum Krempeln dienen ausschließlich Walzenkratzen, 2-4mal hintereinander, welche mit einer Vorrichtung verbunden sind, die das vom Hacker abgenommene Vlies in Bänder teilen. Gewöhnlich besteht ein solcher Florteiler nach Fig. 22 aus einer Anzahl (z. B. 120) Riemchen ohne Ende, welche abwechselnd um die Walzen a und b sowie oqt und rpm laufen, das durch den Hacker K von der Kammwalze T genommene Vlies c in 120 Bänder zerlegen und diese durch A und B sowie Führer l auf Spulen leiten, welche in vier Reihen C, D, E, F angeordnet sind. Die Apparate A und B bestehen aus zwei kurzen Riemen ohne Ende, welche sich nicht nur in der Richtung des Pfeils zum Transport der Bänder drehen, sondern auch in der Richtung der Walzenachsen sehr schnell hin und her bewegen und dadurch die Bänder kräftig rollen (Würgeln, Nitscheln) und auf diese Weise sofort in Vorgarn überführen, das ohne weiteres auf Mulemaschinen oder auf der Ringbank zu Feingarn versponnen wird. Die Kammwolle wird nach dem Entschweißen zuerst einem Prozeß unterworfen, der die parallele Lage der Wollhaare, die Ausscheidung kurzer Haare (Kämmlinge), die Bildung eines Bandes (Kammzug) bezweckt und Kämmen genannt wird. Man benutzt dazu entweder ein Paar heiß gemachter Handkämme (Wollkämme, Fig. 23), indem man eine Portion wenig geölter Wolle in einen der Kämme einschlägt, mit dem zweiten kämmt und dann mit der Hand auszieht, dieselbe zugleich in ein kurzes Band verwandelnd, das mit andern vereinigt wird, oder die Kammmaschine, welche die Handarbeit in vollkommener Weise nachmacht, aber sehr kompliziert ist. Das aus einzelnen kurzen Zügen gebildete Band erhält eine weitere Gleichförmigkeit durch Strecken und Duplieren auf sogen. Igelstrecken, welche (Fig. 24) aus zwei Paar Streckwalzen A und B besteht, zwischen welchen eine mit Stacheln besetzte Walze E angebracht ist. Die Kammzüge treten aus Kannen D über die Schiene a in die Strecke, werden von E zurückgehalten, um die Fasern glatt zu streichen, im Trichter t vereinigt und durch das Vorziehwalzenpaar C in die untergestellte Kanne D' geliefert. Zur Entkräuselung und Entölung passieren sie dann in einer Plättmaschine eine Seifenlösung und eine Reihe heißer Walzen. Das Verspinnen der Streckbänder zu Garn erfolgt stufenweise, indem erst Vorgarn auf dem Flyer oder einer Strecke mit Würgelzeug (Fig. 13), darauf das Feingarn auf Water- oder Mulemaschinen, neuerdings auch auf der Ringspindelbank hergestellt wird. Die Halbkammgarnspinnerei, welche hauptsächlich die Kämmlinge verarbeitet, benutzt zum Anordnen der Fasern die Krempel und die Igelstrecken, zum Vorspinnen die Strecke mit Würgelzeug und zum Feinspinnen die Watermaschine. G. Seidenspinnerei beschränkt sich auf die Verarbeitung von Seidenabfall und heißt demgemäß auch Florettspinnerei. Sie beginnt damit, daß man die Abfälle (Strusi, Bourrette, Flockseide etc.) einem Macerationsprozeß zur Zerstörung des Seidenleims unterwirft, wozu ein Verweilen in warmem (60-70°) Wasser während 3-7 Tagen ausreicht, dann folgt ein Waschen mit warmem Wasser in einem Stampfwerk, ein Ausschleudern in einer Zentrifuge und ein Trocknen in luftigen, warmen Räumen. Zur weitern Verarbeitung feuchtet man die Masse mit Seifenwasser schwach an und öffnet sie in einer Art Reißwolf. Von hier gelangen sie auf eine Kämmaschine zur Abscheidung kurzer und zur Parallellegung der langen Fasern. Die letztern werden auf einer Anlege (Fig. 18) gemischt und in Vliese verwandelt, welche vermittelst einer sogen. Wattenmaschine (einer Art Nadelstabstrecke) zu Bändern verzogen werden, die nunmehr auf Nadelstabstrecken eine weitere Streckung und Duplierung erhalten, um sodann auf einer Spindelbank mit Nadelstäben in Vorgarn überzugehen, das auf Waterspinnmaschinen zu Florettgarn fertig gesponnen wird. Der größte Teil der Florettgarne kommt übrigens gezwirnt in den Handel. Geschichtliches. Das S. gehört zu den ältesten Handbeschäftigungen, wie neben erhaltenen Resten von Geweben aus gesponnenem Garn aus den Nachrichten der ältesten Schriftsteller hervorgeht. Insbesondere nehmen Wollengewebe und somit -Gespinste schon im Altertum einen hohen und unter allen Gespinsten den ersten Rang an, denn unmittelbar auf die Bekleidung mit Tierfellen folgt jene mit Geweben aus Wollgarn. Zum S. bediente man sich derjenigen einfachen Geräte, die noch heutzutage bei vielen Völkern angetroffen werden, nämlich des Wockens oder Rockens und der Spindel in der oben beschriebenen Art, wie besonders aus alten Vasenbildern (Textfig. 25) und Wandgemälden zu entnehmen ist. Als Erfinderin der Wollarbeit galt Athene und als Ort der Erfindung Athen. Auch die Zubereitung des Flachses war im Altertum bekannt. 1530 erfand Joh. Jürgen in Watenbüttel bei Braunschweig das Trittrad, welches langsam Verbreitung fand. Im vorigen Jahrhundert tauchten die ersten Bemühungen auf, den Spinnprozeß mittels Maschinen zu vollziehen. Die wichtigste Erfindung, die der Streckwalzen, wurde 1738 Lewis Paul in England patentiert, der sie mit Flügelspindeln des Spinnrades in Verbindung brachte und so die erste Spinnmaschine 1741, die zweite mit 250 Spindeln 1743 durch Esel in Bewegung setzte. Diese Maschine wurde von Arkwright in vielen Teilen verbessert, sodann durch noch andre Vorbereitungsmaschinen, Kratzmaschine mit Bandabgabe, Streckmaschine mit Duplierung und eine Vorspinnmaschine, Spinnentiere. Ufer-Spindelassel (Pycnogonum littorale). 3/i (Art. Ufer-Spindelassel.) Bekränzte Webspinne (Theridium redimitum), nat. Gr a Eier, b Augenstellung. (Art. Spinnentiere.) Violettroter Holzbock (Ixodes reduvius). 5/i. (Art. Zecken.) Krätzmilbe des Menschen (Sarcoptes scabiei). 80/i. (Art. Milben.) Bücherskorpion (Chelifer cancroides), stark (Art. Bücherskorpion.) Feldskorpion (Scorpio occitanus) uch mit den Kämmen u. Nat. Gr. (Art. Skorpione.) Haarbalgmilbe (Demodex folliculorum) 600/i. (Art. Milben.) Männchen der Apulischen Tarantel- (Tarantula Apuliae). Nat. Gr. (Art. Tarantel.) Männchen der Gestreckten Strickerspinne (Tetragnatha extensa), nat. Gr. a Augenstellung. (Art. Spinnentiere.) Käsemilbe (Tyroglyphus siro). 80/i. (Art. Milben.) ^A",Jema), nat. Gr. b Augenstellung, inke Kieferfühler der Kreuzspinne T. (Art. Kreuzspinne.) a Weibliche Kreuzspinne c Fußspitze der Hausspinne Weibchen der Hausspinne (Tegenaria domestica), nat. Gr. a Augenstellung. (Art. Spinnentiere.) Gemeine Wasserspinne (Argyroneta aquatica), etwas vergrößert, a Nest, b Augenstellung. (Art. Spinnentiere.) Weibchen der Umherschweifenden Krabbenspinne (Thomisus viaticus), im Hintergrund Fäden schießend. B/2. (Art. Spinnentiere.) Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut in Leipzig. Zum Artikel "Spinnentiere".. Spinnendistel - Spinnentiere. ergänzt und 1775 durch Wasserkraft betrieben, woher ihre Bezeichnung Watermaschine rührt. Um dieselbe Zeit erfand Hargreaves in Standhill die nach seiner Tochter genannte Jennymaschine, die statt der Streckwalzen die sogen. Presse (zwei zusammengepreßte horizontale Latten) besaß, welche das Band festhielt, während die nach Art des Handrades konstruierten Spindeln vertikal auf einem bewegten Wagen standen, das Ausziehen und Drehen besorgten und beim Rückwärtsfahren das gedrehte Produkt aufwickelten. Im J. 1779 endlich vereinigte Crompton in Firnwood das Streckwerk der Watermaschine mit dem Spinnwerk der Jennymaschine zu jener Maschine, welche unter dem Namen Mule (Maulesel, als Bastard zwischen der Water- und Jennymaschine), später, namentlich von Roberts zu Manchester 1825, als Selfaktor ausgebildet, als die größte Erfindung auf dem Gebiet der Spinnerei zu gelten hat, da sie das S. der feinsten Garne gestattet, wozu die Watermaschine ungeeignet ist. Um das Jahr 1830 erfand Jenks in Amerika die sogen. Ringspindel, welche die Grundlage der immer mehr in Aufnahme kommenden Ringspindelbank bildet. Erst nachdem die mechanische Baumwollspinnerei zu hoher Entwickelung gekommen war, vollzog sich ein ähnlicher Prozeß auf den Gebieten der Flachs- und Wollspinnerei, wenn auch viel langsamer, weil die Beschaffenheit dieser Materialien bezüglich der mechanischen Verarbeitung bedeutend größere Schwierigkeiten bietet, die zum Teil noch jetzt nicht überwunden sind. Die wichtigste Erfindung machte hier Girard in Paris durch Lösung der von Napoleon I. 1810 gestellten Ausgabe, "den Flachs auf Maschinen zu spinnen", indem er noch in demselben Jahr ein Patent auf eine Flachsfeinspinnmaschine erhielt, welche in der Anwendung von Hechelkämmen zum Ausziehen als auch in der Benutzung von Wasser (Naßspinnen) die Lösung des Problems darbot und in der Grundlage unverändert geblieben ist. In der Kammwollspinnerei war die Erfindung der Kämmmaschine epochemachend, welche nach unzähligen, zum Teil beachtenswerten Versuchen erst 1829 von Opelt zu Hartau und Wieck zu Schlema brauchbare Gestalt annahm, bis einerseits Lister und Donisthorpe (1850), anderseits Heilmann und Schlumberger zu Mühlhausen (1851) die schwierige Aufgabe des Maschinenkämmens auf zwei verschiedenen Wegen glänzend lösten. Vgl. B. Nieß, Baumwollspinnerei (2. Aufl., Weim. 1885); Leigh, Science of modern cotton spinning (3. Aufl., Lond. 1875, 2 Bde.); Grothe, Technologie der Gespinstfasern, Bd. 1 (Berl. 1877); Lohren, Kämmmaschinen (Stuttg. 1875); Kronauer, Atlas der Spinnerei und Weberei (2. Aufl., Hannov. 1878); Marshall, Der praktische Flachsspinner (deutsch, Weim. 1888); Pfuhl, Die Jute und ihre Verarbeitung (Berl. 1888); Hoyer, Spinnerei und Weberei (2. Aufl., Wiesb. 1888). Spinnendistel, s. Cnicus. Spinnentiere (Arachniden, Arachnida, hierzu Tafel "Spinnentiere"), Klasse der Gliederfüßler (Arthropoden), meist kleine Tiere von sehr mannigfacher Gestalt. Kopf und Brust sind bei ihnen gewöhnlich zu Einem Stück, dem sogen. Cephalothorax, verschmolzen. Die vordern, als Kiefer verwendeten Gliedmaßen des Kopfes, die Kieferfühler, entsprechen vielleicht den Fühlern der Insekten, dienen aber nicht als solche, sondern als Kiefer und enden oft mit einer Schere (Skorpione) oder Klaue (Spinnen); auch das zweite Gliedmaßenpaar, die Kiefertaster, hat im allgemeinen ähnlichen Bau und ähnliche Verwendung. Es folgen dann vier Paar Beine, von denen nur selten das erste als Taster und Kiefer zugleich fungiert, gewöhnlich jedoch gleich den übrigen zum Laufen dient. Diese Beine bestehen aus sechs oder sieben Gliedern. Der Hinterleib ist äußerst verschieden und hat seine Zusammensetzung aus Ringen (Segmenten) nur noch bei den Skorpionen und ihren nächsten Verwandten bewahrt, ist bei den Spinnen einfach rundlich und durch einen dünnen Stiel mit dem Cephalothorax verbunden, bei den Milben sogar mit diesem verschmolzen. Er trägt keine Beine. Auch der innere Bau ist bei den einzelnen Ordnungen der S. sehr verschieden. Das Nervensystem ist meist in Gehirn und Bauchmark geschieden, letzteres auch wohl in eine Reihe Nervenknoten (Ganglien) getrennt, gewöhnlich jedoch zu einer einzigen Nervenmasse verschmolzen. Die Augen sind unbeweglich und stehen, 2-12 an der Zahl, auf der Oberseite des Cephalothorax; Gehörorgane sind nicht mit Sicherheit bekannt; zum Tasten dienen die Kiefertaster und die Enden der Beine. Der Darmkanal läuft meist geradlinig vom Mund zum After und zerfällt in eine engere Speiseröhre und einen weitern, meist mit seitlichen Blindsäcken versehenen Darm; häufig läßt sich an letzterm der Anfang als Magen unterscheiden. Speicheldrüsen, Leber und Harnorgane in verschiedener Form sind fast immer vorhanden. Kreislaufsorgane fehlen nur bei den niedersten Milben, bei den übrigen liegt das Herz gewöhnlich als mehrkammeriges Rückengefäß im Hinterleib; es besitzt seitliche Spaltöffnungen zum Eintritt des Bluts und häufig Arterienstämme am vordern und hintern Ende. Besondere Atmungsorgane fehlen gleichfalls bei manchen Milben völlig und sind im übrigen Tracheen (s. d.), in welche die Luft durch Luftlöcher (Stigmen) eintritt. Mit Ausnahme der Tardigraden (s. unten) sind die S. getrennten Geschlechts. Die Männchen, oft durch äußere Merkmale unterschieden, besitzen paarige Hodenschläuche, aber in der Regel keine eignen Begattungsorgane, so daß mitunter so entfernt gelegene Gliedmaßen wie die Kiefertaster der Spinnen die Übertragung des Samens auf das Weibchen übernehmen. Letzteres hat einen unpaaren oder paarige Eierstöcke, deren Eileiter meist gemeinschaftlich am Anfang des Hinterleibs ausmünden. Die meisten S. legen Eier, die sie zuweilen in Säcken bis zum Ausschlüpfen der Jungen mit sich herumtragen. Letztere haben meist schon die Form der ausgewachsenen Tiere; wenige durchlaufen eine wahre Metamorphose. Die Lebensdauer der S. ist nicht wie die der Insekten eine beschränkte; sie häuten sich auch noch nach Eintritt der Zeugungsfähigkeit in bestimmten Zeiträumen und sind zu wiederholten Malen fortpflanzungsfähig. Sie besitzen ein zähes Leben, so daß manche monatelang ohne Nahrung existieren können, und eine bedeutende Reproduktionskraft, welche sich z. B. im Wiederersatz verlorner Beine äußert. Sie nähren sich meist vom Raub andrer Gliedertiere, besonders der Insekten, die sie meist nur aussaugen; unter den niedrigsten Formen leben einige parasitisch an Wirbeltieren; wenige nähren sich von pflanzlichen Säften. Fast sämtlich sind sie Landtiere, welche sich vielfach am Tag verborgen halten und nur nachts auf Raub ausgehen. Sie sind über den ganzen Erdkreis verbreitet, doch finden sich in den heißern Zonen die meisten und größten Arten. Die nicht besonders zahlreichen fossilen Arten gehen bis in das Steinkohlengebirge zurück (z. B. die Skorpiongattung Cyclophthalmus, s. Tafel "Steinkohlenformation Man teilt die S. in sechs oder mehr Ordnungen ein (die früher hierher gestellten Krebsspinnen, Pan- Spinnentiere. topoda oder Pycnogonidae, sind als selbständige Gruppe nicht mit eingerechnet), nämlich: 1) Gliederspinnen (Arthrogastra), welche durch ihren gegliederten Hinterleib und auch den innern Bau noch am meisten der ursprünglichen Form der S. zu entsprechen scheinen, während alle übrigen S. mehr oder weniger abgeändert sind. Zu ihnen gehören unter andern die Skorpione (s. Gliederspinnen). 2) Echte Spinnen oder Spinnen im engern Sinn (s. unten). 3) Milben (Acarina), schon stark rückgebildete Formen, die aber noch deutlich ihre Zugehörigkeit zu den Spinnentieren verraten. 4) Tardigraden. 5) Zungenwürmer, beides, namentlich aber die letztern, Ordnungen von eigentümlichstem Bau. Die Tardigraden (Tardigrada) sind kleine, sich langsam bewegende Tiere mit wurmartigem Körper, der nicht in Cephalothorax und Abdomen geschieden ist, mit saugenden und stechenden Mundteilen und vier Paar kurzen, stummelförmigen Beinen. Herz und Tracheen fehlen ganz. Sie sind Zwitter und legen die Eier während der Häutung in die abgeworfene Haut ab; sie leben zwischen Moos und Algen, auf Ziegeln in Dachrinnen, zum Teil auch im Wasser, nähren sich von kleinen Tieren und können nach langem Eintrocknen durch Befeuchten wieder ins Leben gerufen werden. Hierher gehören nur wenige Arten, unter andern das Bärtierchen (Arctiscon tardigradum). Die Zungenwürmer oder Pentastomiden (Linguatulidae), früher allgemein zu den Eingeweidewürmern gerechnet, sind durch Parasitismus außerordentlich rückgebildete, milbenartige S. mit wurmförmigem, geringeltem Körper, verkümmerten Mundwerkzeugen und Beinen, an deren Stellen zwei Paar Klammerhaken getreten sind, ohne Augen und ohne besondere Atmungs- und Kreislaufsorgane, mit einfachem Darm. Beide Geschlechter (das Weibchen ist bedeutend größer als das Männchen) hausen im erwachsenen Zustand in den Luftwegen von Warmblütern und Reptilien. Das hierher gehörige Pentastomum taenioides Rud. (Textfig. 1), dessen Männchen 8 cm und dessen Weibchen nur 2 cm lang wird, lebt in den Nasen-, Stirn- und Kieferhöhlen des Hundes und Wolfs; seine Embryonen gelangen mit dem Nasenschleim auf Pflanzen und von da in den Magen der Kaninchen, Hasen, Ziegen, Schafe, seltener Rinder und Katzen, auch wohl des Menschen; sie schlüpfen aus, durchbohren die Darmwandungen, gehen in die Leber, kapseln sich hier ein und durchlaufen nach Art der Insektenlarven eine Reihe von Verwandlungen, durchbohren später die Kapsel und gelangen in die Leibeshöhle ihrer Wirte, kapseln sich aber, wenn sie daraus nicht bald befreit werden, wieder ein und sterben ab (sie sollen indes auch durch Lunge und Luftröhre auswandern). Gelangen sie mit dem Fleisch ihres Wirtes in die Rachenhöhle des Hundes, so dringen sie in die benachbarten Lufträume und werden in 4-5 Monaten geschlechtsreif. Mit zahlreichen Pentastomen behaftete Hunde zeigen oft starke Anfälle von Tob- und Beißsucht, die leicht mit Tollwut verwechselt werden können. Der junge Zungenwurm, früher als eigne Art (P. denticulatum, Textfig. 2) beschrieben, kann in Lunge und Leber seines Wirtes furchtbare Verheerungen anrichten, auch bei zahlreichem Auftreten den Tod veranlassen. Die Spinnen oder Webspinnen (Araneina) haben einen ungegliederten, gestielten und stark hervortretenden Hinterleib. Ihre großen Kieferfühler enden mit einer wie die Klinge eines Taschenmessers einschlagbaren Klaue, an deren Spitze der Ausführungsgang einer Giftdrüse mündet, deren Saft in die durch die Klaue geschlagene Wunde fließt und kleinere Tiere fast augenblicklich tötet. Die Unterkiefer tragen einen mehrgliederigen Taster, beim Weibchen von der Form eines verkürzten Beins, beim Männchen mit aufgetriebenem, als Begattungsorgan dienendem Endglied. Die vier meist langen, übrigens bei den einzelnen Gattungen sehr verschieden gebauten Beinpaare enden mit zwei kammartig gezahnten Krallen, oft noch mit kleiner unpaarer Afterkralle oder einem Büschel gefiederter Haare. An der Bauchseite des Hinterleibs liegt die Geschlechtsöffnung, und seitlich von ihr befinden sich die beiden Spaltöffnungen der sogen. Lungensäckchen, öfters auch noch ein zweites Stigmenpaar. Den After umgeben am Ende des Hinterleibs vier oder sechs Spinnwarzen, aus denen die Absonderung der Spinndrüsen hervortritt. Letztere sind birnförmige, cylindrische oder gelappte Schläuche; ihr Sekret gelangt durch Hunderte feiner Röhrchen nach außen, erhärtet an der Luft schnell zu einem Faden und wird unter Beihilfe der Fußklauen zu dem bekannten Gespinst verwebt. Das Nervensystem besteht aus dem Gehirn und aus einer gemeinsamen Brustganglienmasse. Hinter dem Stirnrand stehen acht, seltener sechs kleine Punktaugen in einer nach den Gattungen und Arten verschiedenen Anordnung. Der Darmkanal zerfällt in Speiseröhre, Magen mit fünf Paar Blindschläuchen und Darm, in welchen die Lebergänge und zwei verästelte Harnkanäle münden. Der Lebersaft wirkt ähnlich dem der Bauchspeicheldrüse der höhern Wirbeltiere. Die Atmungsorgane sind meist eigentümliche sogen. Fächertracheen oder Tracheenlungen (s. Tracheen), auch Lungensäckchen genannt; doch finden sich außerdem auch wohl noch gewöhnliche Tracheen. Das Blut fließt aus einem pulsierenden, im Hinterleib gelegenen Rückengefäß durch Arterien nach den Gliedmaßen und dem Kopf, umspült zurückkehrend die Lungensäckchen und tritt durch drei Paar seitliche Spaltöffnungen in das Rückengefäß zurück. Alle Spinnen legen Eier und tragen sie häufig in besondern Gespinsten mit sich herum. Die Männchen haben einen Hinterleib von geringerm Umfang als die Weibchen; das verdickte Spinnfaserpflanzen. Cannabis sativa (Hanf), a Weibliche uud b männliche Pflanze. (Art. Hanf.) Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut in Leipzig. Zum Artikel "Spinnfaserpflanzen". Spinner - Spinnfasern, Endglied der Kiefertaster ist löffelförmig ausgehöhlt und enthält einen spiralig gebogenen Faden nebst hervorstreckbaren Anhängen. Bei der Begattung füllt das Männchen dies Glied mit Samen und führt es in die weibliche Geschlechtsöffnung ein, wo sich ein besonderes Behältnis zur Aufbewahrung des Samens (Samentasche) befindet. Zuweilen leben beide Geschlechter friedlich nebeneinander in benachbarten Gespinsten oder selbst eine Zeitlang in demselben Gespinst; in andern Fällen stellt das stärkere Weibchen dem schwächern Männchen wie jedem andern Tier nach, und selbst bei der Begattung ist dieses gefährdet. Die Entwickelung im Eie ist insofern interessant, als der Embryo eine Zeitlang einen deutlich aus 10 bis 12 Segmenten bestehenden Hinterleib besitzt, an dem sich auch die Anlagen von Gliedmaßen zeigen, die aber im weitern Verlauf samt der Gliederung wieder verschwinden. Die ausschlüpfenden Jungen erleiden keine Metamorphose, bleiben aber bis nach der ersten Häutung im Gespinst der Eihüllen. - Alle Spinnen nähren sich vom Raub: die vagabundierenden überfallen die Tiere im Lauf oder Sprung; andre bauen Gespinste, welche bei den verschiedenen Gattungen sehr wesentlich voneinander abweichen und zum Fang von Insekten dienen; oft finden sich in der Nähe derselben röhren- oder trichterartige Verstecke zum Aufenthalt der Spinnen. Die meisten Spinnen ruhen am Tag und jagen in der Dämmerung. Junge Spinnen erzeugen im Herbst lange Fäden (sogen. Alterweibersommer, s. d.), mittels welcher sie sich hoch in die Luft erheben, vielleicht um sich zur Überwinterung an geschützte Orte tragen zulassen. Man kennt mehrere tausend Arten Spinnen; fossil finden sie sich namentlich in Bernstein eingeschlossen vor. Man ordnet sie in zwei größere Gruppen: 1) Vierlunger (Tetrapneumones), mit 4 Lungensäcken und 4 Stigmen, 4, selten 6 Spinnwarzen. Hierher nur die Familie der Vogelspinnen (Theraphosidae), s. Vogelspinne. 2) Zweilunger (Dipneumones), mit 2 Lungensäcken und 2 oder 4 Stigmen (in diesem Fall führt das hintere Paar zu Tracheenstämmen), stets 6 Spinnwarzen. Sie zerfallen in mehrere kleinere Gruppen: a) Springspinnen (Saltigradae), b) Wolfsspinnen (Citigradae), unter andern mit der Gattung Lycosa (Tarantel, s. d.), c) Krabbenspinnen (Laterigradae), unter andern mit der Gattung Thomisus (umherschweifende Krabbenspinne, T. viaticus C. L. Koch), d) Röhrenspinnen (Tubitelariae), zu denen Tegenaria (Hausspinne, T. domestica L.) und Argyroneta (gemeine Wasserspinne, A. aquatica L.) gehören, e) Webspinnen (Retitelariae) mit der Gattung Theridium (bekränzte Webspinne, T. redimitum L.), f) Radspinnen (Orbitelariae) mit der Gattung Tetragnatha (gestreckte Strickerspinne, T. extensa Walck.) und Epeira (Kreuzspinne, s. d.). Vgl. Walckenaer und Gervais, Histoire naturlle des Insectes aptères (Par. 1836-47, 4 Bde.); Walckenaer, Histoire naturelle des Aranéides (das. u. Straßb. 1806); Hahn und Koch, Die Arachniden (Nürnb. 1831-49, 16 Bde.); Koch, Übersicht des Arachnidensystems (das. 1837-50); Lebert, Bau und Leben der Spinnen (Berl. 1878). Spinner (Bombycidae), Familie aus der Ordnung der Schmetterlinge (s. d.). Spinnerin am Kreuz, eine von H. v. Puchsbaum 1451 erbaute gotische Denksäule südlich vor Wien (s. Spinnfasern (hierzu Tafel "Spinnfaserpflanzen"), vegetabilische oder animalische Gebilde, die sich zur Verarbeitung auf Gespinste und Gewebe eignen und daher fest, geschmeidig und womöglich bleichbar sein müssen. Die Zahl der tierischen S. ist verhältnismäßig gering. Von größerer Bedeutung sind nur Wolle, Seide und die Haare einiger Ziegen, des Alpako u. der Vicunna, das Kamelhaar und Pferdehaar. Viel größer ist die Zahl der vegetabilischen S., welche auch in ihrer Natur und Beschaffenheit viel mehr voneinander abweichen. Wir finden darunter Haargebilde, Gefäßbündel und Gefäßbündelbestandteile. Die erstern sind fast ausschließlich Samenhaare, wie die Baumwolle, die Wolle der Wollbäume und die vegetabilische Seide; viele S. setzen sich aus den Gefäßbündeln der Blätter, Stämme oder Wurzeln monokotyler Pflanzen zusammen, wie der neuseeländische Flachs, die Agavefaser, die Aloefaser und die Ananasfaser, der Manilahanf und die Tillandsiafaser. Am häufigsten werden aber Gefäßbündelbestandteile dikotyler Pflanzen als S. benutzt. Hanf, Flachs, Jute, Sunn etc. sind Bastbündel oder Fragmente von solchen aus den Gefäßbündeln der Stengel der betreffenden Stammpflanzen. Die Farbe der S. ist sehr verschieden: Schwarz, Braun, bei den vegetabilischen ins Gelbe, Grüne, Graue geneigt, auch Weiß; sie sind glanzlos bis seidenglänzend, zum Teil sehr hygroskopisch, so daß wenigstens bei den animalischen (Seide, Wolle) im Handel der Wassergehalt der Ware in besondern Anstalten (Konditionierungsanstalten) festgestellt zu werden pflegt. Aber auch Baumwolle, welche lufttrocken 6,5 Proz. Feuchtigkeit enthält, kann über 20 Proz., Manilahanf sogar über 40 Proz. Wasser aufnehmen. Die Hygroskopizität der S. wechselt bei den Kulturvarietäten einer und derselben Pflanze und steigt bisweilen bei derselben Faser, wenn diese beim Lagern an der Luft dunkler wird. Über die Festigkeit der S. liegen vergleichbare Angaben bis jetzt nicht vor; weitaus am festesten ist Seide, die übrigen zeigen die mannigfachsten Abstufungen der Zerreißbarkeit. Die chemische Zusammensetzung der vegetabilischen S. ist eine sehr gleichartige; die Hauptsubstanz bildet überall Cellulose, und die Fasern, welche nur aus letzterer bestehen, sind biegsam, geschmeidig und fest, während diejenigen, bei denen außer Cellulose noch Holzsubstanz oder ähnliche Stoffe auftreten, spröde und brüchig erscheinen und erst nach Entfernung derselben weicher und biegsamer werden. Eine solche Vervollkommnung der Fasern wird z. B. durch den Prozeß des Bleichens erreicht; doch ist die weiße Farbe einer Faser keineswegs ein Beweis, daß sie frei von Holzfaser sei. Selbst sehr geringe Mengen von letzterer kann man durch Betupfen mit einer Lösung von schwefelsaurem Anilin nachweisen, welche die Holzsubstanz bräunt. Alle S., die der Hauptmasse nach aus Cellulose bestehen, werden durch Jod und Schwefelsäure blau gefärbt und durch Kupferoxydammoniak aufgelöst; die übrigen, denen größere Mengen von Holzsubstanz oder andern organischen Stoffen anhaften, werden durch ersteres Reagens gelb oder braun oder grün bis blaugrün gefärbt und durch Kupferoxydammoniak entweder nicht verändert, oder nur unter mehr oder minder deutlicher Quellung gebläut. Alle S. enthalten mineralische Stoffe und lassen daher beim Verbrennen Asche zurück. Die tierischen S. weichen in ihrer Zusammensetzung vollständig von den vegetabilischen ab: sie enthalten sämtlich Stickstoff und unterscheiden sich sehr bestimmt von den vegetabilischen durch ihr Verhalten beim Verbrennen, indem sie vor der Flamme gleichsam schmelzen und unter Verbreitung eines übeln Geruchs eine schwammige Kohle hinterlassen, während die Pflan- Spinnmaschine - Spinola. zenfasern bis auf die Asche vollständig und ohne Geruch verbrennen. Eine Unterscheidung der einzelnen tierischen und vegetabilischen S. ist nur durch methodische Prüfung mittels des Mikroskops und chemischer Reagenzien möglich; letztere aber leisten im allgemeinen für die rohen Fasern nicht viel und für die gebleichten, welche sämtlich aus reiner Cellulose bestehen, naturgemäß sehr wenig oder Pflanzen, welche zur Darstellung von Gespinsten taugliche Fasern liefern, finden sich in zahlreichen Familien und bilden, soweit sie größere Wichtigkeit besitzen, den Gegenstand ausgedehnter Kulturen. Die wichtigsten Spinnfaserpflanzen (vgl. beifolgende Tafel) gehören zu den Malvaceen (Gossypium-Arten liefern die Baumwolle, Hibiscus-Arten den Gambohanf; auch sind Abelmoschus tetraphyllus, Sida retusa, Thespesia lampas und Urena sinuata zu erwähnen), den Kannabineen (Hanf von Cannabis sativa), Lineen (Flachs, Linum usitatissimum), Tiliaceen (Jute von Corchorus-Arten), den Urtikaceen (Chinagras und Ramé von Boehmeria-Arten, Nesselfasern von Urtica-Arten), den Palmen (Arenga, Caryota, Piassava von Attalea funifera, Kokosfaser von Cocos nucifera etc.), den Musaceen (Manilahanf von Musa-Arten), den Bromeliaceen (Agavefasern von Agave-Arten, Ananasfaser von Ananassa sativa, Silkgras von Bromelia karatas, Tillandsiafaser von Tillandsia usneoides), den Asphodeleen (neuseeländischer Flachs von Phormium tenax), den Papilionaceen (Sunn von Crotalaria juncea, auch Spartium-Arten). Erwähnung verdienen ferner: die Bombaceen mit den Bombax-Arten Eriodendron anfractuosum und Ochroma Lagopus, die Datisceen mit Datisca cannabina, die Kordiaceen mit Cordia latifolia, die Asklepiadeen mit Beaumontia grandiflora, Calotropis gigantea, Asclepias-Arten etc., welche sämtlich vegetabilische Seide liefern, die Moreen mit Broussonetia-Arten, die Pandaneen mit Pandanus odoratissimus und die Gramineen mit dem Espartogras (Stipa tenacissima). Weitaus die größte Bedeutung von allen haben aber Baumwolle, Flachs und Hanf, welchen sich noch die Jute anschließt. Die übrigen Spinnfaserpflanzen, zum Teil seit alter Zeit in Gebrauch, haben in der neuern Industrie doch erst angefangen, einen Platz sich zu erobern, was der Jute, in gewissem Grad auch dem Chinagras, Ramé, der Piassava, der Agavefaser, dem Manilahanf, der Kokosfaser und einigen andern bereits gelungen ist und voraussichtlich noch weiter gelingen wird. Beherrscht Nordamerika durch seine Baumwolle das ganze Gebiet, so wird es doch an Mannigfaltigkeit der dargebotenen Fasern weit übertroffen von Asien, speziell von Indien, woher wir wohl die wichtigsten Bereicherungen auch ferner noch zu erwarten haben. Vgl. Royle, The fibrous plants of India (Lond. 1855); Wiesner, Beiträge zur Kenntnis der indischen Faserpflanzen (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 62); Derselbe, Rohstoffe des Pflanzenreichs (Leipz. 1873); Richard, Die Gewinnung der Gespinstfasern (Braunschw. Spinnmaschine s. Spinnen, S. 148 f. Spinnrad s. Spinnen, S. 148 f. Spinnstube (auch Lichtstube), der ehemals auf dem flachen Land und namentlich in den Gebirgsgegenden weitverbreitete Gebrauch, die langen Winterabende gemeinsam in geselliger Handarbeit hinzubringen. Die S. wird abwechselnd auf dem einen oder andern Hof abgehalten, die Frauen und Mädchen spinnen, die Burschen machen Musik, oder es werden Volkslieder gesungen, Hexen- und Gespenstergeschichten erzählt und allerlei Kurzweil dabei getrieben. Wegen der dabei vorkommenden Ausschreitungen in sittlicher Beziehung mußten in verschiedenen Ländern "Spinnstubenordnungen", d. h. polizeiliche Regelungen bezüglich der Zeit und Dauer des Beisammenseins, erlassen werden, ja im Bereich des ehemaligen Kurhessen wurden sie bereits 1726 gänzlich verboten. In Nachahmung dieser alten Dorfsitte wurden im Palast Emanuels d. Gr. zu Evora, wo die glänzendste Periode des portugiesischen Hoflebens sich abspielte, die von mehreren Dichtern geschilderten "portugiesischen Spinnstuben" (Seroëns de Portugal) abgehalten. Spinnwebenhaut (Arachnoïdea), die mittlere Hirnhaut (s. Gehirn, S. 2). Spinnwurm, s. Wickler. Spinola, 1) Ambrosio, Marchese de los Balbazes, span. General, geb. 1571 zu Genua aus altem ghibellinischen Geschlecht, zeichnete sich seit 1599 mehrfach in den Diensten König Philipps III. von Spanien aus und unterstützte mit einem Korps von 9000 Mann alter italienischer und spanischer Truppen, nach Art der frühern Condottieri, den Erzherzog Albrecht von Österreich bei der Belagerung von Ostende (1602-1604). Hierauf zum Generalleutnant und Kommandierenden aller in den Niederlanden kämpfenden spanischen Truppen ernannt, stand er seit 1605 dem Prinzen Moritz von Oranien in Flandern gegenüber; doch vermochte keiner einen wesentlichen Vorteil zu erlangen. 1620 von Spanien zur Unterstützung des Kaisers Ferdinand II. gegen die protestantischen Reichsfürsten abgesandt, drang er im August an der Spitze von 23,000 Mann in die Pfalz ein und eroberte viele Städte, ward aber 1621 in die Niederlande berufen, wo er wieder gegen Moritz kämpfte. Durch Entlassung der meuterischen italienischen Truppen geschwächt, konnte er den Krieg trotz der Eroberung Jülichs (1622) nur lau fortsetzen und erst im Sommer 1624 die Belagerung von Breda unternehmen, welchen Platz er 2. Juni 1625 endlich zur Übergabe zwang. Seitdem kränkelnd, mußte er den Oberbefehl niederlegen. Nur noch einmal trat er 1629 in Italien auf, indem er in dem Streit um das Erbe des Markgrafen von Mantua die Franzosen aus Montferrat vertrieb und sie in Casale einschloß. Er starb 25. Sept. 1630 in Castelnuovo di Scrivia. Vgl. Siret, S., épisode du temps d'Albert et d'Isabelle (Antwerp. 1851). 2) Christoph Rojas de, Vertreter des Gedankens der Union zwischen Katholiken und Protestanten, aus Spanien gebürtig, trat in den Franziskanerorden, ward 1685 Beichtvater der österreichischen Kaiserin und 1686 Bischof von Wiener-Neustadt. Seine Unionspläne, zu deren Durchführung er die meisten deutschen Residenzen (1676 und 1682) aufsuchte, fanden Anklang am hannöverschen Hof; der Philosoph Leibniz und der Abt Molanus ließen sich in nähere Verhandlungen mit ihm ein (1683). Seine Schrift "Regulae circa christianorum omnium ecclesiasticam reunionem" bot als Zugeständnisse von katholischer Seite an: deutschen Gottesdienst, Laienkelch, Priesterehe, Aufhebung der Tridentiner Beschlüsse bis zum Zusammentritt eines neuen Konzils etc., forderte dagegen von den Protestanten Unterordnung unter die katholische Kirchenverfassung nebst Anerkennung des päpstlichen Primats. Gegen diese Basis der Verhandlungen erklärte sich Bossuet, während Innocenz XI. dieselbe anzunehmen nicht abgeneigt war. Der Tod Spinolas (1695) raubte diesem unionistischen Unternehmen seinen ebenso tiefreligiösen wie geschäftsgewandten Leiter. Spinös - Spinoza. Spinös (lat.), dornig; schwer zu behandeln. Spinoza (eigentlich d'Espinosa), Baruch (Benedikt), berühmter Philosoph, geb. 24. Nov. 1632 zu Amsterdam als Sohn jüdischer Eltern portugiesischen Ursprungs, ward zum Rabbiner gebildet, aber seiner freien Religionsanschauungen wegen aus der Gemeinde ausgestoßen, verließ seine Vaterstadt und ließ sich nach wechselndem Aufenthalt im Haag nieder, wo er, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, sich seinen Unterhalt durch Unterrichterteilung und durch Schleifen optischer Gläser erwarb. Eine ihm vom Kurfürsten von der Pfalz angebotene Professur zu Heidelberg sowie eine ihm von seinem Freund Simon de Vries zugedachte Erbschaft schlug er aus gleichem Grund aus und starb arm, unvermählt und unberühmt 21. Febr. 1677 in Scheveningen an der Lungenschwindsucht. Über die innere Entwicklung seines Gedankenkreises weiß man wenig. Einerseits ist die talmudistische Vorschulung, anderseits das Studium der Cartesianischen Schriften in Anschlag zu bringen. Die erste Jugendarbeit Spinozas war eine verhältnismäßig unselbständige Darstellung der Cartesianischen Prinzipien nach seiner Lieblingsmethode, der geometrischen des Eukleides. Hierauf folgte der "Theologisch-politische Traktat" ("Tractatus theologico-politicus") und zwar anonym (1670). Das epochemachende Hauptwerk, die "Ethik" ("Ethica"), obgleich seinen Hauptzügen nach als ursprünglich in holländischer Sprache abgefaßter, erst neuerlich (durch van Vloten) wieder aufgefundener Traktat "Von Gott und dem Menschen" in früher Zeit vollendet, wurde erst nach seinem Tod von seinem Freunde, dem Arzt Ludwig Mayer, herausgegeben. Zwei unvollendete, ebenfalls nachgelassene Schriften, der "Politische Traktat" u. die "Abhandlungen über die Verbesserung des Verstandes" ("De intellectus emendatione"), kamen hinzu. Spinozas epochemachende "Ethik" ist der Form nach, im Gegensatz zu der analytischen (regressiven, von den Folgen auf die Gründe zurückgehenden) Denkweise des Descartes, in synthetischer (progressiver, von dem ersten Grund zu den äußersten Folgerungen fortschreitender) Darstellung und nach der Methode des Eukleides in Grundbegriffen, Axiomen, Theoremen, Demonstrationen und Korollarien abgefaßt, wodurch sie (gleich ihrem Vorbild) den Anschein unumstößlicher Gewißheit empfängt. Dem Inhalt nach stellt dieselbe gleichfalls einen Gegensatz zum Cartesianismus dar, indem an die Stelle der dualistischen eine monistische Metaphysik tritt. Spinozas Philosophie knüpft daher zwar an die des Descartes (s. d.) an, aber nur, um dessen System der Form und dem Inhalt nach aufzuheben. Dieselbe ist mit ihrer Vorgängerin zwar darüber einverstanden, daß Geist, dessen Wesen im Denken, und Materie, deren Wesen in der Ausdehnung besteht, einen (qualitativen) Gegensatz bilden, jener ohne das Merkmal der Ausdehnung, diese ohne das des Denkens gedacht werden kann. Aber S. leugnet, daß derselbe ein Gegensatz zwischen Substanzen (Dualismus) sei, sondern setzt ihn zu einem solchen zwischen bloßen "Attributen" einer und derselben Substanz (Monismus) herunter. Da nämlich aus dem Begriff der Substanz, d. h. eines Wesens, das seine eigne Ursache (causa sui) ist, folgt, daß es nur eine einzige geben kann, so können Geist und Materie (die zwei angeblichen Substanzen des Cartesianismus, zwischen welchen ihres Gegensatzes halber keine Wechselwirkung möglich sein soll) nicht selbst Substanzen, sondern sie müssen Attribute einer solchen (der wahren und einzigen Substanz) sein, welche an sich weder das eine noch das andre ist. Diese (einzige) Substanz, welche als solche mit Notwendigkeit existiert, und zu deren Natur die Unendlichkeit gehört, nennt S. Gott (deus), dasjenige, was der Verstand (intellectus) von derselben als deren Wesen (essentia) ausmachend erkennt, Attribut, die Substanz selbst bestehend aus unendlichen Attributen, deren jedes (nach seinem Wesen) deren ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. Zwei derselben (die einzigen, deren S. Erwähnung thut) sind nun Denken und Ausdehnung (dieselben, welche, nach Descartes, als Wesen des Geistes und der Materie diese zu zweierlei entgegengesetzten Substanzen machen sollten); unter dem erstern aufgefaßt, erscheint die Substanz dem Intellekt als das unendliche Denkende (als unendliche Geisteswelt), unter dem zweiten aufgefaßt, als das unendlich Ausgedehnte (als unendliche Stoffwelt); beide sind, da außer Gott keine andre Substanz existiert, der Substanz nach identisch (keine qualitativ entgegengesetzten Substanzen mehr, daher der Cartesianische Einwand gegen die Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen Geist und Materie, Seele und Leib, beseitigt erscheint). Das unendliche (als solches unbestimmte) Denken zerfällt durch (inhaltliche) Bestimmung in unzählig viele Gedanken (Ideen); die unendliche (als solche unbegrenzte) Ausdehnung zerfällt durch (räumliche) Begrenzung in unzählig viele Stoffmassen (Körper), die sich untereinander ebenso gegenseitig ausschließen, als sich (in stetiger Reihenfolge) gegenseitig berühren. S. bezeichnet dieselben als Modi, d. h. als Affektionen der Substanz, die Ideen als solche, insofern die Substanz unter dem Attribut der denkenden, die Körper als solche, insofern sie unter dem Attribut der ausgedehnten Wesenheit vorgestellt wird. Da beide Attribute der Substanz nach identisch sind, das unendliche Denken aber der Summe aller einzelnen Denkbestimmungen (Ideen), die unendliche Materie der Summe aller einzelnen begrenzten Stoffteile (Körper) gleich ist, so müssen auch diese beiden in ihrer stetigen Reihenfolge untereinander (der Substanz nach) identisch und kann zwischen der (idealen) Gesetzmäßigkeit des Ideenreichs und der (mechanischen) Gesetzmäßigkeit der Körperwelt kein Gegensatz vorhanden sein. S. stellt daher nicht nur den Satz auf, daß aus dem unendlichen Wesen Gottes (als natura naturans) Unendliches auf unendlich verschiedene Weise folge (als natura naturata), sondern auch den weitern, daß die Folge und Verknüpfung der Ideen (die ideale) und jene der Sachen (die reale Weltordnung) eine und dieselbe (ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum) seien. Folge des erstern ist, daß die Gesamtsumme der Wirkungen Gottes (die Welt der Erscheinungen) ihrer Beschaffenheit sowohl als ihrer Verknüpfung nach als eine unabänderliche, von Ewigkeit her feststehende, weil in der ewigen und unwandelbaren Natur Gottes (der alleinen Substanz) als Ursache begründete, angesehen werden muß. Folge des zweiten ist, daß die im Reich des Geistes waltende sittliche) von der das Reich der Materie regelnden (mechanischen) Gesetzlichkeit nicht verschieden, das die Erscheinungen der Natur ausnahmslos beherrschende Kausalgesetz daher auch das die Erscheinungen des Geistes bestimmende sei. So wenig in der Körperwelt eine Wirkung ohne (zwingende) Ursache, so wenig ist in der Geisteswelt ein Willensentschluß ohne (nötigendes) Motiv (und daher keine indeterministische Willensfreiheit) möglich. Die (geistigen wie körperlichen) Erscheinungen selbst als Entfaltung der (all-einen) Substanz sind weder das Werk einer Vorsehung (da die Substanz als solche Spinster - Spirale. weder Intelligenz noch Willen besitzt, von einem "Weltplan" oder gar einer "Wahl" zwischen mehreren Weltplänen nicht die Rede sein kann) noch eines blinden Verhängnisses (da die Substanz Ursache ihrer selbst und von nichts außer ihr abhängig ist). Die Beschaffenheit und Reihenfolge derselben sind nicht durch Zweck-, sondern lediglich durch wirkende Ursachen bestimmt; dieselben sind weder nützlich (gut) noch schädlich (schlecht), sondern einfach notwendig. Als solche ist die Welt weder die beste noch die schlechteste unter (mehreren) möglichen, sondern die einzig mögliche. Die Erkenntnis dieser unabänderlichen Weltordnung ist es, welche den Weisen vom Thoren scheidet. Während der letztere vom Weltlauf die Erfüllung seiner Wünsche hofft oder deren Gegenteil fürchtet, erkennt der erstere, daß jener unabhängig von diesen unabänderlich feststeht und daher weder Hoffnung noch Furcht einzuflößen vermag. Die philosophische Erkenntnis besteht darin, die Dinge zu schauen, wie Gott sie schaut (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, gleichsam "aus der Vogelperspektive"), d. h. jedes Einzelne (Idee, Körper, Ereignis) im Zusammenhang als Glied des (unendlichen) Ganzen. Die philosophische Gemütsstimmung besteht einerseits in der Resignation, d. h. in der Ergebung, welche aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, anderseits in der (intellektuellen) Liebe zu Gott, welche aus der Erkenntnis der (ursprünglichen) Göttlichkeit des Weltlaufs entspringt. Da die eine wie die andre Wissen, d. h. Erkenntnis des (metaphysischen) Wesens der Welt (als Entfaltung Gottes), voraussetzt, so bildet die (pantheistische, richtiger akosmistische) Metaphysik die unentbehrliche Vorbedingung zu der (affekt- und leidenschaftslosen) Ethik Spinozas. Sowohl um dieses ihres echt philosophischen Ergebnisses in praktischer wie um ihres auf den Zusammenhang des Ganzen als Weltorganismus gerichteten Blicks (den übrigens Leibniz zum mindesten im gleichen Grad besaß) in theoretischer Hinsicht halber hat die Philosophie Spinozas, die anfänglich nur in Holland einen kleinen Kreis von Anhängern fand (de Vries, Mayer u. a.), ein Jahrhundert später bei Größen ersten Ranges, wie Lessing, Jacobi, Herder, Goethe u. a., Bewunderung, bei Fichte, Schelling, Hegel mehr oder weniger eingestandene Nachahmung gefunden. Am 14. Sept. 1880 ist ihm im Haag ein Denkmal (von Hexamer) errichtet worden. Für die Erläuterung seiner (selbst von seinen Freunden oft mißverstandenen) Lehre ist sein ziemlich umfangreicher Briefwechsel wichtig. Eine vollständige Ausgabe der Werke Spinozas wurde von Paulus veranstaltet (Jena 1802, 2 Bde.); eine andre von Gfrörer im "Corpus philosophorum optimae notae", Bd. 3 (Stuttg. 1830), enthält sämtliche Werke ohne die hebräische Grammatik. Korrekter als die erstgenannte, aber ohne die Biographie des Colerus ist die Ausgabe von Bruder (Leipz. 1843-46, 3 Bde.); die neueste ist die von J. van Vloten und Land (Haag 1882, 2 Bde.). Deutsche Übersetzungen lieferten B. Auerbach (2. Aufl., Stuttg. 1871, 2 Bde.), welcher die französische von Saisset (2. Aufl., Par. 1861, 3 Bde.) vorzuziehen ist, und neuerlich Kirchmann und Schaarschmidt in der "Philosophischen Bibliothek". Den "Tractatus de deo et homine" (hrsg. von van Vloten, Amsterd. 1862, und mit Einleitung von Ginsberg, Leipz. 1877) hat Sigwart (Tübing. 1870) ins Deutsche übersetzt und erläutert. Über die S. betreffende Litteratur vgl. van der Linde, S. (Göttingen 1862); über dessen Philosophie: Sigwart, Der Spinozismus, historisch und philosophisch erläutert (Tübing. 1839); Thomas, S. als Metaphysiker (Königsb. 1840); Saintes, Histoire de la vie et des ouvrages de S. (Par. l842); Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 und 3 (Berl. 1855-67); K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie (Bd. 1, Abt. 2); Camerer, Die Lehre Spinozas (Stuttg. 1877); Baltzer, Spinozas Entwickelungsgang (Kiel 1888); Ginsberg, Briefwechsel des S. (Leipz. 1876, mit der Biographie von Colerus). B. Auerbach behandelte das Leben Spinozas in einem Roman. Spinster (engl.), lediges Frauenzimmer. Spintherismus (griech.), das Funkensprühen. Spintisieren, grübeln, fein ausspinnen. Spintrien (lat.), Gemmen oder Münzen mit unzüchtigen Darstellungen. Spion (ital.), s. Kundschafter. Spira, Johannes de (Johann von Speier), wahrscheinlich einer der deutschen Buchdrucker, die nach der Eroberung von Mainz 1462 auswanderten und die Buchdruckerkunst weiter verbreiteten. Er war der erste Typograph zu Venedig und zugleich auch der erste "privilegierte Buchdrucker". Seine ersten Werke sind: Ciceros "Epistolae" und Plinius' "Historia naturalis" (Vened. 1469). Seine Ausgabe des Tacitus, zugleich die erste dieses Schriftstellers, ist das erste mit arabischen Blattziffern bezeichnete Buch (vgl. Antiqua). Nach seinem 1470 zu Venedig erfolgten Tod führte sein Bruder Wendelin de S. die Offizin bis 1477 fort; dieser druckte die erste Ausgabe der Bibel in italienischer Sprache nach der Übersetzung von Malermi. Spiraea L. (Spierstrauch, Spierstaude), Gattung aus der Familie der Rosaceen, Sträucher und Kräuter mit gefiederten oder ganzen Blättern, ohne oder mit Nebenblättern, in endständigen Ähren, Trauben, Rispen oder Doldentrauben stehenden Blüten und mehrsamiger Balgkapsel. S. ulmaria L. (Krampfkraut, Wurmkraut, Mädelsüß, Geißbart, Wiesenkönigin), 60-120 cm hoch, mit unterbrochen fiederteiligen Blättern, großen Nebenblättern, in Trugdolden stehenden, weißen Blüten und spiralförmig gedrehten, kahlen Früchtchen, wächst in Europa und Nordasien an feuchten Stellen. Die Blüten liefern ein ätherisches Öl, welches salicylige Säure enthält. Dasselbe gilt von S. filipendula L. (Erdeichel, Haarstrang), deren Früchtchen nicht spiralig gedreht und behaart sind, und an deren langen, fadenförmigen Wurzeln erbsengroße Knollen hängen. Diese Art wächst auf trocknen Wiesen und in Wäldern und war, wie die vorige, früher offizinell. Gegen 40 andre Arten aus Südeuropa, Asien und Nordamerika sind beliebte Ziersträucher. Spiräaceen, Unterfamilie der Rosaceen. Spirabel (lat.), atembar, verdunstbar. Spiraculum (lat.), Luftloch, Öffnung. Spirale (lat., Spiral-, irrtümlich auch Schneckenlinie), ebene krumme Linie, die um einen festen Punkt O unendlich viele Umläufe macht. Die einfachste ist die von Archimedes untersuchte, welche von einem Punkt P beschrieben wird, der sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit auf einer durch O gehenden Geraden bewegt, während letztere sich gleichförmig um O dreht. Es ist also der Abstand O P = r proportional dem Drehungswinkel Phi (r=a *^Phi, wenn a konstant ist). Man kann dieselbe zur Teilung der Winkel benutzen, welche auf die Teilung einer Geraden zurückgeführt wird. Andre Spiralen sind: die Fermatsche (r² = a²*^Phi), die hyperbolische oder reciproke (r*^Phi = a), die logarithmische Spiralgefäße - Spiritismus. (r = ac*^Phi, c wie a konstant). Mit dem Namen S. bezeichnet man auch bisweilen räumliche Kurven; es bedeutet z. B. cylindrische oder konische S. den Durchschnitt einer Schraubenfläche mit einer Cylinder- oder Kegelfläche (richtiger cylindrische oder konische Schraubenlinie), sphärische S. die Linie, welche ein Punkt auf der Kugel beschreibt, wenn seine Länge und Breite proportional sind. Spiralgefäße, s. Gefäße (der Spiralklappe, s. Darm. Spiralpumpe, Wasserfördermaschine, welche 1746 von Wirz in Zürich erfunden wurde. Sie besteht (s. Fig.) aus einem um eine horizontale Welle A spiralförmig gewundenen Rohr DEFGHJKL, welches an dem Wasser schöpfenden Ende C trichterförmig erweitert ist (zu dem sogen. Horn) und mit dem andern Ende in das hohle Ende der Welle mündet. Eine zwischen dem Wellenende und dem Steigrohr N eingeschaltete Stopfbüchse M ermöglicht einen dichten Verschluß während der Drehung der Welle. Ist nun der Apparat mit den zu unterst gelegenen Teilen der Schraubenwindungen in ein Wasserbassin getaucht, so wird von dem Horn bei der Drehung der Welle Wasser geschöpft, solange seine Mündung sich unter Wasser befindet, bei weiterer Umdrehung tritt so lange Luft ein, bis das Horn wieder ins Wasser taucht. Während der dazu erforderlichen einmaligen Umdrehung ist das zuerst geschöpfte Wasser, da es wegen seiner Schwere bestrebt ist, immer den zu unterst gelegenen Teil der Schraube einzunehmen, um einen Schraubengang in dem Rohr vorgerückt, die ihm folgende Luft wird durch das bei einem zweiten Eintauchen des Horns aufgenommene Wasser abgesperrt, und so geht es fort, bis das ganze Schlangenrohr in den untern Teilen seiner Windungen mit Wasserquantitäten gefüllt ist, die zwischen sich in den obern Teilen der Windungen Luftsäulen einschließen, die bis jetzt nur die Spannung der äußern Atmosphäre besitzen. Sobald nun weiter gedreht wird, will Wasser in das Steigrohr treten und übt deshalb auf die Flüssigkeit im Rohr einen Druckwiderstand aus, durch welchen die einzelnen Flüssigkeitssäulen in den Schraubengängen entsprechend in die Höhe getrieben werden und nun mit demselben Druck auf die Flüssigkeit im Steigrohr zurückwirken können. Dabei wird zunächst von der zuletzt aufgenommenen Wassersäule CD, ihrer barometrischen Niveaudifferenz entsprechend, auf die ihr vorangegangene Luftsäule DE gedrückt, welche den erhaltenen Druck mit Hilfe der sich daran schließenden Wassersäule EF auf die folgende Luftsäule FG überträgt; aber auch die zweite Wassersäule EF übt auf letztere in derselben Weise wie die erste einen Druck aus, so daß sich der Druck auf die zweite Luftsäule aus dem Druck der beiden nachgeschöpften Wassersäulen zusammensetzt. In gleicher Weise summieren sich die Wasserdrucke bis zur letzten Windung, und der hier herrschende Druck entspricht derjenigen Druckhöhe, bis zu welcher die Maschine fördern kann. Diese S. ist nur in wenigen Exemplaren ausgeführt, wohl aber hat man sie in geeigneter Umformung zur Erzeugung von Gebläsewind benutzt, indem man am Ende der Schraube eine Vorrichtung anbrachte, welche zwar die Luft aufnimmt und in die Windleitung treibt, aber das Wasser unten entweichen läßt (vgl. Gebläse). [Spiralpumpe.] Spiranten (lat.), s. Lautlehre, S. 571. Spirato (ital., "zu Ende gegangen"), in der Handelssprache s. v. w. im verflossenen Monat oder Jahr. Spirdingsee, Landsee im preuß. Regierungsbezirk Gumbinnen, im N. von Johannisburg, mit seinen Verzweigungen 118 qkm (2,14 QM.) groß, liegt 117 m ü. M., fließt durch den Pissek (Pysz) zum Narew ab, ist tief und fischreich, enthält vier Inseln (auf einer derselben das eingegangene Fort Lyck) und steht gegen N. mit dem Löwentin- und Mauersee durch die Masurischen Kanäle in schiffbarer Verbindung. Spirifer, s. Brachiopoden. Spiriferensandstein, s. Devonische Formation. Spirillum Ehrb. (Schraubenbakterie), früher Gattung der Spaltpilze, nach neuern Untersuchungen als Entwickelungsform von Bakterien (s. d. u. Tafel) erkannt. Man rechnet zu den Spirillen diejenigen krummen Bacillen, bei welchen ein Auswachsen zu schraubenartig gewundenen und sich in derselben Form vermehrenden Fäden beobachtet wird. Dahin gehören der Kommabacillus der Cholera, das S. von Finkler und Prior bei Cholera nostras, das S. (Spirochaete) bei Rückfallfieber, das S. (Spirochaete) des Zahnschleims etc. Spiritismus (neulat., auch Spiritualismus, aber dann zu unterscheiden von der gleichnamigen philosophischen Richtung), der in der Neuzeit wieder stark entwickelte Glaube, daß nicht nur die Geister der abgeschiedenen Menschen fortleben, sondern daß auch ein beständiger und leichter Verkehr mit ihnen möglich sei. Ein solcher Verkehr kann aber angeblich nur von wenigen Auserwählten unmittelbar gepflogen werden, welche als Mittelspersonen (Medien) den Geistern eine Art dünnen Körpers zu leihen vermögen, damit sich dieselben "materialisieren" und unsern gröbern Sinnen bemerklich machen können. Der menschliche Geist, ein persönliches, immaterielles Wesen, wäre nach dieser Theorie von einem besondern, die niedern tierischen Funktionen leitenden, im Körper verteilten ätherischen Fluidum, dem Perisprit, gleichsam aufgelöst und durch dieses Vehikel erst dem Körper zeitweise verbunden, könne aber auch schon im Leben denselben gelegentlich verlassen (Verzückung, Doppeltgehen etc.) und Fernwirkungen ausüben, namentlich bei den Medien, deren Geist nur sehr lose "verzellt" ist. Von jener seelischen Hülle des Geistes sollen nun die Medien einen gewissen Überfluß besitzen, eine Aura desselben um sich verbreiten und davon den überall im Raum verteilten Geistern so viel abgeben können, daß diese sich für kurze Zeit den Sterblichen offenbaren können. Ihre Manifestationen und Materialisationen geschehen angeblich durch Erscheinen im Dunkeln in ganzer Gestalt oder wenigstens als leuchtende Hände oder Gesichter und sollen, wenn selbst das Auge nicht im stande sein sollte, das zarte Lichtgebilde zu erkennen, wenigstens auf der photographischen Platte ihre Spur zurücklassen. Die Geisterphotographie bildet in Amerika ein schwunghaft betriebenes Geschäft, welches kaum dadurch gelitten hat, daß einer oder der andre dieser Künstler vor Gericht den groben Betrug eingestand, wie der Photograph Buguet in Paris (1875). In neuerer Zeit sind dazu noch die Abdrücke der Geisterhände in Mehlschüsseln oder in Gips gekommen. Eine andre Art der Spirito - Spiritualismus. ist diejenige durch Musik, die wichtigste von allen aber die durch mechanische Wirkungen, weil man darauf eine Verkehrsmethode, eine wirkliche Unterhaltung mit den Geistern basiert. Die Antworten werden entweder durch eigentümliche Klopftöne im Sitzungstisch oder in andern Möbeln etc. gegeben, um dadurch die Folge der Buchstaben festzustellen, oder kürzer mit dem Manulektor oder Psychographen (s. d.) direkt geschrieben. An dessen Stelle ist in neuester Zeit namentlich durch das Medium Slade die unsichtbare Niederschrift der Antwort auf eine unter den Tisch oder hinter den Rücken gehaltene Schiefertafel getreten. Jedes Medium hat in der Regel seine besondere Art, zu "arbeiten", und man unterscheidet danach Klopfmedien, Schreibmedien etc. Die Spiritisten geben allgemein zu, daß die Geisterantworten oft ungemein albern, zuweilen auch neckisch sind; aber sie erklären sich dies dadurch, daß es auch unwissende, unorthographisch schreibende und boshafte Geister gebe. Weitere mechanische Leistungen der Geister sind: die Entfesselungen gebundener Medien, Knotenknüpfen in beiderseits festgehaltenen Schnüren, Ineinanderbringen hölzerner Ringe, die aus einem Stück bestehen, das Erheben der Möbel und andrer schwerer Gegenstände (s. Tischrücken), Transportierungen derselben, Schweben der Medien und ähnliche Manifestationen, in denen besonders das Medium Home sehr geschickt gewesen sein soll. Zum Gelingen dieser Versuche gehören in der Regel besondere Vorbedingungen, so z. B., daß die Teilnehmer einer Soiree durch Berühren der Hände eine Kette schließen, um angeblich eine Ansammlung und Zirkulation jenes Fluidums zu erzeugen und damit das Medium zu unterstützen, welches durch Ausgabe seines Perisprits oft gänzlich erschöpft werden soll. Manche Versuche gelingen auch bloß im Dunkeln, weil das Licht angeblich die Materialisationen hindert. Der in vielen Fällen selbst den berühmtesten Medien (Home, Slade u. a.) nachgewiesene Betrug hindert die große Gemeinde der Spiritisten nicht, der Sache ferner ihr Zutrauen zu schenken. Was die Geschichte dieser merkwürdigen Bewegung betrifft, so fanden sich ähnliche Praktiken schon seit alten Zeiten in China, Indien, Griechenland und Rom, woselbst man zum Teil in sehr ähnlicher Weise Geisterschriften und Orakel zu erlangen wußte; aber der neuere Anstoß ging von dem quäkerischen Sektenwesen mit seinem Geister- und Erleuchtungsglauben aus, welches sich seit Jahrhunderten in Amerika ausgebreitet hat. Die Geschwister Fox zu Hydesville bei New York sind die Entdecker der Geisterklopferei (1849). Fast gleichzeitig damit begann das Tischrücken (s. d.) für die spiritistischen Anschauungen Propaganda zu machen. Diese "Offenbarungen" gewannen in Amerika in der That sehr bald zahlreiche Anhänger, die eine förmliche Kirche bildeten und ihre Überzeugungen durch eine große Menge Zeitschriften und Broschüren stärkten. Man erzählt von vielen Millionen; doch lassen sich solche Angaben begreiflicherweise nicht kontrollieren, wenn auch zugegeben werden muß, daß die höhern Klassen infolge einer natürlichen Reaktion gegen die herrschenden materialistischen und sozialistischen Lehren der Gegenwart den S. überall mit offenen Armen aufnehmen und in ihm zum Teil das einzige Rettungsmittel der Gesellschaft sehen. In Amerika wirkten als spiritistische Schriftsteller insbesondere Andreas Jackson Davis durch eine Unzahl von Offenbarungen triefender Schriften (z. B. "Der Reformator", "Der Zauberstab", "Die Prinzipien der Natur" etc.), Richter Edmonds, Prof. Hare, Owen ("Das streitige Land") u. a. In Philadelphia soll auf Grund eines größern Legats sogar eine Professur für spiritistische Philosophie errichtet werden. In Europa wollte der S. lange Zeit keinen Eingang gewinnen, und bloß einzelne Medien, wie Home, zogen in den europäischen Hauptstädten umher, um in hohen und allerhöchsten Privatzirkeln "Sitzungen" abzuhalten. Durch Allan Kardec in Paris nahm die Sache mehr den Charakter der reinen Magie, durch den Baron Güldenstubbe, der in seiner "Positiven Pneumatologie" 194 Totenbriefe aus allen Zeiten und in den verschiedensten Sprachen veröffentlichte, denjenigen der Nekromantie und durch den Rendanten Hornung in Berlin das Ansehen einer Burleske an. In neuerer Zeit sind indessen in England namhafte Naturforscher, wie Wallace, der Mitbegründer der Darwinschen Theorie und Verfasser der spiritistischen Schriften: "Die wissenschaftliche Ansicht des Übernatürlichen" und "Eine Verteidigung des modernen S.", sowie der Chemiker Crookes ("Der Spiritualismus und die Wissenschaft") dafür eingetreten und haben sehr viele Bekehrungen im Gefolge gehabt. In Deutschland sind erst durch die Bemühungen des russischen Staatsrats Aksakow und seines litterarischen Gehilfen Wittig diese Lehren heimisch geworden, sofern dieselben, in ihrem Vaterland gesetzlich an solchen Bestrebungen verhindert, bei uns eine spiritistische Zeitschrift ("Psychische Studien", Leipz. 1874 ff.) begründeten und Anregung zur Bildung von Vereinen gaben. Schriftstellerisch haben außerdem M. Perty. Zöllner, K. du Prel, Baron Hellenbach u. a. in dieser Richtung gewirkt, und eine neue Monatsschrift: "Die Sphinx" (hrsg. von Hübbe-Schleiden, Hamb. 1886 ff.), dient der weitern Ausbreitung. Ob dieser von der streng kirchlichen wie von der liberalen und fortschrittlichen Presse gleich lebhaft angefeindeten Bewegung irgend welche nicht durch die bekannten Kräfte erklärbare Thatsachen zu Grunde liegen, wie Hare, Wallace und Crookes behaupten, oder ob eine noch ununtersuchte Nerventhätigkeit, resp. das sogen. Od (s. d.), wie andre wollen, dieselben erklären kann, oder ob alles auf bewußter und unbewußter Täuschung beruht, mag der Zukunft anheimgestellt bleiben. Vgl. A. Aksakow und K. Wittig, Bibliothek für Spiritualismus (Leipz. 1867-77, bisher 14 Bde.); Dixon, Neuamerika (a. d. Engl., Jena 1868); Perty, Der jetzige Spiritualismus (Leipz. 1877); J. H. Fichte, Der neue Spiritualismus (das. 1878); Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen (das. 1877-81, 4 Bde.); K. du Prel, Philosophie der Mystik (das. 1885); Hellenbach, Geburt und Tod (Wien 1885); A. Bastian, In Sachen des S. (Berl. 1886); polemische Schriften von Wundt, Vogel, Nagel, E. v. Hartmann u. a. Über die gewöhnlichen Betrügereien und Entlarvungen der Medien haben Home (1877), der später selbst wegen Betrug und Erbschleicherei verurteilt wurde, und Erzherzog Johann von Österreich (1884) geschrieben. Spirito (ital.), Geist; con s., mit Feuer. Spiritualen (neulat.), Sittenaufseher in den Priesterseminaren; dann Partei der strengern Franziskaner (s. Spiritualis (lat.), geistig, dem Materiellen entgegengesetzt; daher Spiritualien, geistige oder geistliche Angelegenheiten, Glaubenssachen. Spiritualisieren (franz.), begeistern; vergeistigen, spiritualistisch auffassen oder gestalten. Spiritualismus (lat.), dasjenige metaphysisch-psycholog. System, welches die menschliche Seele für ein rein geistiges oder absolut immaterielles Wesen Spiritualität - Spiritus. erklärt (vgl. Pneumatismus). Dann auch s. v. w. Spiritismus Spiritualität (lat.), s. v. w. Geistigkeit im Gegensatz zur Körperlichkeit (Materialität). Vgl. Spirituell (lat.), geistig, geistreich, geistlich. Spirituosen (lat.), geistige, berauschende Spiritus (lat.), das Wehen des Windes, die bewegte Luft; der Atem, Hauch und, weil dieser als das Belebende (Geistige) des Körpers oder als das erzeugende (Lebens-) Prinzip desselben gedacht wurde, alles Feine, Dünnflüssige, Flüchtige, das zugleich auf den Organismus anregend, belebend einwirkt; daher auch der flüchtige Teil des Weins (Weingeist, vgl. den folgenden Artikel). S., S. vini rectificatissimus, Alcohol vini, Spiritus vom spez. Gew. 0,830-0,834 (91,2-90 Proz.); S. dilutus, S. vini rectificatus, Mischung aus 7 Teilen Spiritus und 3 Teilen Wasser vom spez. Gew. 0,892-0,896 (67,5-69,1 Proz.); S. aethereus, s. Hoffmannsche Tropfen; S. aetheris chlorati, S. salis dulcis, S. muriatico-aethereus, versüßter Salzgeist, s. Salzäther; S. aetheris nitrosi, S. nitri dulcis, S. nitrico- (nitroso-) dulcis, versüßter Salpetergeist, s. Salpetrige Säure; S. ammoniaci caustici Dzondii, alkoholische Ammoniaklösung; S. Angelicae compositus, zusammengesetzter Engelwurzelspiritus, Destillat von 75 Spiritus und 125 Wasser über 16 Angelikawurzel, 4 Baldrianwurzel, 4 Wacholderbeeren. Man zieht 100 Teile ab und löst darin 2 Teile Kampfer; S. camphoratus, Lösung von 1 Teil Kampfer in 7 Teilen Spiritus und 2 Teilen Wasser; S. Cochleariae, Löffelkrautspiritus, Destillat (4 Teile) von 3 Teilen Spiritus und 3 Teilen Wasser über 8 Teile frisches blühendes Löffelkraut; S. ferri chlorati aethereus, s. Bestushewsche Nerventinktur; S. Formicarum, Ameisenspiritus; S. Frumenti, Kornbranntwein; S. fumans Libavii, Zinnchlorid; S. Juniperi, Wacholderspiritus, Destillat (20 Teile) von 15 Teilen Spiritus und 15 Teilen Wasser über 5 Teilen Wacholderbeeren; S. Lavandulae, Lavendelspiritus, Destillat (20 Teile) von 15 Spiritus und 15 Wasser über 5 Lavendelblüten; S. Melissae compositus, Karmelitergeist; S. Menthae crispae, Krauseminzessenz, und S. Menthae piperitae, Pfefferminzessenz, Lösung von 1 Teil Krauseminz-, resp. Pfefferminzöl in 9 Teilen Spiritus; S. Mindereri, s. Essigsäuresalze; S. nitri, Salpetersäure; S. nitri dulcis, s. S. aetheris nitrosi; S. nitri fumans, rauchende Salpetersäure; S. Rosmarini, S. anthos, Rosmarinspiritus, aus Rosmarin wie Wacholderspiritus bereitet; S. saponatus, Seifenspiritus; S. salis, Salzsäure; S. salis ammoniaci causticus, Ammoniakflüssigkeit; S. salis dulcis, s. S. aetheris chlorati; S. Serpylli, Quendelspiritus, aus Quendel wie Wacholderspiritus bereitet; S. Sinapis, Senfspiritus; S. vini Cognac, Kognak; S. sulfuratus Beguini, Lösung von Schwefelammonium; S. terebinthinae, Terpentinöl; S. vini, Alkohol; S. vitrioli, verdünnte Schwefelsäure. - In der Grammatik der griech. Sprache bezeichnet S. den starken oder scharfen und den gelinden oder schwachen Hauch (s. asper und s. lenis), der über jeden Vokal oder Diphthong zu Anfang eines Wortes gesetzt und im ersten Fall durch das Zeichen ^?, im zweiten durch ^? [s. Bildansicht] ausgedrückt wird. Vgl. den Artikel Spiritus (hierzu Tafel "Spiritusfabrikation"), mehr oder weniger reiner Alkohol, aus zuckerhaltigen Flüssigkeiten durch Destillation gewonnen. Früher, als noch der S. größtenteils zum Genuß in der Form von Branntwein (s. d.) bereitet wurde, war die Spiritusfabrikation hauptsächlich Branntweinbrennerei. Der neuere Betrieb unterscheidet sich von letzterer durch das Arbeiten in größerm Maßstab und auf alkoholreichere Destillate. Im allgemeinen nennt man solche durch Destillation erhaltene Flüssigkeiten Branntweine, welche zum Getränk bestimmt sind und 30-50 Volumprozent Alkohol enthalten; die zu andern Zwecken dienenden, bis über 90 Volumprozent Alkohol enthaltenden, ebenso gewonnenen Flüssigkeiten heißen S. Bei dem Branntwein hat der je nach dem Ursprung (und zum Teil der Bereitungsweise) verschiedene Geruch und Geschmack Einfluß auf den Handelswert, der wesentliche Bestandteil ist aber stets der berauschend wirkende Alkohol, und beim S. kommt letzterer allein in Betracht, die fremden, riechenden Stoffe, welche als Nebenprodukte bei der Alkoholbildung auftreten, werden möglichst vollständig entfernt. Das Produkt heißt dann gereinigter S. (Sprit). Die Darstellung aller dieser Produkte begreift im allgemeinen zwei wesentlich verschiedenartige Arbeiten: die Herstellung einer alkoholhaltigen Flüssigkeit und die Abscheidung des Branntweins oder S. aus dieser mittels Destillation. Die alkoholhaltige Flüssigkeit wird stets durch Gärung einer zuckerhaltigen gewonnen. Die Darstellung der letztern aber ist je nach dem zu verarbeitenden Rohmaterial eine sehr verschiedene. Als solches kommen nämlich in Betracht: a) feste oder flüssige Stoffe, welche Zucker fertig gebildet enthalten; hierher gehören namentlich Zuckerrüben, Maisstengel, Sorghum, alle Arten Obst und Beeren, Melasse und Sirupe sowie andre Rückstände oder Abfälle der Zuckerfabrikation, Trester, Honig u. a.; b) Stoffe, welche zwar keinen Zucker, wohl aber Stärkemehl enthalten, welches durch Einwirkung von Malz (Diastase) in Zucker (Maltose) übergeführt werden kann; dazu gehören: Wurzeln und Knollen, namentlich Kartoffeln (Topinambur), Getreide aller Art, Mais, manche Leguminosen und andre Samen. Verarbeitung zuckerhaltiger Rohstoffe. Die zuckerhaltigen Rohstoffe brauchen nur in eine für die Vergärung brauchbare Form (Lösung von bestimmter Konzentration) versetzt zu werden, um durch den Einfluß der Hefe in Alkohol und Kohlensäure zu zerfallen. Die stärkemehlhaltigen Stoffe hingegen können erst die gärungsfähigen Zuckerlösungen ergeben, wenn sie der Verzuckerung durch Malz unterlegen haben. Obwohl es viel einfacher erscheint, die bereits zuckerhaltigen Rohstoffe zu verwenden, richtet sich doch die Wahl derselben weniger hiernach als nach der Besteuerungsart des betreffenden Landes. Aus diesem Grund wird in dem größten Teil Deutschlands, dort, wo der Raum, welchen die gärende Flüssigkeit einnimmt, als Maß für die zu bezahlende Steuer gilt, derjenige Rohstoff am meisten benutzt, welcher die am meisten zuckerhaltigen Maischen liefert, d. h. also diejenigen, bei welchen aus einem bestimmten Maß gärender Maischen am meisten S. gewonnen werden kann. Dies sind die stärkemehlhaltigen Rohstoffe Getreide, Mais und die Kartoffeln, von zuckerhaltigen nur die Melasse. Ausnahme bilden nur diejenigen Teile Deutschlands, in denen eine andre Besteuerung noch herkömmlich ist, welche die Verarbeitung von allerhand Obstarten im Kleinbetrieb gestattet. Sollte hier die Steuer nach dem Gärraum bezahlt werden, so würde der Verbrauch der bezeichneten Rohstoffe unmöglich, weil der Betrieb zu teuer werden würde. Die Benutzung des in größten Mengen (im Klima des mittlern Europa, namentlich in Deutschland) zu habenden zuckerhaltigen Rohstoffs, der Zuckerrübe, hat in Deutschland selbst in Spiritus (aus zuckerhaltigen und stärkehaltigen den Teilen, wo nicht der Gärraum besteuert wird, keine Verbreitung finden können. In Frankreich, wo ein andres Steuersystem herrscht, unter welchem es vorteilhaft ist, weniger gehaltreiche Flüssigkeiten zur Vergärung und Spiritusgewinnung zu benutzen, ist die Verwendung der Zuckerrüben zur Spiritusgewinnung in manchen Gegenden sehr verbreitet, vielfach in der Weise, daß man, je nach Handels- und Preisverhältnissen der Jahrgänge, die Rübenernten zur Zuckerfabrikation oder zur Spiritusbereitung benutzt. Als zuckerhaltiger Rohstoff kommt für Deutschland nur die Melasse in Betracht, aber auch diese wird jetzt vielfach vorteilhafter auf Zucker als auf S. verarbeitet. Aus Traubenwein werden namentlich im südlichen Frankreich die gesuchtesten Traubenbranntweine (Franzbranntweine) gewonnen, obwohl immer nur dann, wenn die Verwertung dieses alkoholreichern Produkts eine höhere als die des Weins ist (Rückstände von der Weinbereitung werden stets in ähnlicher Weise verarbeitet). Die Darstellung des zum Branntweinbrennen bestimmten Weins verlangt nicht dieselbe Sorgfalt wie die des Trinkweins, sie zielt auf möglichste Ausbeutung an Alkohol von reinem Geschmack; die Art des Abbrennens (s. unten) und der Aufbewahrung ist auf den Geschmack des Produkts von wesentlichem Einfluß. Die Rückstände der Weinbereitung liefern den Tresterbranntwein, die bei der Gärung abgeschiedene Hefe den Drusenbranntwein. Aus zuckerhaltigen Stoffen werden in möglichst einfacher Weise Flüssigkeiten hergestellt, welche den gesamten Zucker des Rohmaterials in Lösung enthalten, worauf durch Zusatz von Hefe die Gärung eingeleitet wird, bei welcher der Zucker in Alkohol und Kohlensäure zerfällt. Melasse wird unter Zusatz von etwas Schwefel- oder Salzsäure und unter Erwärmung zu einer Flüssigkeit von 12-25 Proz. Gehalt verdünnt und bei geeigneter Temperatur mit der Hefe (Hefenmaische, Kunsthefe) versetzt. Zur Darstellung von Rum werden Rückstände von der Darstellung des Zuckers aus Zuckerrohr mit Wasser und Schwefelsäure oder Schlempe zu Flüssigkeiten von 14-16 Proz. Gehalt verdünnt und mit Hefe zur Gärung gestellt; bisweilen wird Zuckerrohrsaft zugesetzt. Von Obst oder süßen Früchten werden Äpfel und Birnen, Kirschen, Zwetschen, Brombeeren, Heidelbeeren, Holunderbeeren u. a. benutzt. Aus Äpfeln und Birnen wird durch Zermalmen oder Reiben, aus den andern Früchten durch teilweises Zerstampfen ein Brei hergestellt und dieser entweder ausgepreßt, oder, und zwar meistenteils, unmittelbar in Tonnen gefüllt, in denen die Masse bald in Gärung kommt. In manchen Gegenden, z. B. im Schwarzwald, bildet die Obstbrennerei eine eigentümliche ländliche Industrie, die von vielen Tausenden in kleinerm und größerm Maßstab betrieben wird; es werden aus den einzelnen Obstarten ebenso viele verschiedene und zum Teil sehr geschätzte Trinkbranntweine dargestellt, die durch ganz bestimmten Geschmack gekennzeichnet sind. Nachdem die Gärung begonnen, werden die Tonnen nach der erfahrungsmäßig besten Zeit dicht verschlossen und so lange an einem kühlen Ort aufbewahrt, bis die Reihe des Abbrennens an sie kommt; das Abbrennen dauert das ganze Jahr hindurch, so daß manches Obst ein Jahr, Zwetschen auch wohl zwei Jahre und mehr in der Tonne verbleiben; die Dauer dieser überaus langsamen Gärung ist von bestimmtem Einfluß auf die Eigenschaften, namentlich auf die Klarheit, des Erzeugnisses. Zuckerrüben liefern neben einem hohen Spiritusertrag von der Bodenfläche ein geschätztes Viehfutter als Rückstand. Nach Champonnois werden die Rüben auf einer Schneidemaschine in Stücke geschnitten, aus diesen wird der Saft durch Auslaugen mit säurehaltigem Wasser oder mit Schlempe gewonnen und mit Hefe oder mit Hefe enthaltendem, gärendem Rübensaft in rasch verlaufende Gärung versetzt. Nach Leplay wird der Saft nicht abgeschieden, sondern innerhalb der gleichfalls in Stücke geschnittenen Rüben dadurch in Gärung versetzt, daß man sie unter einem Zusatz von etwas Schwefelsäure in gärenden Rübensaft bringt. Im erstern Fall wird der Rübensaft, im letztern werden die Rübenschnitte als solche nach Vollendung der Gärung (also nach 1-2 Tagen) der Destillation behufs Abscheidung des Alkohols unterworfen. Verarbeitung stärkehaltiger Rohstoffe. Die Verarbeitung der stärkemehlhaltigen Rohstoffe ist in Deutschland von größter volkswirtschaftlicher Bedeutung. Hauptmaterial ist die Kartoffel, welche für große Länderstrecken mit sandigem Boden das hauptsächlichste Landesprodukt bildet, aber bei ihrem niedrigen Preis hohe Transportkosten nicht erträgt. Die Umwandlung in ein teureres, verhältnismäßig weniger Gewicht besitzendes und daher Frachtkosten leicht ertragendes Produkt erscheint um so vorteilhafter, als dabei ein Nebenprodukt, die Schlempe, entfällt, welche ein höchst wertvolles Futtermittel für Milchtiere ist. Hierin liegt begründet, daß die Spiritusfabrikation selten als selbständige Großindustrie auftritt, sondern ein landwirtschaftliches Gewerbe bildet, welches eine große Viehhaltung ermöglicht, so daß der ärmere Boden stark gedüngt werden kann und bei der intensiven Bearbeitung, welche die Kartoffel erfordert, so wesentlich verbessert wird, daß auch der Getreidebau sich lohnend erweist. Hierbei ist nun aber zu beachten, daß die Kartoffeln zur Verzuckerung des Stärkemehls des Malzes und ebenso zur Erzeugung des nötigen Gärmittels der Gerste in solchem Verhältnis bedürfen, daß man auf die Kartoffelernte von je zwei oder drei die Gerstenernte von einem Morgen Landes nötig hat. Es muß also die erforderliche, zum Gerstenbau geeignete Landoberfläche zur Verfügung stehen, oder es muß Gerste von außen eingeführt (gekauft) werden. Dazu kommt in neuerer Zeit die Aufnahme des Maiskorns in den Brennereibetrieb und eine solche Hebung der Verkehrsmittel, daß gegenwärtig große Mengen Kartoffeln nach entfernten Ländern transportiert werden. Die Beurteilung der Spiritusindustrie muß also gegenwärtig wesentlich anders lauten als ehemals. Von Getreide werden vorzugsweise Roggen und Mais (bei uns hauptsächlich als Zusatz zu Kartoffeln), außerdem auch Gerste und zuweilen Weizen und Reis auf S. verarbeitet. Wie in der Bierbrauerei werden diese Rohstoffe in der Weise mit Malz behandelt, daß durch die in letzterm enthaltene Diastase das Stärkemehl in Dextrin und Zucker verwandelt wird. Abweichungen ergeben sich aber insofern, als bei der Bierbrauerei Dextrin erhalten bleiben soll, während die Spiritusfabrikation eine möglichst vollständige Vergärung bezweckt. Das bei der Verzuckerung des Stärkemehls durch Malz neben Zucker (Maltose) gebildete Dextrin ist in der Zeitspanne, welche in der Praxis der Brennerei für die Alkoholgärung eingehalten wird, als direkt unvergärbar zu betrachten, und doch vergärt es, indem nach der Zersetzung der Maltose durch die Hefe die aus dem Verzuckerungsprozeß noch aktiv zurückgebliebene Diastase nunmehr auch das Dextrin in gärungsfähigen Zucker verwandelt. Es ist mithin sehr wesentlich, in der Maische noch Diastase für die Spiritusfabrikation. Fig. 1. Lacambres Maischapparat (Querschnitt). Fig. 3. Hollefreunds Apparat (Querschnitt) Fig. 4. Hollefreunds Apparat (Grundriß). Fig. 2. Kartoffelmaischapparat (Durchschnitt). Fig. 7. Hentschels Apparat (Durchschnitt). Fig. 6. Pauckscher Apparat (Durchschnitt). Meyers Konv.- Lexikon, 4. Aufl. Zum Artikel : Spiritus K. Spiritus (Maischverfahren). Alkoholgärung zu erhalten. Die nachwirkende Kraft der Diastase wird zerstört durch zu hohe Temperatur und durch in der gärenden Maische vorhandene Milchsäure. Bei der Verarbeitung von Getreide auf Kornbranntwein wird ein Gemenge von Roggen mit Weizen- oder Gerstenmalz oder Weizen mit Gerstenmalz, und zwar 1 Teil Malz auf 2-3 Teile ungemalztes Getreide, möglichst fein geschroten, um eine vollständige Einwirkung der Stoffe aufeinander zu erreichen, und eingemaischt. In England zieht man wie bei der Bierbrauerei eine wirkliche Würze, in Deutschland dagegen läßt man die ganze Maische mit den Trebern gären. Bei der Maischraumsteuer liegt es im Interesse des Brenners, den Maischraum möglichst auszunutzen und eine möglichst konzentrierte Maische herzustellen, anderseits ist eine vollständige Verzuckerung und Vergärung nur bei einer gewissen Verdünnung der Maische möglich. Man hat früher mit 8 Teilen Wasser gearbeitet und ist bis auf 3,75 herabgegangen, hält jetzt aber das Verhältnis von 1 : 4,5 für das vorteilhafteste. Kartoffeln werden gewaschen, mit Dampf gekocht, zerkleinert und mit Gerstenmalz (bisweilen unter Zusatz von Roggenmalz) gemaischt. Auf 100 Teile Kartoffeln rechnet man 3-5 Teile Gerste (als Malz). Die Konzentration der Maische wird etwas stärker genommen als beim Getreide, indem man auf 1 Teil Trockensubstanz 4,5, 4 und selbst nur 3 Teile Wasser nimmt. Es ist klar, daß der große Wassergehalt der Kartoffeln bei diesem Verhältnis in Abzug gebracht wurde. Als Regel für die anzuwendenden Temperaturen hat sich ergeben, daß beim Maischen mit dem Malz 61° nicht überschritten werden soll, u. daß 20 Minuten zur Verzuckerung ausreichen. Maischverfahren. Das Maischen wird in kleinern Brennereien durch Handarbeit, in größern mittels Maischmaschinen bewirkt, die erforderliche Temperatur teils durch Erhitzen des zum Maischen verwendeten Wassers, teils durch Einleiten von Dampf erzielt. Bei der Handarbeit wendet man zum gründlichen Durcharbeiten Maischhölzer, bei der Maschinenarbeit ähnliche Vorrichtungen an, wie sie bei der Kartoffelbrennerei üblich sind (s. unten). In Belgien und Frankreich wird vielfach der Lacambresche Maischapparat (s. Tafel, Fig. 1) benutzt, welcher die beste Durchmaischung und die Herstellung jeder Temperatur in vorteilhafter Weise gestattet. Es ist ein liegender, oben abgeschnittener und offener, an beiden Enden durch Seitenwände geschlossener, etwa 2 m langer Cylinder von Eisenblech mit Rührwerk und Mantel. a ist der innere, zur Maischarbeit dienende Raum, b der Raum zwischen Cylinder und Mantel, e eine Öffnung zum Einlassen, d ein Ablaßrohr für Dampf oder Wasser, e' das Ablaßrohr für die fertige Maische. Ein Rührwerk, dessen Achse die Mitte des Cylinders einnimmt, hat eine Anzahl eine Schraubenlinie darstellender, mit eisernen Rechen, Rahmen und Querstäben oder Gittern versehener Arme und macht etwa 25 Umdrehungen in der Minute, so daß eine vollkommene, beliebig lange fortzusetzende Durcharbeitung der Masse geschieht, während der den Zwischenraum b durchströmende Dampf die Erhitzung bewirkt. Die gewaschenen Kartoffeln werden nach dem ältern Verfahren mittels frei einströmenden Dampfes in (meist hölzernen) Bottichen (Dampffässern) gekocht, noch heiß mittels Quetschwalzen oder mittels andrer Vorrichtungen zerdrückt und dann unter Zusatz der verhältnismäßigen Quantität Wasser mit dem (meistens Grün-) Malz vermischt; dieses Einmaischen geschieht auf verschiedene Weise, je nachdem man die ganze Menge Malz und Kartoffeln zugleich maischt oder die Kartoffeln in kleinern Anteilen zu dem vorher eingemaischten Malz bringt oder endlich die Kartoffeln in kleinern Mengen ebenfalls mit Anteilen des Malzes mischt, bis die Masse jedesmal durch die Zuckerbildung dünnflüssig geworden ist. Die Einrichtung der zum Einmaischen der Kartoffeln angewandten Maischbottiche ist eine sehr mannigfaltige; ein Beispiel zeigt Fig. 2 der Tafel. a ist das Kartoffeldampffaß, b der hölzerne Trichter, mittels dessen die entleerten Kartoffeln zwischen die Quetschwalzen d d geleitet werden; diese sind durch die Schraube e gegeneinander verstellbar und erhalten ihre Bewegung durch c; die zerdrückten Kartoffeln fallen in den Bottich g, in dem sich ein durch p q, r n bewegtes, um die auf dem Lager m ruhende Achse o sich drehendes Rührwerk befindet, welches aus dem Arm t und aus Rahmen mit Querstäben u s besteht, die sich während des Umlaufs der Mittelachse um ihre eigne horizontale Achse s s drehen. f h sind Röhren für Wasser und Dampf, k i der Ablaß für die fertige Maische, l ein Ventil zum Reinigen des Bottichs. Nach den neuern Maischverfahren werden die Kartoffeln sowie auch Getreide und besonders in neuerer Zeit auch Mais, letzterer in eingequelltem Zustand, in geschlossenen Gefäßen unter einem Druck von 2-3 Atmosphären und bei der demselben entsprechenden höhern Temperatur gedämpft, hierauf, vollends zerkleinert, in geeigneten Kühlapparaten auf die Zuckerbildungstemperatur gebracht, bei welcher das Zusetzen des Malzes und hierauf die Umwandlung des Stärkemehls in Zucker erfolgt, dann einige Zeit, wie bei dem ältern Verfahren, dieser Einwirkung überlassen und schließlich durch eine zweite Abkühlung auf die Gärungstemperatur gebracht. Zweck dieser Art zu arbeiten ist ein vollständigeres Aufschließen und Löslichmachen der Stärke in Form von Zucker und folgerichtig eine höhere Ausbeute an S., und dieser Zweck wird in so sicherer Weise erreicht, daß man das ältere Verfahren durch eine ganze Reihe auf demselben Grund beruhender, in der Ausführung jedoch verschiedener Verfahren allmählich ersetzt. Das erste dieser Verfahren war das Hollefreundsche, bei welchem nach dem Erhitzen der Kartoffeln auf die angegebene Höhe eine plötzliche Verminderung des Luftdrucks durch Kondensation des Dampfes und eine Luftpumpe angewandt und die Masse zugleich energisch umgerührt wird. Fig. 3 und 4 der Tafel stellen einen in dieser Weise wirkenden Apparat dar. A ist der auf dem Gestell L ruhende eiserne Maischcylinder mit dem auf der Achse o sitzenden Rührwerk C, dem Mannloch b und dem Dom B, D der Kondensator mit der Luftpumpe. Das Rührwerk wird durch die Teile K M f betrieben. Die Kartoffeln werden nebst etwas Wasser durch das Füllloch a eingeschüttet, worauf alles fest verschlossen und durch das Rohr o s i mit den Ventilen k l Dampf zugelassen wird, welcher durch die kleinern Rohre mit Ventilen k k k in den Cylinder gelangt. Nachdem in diesem die gewünschte Spannung und Temperatur eingetreten, wird das Rührwerk eine Zeitlang in Thätigkeit gesetzt, sodann der Dampf abgesperrt und durch Öffnung von m der im Cylinder vorhandene durch das Rohr p ins Freie entlassen, worauf die Temperatur auf 100° und die Spannung auf 0 herabgehen. Hierauf wird die Luftpumpe in Betrieb gesetzt und durch p und Q Wasser bei D in den Kondensator eingelassen. Hierdurch finden eine rasche Verminderung des Druckes Spiritus (Maischmaschinen). nern des Apparats unter den der Atmosphäre und ein Herabgehen der Temperatur statt. Sobald die zur Zuckerbildung geeignetste erreicht ist, wird durch Öffnen des Verbindungshahns H das mit Wasser zu einem feinen Brei angemachte, im Bottich E befindliche Grünmalz in den Cylinder A (infolge der hierin hervorgebrachten Luftverdünnung) eingesaugt und mit dem Kartoffelbrei durch das Rührwerk wohl vermischt. Nun wird die Luftpumpe stillgestellt, der Cylinder geöffnet und die Masse unter jeweiligem Umrühren der Zuckerbildung überlassen; ist diese vollendet, so wird die Maische auf den Kühlschiffen oder in einem mit dem Apparat verbundenen Kühler auf die Gärungstemperatur abgekühlt. Ähnlich ist der Apparat von Bohm, der aber ohne Luftpumpe arbeitet und das Kühlen der heißen Maische durch eine Verbindung von Rühr- und Kühlvorrichtung bewirkt. Das Rührwerk besteht aus flachen cylindrischen Gefäßen aus Eisenblech, die an ihren Flächen messerartige Vorsprünge tragen und auf einer hohlen Achse derartig angebracht sind, daß das Kühlwasser durch die Cylinder gehen und durch die ein Doppelrohr vorstellende hohle Achse wieder austreten kann. Von außen wird die Kühlung des Apparats durch Aufspritzen von kaltem Wasser bewirkt. Dasselbe Ziel wie die vorigen Apparate, aber mit den einfachsten Mitteln, verfolgt der Henzesche Dämpfer, der, wie Textfigur 1 zeigt, nur ein verbessertes Dampffaß ist, in welchem die Einwirkung höher gespannter und entsprechend heißerer Dämpfe möglich ist, eine Einwirkung, welche bis zum Austritt der Masse aus dem Dämpfer dauert, wobei diese durch den gespannten Dampf in außerordentlich feiner Verteilung in das eigentliche Maischgefäß geblasen wird. Der eiserne Cylinder A ist mit dem konischen Bodenansatz B versehen, welcher in das Ablauf- oder vielmehr Ausblaserohr C übergeht. D D' sind die Einlaßröhren für den Dampf, d ein Verschluß zum Reinigen des Ausblaserohrs, e das durch das Handrad f verstellbare Ventil zum Regulieren des Ausblasens. Das Mannloch a dient zum Einfüllen der Kartoffeln und wird dann dicht verschlossen; b ist ein Sicherheitsventil. Wenn die Einwirkung des hoch gespannten Dampfes auf die im Dämpfer befindlichen Kartoffeln beendet ist, werden diese durch Öffnen des Ventils in einem passenden, mit Rührwerk versehenen Maischbottich ausgeblasen, in welchem bereits ein Teil des zur Verzuckerung erforderlichen Malzes, mit Wasser zu einem Brei angerührt, sich befindet. Bei langsamem Ausblasen reicht die Verdunstung der zerstäubenden Masse aus, diese auf die Zuckerbildungstemperatur abzukühlen. Indessen sind die Maischbottiche meist mit Vorrichtungen versehen, welche die erforderliche Abkühlung durch Wasserströmungen bewirken. Wenn das Ausblasen beendet ist, wird das noch fehlende Malz zugesetzt, die Zuckerbildung abgewartet und dann die verzuckerte Maische vollends zur Gärtemperatur gebracht, und zwar entweder unter Anwendung der oben bezeichneten Wasserkühlung oder in derselben Art wie bei der ältern Arbeitsweise, nämlich auf Kühlschiffen mit Hand- oder Maschinenbetrieb. Der Henzesche Dämpfer ist mehrfach verbessert worden. Durch Modifizierung der Dampfeinströmung hat man eine wirbelnde Bewegung des zu dämpfenden Materials erreicht, und diese hat sich namentlich bei Verarbeitung von Mais und Roggen in dem ursprünglich nur für Kartoffeln konstruierten Dämpfer bewährt. Um beim Ausblasen eine vollkommnere Zerkleinerung des Materials zu erreichen, wurden verschiedene Vorrichtungen angebracht; man ging aber in derselben Richtung noch weiter und konstruierte Nachzerkleinerungsapparate, welche eine bis dahin nicht gekannte feine Zerteilung des Materials herbeiführen. Der Apparat von Ellenberger ist dem sogen. Holländer der Papierfabriken nachgebildet und dem Brennereibetrieb angepaßt. Die gar gedämpfte Kartoffel- oder Getreidemasse wird ausgeblasen und fällt auf die 200mal in der Minute sich drehende Trommel des Holländers, deren Zähne, wie die der Grundplatte, eine besondere Form haben. Der Apparat arbeitet anerkanntermaßen vorzüglich und ist sehr verbreitet. Beim Dämpfen von Mais und Getreide wird außerdem der Dämpfer selbst mit einem sehr wirksamen Rührwerk an horizontaler Achse versehen. Eine hervorragende Stellung nimmt der Apparat von Paucksch (Fig. 5 u. 6 der Tafel) ein. Außer dem eigentümlich gestalteten Dämpfer besitzt derselbe einen Vormaischbottich, der aus einem schalenförmigen Unterteil mit cylindrischem Aufsatz besteht. Auf dem Boden ist der Zentrifugal-Maisch- und Zerkleinerungsapparat angebracht; er besteht aus einer festliegenden Grundplatte und einem Flügelrad als Läufer, welches 300-400 Umdrehungen macht. Vermöge seiner Einrichtung saugt er die Maische durch vier Öffnungen ein und wirft sie nach dem Mahlen seitwärts aus. Ein Rührwerk ist nicht vorhanden, der Maischraum daher frei und so für die Beobachtung der Temperatur zugänglich. Die Bewegung der Maische ist eine äußerst heftige und doch zugleich eine höchst regelmäßige, die Wirkung gründlich. Die kleinen Apparate werden mit Mantel für Wasserkühlung eingerichtet. Der Maischapparat von Hentschel (Fig. 7 der Tafel) hat ebenfalls eine ausgezeichnete Maischwirkung. Er besteht aus einem doppelwandigen Vormaischbottich mit trichterförmigem doppelten Boden und einem eigentümlichen Zerkleinerungs- u. Maischapparat. Durch das unter diesem befestigte Schneckengehäuse mit aufgeschraubtem Mahlring und die aufrecht stehende rotierende Welle, auf welcher der gerippte Zerkleinerungskonus gemeinschaftlich mit den ansaugenden Schnecken festsitzt, wird die Maische in Bewegung gesetzt. Das aus dem Dämpfer ausgeblasene Maischgut fällt in die schüsselförmige Vertiefung des Zerkleinerungsapparats, wird von diesem in parabolischer Richtung ausgeworfen, gleitet an der innern Wandung des Bodens herab und wird durch den- Spiritus (Verarbeitung der Maische). trichterförmigen Boden der anhängenden Schnecke zugeführt und im Zerkleinerungsapparat vermahlen. Die Bewegung ist eine so lebhafte, daß die im Bottich befindliche Maische in eine starke Rotation versetzt wird. Die innere Wandfläche ist mit Rippen versehen, und wenn die Maischekühlung beabsichtigt wird, werden außer der Wandkühlung noch Kühlröhren angewendet. Kein Zweig der Spiritusfabrikation hat in der neuern Zeit so bedeutende Fortschritte gemacht wie die Verarbeitung des Maises in den Hochdruckapparaten. Man bringt die ganzen Körner in den Henzedämpfer, welcher auf 100 kg Mais 130-200 kg Wasser enthält, kocht bei offenem Mannloch unter lebhafter Bewegung des Maises eine Stunde lang, schließt dann das Mannloch, dämpft wieder eine Stunde unter steigendem Druck, zuletzt eine Viertelstunde bei wenigstens drei Atmosphären und bläst endlich unter diesem Druck aus. Soll der Mais mit Kartoffeln verarbeitet werden, so maischt man ihn, nachdem er abgekühlt ist, für sich ein, verteilt ihn mit der erforderlichen Hefe auf zwei oder drei Gärbottiche und setzt die Kartoffelmaische zu. Auch Roggen wird jetzt in ganzen Körnern im Henzedämpfer verarbeitet. Während bei dem alten Verfahren durchschnittlich 18,7 Proz. Stärke unvergoren blieben, betrug der Verlust bei Hollefreund 6,9, bei Bohm 7,2, bei Henze, bei Ellenberger 4,6-6,6 Proz. 1 kg Stärkemehl gibt theoretisch 71,7 Literprozent (s. unten) Alkohol; da jedoch thatsächlich nur 94 Proz. dieser Menge in Rechnung gezogen werden können, so ergeben sich als erreichbarer Maximalbetrag nur 67,4 Literproz. In der Praxis erhielt man nach dem alten Verfahren 45,3 Proz., nach Henze 48,4, nach Hollefreund 50,5 und nach Bohm 53,8 Proz. Verarbeitung der Maische. Die verzuckerte Maische muß so schnell wie möglich auf die zum Hefengeben und zum Einleiten der Gärung erforderliche Temperatur (12-17°) abgekühlt werden. Dies geschah früher auf Kühlschiffen, flachen Gefäßen von solcher Größe, daß die Maische darin nur eine dünne Schicht bildet, deren Abkühlung noch durch Umrühren und starken Luftwechsel befördert wird. In neuerer Zeit wendet man häufiger kaltes Wasser und Eis in Oberflächen- oder Röhrenkühlern oder in Rührwerken mit hohlen Schaufeln an. In dem oben erwähnten Lacambreschen Maischcylinder wird kaltes Wasser durch den Zwischenraum b geleitet, während das Rührwerk in Thätigkeit ist. In dem Kühlapparat von Hentschel (Textfigur 2) wird die durch den Fülltrichter a in den Kühltrog c c einfallende Maische von der sich drehenden kupfernen Spirale e erfaßt und der Ausgangsöffnung k zugeführt. Das Kühlwasser tritt durch das Rohr m in die Hohlwelle d, aus dieser in die Spirale e und fließt bei k wieder ab. Um auch die Wandungen des Trogs für eine möglichst vollkommene Kühlung nutzbar zu machen, ist der Trog doppelwandig und wird durch das Rohr l in den Hohlraum Wasser geleitet. Ein kleinerer Teil des austretenden Kühlwassers bewirkt schließlich auch noch eine innere Kühlung der Hohlwelle d. Die wasserführende Spirale ist aus einzelnen Scheiben hergestellt, die nur teilweise eintauchen und daher auch eine Kühlung durch Verdunstung bewirken. Die auf die eine oder die andre Weise erhaltenen gärungsfähigen Flüssigkeiten, d.h. im wesentlichen Traubenzuckerlösungen von passender Verdünnung und Temperatur, sollen nunmehr unter dem Einfluß der Hefe so zersetzt werden, daß der Zucker möglichst vollständig in entweichende gasförmige Kohlensäure und zurückbleibenden, in der Flüssigkeit als Lösung zu erhaltenden Alkohol zerfällt. Am einfachsten setzt man den Maischen die als Nebenprodukt andrer Gewerbe (Bierbrauerei) erhaltene Oberhefe oder in besondern Gewerben bereitete Hefe (Bierhefe, Branntweinhefe, Preßhefe) zu. Nicht immer aber ist dieselbe in der erforderlichen Menge und Beschaffenheit zu erhalten, und es ist daher in denjenigen Ländern, in welchen die Steuergesetze kein Hindernis bilden, allgemein an Stelle derselben die Kunst- oder Maischhefe (s. Kunsthefe) getreten. Dieses Verfahren ist in Deutschland und Österreich allgemein sowohl in Melasse- als in Getreide- und Kartoffelbrennereien üblich, obwohl in der Art der Herstellung und Fortführung dieser Nebenmaische sehr vielfach verschiedene Methoden befolgt werden. Dagegen wird in Frankreich und Belgien fast nur Bier- oder Preßhefe benutzt. Man rechnet auf 100 kg 1 bis 2 Lit. breiige Hefe oder 0,75-1 kg Preßhefe. In allen Fällen wird die Gärung der Hauptmaische in großen hölzernen, meist offenen Gefäßen, Bottichen, bewirkt, und man sucht es so einzurichten, daß sie möglichst energisch und vollständig und in derjenigen Zeitdauer (in 1-3 Tagen) verläuft, welche unter den bestehenden Steuergesetzen als die vorteilhafteste erscheint. Die Temperatur steigt dabei bedeutend und dient ebenso wie die Abnahme der Dichtigkeit (infolge der stattfindenden Zersetzung des Zuckers) als ein Erkennungsmittel für den Verlauf und die Beendigung der Gärung. Die durch die Gärung erzielte alkoholhaltige Flüssigkeit, die weingare Maische, enthält außer Alkohol verschiedene Mengen fremder Stoffe, von denen der Alkohol getrennt werden muß. Diese fremden Bestandteile rühren teils von dem Rohmaterial her, welches ja nicht reiner Zucker war und also nicht völlig in Alkohol oder Kohlensäure übergeführt werden kann, teils sind es Nebenprodukte der Gärung selbst. Der Gehalt an reinem Weingeist beträgt durchschnittlich 5-10 Proz. Denselben in konzentrierter Gestalt und frei von den übrigen Bestandteilen der Maische zu erhalten, ist der Zweck der Destillation (s. d.), des Abtreibens oder Abbrennens. Reines Wasser kocht bei 100° C., reiner Alkohol bei 78,3°. Der Spiritus (Darstellung des Trinkbranntweins). eines Gemisches von Alkohol und Wasser liegt zwischen diesen beiden Punkten und ist im allgemeinen um so höher, je geringer der Alkoholgehalt desselben ist. Wird ein solches der Destillation, d. h. dem Kochen in einem Apparat, unterworfen, welcher die vollständige Wiederverdichtung des gebildeten Dampfes in einem andern Teil des Apparats durch Abkühlung gestattet, so erhält man aus dem Dampf eine Flüssigkeit, ein Destillat, welches im Verhältnis zum Wasser mehr Alkohol enthält als die siedende Flüssigkeit. Der einfachste Destillationsapparat, bei welchem der aus der kochenden weingaren Maische sich entwickelnde Dampf sofort vollständig verdichtet wird, liefert ein alkoholarmes Produkt (Lutter, Läuter, Lauer), aus welchem bei abermaliger Destillation (Rektifikation) ein alkoholreicheres Produkt erhalten werden kann. Die verschiedenen Apparate, welche gegenwärtig bei der Spiritusfabrikation in Anwendung sind, liefern sofort ein alkoholreiches Produkt (bis 95 Proz.) und führen die Verdichtung des letzten alkoholreichen Dampfes in sehr verschiedener Weise und mit sehr verschieden gestalteten Apparatteilen aus. Bei dem einfachsten Destillationsapparat benutzt man zur Verdichtung der Dämpfe kaltes Wasser, bei den vollkommnern aber Maische, die bei dieser Verwendung vorgewärmt wird; anderseits schaltet man zwischen Blase und Kühler Verstärkungsvorrichtungen (Verdampfer und Niederschlagsvorrichtungen) ein und trifft Vorkehrungen, um den vollständigen Abtrieb (namentlich durch Anwendung zweier Blasen) zu sichern. In Deutschland war Pistorius der erste, welcher zwei Brennblasen statt einer anwandte und mit den Blasen Rektifikatoren und Dephlegmatoren auf sehr zweckmäßige Weise verband. Wenn man von einem normal konstruierten Apparat verlangt, daß man mit seiner Hilfe nicht nur allen Alkohol aus der Maische, sondern denselben auch möglichst rein konzentriert und zwar mit dem geringsten Aufwand an Zeit, Arbeitslohn und Brennstoff erhalte, so muß man anerkennen, daß der Apparat von Pistorius viel leistet. Es wird ihm deshalb in Norddeutschland (viel weniger in Süddeutschland, wo mehr der Gallsche Apparat eingeführt ist) meist der Vorzug vor andern Brennapparaten gegeben, zu deren Konstruktion der Pistoriussche Apparat in vielen Fällen der Ausgangspunkt war (vgl. Destillation, S. 721). Sehr gebräuchliche Apparate sind ferner: der Pistoriussche Apparat mit direkter Feuerung, der Pistoriussche säulenförmige Apparat, der Gallsche Wechselapparat, außerdem die Apparate von Neumann, Dorn, Egrot, Siemens und besonders auch der kontinuierlich arbeitende Apparat von Ilges, der beim ersten Abtrieb S. von mindestens 94 Proz. liefert (s. Destillation, S. 723). Eine besondere Art der zusammengesetzten Apparate bilden die namentlich von Savalle gebauten Säulen- oder Kolonnenapparate, welche besonders in Frankreich und Belgien in außerordentlicher Anzahl verbreitet sind, und deren Hauptteil die verschiedenen Arten Verdampfungskapseln bilden. Die Säulenapparate sind meistens für kontinuierlichen Abtrieb eingerichtet und enthalten in vielen Fällen keine eigentliche Blase. Die Verstärkungseinrichtungen sind bei denselben vielfach nicht sehr ausgeprägt, und sie werden dann nur zur Herstellung von 35-50proz., oft sogar nur von 25proz. Destillaten benutzt. Sie sind vorzugsweise für starken, fabrikmäßigen Betrieb bestimmt und setzen, wenn 80proz. S. erzeugt werden soll, eine zweite Destillation oder die Hinzufügung von in Frankreich und Belgien nicht üblichen Verstärkungseinrichtungen voraus. Ein in Frankreich verbreiteter Apparat für kontinuierlichen Betrieb ist endlich der von Derosne verbesserte von Cellier-Blumenthal (s. Destillation,. S. 722). Es ist der älteste dieser Art und war ursprünglich nur für die Destillation von Wein (s. oben) bestimmt; doch dient er jetzt auch zur Destillation von andern gegornen dünnen oder klaren Flüssigkeiten, wie z. B. Rübensaft. Für dicke Maischen, wie die in Deutschland zu verarbeitenden, ist er nicht verwendbar. Um Trinkbranntwein zu erhalten, wird in zweierlei Weise verfahren: Ein Teil des aus verschiedenen Rohstoffen erzeugten alkoholischen Destillats von 80-82 Proz. (Rohspiritus) wird unmittelbar mit Wasser auf die verlangte Branntweinstärke verdünnt, zuweilen durch eine Filtration über Holzkohle in geringem Maß von den in dem Rohspiritus stets als Nebenprodukt der Gärung enthaltenen, unangenehm riechenden und schmeckenden Fuselölen gereinigt und außerdem öfters mit aromatischen, bittern etc. Stoffen versetzt. In dieser Weise werden nur sehr unreine und fuselig schmeckende Branntweine erhalten. Reinere und ganz reine Branntweine bereitet man aus 90-94proz. Sprit, wie derselbe durch Verfeinerung (Raffinierung) des Rohsprits erhalten wird. Die reinsten in dieser Weise erzielten Produkte sind das Material, aus welchem die Liköre und sonstige zusammengesetzte weingeistige Getränke fabriziert werden. Die weitaus größere Menge eigentlichen Trinkbranntweins wird aber so erhalten, daß man die gewünschte geringe Stärke des Produkts (40-50 Proz.) unmittelbar durch Destillation solcher Maischen erzielt, welche eigens zu diesem Zweck hergestellt werden, und aus welchen dann eigentlicher, reinerer S. nicht gewonnen wird. Diese Art, Trinkbranntwein darzustellen, ist in allen Ländern gebräuchlich, jedoch je nach dem Geschmack des Publikums und der Art des Rohmaterials verschieden. Der Absatz des Branntweins ist an den durch Herkommen und Gewohnheit beliebten Geschmack desselben gebunden, und es haben sich demnach in den verschiedenen Gegenden etwas abweichende Branntweinbrennerei-Methoden herausgebildet, welche, Verbesserung durchweg verschmähend, darauf gerichtet sind, dem Produkt gewisse Beimengungen (meist zu den oben erwähnten Fuselölen gehörig) in sehr geringem Verhältnis zu erhalten, welche den besondern, von dem des reinen, verdünnten Alkohols abweichenden Geschmack bedingen. So wird z. B. in Deutschland in kleinen Brennereien aus der vergornen Weizen- und Gerstenmalzmaische zuerst durch Abtrieb in der einfachen Blase über freiem Feuer Lutter dargestellt und aus diesem durch eine zweite Destillation in derselben Weise Branntwein von der gewünschten Stärke gewonnen. In Belgien wird der sogen. Genever sowohl in kleinen als in kolossalen fabrikmäßigen Brennereien aus Roggenmaische erhalten, welche man zuerst mittels eines kontinuierlich arbeitenden Säulenapparats mit ununterbrochenem Dampfbetrieb zu Lutter von etwa 30-35 Proz. abbrennt. Dieser Lutter wird dann ausnahmslos in ganz einfachen Blasen ohne jede Verstärkung über freiem Feuer abgetrieben und so Branntwein von der gewünschten Stärke erhalten. Wacholder wird nicht zugesetzt. Der Abtrieb des Obstbranntweins aus den verschiedenen Obstmaischen (s. oben) geschieht im Kleinbetrieb (z. B. im Schwarzwald) ausschließlich in ganz kleinen, einfachen kupfernen Blasen, welche auf freiem Feuer erhitzt werden. Es wird zwei- oder dreimal gebrannt, also zuerst aus der Maische (durch Spiritus (Benutzung, Ausbeute, Produktionsstatistik). das Rauchbrennen) 15-20proz. Lutter, dann aus diesem (durch das Läutern) mittels derselben Blase das fertige Produkt erhalten. Zuweilen wird noch ein drittes Mal geläutert. Weinbranntwein, Franzbranntwein, Kognak werden in Frankreich aus Wein, entweder mittels des Apparats von Cellier, Blumenthal und Derosne (s. oben) oder auch mittels der einfachen, im Wasser- oder Dampfbad erhitzten Blase, erhalten. Für die feinern Branntweine wird der Nachlauf, d. h. der gegen Ende des Abtriebs kommende schwächere Branntwein, wegen seines geringern Geschmacks getrennt aufgefangen. Wie schon angedeutet, enthält das Destillat aller weingaren Maischen flüchtige Stoffe, die demselben einen besondern Geschmack geben und unter dem Namen Fuselöle (s. d.) zusammengefaßt werden. Sie sind weniger flüchtig als Wasser und treten erst in der letzten Periode der Destillation auf. Außerdem kommen noch andre riechende und schmeckende Stoffe vor, welche, leichter flüchtig als Alkohol, bei der Destillation zuerst erscheinen und hauptsächlich aus Aldehyd bestehen. Um den Branntwein oder Rohspiritus von diesen Stoffen zu befreien (denselben zu raffinieren), behandelt man ihn zuweilen mit Holzkohle; meistens aber wird zugleich mit Herstellung von starkem S. (die Rektifikation zu Ware von 90 und mehr Prozenten) eine Trennung der zu Anfang, Mitte und Ende der nochmaligen Destillation zu erhaltenden Produkte vorgenommen und so, unter Benutzung der verschiedenen Flüchtigkeit der bezeichneten Stoffe, ein reines Produkt, der Sprit, erhalten. Das Verfahren stellt also im wesentlichen eine unterbrochene Destillation dar; die Apparate sind hauptsächlich Säulenapparate mit Blase und kräftigen Verstärkungseinrichtungen. Man erhält Vorlauf, reinsten Sprit von etwa 90-93 Proz., und dann Nachlauf, die getrennt aufgefangen werden. Alle Kühlvorrichtungen der Destillationsapparate endigen mit einem sogen. Verschluß (Ablauf, Glocke). Ein solcher (Textfig. 3) besteht z. B. aus einer zweischenkeligen Röhre t t, welche bei s an das Ende der Schlange p p befestigt ist. Der eine Schenkel erweitert sich oben zu einem mit einer Glasglocke bedeckten Trichter w mit dem Abfluß v und enthält ein Alkoholometer, so daß man die Beschaffenheit des Destillats beständig beobachten kann. Das Rohr x dient zum Entweichen von Luft aus dem Apparat und von Kohlensäure aus der Maische. Soll das Destillat je nach seiner Reinheit nach verschiedenen Behältern geleitet werden, so sind weniger einfache Verschlüsse erforderlich. Der Ablauf von Savalle (Textfig. 4) gestattet nicht nur die Beobachtung des Alkoholgehalts des Destillats und die beliebige Ableitung, sondern auch das Abmessen der in einer gewissen Zeit gelieferten Flüssigkeit. b ist das Zuflußrohr vom Kühlapparat, c der Ansatz für den Ablauf mit dem Probehähnchen d; die Verschlußglocke e enthält ein Aräometer und die Meßröhre, welche durch den Boden der die Glocke tragenden Schale l hindurchgeht. f ist die Öffnung für den Abfluß, g die Verteilungskugel mit den Leitungen h i k nach den verschiedenen Behältern. Der zuströmende S. fließt durch f ab, steigt aber teilweise nach e, übt von hier aus einen Druck auf den Abfluß durch f und setzt sich mit diesem ins Gleichgewicht. Die Größe der Öffnung f wird durch besondere Versuche so reguliert, daß die Zahlen an der Meßröhre den Abfluß in einer bestimmten Zeit ergeben. Steigt die Flüssigkeit in e, so fließt durch f mehr S. ab, weil der Druck größer wird. Wenn der Brennapparat und der Kühler gleichmäßig arbeiten, erscheint der Stand der Flüssigkeit in e vollkommen ruhig und unveränderlich; jede Unregelmäßigkeit im Betrieb wird hier sofort erkannt. Man benutzt S. zu Getränken (Branntwein, Likör), als Lösungsmittel zur Darstellung von Tinkturen, Firnissen, Parfümen, Extrakten, Alkaloiden, auch in der Färberei und Rübenzuckerfabrikation, ferner zur Bereitung von Essig, Äther, Chloroform, Chloralhydrat, zusammengesetzten Äthern, Aldehyd, Knallsäuresalzen, Soda, Pottasche, Teerfarben und vielen andern Präparaten, zum Konservieren fäulnisfähiger Substanzen, als Brennmaterial, zum Füllen von Thermometern, zur Regeneration alter Ölgemälde, als Arzneimittel etc. - Was die Ausbeute betrifft, so sollten Stärkemehl 56,78 Proz., Rohrzucker 53,8, Traubenzucker 51,1 Proz. Alkohol liefern, thatsächlich aber erhält man weniger, z. B. aus Rohrzucker nur 51,1 Proz. Alkohol. In der Praxis liefern: 100 kg Gerste . . 44,64 Liter S. von 50 Proz. Tr. 100 " Gerstenmalz 54,96 " " " 50 " " 100 " Weizen . . 49,22 " " " 50 " " 100 " Roggen . . 45,80 " " " 50 " " 100 " Kartoffeln . 18,32 " " " 50 " " Multipliziert man die Literzahl mit dem Alkoholgehalt in Volumprozenten, so erhält man Literprozente. Ein metrischer Zentner Gerste liefert danach 2232, Gerstenmalz 2748, Weizen 2461, Roggen 2290, Kartoffeln 916 Literprozent Alkohol. Nach solchen Literprozenten rechnet man im deutschen Spiritushandel, und zwar nimmt man 10,000 Literprozent (100 Lit. à 100 Proz.) als Einheit an und bezieht auf sie die Preisnotierungen. Über die Alkoholproduktion liegen zuverlässige Angaben nicht vor. Der jährliche Verbrauch auf den Kopf der Bevölkerung betrug 1881-85 in: Liter Alkohol | Lit. 45% Branntwein Italien . . . 0,9 | 2,0 Norwegen . . 1,7 | 3,8 Finnland . . 2,2 | 4,9 Großbritannien 2,7 | 6,0 Österreich-Ungarn . . . 3,5 | 7,7 Frankreich . . 3,8 | 8,4 Schweden . . 3,9 | 8,7 Deutschland 4,1 | 9,1 Schweiz . . 4,6 | 10,2 Rußland (europ.) . . 4,7 | 10,4 Belgien . . 4,7 | 10,4 Niederlande 4,7 | 10,4 Dänemark . 8,9 | 19,8 Verein. Staaten 2,6 | 5,8 Spiritus familiaris - Spittler. Seit 1875 zeigt sich eine Steigerung des Alkoholverbrauchs in Frankreich von 2,9 auf 3,8, in Rußland von 4,0 auf 4,7, in Österreich-Ungarn, Belgien blieben die Verbrauchsziffern dieselben, in den Niederlanden, Großbritannien, Finnland, Deutschland ist eine geringe, in Schweden und Norwegen eine beträchtliche Abnahme zu verzeichnen. 95 Proz. des produzierten S. sollen zum Genuß verbraucht werden. Alkoholische Getränke waren schon in den ältesten Zeiten bei vielen Völkern bekannt, aber erst im 8. Jahrh. gewann man durch Destillation von Wein einen S. In den nördlichen Ländern war bis zum Ende des 18. Jahrh. der Kornbranntwein allein herrschend. Die ersten Versuche mit Kartoffeln scheinen 1775 in Schweden angestellt worden zu sein, und 1796 wurde in Franken Kartoffelbranntwein gewonnen. Wichtigkeit erlangte die Kartoffelbrennerei aber erst seit 1810, und 20 Jahre später war die Kartoffel in Deutschland das Hauptmaterial für die Branntweingewinnung. Infolge der Kartoffelkrankheit wandte man sich wieder mehr dem Getreide, dann aber auch dem Mais, der Melasse und den Zuckerrüben zu. Zur Verarbeitung der Kartoffel gaben der ältere und der jüngere Siemens 1818 und 1840 zweckmäßige Apparate an. Die alten Destillierblasen wurden vielfach verbessert, durch direkten Dampf geheizt (Gall 1829) etc. Zusammengesetzte Destillierapparate konstruierten Adam und Solimani in Nîmes (1801), Pistorius (1816), Cellier-Blumenthal und Derosne (1818), Dorn (1819), Schwarz (1833), Siemens (1850) etc. Die von Lowitz 1790 entdeckte Eigenschaft der Kohle, das Fuselöl zu absorbieren, wurde schnell in die Praxis eingeführt. Die neuesten Fortschritte betreffen die gründlichere Aufschließung des Materials durch gespannte Dämpfe und Zerkleinerungsapparate vor dem Maischen (Hollefreund, Bohm, Henze), namentlich aber ist die Spiritusfabrikation auch durch wissenschaftliche Untersuchungen über den Gärungsprozeß, die Ernährung der Hefe und durch Verbesserung der analytischen Methoden gefördert worden. Das Laboratorium und die Versuchsstation der deutschen Spiritusfabrikanten in Berlin hat wesentlich beigetragen, für die Spiritusfabrikation eine wissenschaftlich begründete Basis zu gewinnen. Vgl. Stammer, Die Branntweinbrennerei und deren Nebenzweige (Braunschw. 1875); Derselbe, Wegweiser in der Branntweinbrennerei (das. 1876); Märcker, Handbuch der Spiritusfabrikation (4. Aufl., Berl. 1886); Böhm, Branntweinbrennereikunde (9. Aufl., das. 1885); Gumbinner, Anleitung zur Spiritusfabrikation (das. 1882); Bersch, Die Spiritusfabrikation und Preßhefebereitung (das. 1881); Ulbricht und Wagner, Handbuch der Spiritusfabrikation (Weim. 1888); Freiesleben, Der Brennereibau (Berl. 1885); "Zeitschrift für Spiritusindustrie" (das.). Spiritus familiaris (neulat.), ein vertrauter dienstbarer Geist, Hausgeist. Spirochaete Ehrb., früher Gattung der Spaltpilze, deren angebliche Arten wie die nahe verwandten Spirillen als Entwickelungsformen von Bakterien erkannt sind. Spirometer (griech.), von Hutchinson angegebener Apparat, welcher dazu dient, das Luftquantum zu bestimmen, welches beim Atmen aus den Lungen entweicht. Das S. stimmt im Prinzip mit dem gewöhnlichen Gasometer (s. d.) überein. Die durch einen Schlauch unter die Glocke des Gasometers geleitete ausgeatmete Luft hebt die durch Gegengewichte äquilibrierte Glocke und kann direkt an einer Skala gemessen werden. Spirre, s. Blütenstand, S. 82. Spirsäure, s. Salicylsäure. Spital (lat., Spittel), s. v. w. Hospital. Spital, Marktflecken im österreich. Herzogtum Kärnten, an der Drau und der Bahnlinie Marburg-Franzensfeste, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat ein Schloß des Fürsten Porzia, Holzstofffabrikation und (1880) 1832 Einw. Spitalfields (spr. spittelfihlds), Stadtteil im O. Londons, in welchem sich die aus Frankreich eingewanderten hugenottischen Seidenweber niederließen, deren Nachkommen teilweise noch jetzt dort wohnen. Spithead (spr. spitt-hedd), s. Portsmouth. Spitta, Karl Johann Philipp, geistlicher Liederdichter, geb. 1. Aug. 1801 zu Hannover, studierte in Göttingen Theologie und ward, nachdem er verschiedene andre Stellen bekleidet hatte, 1853 Superintendent zu Peine im Hildesheimischen, dann im Juli 1859 Superintendent in Burgdorf, wo er 28. Sept. d. J. starb. Außer einzelnen Predigten veröffentlichte er: "Psalter und Harfe" (Leipz. 1833 u. öfter), eine in zahlreichen Auflagen verbreitete Sammlung geistlicher, für häusliche Erbauung bestimmter Lieder, die durch Vollendung der Form, Innigkeit und wahrhaft christliches Gepräge zu den besten derartigen Produkten der Neuzeit gehören. Noch erschienen von ihm: "Nachgelassene geistliche Lieder" (5. Aufl., Brem. 1883). Spittas Leben beschrieb Münkel (Leipz. 1861). - Sein Sohn Philipp, geb. 27. Dez. 1841 zu Wechold bei Hoya in Hannover, seit 1875 Dozent der Musikgeschichte an der Hochschule für Musik (seit 1882 deren stellvertretender Direktor) sowie Universitätsprofessor für Musikwissenschaft und Sekretär der Akademie der Künste zu Berlin, hat sich durch seine Biographie "Johann Sebastian Bach" (Leipz. 1873-79, 2 Bde.; engl., Lond. 1884) sowie durch eine Gesamtausgabe der Orgelwerke Buxtehudes und der Werke von H. Schütz bekannt gemacht. Kleinere Schriften von ihm sind: "Über J. S. Bach" (Leipz. 1879) und "Ein Lebensbild Robert Schumanns" (das. 1882). Mit Chrysander und Adler gibt er seit 1885 die "Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft" (Leipz.) heraus. Spittler, Ludwig Timotheus, Freiherr von, berühmter Geschichtschreiber und Publizist, geb. 11. Nov. 1752 zu Stuttgart, widmete sich in Tübingen und Göttingen theologischen und historischen Studien, ward 1778 Repetent am theologischen Seminar zu Tübingen und 1779 Professor der Philosophie zu Göttingen, wo er sich als Lehrer der Geschichte großen Ruf erwarb, kehrte aber 1797 als Präsident der Oberstudiendirektion und Wirklicher Geheimer Rat in sein Vaterland zurück; 1806 ward er auch zum Kurator der Universität Tübingen und Minister ernannt und zugleich in den Freiherrenstand erhoben. Er starb 14. März 1810. Von seinen Schriften sind zu bemerken: "Geschichte des kanonischen Rechts bis auf die Zeiten des falschen Isidor" (Halle 1778); "Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche" (Götting. 1782; 5. Aufl. von Planck, 1813); "Geschichte Württembergs unter den Grafen und Herzögen" (das. 1783); "Geschichte des Fürstentums Hannover" (das. 1786); "Entwurf der Geschichte der europäischen Staaten" (Berl. 1793, 2 Bde.; 3. Aufl. von Sartorius, 1823); "Geschichte der dänischen Revolution 1660" (das. 1796). Seine geistreich skizzierten "Vorlesungen über die Geschichte des Papsttums" wurden mit Anmerkungen von Gurlitt (Hamb. 1828), seine "Geschichte der Kreuzzüge" (das. 1827) und die "Geschichte der Hierarchen von Gregor VII. bis auf die Zeit der Reformation" Spitzbergen - Spitzen. von K. Müller (das. 1828) herausgegeben. Seine sämtlichen Werke gab sein Schwiegersohn K. v. Wächter (Stuttg. 1827-37, 15 Bde.) heraus. S. verband mit ernster Quellenforschung philosophischen Geist und lichtvolle Darstellung bei sinnreicher Kürze, hellen politischen Blick und Sicherheit des Urteils. Vgl. Planck, Über S. als Historiker (Götting. 1811). Spitzbergen, Inselgruppe im Nördlichen Eismeer, zwischen 76° 27'-80° 50' nördl. Br. und 10°-321/2° östl. L. v. Gr., nordöstlich von Grönland, dem es früher zugerechnet wurde, während Nordenskjöld 1868 den untermeerischen Zusammenhang von S. mit Skandinavien nachwies. Die Gruppe besteht aus der Hauptinsel, Westspitzbergen (39,540 qkm oder 718 QM.), dem von voriger durch die Hinlopenstraße getrennten Nordostland (10,460 qkm oder 190 QM.), dem Edgeland oder Stans-Foreland (5720 qkm oder 104 QM.), der Barentsinsel, König Karls-Land, Prinz Karls-Vorland und vielen kleinern Eilanden, welche ein Gesamtareal von 70,068 qkm (1273 QM.) einnehmen. Die Inselgruppe ist im Sommer von Eisschollen umgeben, im Winter von festen Eismassen eingeschlossen; nur längs der Westküste ist das Meer fast das ganze Jahr hindurch von Eis frei. Die Nordküste wird in den meisten Jahren durch den auch an ihr vorüberziehenden Golfstrom verhältnismäßig früh vom Treibeis befreit, wogegen die Ostseite von einem Polarstrom bestrichen wird. Die Hauptinseln steigen mit steilen Ufern aus dem Meer auf und sind im Innern mit einer 100 m dicken Schicht Landeis bedeckt, aus welcher scharfe Bergspitzen (daher der Name) bis zu 1390 m hervorragen. Die Hauptgebirgsart ist Granit; von vulkanischen Produkten findet sich der sogen. Hyperit vor, daneben Jurakalksteine, Kreide und andre Sedimentärgebilde. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt unter 79° 53' nördl. Br. (Mosselbai) -9,56° C., die des kältesten Monats (Februar) -22,69°, die des Juli +4,55°. Das Klima ist also bedeutend milder als in Nordamerika unter weit südlichern Breiten, was dem Golfstrom zuzuschreiben ist. Die Vegetation ist äußerst dürftig, da die Erdrinde nur während weniger Wochen im Sommer, wo die Sonne nicht untergeht, von Eis und Schnee frei ist; von baumartigen Gewächsen finden sich nur zwei einige Zoll hohe Weidenarten. Überhaupt hat man 96 Arten von Phanerogamen und etwa 250 Kryptogamen beobachtet. Kruciferen und Gramineen herrschen vor. Fließende Wasser gibt es nur zur Zeit der Schneeschmelze. Von Landsäugetieren kommen vor: das Renntier (sehr zahlreich), der Eisbär, der braune Bär (?, selten), der Blaufuchs, aber kein Lemming; dagegen sind die Küsten reich an Walrossen und Robben. Im W. fanden sich früher viele Walfische, deren Zahl jedoch durch die beständige Verfolgung auf ein Geringes gesunken ist. Jetzt jagt man an den Küsten neben den Flossenfüßern besonders den Weißfisch und eine Haifischart (Haakjärring). Von Vögeln kennt man 28 Arten, von denen das Schneehuhn (Lagopus hyperboreus) der einzige Standvogel ist. An Insekten hat man bisher 23 Arten entdeckt. Das Mineralreich bietet Granit (reich an edlen Granaten), Graphit, Bleiglanz, Eisen, Marmor u. Braunkohlen. Eingeborne oder auch nur ansässige Bevölkerung hat keine der Inseln; doch haben sich bisweilen einzelne russische Jäger mehrere Jahre lang auf denselben aufgehalten, und während der Sommermonate werden sie von Fangfischern besucht, wenn auch nicht mehr so zahlreich wie früher. Im 17. und 18. Jahrh. war die Gruppe der Sammelplatz aller Walfischfänger, und an den Küsten wurden um das Privilegium des Walfischfangs und Robbenschlags zwischen Engländern, Holländern, Dänen und Franzosen vielfach blutige Kämpfe ausgefochten. Jetzt macht keine der seefahrenden Nationen Ansprüche auf den Besitz der Gruppe. S. wurde 1596 von den Holländern Barents, Heemskerk und Cornelis Ryp entdeckt. Näher erforscht wurden die Inseln in neuerer Zeit unter andern von Scoresby (1817-18), Parry (1827), der Recherche-Expedition (1838 ff.), Lamont (1858 und später), Karlsen (seit 1859), v. Heuglin (1870), Tobiesen (seit 1865), Leigh Smith (1871-72), besonders aber von den schwedischen Expeditionen unter Torell und Nordenskjöld (1858-73). S. Karte "Nordpolarländer". Vgl. außer den Berichten in "Petermanns Mitteilungen": Nordenskjöld, Die schwedischen Expeditionen nach S. und Bären-Eiland (Jena 1869); Heuglin, Reisen nach dem Nordpolarmeer 1870-71 (Braunschw. 1872-74, 3 Spitzbeutel, s. Filtrieren, S. 263. Spitzblume, s. Ardisia. Spitzbogen, s. Bogen und Gewölbe. Spitzbogenstil, ungenaue Benennung für gotischer Stil, s. Baukunst, S. 496. Spitze, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren. Spitzeder, Adele, s. Dachauer Banken. Spitzel, in Süddeutschland s. v. w. Geheimpolizist. Spitzeln, Kartenspiel, eine Art Solo unter dreien, wird mit mancherlei Abweichungen gespielt. Erforderlich ist dazu eine Pikettkarte, aus welcher man 1) alles Karo (bez. Schellen) bis auf die Sieben und 2) die Coeur- (rote) Acht entfernt hat. So bleiben 8 Blätter für jeden. Man spielt entweder in den schlechten Farben oder in "Kouleur" (Karo). Die ständigen Trümpfe: Spadille, Manille, Baste gelten wie im gewöhnlichen Solo; in Kouleur gibt es also nur 3 Trümpfe. Zum Gewinn eines Spiels gehören wenigstens 5 Stiche. Wenn alle passen, wird "gespitzelt" ("gestichelt"), d.h. man spielt ohne Trumpf, und derjenige, welcher den letzten Stich macht, verliert. Gerade diese für das Spiel charakteristische Regel wird aber oft durch Karteneinwerfen oder durch ein Points-Spiel ersetzt. Im letztern Fall zählt man die Karten von Daus bis Zehn herab der Reihe nach 5, 4, 3, 2 und 1. Jeder sucht soviel Points wie möglich zu bekommen. Wer über 15 hat, bekommt von jedem den Überschuß vergütet, und wer die wenigsten Augen hat, muß an beide bezahlen, selbst wenn der zweite nicht bis 15 gekommen ist. Spitzen (Kanten), zarte Geflechte mit durchsichtigem Grund und einem aus dichter liegenden Fäden gebildeten Muster, werden entweder mit Klöppeln (Kissenspitzen, Dentelles) oder mit der Nadel (Points) gefertigt. Zum Klöppeln bedarf man eines Polsters (Klöppelsacks), welches im Erzgebirge walzenförmig und drehbar, in Belgien und Frankreich viereckig und flach gewölbt ist; auf dem Sack liegt der Klöppelbrief, ein Streifen Papier, auf welchem das Muster in Nadelstichen vorgezeichnet ist. Die Klöppel sind etwa 10 cm lange Holzstäbchen, auf welchen der zu verarbeitende Zwirn aufgewickelt (und im Erzgebirge durch eine übergeschobene Papierhülse geschützt) ist; die Löcher des Musterbriefs werden bei der Arbeit mit Nadeln besteckt und die Fäden durch Hin- und Herwerfen der Klöppel, welche von der Walze herabhängen oder auf dem belgischen Kissen liegen, zwischen den Nadeln verflochten. In dem Maß, wie die Arbeit fortschreitet, werden aus der fertigen Spitze die Nadeln ausgezogen und in die folgenden offenen Löcher des Briefs gesteckt. Ist die Spitze Ellenware, so kann die Arbeit auf der rotierenden Walze Spitzen - Spitzenglas. oft rund herum fortgehen. Genähte S. werden entweder auf einem Gewebe, Tüll, Marly etc., oder auf einem für diesen Zweck mit dem Klöppel oder der Nadel hergestellten Spitzengrund aufgenäht. Das Muster ist auf ein Blatt starkes Papier (früher Pergament) gezeichnet; die Nadel folgt den Umrissen und umschnürt diese der Befestigung halber noch einmal. Ist das Muster fertig, so wird das Papier weggerissen. Durch noch stärkern, sowohl breitern als plastisch heraustretenden Umriß zeichnet sich die Guipurespitze aus; Guipure ist ein dicker Faden oder ein Streifen von dünnem Pergament oder Kartenpapier, welcher mit dem Faden ganz umwunden ist. Seit Anfang unsers Jahrhunderts besteht neben der Handspitzenindustrie die Fabrikation der S. auf Maschinen, so daß man wohl Handspitzen (echte) und Maschinenspitzen (unechte) unterscheidet. Wenn nun auch feststeht, daß die Spitzenmaschine eine große Mannigfaltigkeit in ihren Produkten und eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den echten S. zu erzeugen vermag, so nehmen die Maschinenspitzen in Bezug auf Wechsel und schöne Formgestaltung des Erzeugnisses doch immer nur einen zweiten Rang ein, da sie ausschließlich Nachahmungen der Handspitzen sind. Bei den applizierten S. wird das geklöppelte Muster auf feinen Maschinengrund aufgenäht; bei den tamburierten ist der Grund und zum Teil auch das Muster aus der Maschine erzeugt und die Ergänzung durch Handarbeit ausgeführt. Nach dem Material unterscheidet man seidene S., speziell Blonden, welche in Schwarz und Weiß vorkommen, leinene S. (alle echten S.), baumwollene (die englischen Maschinenspitzen) und wollene (Mohairspitzen). Die Anfertigung der S. mag in eine sehr frühe Zeit zurückreichen, doch ist über ihren Ursprung nichts bekannt. Vielleicht entwickelte sie sich aus Flecht- und Knüpfwerk, welches in der auf alter Überlieferung beruhenden Hausindustrie namentlich südlicher Länder noch heute vorkommt und mit der Nadel später auf einen durchbrochenen Grund übertragen wurde. In Italien wurden um die Mitte des 15. Jahrh. nachweislich schon Nadelspitzen gefertigt, und man gibt an, daß die Kunst dorthin von Byzanz oder dem sarazenischen Sizilien gekommen sei. Man unterscheidet Reticellaspitzen (s. d.), venezianische oder Reliefspitzen (s. d.), Rosenspitzen (s. d.) u. a. Der englische Ausdruck Lace findet sich zur Zeit Richards III., und 1545 werden in Frankreich Dentelles erwähnt. Älter scheint die Spitzenklöppelei in den Niederlanden zu sein; doch liegen auch dafür keine bestimmten Zeugnisse vor. In Deutschland wurde diese Industrie durch Barbara v. Elterlein (aus Nürnberg stammend) eingeführt, welche 1553 als Gattin des Bergherrn Uttmann zu Annaberg in Sachsen starb. Die alten italienischen Nadelspitzen wurden besonders in Venedig und Mailand hergestellt; in Genua und Albissola wurde geklöppelt. Im 17. Jahrh. gelangte die Spitzenindustrie durch den Venezianer Vinciolo nach Frankreich, und gewisse Städte, wie Sedan, Alençon, wurden schnell berühmt als Sitze derselben, zumal seit Ludwig XIV. sie lebhaft begünstigte. Alençoner S. werden durchaus mit der Nadel gearbeitet; die Fabrikation, welche wiederholt dem Erlöschen nahe war, wurde immer wieder emporgebracht, zuletzt durch Napoleon III. Argentan, Chantilly, Valenciennes, Lille lieferten ebenfalls berühmte S. In den Niederlanden entwickelte sich die Klöppelarbeit sehr lebhaft und kann noch heute als ein Hauptfaktor des Nationalwohlstandes in Belgien betrachtet werden. Die Brüsseler S. sind in jeder Beziehung die feinsten von allen; ihre Vorzüge sind begründet durch die Güte des belgischen Flachses, die Feinheit des aus diesem gewonnenen Zwirns und die ererbte Geschicklichkeit der Arbeiterinnen. Der Netzgrund (réseau) der Brüsseler S. wird jetzt von der Maschine geliefert (Bobbinet), während man ihn früher nähte oder klöppelte. Mechelner S. werden in Einem Stück auf dem Polster gearbeitet und besitzen nach Art des Plattstichs eingewirkte Blümchen. Andre Sitze der belgischen Spitzenindustrie sind Gent und Brügge (points de duchesse). Von Hugenotten lernten die Holländer feinere Leinenspitzen machen, doch gelangte diese Industrie dort nicht zu der Bedeutung wie in den südlichen Provinzen. Im Erzgebirge verbreitete sich das Klöppeln sehr schnell, und seit dem Anfang des 17. Jahrh. trugen schottische Händler die sächsischen und böhmischen S. in alle Länder. Seit Einführung der Maschinenarbeit hat gerade diese einst so blühende Industrie sehr stark gelitten, weil sie sich im allgemeinen auf so einfache Erzeugnisse beschränkte, die sehr leicht durch Maschinenarbeit nachgeahmt werden konnten. Jetzt werden im Erzgebirge (weiteres s. d.) und in Böhmen die verschiedensten S. dargestellt, und um die Hebung der Industrie bemühen sich zahlreiche Klöppelschulen (Schneeberg, Gassengrün, Bleistadt u. a.). Auch im Hirschberger Kreis ist seit 1855 die Spitzenindustrie eingeführt worden. In vielen andern Gegenden Deutschlands sowie in Genf und Neuchâtel erblühte dieselbe durch Hugenotten, doch nur auf kurze Zeit. Französische und niederländische Flüchtlinge wurden auch in England die Begründer der Spitzenfabrikation. Zuerst ahmte man vorzüglich Valencienner und Brüsseler S. nach, gegenwärtig werden alle möglichen Stile gepflegt. Honiton in Devonshire arbeitet mit der Nadel auf Brüsseler Grund, vornehmlich Zweige mit Blättern und Blüten, welche jetzt meist in Guipure ausgeführt werden. Die Maschinenarbeit hat der Spitzenmacherei außerordentlich geschadet, sie bringt schöne Arbeit in unbegrenzter Menge zu mäßigen Preisen hervor; doch ist das Glatte und Regelmäßige der Arbeit den zarten Effekten der Ausführung schädlich, und niemals kann sie mit den durch die Hand geschaffenen Meisterwerken konkurrieren. Spanische S. werden aus Gold- und Silberdraht hergestellt, der mit bunter Seide und kleinen Perlen untermischt ist. In den skandinavischen und slawischen Ländern werden meist grobe Leinen- und Litzenspitzen angefertigt, in Rußland, Siebenbürgen, Rumänien u. a. von der Hausindustrie. Vgl. Palliser, History of lace (3. Aufl., Lond. 1875); Séguin, La dentelle. Histoire, description, fabrication, bibliographie (Par. 1874); Ilg, Geschichte und Terminologie der alten S. (Wien 1876); Hans Sibmacher, Stick- und Musterbuch (nach der Ausgabe von 1597 hrsg. vom Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, 3. Aufl., das. 1882, und von Wasmuth, Berl. 1885; nach der 4. Ausg. von 1604 hrsg. von Georgens, das. 1874); Wilhelm Hoffmann, Spitzenmusterbuch (nach der Ausgabe von 1607 hrsg. vom Österreichischen Museum, Wien 1876); Derselbe, Originalstickmuster der Renaissance (das. 1874); v. Braunmühl, Technik u. Entwickelung der Spitzen (in der Zeitschrift "Kunst und Gewerbe", Nürnb. 1882); Raßmussen, Klöppelbuch (Kopenh. 1884); Jamnig u. Richter, Technik der geklöppelten Spitze (Wien 1886 ff.). Auch gab Cocheris in Paris eine Reihe seltener Spitzenmusterbücher aus der Bibliothèque Mazarin und Eitelberger 50 Blatt der schönsten Muster aus deutschen und italienischen Musterbüchern des 16. Jahrh. (Wien 1874) heraus. Spitzenglas, s. v. w. Fadenglas, s. Millefiori. Spitzengrund - Spitzmäuse. Spitzengrund, s. Spitzen. Spitzenkatarrh, Katarrh der Lungenspitzen. Spitzenpapier, durch Pressen und Ausschlagen spitzenähnlich gestaltetes Papier, dient besonders zu Manschetten für Bouketts. Spitzenschnitt, in der Heraldik, s. Heroldsfiguren. Spitzer, Daniel, Wiener Feuilletonist, geb. 3. Juli 1835 zu Wien, studierte daselbst die Rechte, war kurze Zeit als Konzipist bei der Wiener Handelskammer beschäftigt und begann seine litterarische Laufbahn mit volkswirtschaftlichen Artikeln und einzelnen Beiträgen für die Witzblätter Wiens. Seine satirischen Aufsätze, welche er von 1865 an als "Wiener Spaziergänge" in der "Neuen Freien Presse" zu veröffentlichen begann, fanden außergewöhnliche Teilnahme und begründeten seinen Ruf. Ein Teil dieser an die politisch-sozialen oder litterarischen Hauptereignisse des Tags anknüpfenden Feuilletons wurde unter dem Titel: "Wiener Spaziergänge" (6 Bde., mehrfach aufgelegt) gesammelt herausgegeben. Die Novellen: "Das Herrenrecht" (Wien 1877) und "Verliebte Wagnerianer" (das. 1878), die ebenso zahlreiche Auflagen erlebten, sind gleichfalls nur als Satiren, nicht als wirkliche Erzählungen aufzufassen; an ihrem Erfolg hatten die pikant-lüsternen Elemente jedenfalls so viel Anteil wie die humoristischen. Spitzfuß, s. Pferdefuß. Spitzgang, s. Mühlen, S. 849. Spitzgeschoß, s. v. w. Langgeschoß, s. Spitzharfe, s. Harfe. Spitzhengst (Klopfhengst), männliches Pferd, bei welchem eine oder beide Hoden nicht im Hodensack, sondern in der Bauchhöhle liegen und nicht zur vollständigen Entwickelung gelangen. Die Kastration des Spitzhengstes ist nicht ohne Gefahr, gelingt aber bei geschickter Ausführung oft. Die Meinung, daß der S. eine größere Anlage zur Bösartigkeit habe als Hengste mit normalen Hoden, beruht auf Spitzhörnchen (Tupaiidae), s. Insektenfresser. Spitzkasten, s. Aufbereitung, S. 53. Spitzkeimer, s. Monokotyledonen. Spitzklette, s. Xanthium. Spitzkugeln, Geschosse gezogener Handfeuerwaffen mit kegelförmiger Spitze. Spitzlerche, s. Pieper. Spitzmäuschen (Apion Herst.), Käfergattung aus der Gruppe der Kryptopentameren und der Familie der Rüsselkäfer (Curculionina), sehr kleine, birnförmige Käferchen mit dünnem, fadenförmigem Rüssel, dünnen, nicht geknieten Fühlern, welche in einem ovalen und zugespitzten Knopf enden, punktförmigem Schildchen und kürzern oder längern Flügeldecken, welche den Hinterleib ganz bedecken. Man kennt ca. 300 Arten, welche im Sonnenschein lebhaft umherfliegen und Blüten und junges Laub der verschiedensten Pflanzen benagen. Die Larven leben meist in den Samen von Leguminosen, seltener im Mark von Krautstengeln. A. apricans Herbst., 2 mm lang, schwarz, leicht metallisch glänzend, an der Fühlerbasis, den Hüften und Schenkeln rotgelb, ist überall häufig auf Wiesen; das Weibchen legt die Eier an den Blütenstand des Klees, dessen Samen die Larven auf einzelnen Feldern bisweilen fast vollständig vernichten. Die Larven verpuppen sich zwischen den Blüten des Köpfchens, und bald darauf schlüpft der Käfer aus, welcher überwintert. Spitzmäuse (Soricidea Gerv.), Familie aus der Ordnung der Insektenfresser, kleine Säugetiere vom Habitus der Ratten und Mäuse, mit schlankem Leib, langem Kopf, gestrecktem Schnauzenteil, sehr vollständigem Gebiß, meist kleinen Augen und Ohren und eigentümlichen Drüsen an den Seiten des Körpers oder an der Schwanzwurzel. Die S. finden sich in der Alten Welt und Amerika und sind durch Vertilgung schädlicher Insekten sehr nützlich. Sie zerfallen in zwei Unterfamilien: eigentliche S. (Soricina) und Bisamspitzmäuse (Myogalina). Die Waldspitzmaus (Sorex vulgaris L., s. Tafel "Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 4,5 cm langem, gleichmäßig behaartem Schwanz, ist rotbraun, an den Seiten lichter, unterseits gräulichweiß, mit oben dunkelbraunem, unten bräunlichgelbem Schwanz und langen, schwarzen Schnurren, findet sich weitverbreitet in Europa, in der Ebene und im Gebirge, am häufigsten in feuchten Wäldern, an Flüssen und Teichen; sie kommt im Winter in Ställe, Scheunen und Wohnhäuser und lebt in selbstgegrabenen oder schon vorhandenen unterirdischen Gängen. Sie ist sehr lichtempfindlich und jagt daher nur nachts. Außer Insekten und Würmern frißt sie auch Mäuse und S. Sie ist ungemein gewandt, höchst gefräßig und blutgierig, durchaus ungesellig und wirft zwischen Mai und Juli im Mauerwerk oder unter hohlen Baumwurzeln in einem selbstgebauten Nest 5-10 Junge. Sie riecht sehr stark moschusartig, wird deshalb von der Katze zwar getötet, aber nicht gefressen; nur einige Raubvögel, Storch und Kreuzotter verschlingen sie. Ehemals galt sie als sehr heilkräftig und, wie z. B. noch jetzt in England, als höchst giftig. Die Zwergspitzmaus (S. pygmaeus Pall.), das kleinste Säugetier diesseit der Alpen, 4,6 cm lang, mit 3,4 cm langem Schwanz, oberseits dunkel graubraun, an den Seiten mit gelblichem Anflug, unterseits weißgrau, findet sich in fast allen Ländern Europas, in Nordasien und Nordafrika, in Wäldern und in der Nähe von Gebüsch und hat wesentlich dieselbe Lebensweise wie die vorige. Die Hausspitzmaus (Crocidura Araneus Wagn., s. Tafel "Insektenfresser"), 7 cm lang, mit 4,5 cm langem Schwanz, aus dem Pelz deutlich hervortretenden Ohren und langen, zerstreut stehenden Wimperhaaren auf dem Schwanz, oberseits braungrau, unterseits hellgrau, bewohnt Nordafrika und fast ganz Europa, besonders Felder und Gärten, jagt morgens und abends auf allerlei kleine Tiere, siedelt sich gern in Gebäuden an und benascht Fleisch, Speck und Öl. Das Weibchen wirft 5-10 Junge, welche schon nach sechs Wochen ziemlich erwachsen und selbständig sind. Die Wimperspitzmaus (C. etrusca Wagn.), 4 cm lang, mit 2,5 cm langem Schwanz, neben einer Fledermaus das kleinste Säugetier, mit verhältnismäßig sehr großer Ohrmuschel, ist hellbräunlich, lebt in den Mittelmeerländern und am Schwarzen Meer, am liebsten in Gärten und Gebäuden. Die Wasserspitzmaus (Crossopus fodiens Wagn., s. Tafel "Insektenfresser"), 6,5 cm lang, mit 5,3 cm langem Schwanz, mit steifen Borstenhaaren ringsum an den Füßen und Zehen und mit einem Kiel von ebensolchen Borstenhaaren längs der Mitte der Unterseite des Schwanzes, ist oberseits schwarz, unterseits weißlich, aber vielfach in der Farbe ändernd, findet sich zuweilen in erstaunlicher Menge in Mittel- und Südeuropa und in einem Teil Asiens, bewohnt fließende und stehende Gewässer besonders gebirgiger Gegenden, geht auch auf Felder und in Gebäude, gräbt sich unterirdische Gänge, benutzt aber auch solche von Mäusen und Maulwürfen, erscheint an Orten ohne Störung auch am Tag, schwimmt vortrefflich, wobei ihr die Borstenhaare gute Dienste leisten, und bleibt dabei vollständig trocken. Sie ist im Verhältnis zu ihrer Größe das furchtbarste Raubtier, frißt namentlich auch Lurche, Fische, Vögel und kleine Spitzpocken - Spohr. Säugetiere und wird dadurch der Teichwirtschaft schädlich. Das Weibchen wirft in einem kleinen Kessel, der mit Moos ausgekleidet wurde, 6-10 Junge. In der Gefangenschaft sind sie schwer zu erhalten. Spitzpocken, s. Windpocken. Spitzsäule, s. v. w. Obelisk. Spitzschwanz, s. v. w. Pfriemenschwanz, s. Madenwurm. Spitzstein, s. Diamant, S. 931. Spitzweg, Karl, Maler, geb. 5. Febr. 1808 zu München, war anfangs Apotheker, studierte dann von 1830 bis 1832 auf der Universität in München und wendete sich erst um 1835 der Kunst zu, in welcher er sich als Autodidakt durch Studien nach ältern Meistern, insbesondere durch Kopien nach den Niederländern ausbildete. Zur malerischen Darstellung wählte er das spießbürgerliche Leben seiner Zeit in gemütvoller und humoristischer Auffassung und mit Hervorhebung gewisser Typen (Stadtgardisten, Nachtwächter, fahrende Künstler, Invaliden, Sonderlinge, Gelehrte, Klausner), malte daneben aber auch romantisch gehaltene Landschaften mit phantastischer Staffage. Er bevorzugte dabei besonders die Mondscheinbeleuchtung. Dem kleinen Format seiner Bilder entsprachen die sorgsame Durchführung und die feine Charakteristik der Figuren. Seine Hauptwerke sind: der arme Poet, Zauberer und Drache, die reisende Künstlergesellschaft, schlafender Wachtposten bei Mondschein, der Bücherantiquar, der Gelehrte im Dachstübchen, der Kommandant, der Hypochonder, der Sonntagsjäger, der Nachtwächter und die Serenade. Seit 1844 war er Mitarbeiter an den "Fliegenden Blättern", welche er mit zahlreichen humoristischen Zeichnungen versah. Er starb 23. Sept. 1885. Vgl. E. Spitzweg, Die S.-Mappe (Münch. 1887). Spitzwegerich, s. Plantago (lanceolata). Spitzahnornament, eine im normännischen und romanischen Baustil vorkommende Gliedbesetzung (s. Abbildung). Spix, Johann Baptist von, Naturforscher und Reisender, geb. 9. Febr. 1781 zu Höchstadt a. d. Aisch, studierte in den Seminaren zu Bamberg und Würzburg Theologie, wandte sich dann zur Medizin und wurde 1811 Konservator der zootomischen Sammlungen in München. 1817 ging er mit Martins nach Brasilien, kehrte 1820 nach Europa zurück und starb 13. März 1826 in München. Er schrieb: "Geschichte und Beurteilung aller Systeme in der Zoologie" (Nürnb. 1811); "Cephalogenesis" (Münch. 1815); "Reise nach Brasilien" (fortgesetzt von Fr. v. Martius, das. 1823 bis 1831, 3 Bde. mit Karten und Kupfern) und mehrere Prachtwerke über Affen, Fledermäuse, Reptilien und Vögel, die er in Brasilien gesammelt hatte (1824 bis 1825 mit andern Zoologen vollendet). Spizza (slaw. Spiz), Gemeinde in der dalmatischen Bezirkshauptmannschaft Cattaro, im äußersten Süden Österreichs, am Adriatischen Meer, mit Hafen und (1880) 1521 vorwiegend albanesischen Bewohnern. S. wurde durch den Berliner Frieden 1878 von der Türkei an Österreich abgetreten. Splanchnici (nervi s.), Eingeweidenerven. Splanchnologie (griech.), Eingeweidelehre, Teil der Anatomie (s. d.). Spleen (engl., spr. splihn, "Milzsucht"), Form von Melancholie mit Hypochondrie, welche oft zum Selbstmord führt. Esquirol findet die Ursachen derselben zur Zeit der Pubertät in einer unbestimmten, im Grund geschlechtlichen, unbefriedigten Sehnsucht, beim reifern Alter im Aufgeben einer geregelten Thätigkeit, in Übersättigung mit Vergnügungen etc. Die Behandlung des Spleens muß zuerst die körperlichen Verhältnisse berücksichtigen, hinsichtlich deren sich meist Verdauungsstörungen vorfinden, und die geistige Verstimmung durch zweckmäßige psychische Behandlung, besonders durch geregelte Thätigkeit, zu heben suchen. Spleißofen, s. Kupfer, S. 320. Splen (lat.), Milz; Splenalgie, Milzstechen; Splenitis, Milzentzündung. Splendid (lat.), glänzend, prächtig, prachtliebend, viel aufgehen lassend; beim Buchdruck s. v. w. weit, geräumig gesetzt (Gegenteil: kompreß). Splint (Splintholz), s. Holz, S. 669; im Bauwesen s. v. w. Schließe, s. Anker, S. 597. Splintkäfer, s. Borkenkäfer. Splissen, die Vereinigung zweier Tauenden, welche zu dem Zweck aufgedreht werden, so daß die einzelnen Kardeele oder Garne frei liegen; letztere werden demnächst mit Hilfe des Marlpfriems zwischen die Kardeele der nicht aufgedrehten Teile der Taue gearbeitet, derart, daß die fertige Splissung keinen wesentlich größern Durchmesser erhält als das Splißhorn, ein als Gefäß zum Mitführen von Talg benutztes Kuhhorn, welches, am Gurt getragen, neben dem Messer und Marlpfriem, dessen Spitze vor dem Gebrauch mit Talg eingefettet wird, das Handwerkszeug der Takler und Matrosen bildet. Splitter, Dorf im preuß Regierungsbezirk Gumbinnen, westlich bei Tilsit, mit Stolbeck zusammenhängend, hat (1885) 770 Einw.; hier 30. Jan. 1679 siegreiches Gefecht der Brandenburger gegen die Schweden. Splügen (roman. Speluga), ein Hochgebirgspaß der Graubündner Alpen (2117 m), zwischen dem Tambo- und Surettahorn, verbindet den Hinterrhein mit dem Liro (Nebenfluß der Adda), also Bodensee und Comersee, und ward schon zur Römerzeit benutzt. Über den S. führte Macdonald (27. Nov. bis 4. Dez. 1800) die französische Reservearmee. Später (1812 bis 1822) unternahm die österreichisch-lombardische Regierung den Bau der Splügenstraße, die vom Graubündner Dorf S. (1450 m) bis Chiavenna (317 m) 38 km lang, überall 4,5 m breit ist und eine größere Zahl von Galerien und Zufluchtsstätten enthält. Erbauer war Karl Donegani. Seit längerer Zeit ist der S. auch als Paß für eine ostschweizerische Alpenbahn in Aussicht genommen. Spodium (lat.), s. v. w. Beinschwarz oder Knochenkohle; weißes S., s. v. w. Knochenasche. Spodumen, Mineral, s. Triphan. Spohr, Ludwig, Violinspieler und Komponist, geb. 5. April 1784 zu Braunschweig als das älteste Kind eines Arztes, der 1786 als Physikus nach Seesen am Harz versetzt wurde, zeigte früh musikalisches Talent, so daß er schon in seinem fünften Jahr gelegentlich in den musikalischen Abendunterhaltungen der Familie mit seiner Mutter Duette singen konnte, und wurde mit zwölf Jahren nach Braunschweig geschickt, um bei gleichzeitigem Gymnasialunterricht sich in der Musik auszubilden. Hier wurden Kunisch und später Maucourt seine Violinlehrer, während ihn der Organist Hartung, jedoch nur kurze Zeit, in der Komposition unterrichtete. Nach Spohrs eigner Versicherung war dies die einzige Unterweisung, die ihm in Harmonielehre und Kontrapunkt je zu teil geworden, so daß er also die bedeutenden Fähigkeiten, welche er gerade auf diesem Gebiet besaß, hauptsächlich dem eignen Fleiß zu danken hatte. Spöl - Spoleto. 15 Jahre alt, wurde er vom Herzog von Braunschweig, zum Kammermusikus ernannt und erhielt zugleich das Versprechen, daß der Herzog ihn zu weiterer Ausbildung noch irgend einem großen Meister übergeben wolle. Die Wahl fiel endlich auf Franz Eck in München, als dieser eben im Begriff war, eine Kunstreise nach Rußland anzutreten. S. begleitete ihn und kehrte erst im Juli 1803 nach Braunschweig zurück. Hier traf er Rode an, dessen Spiel nachhaltigen Einfluß auf seine weitere Entwickelung übte. Spohrs Ruf als ausgezeichneter Violinvirtuose verbreitete sich nun infolge einiger Kunstreisen so rasch, daß er schon 1805 die Konzertmeisterstelle in Gotha erhielt. In dieser Stellung verblieb er, nachdem er sich ein Jahr später mit der Harfen- und Klaviervirtuosin Dorette Scheidler verehelicht hatte, abgesehen von mehreren mit seiner Gattin unternommenen Kunstreisen, bis 1813, in welchem Jahr er einem Ruf als Kapellmeister des Theaters an der Wien folgte. Zwistigkeiten mit dem Direktor desselben, Grafen Pálffy, waren die Ursache, daß er dies Amt bereits nach zwei Jahren niederlegte und wiederum Kunstreisen antrat, die sich diesmal auch auf die Schweiz, Italien und Holland erstreckten, bis er im Winter 1817 die Kapellmeisterstelle am Theater in Frankfurt a. M. übernahm. Hier brachte er 1818 seine Oper "Faust" und 1819 "Zemire und Azor" zur Aufführung, welche beide enthusiastischen Beifall fanden; gleichwohl verließ S. schon im September d. J. Frankfurt und begab sich von neuem auf Kunstreisen nach Belgien, Paris und 1820 nach London. Nach viermonatlichem Aufenthalt ruhmgekrönt zurückgekehrt, ließ er sich in Dresden nieder, erhielt jedoch schon im folgenden Jahr auf Veranlassung K. M. v. Webers die Berufung als Hofkapellmeister nach Kassel und trat im Januar 1822 in sein neues Amt ein. Größere Virtuosenreisen unternahm er von nun an nicht mehr; dagegen entfaltete er die ersprießlichste Thätigkeit zur Hebung der musikalischen Zustände Kassels, insofern er sowohl das Orchester zu einer zuvor nie gekannten Höhe hob, als auch außerdem einen Gesangverein für Oratorienmusik gründete. Nicht minder bedeutend war seine Thätigkeit als Lehrer und Komponist. In ersterer Eigenschaft wurde er das Haupt einer Violinschule, wie sie Deutschland seit Franz Benda nicht besessen, und von allen Teilen Europas strömten ihm die Schüler zu. Gleichzeitig entwickelte er eine erstaunliche Produktionskraft auf allen Gebieten der Komposition und bethätigte sich als Dirigent zahlreicher Musikfeste in Deutschland und England. Auch der Verlust seiner Gattin (1834), für den er in einer zweiten Ehe mit der Klavierspielerin Marianne Pfeiffer nur einen annähernden Ersatz fand, vermochte seinen Arbeitseifer und seine Pflichttreue nicht zu vermindern, so wenig wie die kleinlichen Schikanen, die er später von seinem Fürsten zu erdulden hatte, dies namentlich nach dem Jahr 1848, obwohl er das Jahr zuvor durch die Ernennung zum Generalmusikdirektor ausgezeichnet war. 1857 gegen seinen Wunsch und mit teilweiser Entziehung seines Gehalts pensioniert, blieb er bis zu seinem Tod 22. Okt. 1859 als Mensch wie als Künstler ein Gegenstand der allgemeinen Verehrung. Als Komponist hat S. die musikalische Litteratur auf jedem ihrer Gebiete durch Meisterwerke von unvergänglichem Wert bereichert. Auf dem der dramatischen Musik wurde er neben K. M. v. Weber und Marschner der Hauptvertreter der romantischen Oper, wenn er auch hinsichtlich des szenisch Wirksamen hinter diesen beiden zurücksteht und infolgedessen seine Opern, mit Ausnahme von "Jessonda", noch zu seinen Lebzeiten von den deutschen Bühnen verschwanden. Auch in seinen Oratorien: "Die letzten Dinge", "Der Fall Babylons" u. a. folgt er zu ausschließlich seinem subjektiven Naturell, um auf die Nachwelt zu wirken, wiewohl hier seine Neigung zum Elegischen und das konsequente Festhalten eines erhabenen Pathos sowie endlich der für alle seine Arbeiten charakteristische, nicht selten in Überfülle ausartende Reichtum der Modulation die Wirkung weniger beeinträchtigen als in seinen Opern. Unbedingte Bewunderung verdienen seine zahlreichen, ausnahmslos durch Adel der Empfindung und formale Abrundung hervorragenden Instrumentalwerke, sowohl für Orchester als für Kammermusik, unter den erstern die Symphonien in C moll und "Die Weihe der Töne", unter den letztern die Quintette und Quartette, sowohl für Streichinstrumente allein als mit Klavier. Den größten und verdientesten Erfolg aber haben die speziell für sein Instrument geschriebenen Werke gehabt, und seine 15 Violinkonzerte, darunter namentlich das 7., 8. ("in Form einer Gesangsszene") und 9., sowie seine Violinduette, endlich seine große Violinschule stehen noch heute an klassischem Wert unübertroffen da. Vgl. Spohrs "Selbstbiographie" (Götting. 1860-61, 2 Bde.; bis 1838 von ihm selbst geschrieben und von da bis zu seinem Tod von den Angehörigen ergänzt); v. Wasielewski, Die Violine und ihre Meister (2. Aufl., Leipz. 1883); Malibran, Louis S., sein Leben und Wirken (Frankf. a. M. 1860); Schletterer, Louis S. (Leipz. 1881). Spöl, Fluß, s. Livigno (Val di). Spoleto, Kreishauptstadt in der ital. Provinz Perugia (Umbrien), an der Eisenbahn Rom-Foligno-Ancona, auf einem Hügel (dem Krater eines erloschenen Vulkans) unfern der reißenden Maroggia, über deren Thal ein 69 m hoher, 209 m langer Aquädukt mit altem Brückenweg führt, hat ein schönes Kastell (jetzt Strafhaus), viele Kirchen (darunter die Kathedrale mit Fresken von Filippo Lippi), zahlreiche Altertümer, ansehnliche Paläste (Kommunalpalast mit kleiner Gemäldesammlung), ein schönes Theater und (1881) 7696 Einw., die Fabrikation von Hüten, Leder, Wollenstoffen, Bereitung von Konserven, Getreide-, Wein- und Ölbau sowie Handel mit diesen Produkten betreiben. S. hat ein Lyceum, Gymnasium, Seminar, eine technische Schule, ein Konviktkollegium, eine Bibliothek, eine wissenschaftliche Akademie und ist Sitz eines Erzbischofs, eines Unterpräfekten und eines Handelsgerichts. - S. hieß im Altertum Spoletium und war eine der ansehnlichsten Städte Umbriens, die 242 v. Chr. eine römische Kolonie ward und sich 217 standhaft gegen Hannibals Angriffe verteidigte. Von den Goten unter Totilas zerstört, ward sie von Narses wieder aufgebaut und dann von den Langobarden zur Hauptstadt eines Lehnsherzogtums gemacht, das einen großen Teil Mittelitaliens (Umbrien, Sabiner- und Marsenland, Fermo und Camerino) umfaßte und auch unter fränkischer Herrschaft bestehen blieb. Herzog Guido von S. ward 891 Kaiser, ebenso sein Sohn Lambert 898. Mit Konrad dem Schwaben erlosch das selbständige Herzogtum. Durch Kaiser Heinrich II. wurde S. mit Toscana vereinigt, war nach Mathildens von Tuscien Tod (1115) Gegenstand des Streits zwischen Kaiser und Papst und nur vorübergehend Sitz eines kaiserlichen Markgrafen. Seit dem 13. Jahrh. gehörte das Herzogtum nebst der Mark Fermo zum Kirchenstaat, seit 1861 gehört es zum Königreich Italien. Vgl. Sansi, Storia del comune di S. (Foligno 1879). Spoliation - Spontini. Spoliation (lat.), Beraubung. Spolien (lat. Spolia), die dem Feind von den römischen Soldaten in der Schlacht entrissene Beute an Waffen, Schmuck etc., welche den Tempel sowie das Vestibulum und Atrium des Hauses, namentlich der siegenden Feldherren, schmückte und stets an dem Haus blieb, auch wenn es den Besitzer wechselte. Besonders berühmt waren die Spolia opima ("fette Beute"), die dem feindlichen Feldherrn abgenommen waren und dem Jupiter Feretrius auf dem Kapitol geweiht wurden. Auch die ehedem in den Kirchen aufgehängten ritterlichen Ehrenzeichen (Schild, Helm etc.) der Kirchenpatrone sowie die Güter geistlicher, ohne Testament verstorbener Personen werden S. genannt (vgl. Spolienrecht). Spolienklage, s. Besitz. Spolienrecht (Jus spolii), das von den deutschen Kaisern ehedem in Anspruch genommene und bis auf Friedrich II. ausgeübte Recht, den Nachlaß verstorbener Bischöfe einzuziehen. Auch die Landes- und Grundherren nahmen im Mittelalter dem Nachlaß von katholischen Geistlichen gegenüber zuweilen ein S. in Anspruch, und auch von Päpsten und Bischöfen ist es ausgeübt worden. Spoliieren (lat.), berauben, plündern. Sponde (lat.), Bettgestell, Bettstatt. Spondeus, ein aus zwei langen Silben (- -) bestehender Versfuß, der anfänglich bei den Libationen (Spondä) der Griechen, wobei man eine langsame und ernste Melodie liebte, dann aber namentlich mit dem Daktylus abwechselnd im Hexameter angewendet wurde. Spondias L., Gattung aus der Familie der Anakardiaceen, Bäume mit unpaarig gefiederten Blättern, unansehnlichen Blüten und fleischigen, pflaumenähnlichen Früchten. Von den etwa zehn tropischen Arten liefert S. Mombin L. (S. purpurea Mill., Mombinpflaumenbaum), in Südamerika und Westindien, die beliebten Mombinpflaumen oder otahaitischen Äpfel, zum Räuchern dienendes Amra- oder Aruraharz und Holz zu Pfropfen. S. lutea L. hat gelbe, herbe Früchte, die als Arzneimittel dienen, und liefert Acajouholz. S. mangifera Pers. (Amrabaum), auf Malabar und Koromandel, mit ebenfalls genießbaren Früchten, liefert auch Amraharz. S. dulcis Forst., auf den Südseeinseln, liefert die Cytherenäpfel. Spondieren (lat.), geloben, besonders von Ehegelöbnissen gebraucht. Spondylarthrokace (Spondylitis), s. v. w. Wirbelentzündung, s. Pottsches Übel. Spondylus (lat.), Wirbelknochen. Spongiae, Schwämme (s. d.); S. ceratae, Wachsschwämme, mit geschmolzenem gelben Wachs getränkte und scharf ausgedrückte Schwämme; S. compressae, Preßschwämme, durch Umschnüren mit Bindfaden stark komprimierte Schwämme, werden wie die vorigen ihres Quellungsvermögens halber zu unblutigen Erweiterungen, namentlich des Uteruskanals und des Muttermundes, benutzt, in neuerer Zeit aber meist durch Laminaria digitata ersetzt. Spongiös (lat.), schwammig; spongiöse Knochensubstanz, die weiche, am macerierten Knochen poröse Substanz in den Knochenenden im Gegensatz zu der festen Knochenrinde und dem weichen Mark. Spongitenkalk (Scyphienkalk), fossile Schwämme enthaltender Kalk; s. Juraformation. Sponheim (Spanheim), früher reichsunmittelbare Grafschaft im oberrhein. Kreis, zwischen dem Rhein, der Nahe und der Mosel, zerfiel in S.-Kreuznach und S.-Starkenburg oder die vordere und hintere Grafschaft. Der Stammvater des gräflichen Geschlechts ist Eberhard, um 1044; sein Sohn Stephan gründete 1101 unweit seiner Burg die Abtei S. auf dem Gauchsberg. Nach dem Tod Gottfrieds II. (1232) begründeten seine Söhne Johann I. die Linie S.-Starkenburg, Simon II. S.-Kreuznach, während Heinrich 1248 in der Grafschaft Sayn den Zweig S.-Blankenberg stiftete, welcher sich bald in die Zweige S.-Heinsberg und S.-Lewenberg teilte und im 15. Jahrh. erlosch. Johanns I. zweiter Sohn, Gottfried, ist der Stammvater der Grafen von Sayn und Wittgenstein (s. d.). Bei dem Aussterben der Kreuznacher Linie 1416 fiel ein Fünftel der Grafschaft an Kurpfalz, vier Fünftel an die Starkenburger Grafen. Als auch diese 1437 ausstarben, fielen ihre Besitzungen an Baden und die Pfalz. Nach langwierigen Streitigkeiten mit der Pfalz wurde im Teilungsvertrag von 1708 Birkenfeld an Pfalz-Zweibrücken überwiesen, fiel jedoch 1776 an Baden zurück, während Kreuznach bei Kurpfalz verblieb. 1801 kam die ganze Grafschaft an Frankreich, 1814 an Preußen, das 1817 einen Teil davon, das Fürstentum Birkenfeld, an Oldenburg abtrat. Sponsalien (lat.), s. Verlöbnis. Sponsieren (lat.), liebeln, um ein Mädchen werben, buhlen; Sponsierer, Freier, Buhler. Sponsor (lat.), Bürge; auch s. v. w. Pate. Sponsus (lat.), Bräutigam; Sponsa, Braut. Spontan (lat.), von selbst, ohne äußere Einwirkung erfolgend; daher Spontaneität, Selbstthätigkeit, das Vermögen, von selbst und nicht infolge besonderer Anregung thätig zu sein. Spontini, Gasparo, Komponist, geb. 14. Nov. 1774 zu Majolati bei Jesi (Mark Ancona), erhielt seine Ausbildung zu Neapel im Konservatorium della Pietà, wo er von Sala im Kontrapunkt unterrichtet wurde, und debütierte 1796 in Rom mit der Oper "I puntigli delle donne", welche mit Beifall aufgenommen wurde. Diesem Werk folgte für verschiedene italienische Theater eine Reihe von Opern, die sich jedoch von dem damals in Italien landläufigen Stil in nichts unterschieden. In Paris, wohin er sich 1803 wandte, vermochte er anfangs keine Anerkennung zu finden und mußte durch Gesangstunden sein Leben fristen, bis er 1804 mit der einaktigen Oper "Milton" die Aufmerksamkeit des Publikums erregte. S. hatte sich mittlerweile den Stil Glucks angeeignet und verwendete ihn zum erstenmal in seiner "Vestalin" (Text von Jouy), welche 15. Dez. 1807 zur Aufführung kam. Der Erfolg war ein vollständiger, und das Nationalinstitut erkannte dem Meister den von Napoleon I. gestifteten Preis von 10,000 Frank zu. Die 1809 folgende Oper "Ferdinand Cortez" fand gleichfalls enthusiastische Aufnahme. Im nächsten Jahr erhielt S., nachdem er schon 1805 Direktor der Kammermusik der Kaiserin Josephine geworden war, die Direktion des italienischen Theaters im Odéon, woselbst er zum erstenmal in Paris Mozarts "Don Juan" zur Aufführung brachte. Intrigen verleideten ihm jedoch bald genug dieses Amt, er legte es deshalb nach zwei Jahren wieder nieder. Mit dem Sturz des Kaiserreichs verlor S. auch seine Stellung bei Hof und war demgemäß für die folgenden Jahre lediglich auf sein Talent und seine Arbeiten für die Bühne angewiesen. Sein nächstes großes Werk: "Olympia", ging im Dezember 1819 zum erstenmal in Szene, fand jedoch nicht den entschiedenen Beifall wie die beiden vorhergehenden Opern. S. folgte daher um so lieber einer Aufforderung des Königs von Sponton - Sporenfink Preußen, der ihn 1820 als Generalmusikdirektor nach Berlin berief. Hier entfaltete S. während seiner mehr als 20jährigen unbeschränkten Herrschaft über die Opernbühne eine auf alle Zweige des Opernwesens sich erstreckende Thätigkeit, die so erfolgreich war, daß er das seiner Leitung anvertraute Institut auf eine weder vor noch nach ihm erreichte Höhe brachte; allein die drei "Hofopern", welche er in Berlin noch schrieb ("Nurmahal", "Alcidor" und "Agnes von Hohenstaufen"), blieben hinter seinen drei vorhergegangenen Werken weit zurück. Zudem schuf er sich durch sein häufig schroffes Auftreten eine große Anzahl von Feinden, und die hieraus sich entspinnenden litterarischen Fehden, die ihn fast in einen Prozeß wegen Majestätsbeleidigung verwickelt hätten und schließlich bei Gelegenheit einer von ihm geleiteten Aufführung des "Don Juan" zu einer gegen ihn gerichteten stürmischen Demonstration des Publikums führten, veranlaßten ihn 1842, sein Amt niederzulegen und nach Paris zurückzukehren. 1844 unternahm er eine Reise nach Italien, wo ihn der Papst zum Grafen Sant' Andrea ernannte. 1847 wollte sich S. auf Wunsch des Königs von Preußen nochmals nach Berlin begeben, um dort einige seiner Opern zu dirigieren, allein ein Gehörübel verhinderte ihn daran. Infolge der politischen Wirren kehrte er endlich 1848 für immer in sein Vaterland zurück, wo er 24. Jan. 1851 in seinem Geburtsort starb. S. ist einer der Hauptrepräsentanten der unter dem Einfluß des Napoleonischen Kaiserreichs entstandenen heroischen Oper, die trotz alles Aufwandes äußerer Effektmittel doch unter seinen Händen zu einem Kunstwerk ersten Ranges wurde. Hinsichts des Adels der Melodie, der Reinheit der Deklamation und der Konsequenz in der Ausführung seiner Charaktere steht er von allen Komponisten der französischen Großen Oper Gluck am nächsten, und er ist von keinem seiner Nachfolger auf diesem Gebiet erreicht worden. Vgl. Robert, G. Spontini (Berl. 1883); R. Wagner, Erinnerungen an S. ("Gesammelte Schriften", Bd. 5). Sponton (spr. spongtóng, Esponton, franz.), eine Halbpike nach Art der Hellebarde (s. Abbildung), wurde bis zu Anfang dieses Jahrhunderts von den Offizieren der Infanterie neben dem Degen als Paradewaffe geführt. Der S. der Unteroffiziere, auch Partisane genannt, war länger, etwa 2,5 m lang, und hieß mit ersterm Kurzgewehr im Gegensatz zur längern Pike (s. d.). Sporaden, Inselgruppe im Ägeischen Meer und zwar im Gegensatz zu den Kykladen (s. d.) diejenigen Inseln, welche im N., O. und Süden um dieselben "zerstreut" an der Küste von Kleinasien und Thessalien liegen. Die S. zerfallen in die Nordsporaden (Skiathos, Skopelos, Chilidromia, Pelagonisi, Skyros und mehrere kleinere), die Ostsporaden (Nikaria, Patinos, Lero, Kos, Rhodos nebst vielen kleinern) und die Südsporaden (Thera oder Santorin, Amurgos, Astypaläa oder Stampalia, Ios oder Nio, Karpathos, Kasos und mehrere kleinere). Letztere werden von manchen Neuern (wie auch offiziell) zu den Kykladen gezählt und die Ostsporaden dann als Südsporaden bezeichnet. Die S. sind meist mit Bergen bedeckt, die sich durch ihre schroffen Formen auszeichnen; vielen fehlt die Bewässerung; die bewässerten zeichnen sich durch große Fruchtbarkeit aus. Die alten Griechen bezeichneten als S. im engern Sinne nur die im Ikarischen Meer von Rhodos bis Nikaria (Ikaria) gelegenen Inseln. Bei der Trennung Griechenlands von der Türkei blieben nur die zunächst der Küste von Kleinasien liegenden Ostsporaden bei letzterm Land, während die Nord- und die meisten Südsporaden an Griechenland fielen. S. Karte "Griechenland". Sporadisch (griech., "zerstreut"), in der Medizin von Krankheiten gebraucht, welche nur einzelne Individuen ergreifen, im Gegensatz zur Epidemie; auch sonst s. v. w. vereinzelt Sporangium (lat., Keimfrucht), bei den Kryptogamen die Behälter der Sporen, welche entweder, wie bei vielen Algen und Pilzen, einfache Zellen darstellen, in denen durch Zellbildung zahlreiche ruhende Sporen oder Schwärmsporen (im letztern Fall Zoosporangien genannt) entstehen, oder kapselartige Behälter sind, welche eine aus Zellen zusammengesetzte Wand besitzen und im Innern meist durch Vierteilung aus Mutterzellen die Sporen erzeugen, wie bei den Moosen, Farnkräutern etc. Sporck, Johann von, kaiserl. General, geb. 1595 zu Westerloh bei Delbrück im Bistum Paderborn, Sohn eines armes Edelmanns, trat als gemeiner Soldat in das ligistische Heer, in dem er den Dreißigjährigen Krieg mitmachte, ward 1639 bayrischer Reiteroberst, vollführte im November 1643 einen glücklichen Handstreich gegen das französische Heer und zeichnete sich 1645 in der Schlacht bei Jankau aus. Als Generalwachtmeister beteiligte er sich im Juli 1647 an dem Versuch Johanns v. Werth, das bayrische Heer dem Kaiser nach Böhmen zuzuführen, wurde nach dessen Mißlingen vom Kurfürsten Maximilian für einen Verräter erklärt, trat in kaiserliche Dienste, ward zum österreichischen Freiherrn ernannt und mit Gütern in Böhmen beschenkt. Er focht dann als Reitergeneral unter Montecuccoli 1657-60 gegen die Schweden in Polen und Schleswig-Holstein, in der Schlacht bei St. Gotthardt 1. Aug. 1664 gegen die Türken, worauf er zum Reichsgrafen ernannt wurde, und 1674-75 gegen die Franzosen am Rhein. Er starb 6. Aug. 1679 auf seinem Gut Herman-Mestiz in Böhmen. Vgl. Rosenkranz, Graf Johann v. S. (2. Ausg., Paderb. 1854). Fr. Löher hat sein Leben in einem Epos behandelt. Sporco (ital., "unrein"), s. v. w. Brutto (s. d.). Sporen (Sporae, Keimkörner), bei den Kryptogamen die zur Vermehrung dienenden, den Samen der Phanerogamen analogen Körper, welche aber einzelne Zellen oder aus wenigen Zellen zusammengesetzt sind und nie einen Embryo enthalten, wie die Samen der Blütenpflanzen. Sie sind in der Regel mikroskopisch klein, treten aber meist massenhaft auf. Ihre Entstehung und Beschaffenheit sind in den einzelnen Klassen, Ordnungen und Familien der Kryptogamen verschieden; man nennt die durch Abschnürung auf Basidien entstehenden S. Basidio- oder Akrosporen, oft auch Konidien oder Stylosporen, die in Sporenschläuchen sich bildenden S. Askosporen oder Thekasporen, die in Sporangien entstehenden nackten, d. h. nicht von einer Zellhaut umhüllten, mittels schwingender Wimpern im Wasser frei beweglichen S. Schwärmsporen oder Zoosporen. Sporenfink, s. Ammer, S. 489 Sporenfrucht - Spottdrossel. Sporenfrucht, s. Sporocarpium. Sporenorden, s. Goldener Sporn. Sporenschlacht (Journée des éperons), Bezeichnung sowohl der Schlacht (1302) bei Courtrai (s. d.) als der zweiten (1513) bei Guinegate (s. d.). Sporenschlauch (Ascus, Theca), bei Pilzen und Flechten diejenigen meist keulen- oder schlauchförmigen Mutterzellen von Sporen, in welchen die letztern durch Zellbildung erzeugt Sporer, zünftiger Name der Metallarbeiter, welche Sporen und die zum Reitzeug gehörigen Beschläge und sonstigen Zieraten verfertigten. Spörer, Gustav Friedrich Wilhelm, Astronom, geb. 23. Okt. 1822 zu Berlin, wurde Professor der Mathematik am Gymnasium in Anklam, 1868 Teilnehmer an der Expedition, welche vom Norddeutschen Bund zur Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis (18. Aug.) nach Mulwar in Ostindien geschickt wurde, 1875 an das bei Potsdam erbaute astrophysikalische Observatorium berufen, machte sich besonders durch Beobachtungen der Sonnenoberfläche Spörgel, s. Spergula. Sporidesmium Link, Pilzgattung aus der Gruppe der Pyrenomyceten, umfaßt etwa 20 deutsche Arten, welche wahrscheinlich alle Konidienformen von Pyrenomyceten, besonders Pleospora, darstellen. Sie bilden auf Pflanzenteilen dunkle Überzüge, den sogen. Rußtau. S. putrefaciens Fuckel lebt parasitisch in den jungen Blättern der Runkelrübe und verursacht die Herzfäule der Rüben. Er bildet olivengrüne, ausgebreitete Räschen auf den durch den Pilz schwarz gefärbten Blättern. Sporidien, bei Rost- und Brandpilzen die auf den Promycelien (s. d.) durch Abschnürung entstehenden kleinen Sporen, welche durch Keimung das eigentliche Mycelium erzeugen. Spörk, s. v. w. Spergel, s. Spergula. Sporn, s.v.w. Stachel, stachelähnliches Werkzeug, z. B. an der Ferse eines Reiterstiefels; auch s. v. w. Ramme eines Panzerschiffs (s. d.); stachelartige Hervorragung an den Füßen mancher Tiere, besonders Vögel (Hahnensporn etc.); in der Botanik ein nach abwärts röhrenförmig verlängerter, etwas gekrümmter Fortsatz der Perigon-, Kelch- oder Blumenblätter (s. Blüte, S. 67). Spornblume, s. Plectranthus. Sporocarpium (Sporenfrucht), der nach der Befruchtung zur Ausbildung gelangende Fruchtkörper der Karposporeen, in oder an welchem sich die Sporen bilden; s. Kryptogamen. Sporocysten, s. Leberegel. Sporogonium (griech.-lat.), s. Moose, S. 790. Sport (engl., "Spiel, Belustigung"), das ehrgeizige Bestreben eines Mannes nach hervorragender körperlicher Leistung, ein Begriff, der dem Altertum (Kampfspiele der Griechen) und dem Mittelalter (Turniere) nicht unbekannt war. Der neuesten Zeit war es indessen vorbehalten, den S. nach allen Richtungen hin auszubilden, und zwar geschah dies hauptsächlich in England. Es folgten dann besonders die Vereinigten Staaten und in größerm oder geringerm Maß das europäische Festland. Zugleich erweiterte sich der Begriff dahin, daß man darunter auch Thätigkeiten verstand, bei welchen nicht bloß der Körper, sondern auch der Geist seine Rechnung findet. Ein wesentliches Merkmal dieser Thätigkeiten war es indessen von jeher und ist es noch, daß sie im Freien ausgeübt werden. Widersinnig ist daher z. B. die Bezeichnung Briefmarkensport, ebenso widersinnig wie die ausschließliche Anwendung des Wortes S. auf die Pferderennen. Man unterscheidet: 1) die mehr gesundheitlichen Zwecken dienenden, im wesentlichen bloß Kraft erfordernden, bez. die Körperkraft fördernden Sportarten, so die Mehrzahl der Turnübungen, das Rudern, das Fahren mit Dreirädern, das Gehen, Laufen etc.; 2) die Sportarten, welche Kraft und Geschicklichkeit zugleich verlangen, bez. fördern helfen: Schlittschuhlaufen und Schwimmen, die höhern Turnübungen, das Fechten, das Fahren mit Zweirädern, das gewöhnliche Reiten, die Jagd auf wehrlose Tiere, die Angel- und Netzfischerei auf Binnengewässern, Cricket, Fußball, Lawn Tennis, das Schießen; 3) endlich die Sportarten, deren Ausübung Kraft und Geschick erfordert und mit einer gewissen Gefahr verbunden ist, welche mit Hilfe dieses Geschicks abgewendet werden soll: die Jagd auf wilde, wehrhafte Tiere, Parforcejagd und Pferderennen, der Bergsport, die Fischerei auf hoher See und vor allen der Segelsport, welcher bei den Engländern für den Inbegriff des Sportlichen gilt. Dieser zerfällt wiederum in Segeln auf Binnengewässern und Segeln auf hoher See. Letzterer erfordert zugleich erhebliche mathematische und astronomische Kenntnisse. Die Sportarten lassen sich aber auch nach den toten oder lebendigen Gegenständen einteilen, welche zu deren Ausübung dienen, bez. den Gegenstand derselben bilden. So unterscheidet man 1) Jagd- und Schießsport nebst Hundezucht; 2) Pferdesport in allen seinen Abarten, wie: Turf, Trabersport, Fahrsport, Parforcejagd, Schnitzeljagd, Dauerreiten und Steeplechase; 3) Wassersport, welcher wiederum zerfällt in Segeln, Dampfen, Rudern, Fischen und Angeln, Eissport und Schwimmen; endlich 4) die verschiedenen Sportarten, als: Fechten und Turnen, Radfahren, Athletik, Skaten, Ballonsport, Bergsport, Gartenspiele etc. Als ein wesentliches Merkmal des Sports ist endlich anzuführen, daß dessen Ausübung nicht um des Gelderwerbs wegen geschieht. Näheres s. in den einzelnen Artikeln. Vgl. Georgens, Illustriertes Sportbuch (Leipz. 1882). Eine "Sportzeitung" (seit 1880) und eine "Sportbibliothek" für die verschiedenen Sportzweige gibt V. Silberer in Wien heraus; in Berlin erscheinen die "Sportswelt" und die "Neuesten Sportsnachrichten" (hrsg. vom Unionklub). Sporteln (lat.), Gebühren für Amtshandlungen, die nach gesetzlich festgestellter Norm (Sporteltaxe) entrichtet werden; namentlich Bezeichnung für die Gerichtskosten (s. Sports-man (engl., spr. -män), Liebhaber oder Betreiber des Sports (s. d.). Sposalizio (ital., "Verlobung"), in der Malerei die bei den Italienern übliche Bezeichnung für die Darstellung der Verlobung der Jungfrau Maria und Josephs, insbesondere für die beiden berühmten Bilder Peruginos (in Caen) und Raffaels (in Mailand). Spott kommt mit dem Scherz (s. d.) darin überein, daß er den andern lächerlich, unterscheidet sich von diesem dadurch, daß er ihn zugleich verächtlich Spottdrossel (Mimus Boie), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der Spottdrosseln (Miminae), Vögel mit sehr gestrecktem Leib, mittellangem, abwärts gekrümmtem Schnabel mit deutlicher Kerbe an der Spitze, verhältnismäßig hochläufigen, starken Füßen mit kräftigen Zehen und schwächlichen Nägeln, kurzen, abgerundeten Flügeln, in denen die dritte, vierte und fünfte Schwinge am längsten sind, und mäßig langem, stufigem Schwanz. Die S. (Mimus polyglottus Boie) ist oberseits dunkelgrau, am Kopf bräunlich, unterseits bräunlichweiß; Spottiswoode - Sprache (physiologisch). die Schwingen sind braunschwarz, fahlgrau gesäumt, die Spitzen der Flügeldeckfedern weiß, die mittelsten Steuerfedern schwarz, die äußern weiß; die Augen sind blaßgelb, der Schnabel ist bräunlichschwarz, die Füße dunkelbraun. Die S. bewohnt Nordamerika, vom 40° nördl. Br. bis Mexiko, besonders den Süden, findet sich im Buschwerk, im lichten Wald und in Pflanzungen, in Ebenen und an der Küste, sucht, besonders im Winter, die Nähe menschlicher Wohnungen, ähnelt in ihren Bewegungen den Drosseln und nährt sich von Kerbtieren und Beeren. Sie brütet zwei-, im Süden auch dreimal in dichten Baumkronen oder Büschen oft sehr nahe den Wohnungen und legt 3-6 hellgrüne, dunkelbraun gefleckte Eier. Sie singt vortrefflich, berühmt aber ist sie durch ihre bewundernswerte Fähigkeit, fremde Gesänge und die verschiedensten Töne und Geräusche nachzuahmen. Sie hält sich gut in der Gefangenschaft und hat sich mehrfach, auch in Europa, fortgepflanzt. Spottiswoode (spr. -wudd), William, Mathematiker und Physiker, geb. 11. Jan. 1825 zu London, studierte in Oxford und übernahm dann die Druckerei der Königin, welche unter seiner Leitung namhaften Aufschwung gewann, ohne ihm die Muße zu selbständiger wissenschaftlicher Thätigkeit zu rauben. Seine frühsten Werke: "Meditationes analyticae" (1847) und "Elementary theorems relating to Determinants" (1851), bilden die erste umfassendere Darstellung der Determinantentheorie. Eine Reise durch Ostrußland (1856) beschrieb er in "A tarantasse journey through Eastern Russia" (1857) und eine andre durch Kroatien und Ungarn in Galtons "Vacation tourist in 1860". Seit 1870 wandte er der Optik und Elektrizitätslehre seine Aufmerksamkeit zu und schrieb noch "Polarisation of light" (1874). 1879 ward ihm die höchste wissenschaftliche Würde in England, die des Präsidenten der Royal Society, übertragen, welche er bis zu seinem Tod 27. Juni 1883 bekleidete. Spottkruzifix, Bezeichnung eines 1856 in einem antiken Gebäude am Palatin entdeckten, im Museum Kircherianum zu Rom befindlichen Stuckfragments mit der kunstlos eingeritzten Darstellung eines Gekreuzigten mit einem Eselskopf, vermutlich aus der Mitte des 2. Jahrh. Er ist bekleidet mit einem Hemd und einer losen Tunika; rechts daneben steht eine ebenso bekleidete menschliche Gestalt, die Hand als Zeichen der Anbetung emporstreckend; darunter die griechischen Worte: "Alexamenos betet Gott an". Das S. ist wichtig als Zeugnis der Verspottung der ersten Anhänger des Christentums durch die Römer. Vgl. Kraus, Das S. vom Palatin (Freiburg 1872); Becker, Das S. der römischen Kaiserpaläste (Gera 1876). Spottsylvania Court-House (spr. kohrt-haus'), Gerichtshalle der gleichnamigen Grafschaft im nordamerikan. Staat Virginia, 20 km südwestlich von Fredericksburg, wo Lee 24. Mai 1864 von Grant besiegt wurde. Spr., auch Spreng., bei botan. Namen Abkürzung für Kurt Sprengel (s. d.). Sprache (Sprechen), vom physiologischen Standpunkt eine Kombination von Tönen und Geräuschen, welche durch entsprechende Verwendung der Ausatmungsluft, in gewissen Fällen auch beim Einatmen (Schnalzlaute der Hottentoten und andrer Völker) hervorgebracht werden. Die Vokale oder Selbstlauter sind Klänge, die an den Stimmbändern entstehen und sich mit den auf einem musikalischen Instrument hervorgebrachten Tönen vergleichen lassen; ihre besondere Klangfarbe erhalten sie wie die Töne auf einer Geige, einem Pianoforte etc. durch die neben dem Grundton erklingenden Ober- oder Nebentöne, welche ihrerseits durch die wechselnde Gestaltung des Ansatzrohrs und Resonanzraums, d. h. der Mundhöhle, des Gaumens etc., bedingt werden. Als die drei Grundvokale kann man a, i, u bezeichnen; doch gibt es zwischen denselben eine unendliche Menge von Nuancen, die durch kleine Verschiedenheiten der Mundstellung bedingt werden. Bei der Aussprache des u senkt sich der Kehlkopf, und die Lippen treten nach vorn, indem sie nur eine kleine rundliche Öffnung zwischen sich lassen (Fig. 1). Von dem dumpfen u gelangt man zu dem heller klingenden a durch die Übergangsstufe des o, bei dessen Bildung sich die Lippenöffnung mäßig erweitert. Bei der Hervorbringung des a liegt der Kehlkopf höher, die Zunge liegt platt auf dem Boden der Mundhöhle, so daß das Ansatzrohr einem vorn offenen Trichter gleicht (Fig. 2). Den Übergang vom a zu i, dem hellsten Vokal, bildet das e, bei dem der hintere Teil der Zunge und zugleich der Gaumen sich etwas emporheben. Beim i wird der Kehlkopf sowohl als der hintere Teil der Zunge stark emporgehoben, so daß die Mundhöhle eine Flasche mit sehr engem Hals darstellt (Fig. 3). Die Diphthonge entstehen durch raschen Übergang der Organe aus einer Mundstellung in die entsprechende andre, die zur Hervorbringung des zweiten Teils des Diphthongen erforderlich ist. Die Konsonanten oder Mitlauter kann man auf verschiedene Weise einteilen. Ihrer physiologischen oder akustischen Beschaffenheit nach sind sie entweder tonlos oder tönend, d. h. sie werden entweder Sprache und Sprachwissenschaft (Natur- und Kulturvölker). wie die Vokale mit periodischen Schwingungen der Stimmbänder oder ohne solche Schwingungen hervorgebracht. Tonlose Laute sind z. B. k, t, p, h, f, tönende Laute z. B. r, l, n, m, d, b, g. Übrigens können die tönenden Konsonanten in vielen Fällen auch tonlos gebildet werden; auch kann sich dem in der Stimmritze gebildeten Ton ein in der Mundhöhle entstehendes Geräusch beimischen, wodurch solche Konsonanten den Charakter von Geräuschlauten annehmen. Der Artikulationsstelle nach teilt man die Konsonanten von alters her ein in Dentale oder Zahnlaute, bei deren Hervorbringung der vordere Teil der Zunge und die Zähne in Betracht kommen, Labiale oder Lippenlaute, die vorn an den Lippen, und Gutturale oder Gaumenlaute, die hinten am Gaumen gebildet werden. Tatsächlich gibt es jedoch viele Zwischenstufen; so kann man nach Brücke von den eigentlichen Dentalen die alveolaren, lingualen und dorsalen Dentalen unterscheiden, auch gibt es neben den rein labialen die labiodentalen Konsonanten und drei Arten von Gaumenlauten. Im Deutschen können als Dentale das t, d, s, sch, auch n, r, l angesehen werden; labiale Konsonanten sind p, b, f, m, w; guttural sind k, g, ch, j. Bis zu einem gewissen Grad kommt die Verschiedenheit der Artikulationsstellen auch für die Vokale in Betracht, indem z. B. bei u ungefähr die labiale, bei i ungefähr die dentale Artikulation stattfindet. Drittens lassen sich die Konsonanten nach ihrer Artikulationsart einteilen, wobei am meisten der Mundraum, außerdem der Nasenraum und der Kehlkopf in Betracht kommen. Wird die Stimmritze so weit verengert, daß die ausgeatmete Luft an den Rändern der Stimmritze ein reibendes Geräusch erzeugt, so entsteht der Hauchlaut h; auch alle geflüsterten Laute werden auf diese Weise gebildet. Der Nasenraum erscheint an der Bildung der Nasalen oder Nasenlaute n, m und ng (z. B. in "Ding") beteiligt, indem er durch Senkung des Gaumensegels geöffnet wird, so daß die Luft aus der Nase strömen kann (ein Vorgang, durch den auch das sogen. Näseln bedingt wird). Die Artikulationsart des Mundraums kann wechseln und so entstehen: 1) Liquidä oder Zitterlaute, die entweder durch Biegung der Zungenspitze gebildet werden (r-Laute) oder an den Seitenwänden der Zunge (l-Laute); 2) frikative oder Reibelaute, durch Verengerung des Mundkanals gebildet, indem die Ausatmungsluft an den Rändern der Enge ein reibendes Geräusch erzeugt, wie z. B. beim deutschen s, sch, f, ch, j, w; 3) Explosiv- oder Verschlußlaute, bei deren Erzeugung der Mundkanal an irgend einer Stelle plötzlich geschlossen und wieder geöffnet wird, z. B. an den Lippen bei b, p, hinter oder an den Zähnen bei d, t, am Gaumen bei g, k. Andre Sprachen kennen auch noch andre Artikulationsarten, wie überhaupt die Mannigfaltigkeit der menschlichen Sprachlaute eine fast unbegrenzte und durch die Schrift nicht entfernt ausdrückbare ist. Ein sehr wichtiger Faktor bei der Lautbildung ist auch die Betonung, auf der namentlich die Silben- und Wortbildung und daher auch die landläufige Unterscheidung zwischen Vokalen und Konsonanten vornehmlich beruht. Ihrer akustischen Beschaffenheit nach unterscheiden sich z. B. die Nasale n, m und die Zitterlaute r, l in keiner Weise von den Vokalen, da sie wie die letztern mit dem auf regelmäßigen Schwingungen der Stimmbänder beruhenden Stimmton hervorgebracht werden (daher auch Resonanten genannt); sie stimmen aber darin mit den übrigen Konsonanten überein, daß sie in der Regel nicht als Träger des Silbenaccents fungieren. Doch gibt es auch hierin Ausnahmen; man vergleiche z. B. das silbenbildende l in dem deutschen Wort "Handel" (sprich: Handl) oder die r- und l-Vokale der slawischen Sprachen und des Sanskrit. Eine künstliche Nachbildung der menschlichen Sprachlaute liefert der Phonograph Edisons, durch den die schon im 18. Jahrh. von Kempelen konstruierte Sprechmaschine weit überboten wurde. Vgl. auch Lautlehre. Sprache und Sprachwissenschaft. Unter Sprache versteht man, ohne beide Bedeutungen streng zu sondern, einesteils die Sprachthätigkeit oder das Sprachvermögen, d. h. nach W. v. Humboldts treffender Definition der Sprache "die ewig sich wiederholende Arbeit des menschlichen Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"; andernteils wird damit etwas Konkretes, Individuelles bezeichnet, nämlich die Summe der Wörter, welche bei einem bestimmten Volk als Mittel zur Verständigung in Anwendung sind oder (bei toten Sprachen) gewesen sind. Die einzelnen Sprachen sind das Produkt des Sprachvermögens oder mit andern Worten des Triebes nach Äußerung und Mitteilung, und die Sprache im allgemeinen ist eine nicht minder wichtige Seite in der Eigenart des Menschen als Recht und Sitte, Religion und Kunst und zwar eine solche, welche sich schon auf den frühsten Stufen der geistigen Entwickelung, beim Kind und unzivilisierten Menschen, geltend macht. Gerade bei den rohesten Naturvölkern ist die Sprachthätigkeit besonders lebendig und das Leben der Sprache, die man bei ihnen gewissermaßen in ihrem natürlichen Zustand studieren kann, ein ungemein rasches. So herrscht im Innern von Brasilien eine so große Sprachverschiedenheit, daß bisweilen an einem Fluß hin, dessen Länge 300-500 km nicht übersteigt, 7-8 völlig verschiedene Sprachen gesprochen werden. Genaue Kenner des Landes erklären dies daraus, daß es ein Hauptzeitvertreib der Indianer ist, während sie an ihrem Feuer sitzen, neue Wörter zu ersinnen, über die, wenn sie treffend sind, der ganze Haufe in Gelächter ausbricht und sie dann beibehält. Bei südafrikanischen Negerstämmen, unter denen der englische Missionär Moffat lebte, wurden die Kinder manchmal von ihren Eltern so sehr sich selbst überlassen, daß sie genötigt waren, sich eine besondere Sprache zu ersinnen, wodurch im Lauf einer Generation die Sprache des ganzen Stammes eine andre Gestalt annahm. Missionäre in Zentralamerika hatten von der Sprache des Volkes, dem sie das Christentum predigten, ein sorgfältiges Lexikon angelegt; als sie nach zehn Jahren zu dem nämlichen Stamm zurückkehrten, fanden sie, daß dasselbe veraltet und unbrauchbar geworden war. Die kleinen melanesischen Inseln des Stillen Ozeans haben jede eine besondere Sprache, wenn dieselben auch zu dem gleichen Sprachstamm gehören. Selbst auf den friesischen Inseln der Nordsee hat die Isoliertheit der insularen Lage die Folge gehabt, daß auf allen diesen Inseln verschiedene Dialekte herrschen, worin sogar ein so gewöhnlicher Begriff wie "Vater" durch besondere Wörter ausgedrückt wird. Dieselbe sprachliche Isoliertheit wie bei Inselvölkern findet sich auch bei Bergvölkern. So fand der russische General Baron v. Uslar bei der ethnographischen und linguistischen Durchforschung des nördlichen Kaukasus dort mindestens zehn total verschiedene Sprachen, und die auf etwa 800,000 Köpfe geschätzten Basken der Pyrenäen sprechen acht Dialekte, die so stark voneinander abweichen wie das Französische vom Englischen. Bei Kulturvölkern erscheint die Veränderung der Sprache und Sprachwissenschaft (Ursprung der Sprache). Sprache ungemein verlangsamt. Ganz neue Wörter werden meist nur von Kindern erfunden, deren Neuerungsversuche in der Regel keine bleibende Wirkung hinterlassen. So berichtet Charles Darwin von einem englischen Kinde, das im Alter von einem Jahr alles Eßbare mit der Silbe "umm" bezeichnete; Taine beobachtete ein französisches Kind, das etwa im gleichen Alter einen Hund "na-na", ein Pferd "da-da" nannte; und der Schreiber dieser Zeilen kannte ein deutsches Kind, das umherflatternde Tauben als "Wattel-Wattel" bezeichnete. Aber wenige Jahre später waren diese Wörter vergessen. Dem gebildeten Deutschen, Engländer, Franzosen etc. sind daher noch jetzt Bücher, die in den zwei oder drei letzten Jahrhunderten geschrieben wurden, fast ohne Mühe verständlich. Das Englische hat sich über alle Weltteile verbreitet, ist aber dabei vollkommen stabil geblieben. Namentlich bildet die Schrift und in der Neuzeit auch der Buchdruck, dann die ungeheure Vermehrung und Verbesserung der Verkehrsmittel die wirksamste Schranke gegen die sprachliche Neuerungssucht. Dennoch wäre es ein vollkommener Irrtum, irgend eine moderne Sprache für vollkommen abgeschlossen zu halten. Vor allem ist auch in der Sprache unaufhörlich ein Gesetz der Trägheit wirksam, das sich besonders in der Vereinfachung oder gänzlichen Beseitigung schwer sprechbarer oder unbetonter Laute und Lautverbindungen geltend macht. Durch diese stufenweise fortschreitende Abschleifung und Verwitterung der Laute ist z. B. im Englischen überall das ch und das vor einem n stehende k abgestoßen worden, so daß knight, das deutsche "Knecht", wie neit gesprochen wird; im Deutschen ist das tonlose e in Schlußsilben in völligem Rückzug begriffen, wodurch z. B. erst in neuester Zeit "des Königes, dem Könige" in "Königs, König", "befestiget" in "befestigt" verwandelt wurde u. dgl. Anderseits führt der Nachahmungs- und Analogietrieb zur Erfindung und Ausbildung neuer Wörter, Formen und Bedeutungen, die entweder aus fremden Sprachen entlehnt werden, wie z. B. unsre aus dem Französischen herübergenommenen zahlreichen Verba auf -ieren, oder aus den Mundarten in die Schriftsprache eindringen, oder an ältere einheimische Wörter und Formen angelehnt werden, wie z. B. die deutsche Form der Vergangenheit auf -te, welche zusehends die alten ablautenden Verba verdrängt, wofür unser "backte" für das noch im vorigen Jahrhundert übliche "buk" als Beispiel dienen kann. Überhaupt hat die Sprachforschung dargethan, daß der Grad, bis zu dem sich Laute, Wörter, Wort- und Satzformen verändern können, an und für sich ein völlig unbegrenzter ist und oft die scheinbar unähnlichsten Sprachen durch eine Reihe von Mittelgliedern hindurch auf eine und dieselbe Grundsprache zurückgeführt werden können. Denkt man sich die Entwickelung sämtlicher geschichtlich nachweisbarer Grundsprachen in einer vorgeschichtlichen Periode bis an ihren Ausgangspunkt fortgesetzt, so liegt es nahe, die Frage aufzuwerfen, ob nicht dieser Ausgangspunkt der gleiche, alle Grundsprachen in letzter Linie aus der nämlichen Ursprache entsprungen seien. Diese Frage, die man früher, teilweise aus religiösen Vorurteilen, voreilig zu bejahen pflegte, muß auf dem heutigen Stande der Wissenschaft entschieden verneint werden. Standen auch eine Reihe wichtiger Sprachen einander früher viel näher als jetzt, so weichen doch die Grundsprachen, auf die sie zurückgehen, sowohl hinsichtlich der Wurzeln als des grammatischen Baues so entschieden voneinander ab, daß alle Versuche, sie (z. B. die indogermanische und semitische Grundsprache) auf eine gemeinsame Ursprache zurückzuführen, vollständig scheitern mußten. Man muß im Gegenteil annehmen, daß eine Reihe ursprünglicher Sprachtypen jetzt entweder völlig oder nur mit Hinterlassung vereinzelter Überreste, wie das rätselhafte Baskisch der Pyrenäen und die Sprachen des nördlichen Kaukasus, vom Erdboden verschwunden sind; denn je mehr die Kultur zunimmt, desto mehr nimmt die Sprachverschiedenheit ab und ist daher in Europa trotz seiner dichten Bevölkerung weit geringer als in allen übrigen Erdteilen. Auch die bestehenden Sprachen werden von der heutigen Sprachforschung auf eine beträchtliche Anzahl selbständiger Ursprachen zurückgeführt. Mit dieser Erkenntnis hat sich die Frage nach dem Ursprung der Sprache, die schon Platon und Aristoteles, Epikur und die Stoiker beschäftigt und die griechischen und römischen Grammatiker in zwei Lager gespalten hat, später mit unbegründetem Hinweis auf die Bibel, welche die Erfindung der Sprache dem ersten Menschen beilegt, im Sinn eines übernatürlichen Ursprungs beantwortet wurde, in eine Frage nach der Entstehung der einzelnen tatsächlich nachgewiesenen Grundsprachen verwandelt. Wie man sich dieselbe zu denken habe, läßt sich freilich historisch nicht feststellen; auch gehen die Ansichten darüber sehr auseinander, indem die einen, wie W. v. Humboldt, M. Müller, Steinthal etc., annehmen, daß sich unwillkürlich bestimmte Laute an bestimmte Begriffe oder Anschauungen anschlossen (Nativismus), die andern dagegen, wie Whitney, L. Geiger, Bleek, Marty, Madvig u. a., von der jetzigen Unabhängigkeit des Lauts vom Gedanken und des Gedankens vom Laut ausgehend, einen solchen Zusammenhang der Laute mit dem Gedanken abweisen (Empirismus). Doch ist neuerdings eine Vermittelung zwischen den beiden sich entgegenstehenden Ansichten angebahnt und namentlich die früher versuchte Zurückführung der Sprache auf ein eigentümliches, später verlornes Vermögen der ursprünglichen Menschheit durchweg aufgegeben worden. Überhaupt ist es bei allen Mutmaßungen über den Sprachenursprung nötig, sich durchaus auf den thatsächlichen Boden zu stellen, welchen das Leben der Sprache während der durch die Geschichte beleuchteten Strecke ihrer Entwickelung und besonders bei unzivilisierten Völkern darbietet, und es sind dabei namentlich folgende Sätze festzuhalten, die sich also ebenso auf das Wesen wie auf den Ursprung der Sprache beziehen: 1) Sprache und Vernunft sind nicht identisch, so vielfach sie sich gegenseitig beeinflussen, und zwar ist das Sprechen eine weitaus beschränktere Fähigkeit als das Denken, da selbst die gebildetsten Sprachen, die das Sprachvermögen erzeugt hat, bei weitem nicht alle Gedanken auszudrücken vermögen. Es gibt Gedanken und Empfindungen, welche ein Ton oder eine Gebärde viel bezeichnender ausdrückt als ein Wort, und namentlich beim Kind und bei einem Menschen von lebhaftem Naturell ist die Gebärdensprache höchst entwickelt. Die Taubstummen, denen gewiß niemand die Vernunft absprechen wird, haben eine höchst künstliche und ihnen gleichwohl völlig geläufige Zeichensprache. Viele Lehrsätze der Mathematik, welche sich in Worten nur mit Mühe oder gar nicht ausdrücken lassen, können durch ein paar einfache Zeichen oder eine Zeichnung leicht demonstriert werden. Musik und Malerei stehen der Poesie als selbständige Künste zur Seite. Auch sind die Gesetze der Denklehre oder Logik von den Gesetzen der Sprachlehre oder Grammatik verschieden, wie z. B. der deutsche Satz: "die Sprache und Sprachwissenschaft (Grammatik, Etymologie). Kugel ist viereckig" grammatisch ganz richtig, aber logisch verkehrt ist. Hiernach hat es gewiß auch von allem Anfang an ein Denken ohne Sprechen gegeben. 2) Kinder und Naturmenschen bezeichnen viele Individuen oder Gegenstände dadurch, daß sie mit ihrer Stimme den Schall nachahmen, den sie als von denselben ausgehend wahrgenommen haben. Diese einfache und nächstliegende Art der Bezeichnung, die onomatopoetische, war ohne Zweifel in jeder Ursprache sehr häufig, wenn die Wau-wau-Theorie (so genannt von dem Namen Wau-wau des Hundes in der Kindersprache) auch nicht den Anspruch erheben kann, alle Wörter zu erklären. 3) Ausrufe und Schreie (Interjektionen) spielen selbst bei gebildeten und erwachsenen Menschen noch eine mehr oder weniger große Rolle, eine sicher viel größere in den Anfängen einer Sprache. Hierin liegt die Berechtigung der sogen. Ah-ah- oder Interjektionstheorie vom Ursprung der Sprache. 4) Hiernach sind wohl auch die ersten Wörter nichts als Reflexlaute gewesen, welche im Affekt hervorgebracht wurden, gerade wie die Zuckungen oder sonstigen unwillkürlichen Reflexbewegungen, die aus Gemütsbewegungen hervorgehen. Die Reflexlaute gingen ursprünglich mit den andern unwillkürlichen Gebärden Hand in Hand. Da die Gemütsbewegungen am leichtesten durch verschiedenerlei Geräusche verursacht wurden, so ahmte die menschliche Stimme mit Vorliebe diese Geräusche nach. 5) Erst in zweiter Linie wurden die Sprachlaute zugleich zu Mitteilungen verwendet, nachdem es wiederholt gelungen war, durch ihre Hervorbringung die Aufmerksamkeit der andern zu erregen. Es ging damit ähnlich wie mit der Gebärdensprache, die sich aus ursprünglichen Reflexbewegungen zu der ausgebildeten Zeichensprache entwickelt hat, die man z. B. bei den Indianern Nordamerikas findet. Auch die Schrift hat sich aus roher Ideenmalerei und Bilderschrift successive zu einem der vollkommensten Verständigungsmittel entwickelt. 6) Die ersten Sprachschöpfungen waren primitive Sätze, etwa wie die Ausrufe: "Diebe!" "Feuer!", und aus diesen chaotischen Äußerungen haben sich erst allmählich selbständige Wörter und Redeteile entwickelt. Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache (zuerst Berl. 1772); W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (neu hrsg. mit einer Einleitung von Pott, das. 1876, 2 Bde.); Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens (4. Aufl., das. 1888); Derselbe, Abriß der Sprachwissenschaft (2. Aufl., das. 1881, Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft"); J. Grimm, Über den Ursprung der Sprache (in "Kleinere Schriften", Bd. 1, das. 1864); Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (deutsch von Böttger, 2. Aufl., Leipz. 1866-70, 2 Bde.); Renan, De l'origine du langage (4. Aufl., Par. 1863); Heyse, System der Sprachwissenschaft (Berl. 1856); Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (3. Aufl., Weim. 1873); Wedgewood, On the origin of language (Lond. 1866); Whitney, Die Sprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, Münch. 1874); Bleek, Über den Ursprung der Sprache (Weim. 1868); L. Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft (Stuttg. 1869-72, 2 Bde.); Wackernagel, Über den Ursprung und die Entwickelung der Sprache (Basel 1872); Madvig, Kleine philologische Schriften (Leipz. 1875); Marty, Über den Ursprung der Sprache (Würzb. 1875); Noiré, Der Ursprung der Sprache (Mainz 1877); Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (2. Aufl., Halle 1886). Weitere Litteratur S. 182. Sprachwissenschaft. Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (auch allgemeine Grammatik genannt) ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19. Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer und die nicht minder bedeutenden grammatischen Forschungen der Inder und Araber waren schon durch ihre Beschränkung auf eine oder höchstens zwei Sprachen völlig ungeeignet, zu einer Einsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeit herein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräische die Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschritt der Sprachforschung. Erst die Entdeckung der alten heiligen Sprache Indiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung des Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen Wissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jeder Wissenschaft, die Vergleichung ist. Ihrer exakten, streng induktiven Methode wegen ist die Sprachwissenschaft mehrfach den Naturwissenschaften zugezählt worden; doch gehört sie ihres Objekts wegen entschieden zu den sogen. Geisteswissenschaften, da die Sprache kein Naturprodukt, sondern ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist. Auch waren die Begründer der Sprachwissenschaft durchweg Philologen. Durch die Forschungen Fr. Schlegels, Bopps und ihrer Nachfolger wurde der indogermanische Sprachstamm nachgewiesen und die zu ihm gehörigen Sprachfamilien festgestellt wie auch die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen begründet. Zugleich regten W. v. Humboldts und Potts weitgreifende Forschungen eingehende Untersuchungen sowohl auf andern, selbst den fernst liegenden Sprachgebieten als auf dem Gebiet der Sprachphilosophie an, und die historische Sprachforschung, von J. Grimm und W. Diez begründet, schuf durch exakte und gründliche Forschung in dem enger begrenzten Bereich einzelner Sprachfamilien die Methode der historischen Grammatik. Seitdem hat der Betrieb der Sprachwissenschaft in ihren drei Hauptrichtungen, der historischen, vergleichenden und philosophischen, in allen Ländern, namentlich aber in Deutschland, einen mächtigen Aufschwung genommen. Die genaue Beobachtung des Lautwechsels, der sogen. Lautgesetze, bildet die Hauptgrundlage, auf der die bedeutenden Resultate der Sprachwissenschaft beruhen. Vor allem besitzen wir jetzt eine wissenschaftliche Etymologie, während früher nach dem Ausspruch des heil. Augustin die Ableitung der Wörter wie die Deutung der Träume ganz nach subjektiver Willkür betrieben und das berüchtigte Prinzip "lucus a non lucendo" nicht selten alles Ernstes angewendet wurde. Nicht minder haben auch alle Teile der Grammatik, die Laut-, Flexions- und Wortbildungslehre wie die Syntax und die Lehre von der Zusammensetzung, eine völlige Umgestaltung erfahren, der sich auch die Schulgrammatik nicht mehr entziehen kann, seitdem Curtius in seiner "Griechischen Schulgrammatik" (zuerst 1852) gezeigt hat, wie wichtig auch für den Schulbetrieb der Grammatik die Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung sich gestalten. Ferner ist über die Urgeschichte der Menschheit, besonders der indogermanischen Völker, ein un- [Zur Sprachenkarte bei Artikel Sprache etc.] Übersicht der wichtigern Sprachstämme. I. Einsilbige Sprachen in Südostasien. Chinesisch mit seinen Dialekten, Anamitisch mit der Sprache von Kambodscha, Siamesisch nebst dem Schan und der Sprache der Miaotse, Birmanisch nebst Khassia und Talaing (Pegu) und Tibetisch nebst den zahlreichen, noch wenig erforschten Himalajasprachen. Die Sprache besteht ganz aus einsilbigen Wurzeln, welche keiner Veränderung fähig sind; jede Wurzel kann je nach ihrer Stellung im Satz alle verschiedenen Redeteile ausdrücken, die wir durch besondere Wortformen unterscheiden. Doch gibt es neben den Stoffwurzeln, welche Begriffe und Thätigkeiten ausdrücken, auch eine Anzahl Deutewurzeln, die sich mit unsern grammatischen Endungen vergleichen lassen. Unter sich sind diese Sprachen nur durch die Gleichheit des Baues, nicht durch Gleichklang der Wurzeln verbunden. II. Malaio-polynesischer Sprachstamm, zerfallend in drei Gruppen (nach Fr. Müller): 1) Die malaiische, welche von der Insel Formosa an der chinesischen Küste bis zur Insel Java im Süden und bis zur Insel Madagaskar in Afrika reicht und die Sprachen der Philippinen (Tagalisch, Bisaya, Pampanga etc.), der Insel Formosa, der Inseln Borneo, Celebes und Sumatra (Dajak, Alfurisch, Bugi, Makassarisch und Batak), der Marianen, Molukken und einiger andern kleinern Inseln, der Insel Java (dazu Kawi, die stark mit Sanskrit versetzte Litteratursprache), der Halbinsel Malakka (eigentliches Malaiisch) und der Insel Madagaskar (Malagasi) umfaßt. 2) Die melanesische, auf den Neuen Hebriden und den Fidschi- sowie den Salomoninseln, vielleicht auch auf Neukaledonien (Gabelentz), den Palau-, Marshall- und Kingsmillinseln (Fr. 3) Die polynesische, auf Neuseeland (Maori), den Unionsinseln, Samoa, Tonga, Tahiti, Rarotonga, Paumotu, den Markesas, der Osterinsel etc. bis einschließlich Hawai im Norden. Diese Sprachen zeichnen sich durch Wohlklang aus, indem sie sehr reich an Vokalen sind, dagegen nur wenig Konsonanten unterscheiden; auch sind die Wörter meist vielsilbig. Gleichwohl ist die Grammatik auch hier sehr unentwickelt, wie z. B. Nomen und Verbum gar nicht unterschieden und nur einige andre grammatische Beziehungen durch vorn angehängte Silben bezeichnet werden. Am unentwickeltsten sind die Sprachen Polynesiens, das wahrscheinlich den Ausgangspunkt der großen nach Westen gerichteten Wanderung der Malaio-Polynesier gebildet hat. III. Drawidasprachen in Südindien. Telugu und Tamil an der Koromandel-, Kanaresisch, Malayalam, Tulu an der Malabarküste, die Hauptsprachen Südindiens, die sich nach der neuesten Statistik der englischen Regierung auf ungefähr 49 Mill. Köpfe in der Weise verteilen, daß das Tamil oder Tamulische nebst dem nördlich und nordwestlich davon bis nach der Provinz Orissa sich verbreitenden Telugu zusammen von nahezu 35 Mill., das Malayalam nebst dem nördlich daran anstoßenden Tulu und das Kanaresische zusammen von etwa 14 Mill. gesprochen werden. Das Tamil wird außerdem von einem Bruchteil der Bevölkerung von Ceylon gesprochen. Zu den Drawidasprachen werden auch die Idiome der Kota, Toda, Gond, Kond, Uraon und einiger andrer wilder Stämme in Südindien sowie der Brahui in Belutschistan gerechnet. Die grammatischen Elemente folgen hier der Wurzel nach und wirken auf dieselbe zurück, indem sie sich ihren Endvokal assimilieren; sonst bleibt die Wurzel unverändert. IV. Uralaltaischer Sprachstamm, auch Turanisch (Max Müller), Skythisch (Whitney) oder Finnisch-Tatarisch genannt, zerfällt in fünf Gruppen: 1) Die finnisch-ugrische in Osteuropa und Nordasien (nach Budenz), mit den 7 Hauptsprachen: Finnisch (Suomi) nebst Esthnisch und Livisch, Lappisch, Mordwinisch, Tscheremissisch, Sirjänisch-Wotjakisch und Permisch, Ostjakisch-Wogulisch, 2) Die samojedische, im Norden und Nordosten der vorigen, nämlich: Yurak, Tawgy, Jenissei- und Ostjakisch-Samojedisch. 3) Die türkische, von der europäischen Türkei mit Unterbrechungen bis zur Lena, nämlich: Osmanisch, Nogaisch (in der Krim), Tschuwaschisch, Kirgisisch, Kumükisch, Uigurisch, Tschagataisch, Turkmenisch, Uzbekisch und Jakutisch. Alle diese Sprachen sind trotz der großen räumlichen Entfernung sehr nahe untereinander verwandt. 4) Die mongolische, nämlich die Sprachen der Mongolen, Kalmücken und Buräten. 5) Die tungusische, nämlich die Sprachen der Tungusen und Der grammatische Bau ist auch hier sehr einfach, indem jedes Wort aus einer unveränderlichen Wurzel und einem oder mehreren Suffixen besteht. Letztere sind aber sehr zahlreich und drücken nicht bloß den Unterschied von Nomen und Verbum, sondern die verschiedensten andern grammatischen Beziehungen aus; die in den Suffixen enthaltenen Vokale werden an den Wurzelvokal assimiliert (Vokalharmonie). Die Flexion zeichnet sich durch große Regelmäßigkeit aus. V. Bantu-Sprachstamm (von kafferisch abantu, "Leute"), auch südafrikanischer Sprachstamm genannt, reicht, abgesehen von einigen Unterbrechungen im Süden durch die isoliert dastehenden Sprachen der Hottentoten und Buschmänner, von der Kapkolonie an im Westen etwa bis zum 8.° nördl. Br., im Osten bis zum Äquator, weiter wahrscheinlich in den noch unbekannten Regionen Zentralafrikas. Er zerfällt in 3 Gruppen (Fr. Müller): 1) Die östliche Gruppe umfaßt die Kaffernsprachen (Kafir im engern Sinn, Zulu), die Sambesisprachen (Sprachen der Barotse, Bayeye, Maschona) und Sansibarsprachen (Kisuaheli, Kinika, Kikamba, Kihiau, Kipokomo). 2) Die mittlere Gruppe besteht aus: a) Setschuana (Sesuto, Serolong, Sehlapi). b) Tekeza (Sprachen der Mankolosi, Matonga, Mahloenga). 3) Zur westlichen Gruppe gehören: a) Herero, Bunda, Loanda. b) Congo, Mpongwe, Dikele, Isubu, Fernando Po, Dualla (in Auch dieser Sprachstamm zeichnet sich durch eine sehr reiche und regelmäßige Flexion aus, die aber fast nur durch vorn antretende grammatische Elemente (Präfixe) bewirkt wird. Besonders besitzen sämtliche Bantusprachen eine beträchtliche Anzahl von Artikeln, die zugleich, in der Bedeutung von Pronomina, an das Verbum und andre Satzteile vorn angesetzt werden, um die grammatische Kongruenz der Satzglieder auszudrücken. Daher hat sie Bleek die "präfix-pronominalen" Sprachen genannt. VI. Hamito-semitischer Sprachstamm. A. Die hamitische Gruppe umfaßt: 1) Die libyschen od. Berbersprachen in Nordafrika. 2) Die äthiopischen Sprachen, Galla, Somali, Bedscha, Dankali (Danakil), Agau, Saho, Falascha, Belen, vom südlichen Ägypten bis au den Äquator reichend. Übersicht der wichtigern Sprachstämme. 3) Das Altägyptische der ägyptischen Denkmäler und Papyrusrollen mit seiner ebenfalls schon ausgestorbenen Tochtersprache, dem Koptischen. B. Die semitische Gruppe teilt sich in: 1) Nördliche Abteilung, bestehend aus dem nahe verwandten Assyrisch und Babylonisch der Keilinschriften, den kanaanitischen Sprachen, nämlich Hebräisch nebst Samaritanisch und Phönikisch nebst Punisch, und aus den aramäischen Sprachen, d. h. Chaldäisch und Syrisch nebst Mandäisch und Palmyrenisch. 2) Südliche Abteilung mit Arabisch, jetzt auch in Nordafrika verbreitet u. mit dem Islam immer weiter nach dem Süden Afrikas vordringend, Himjarisch, Äthiopisch (Geez), Amharisch, Tigré, Harrari. Die beiden ersten Spezies der semitischen Gruppe sind völlig ausgestorben, wenn man von dem syrischen Dialekt einiger Nestorianer und Jakobitengemeinden am Urmiasee und in Turabdin absieht, und auch von der dritten Spezies sind das Äthiopische und Himjarische jetzt erloschen. Die hamitische und semitische Gruppe stimmen nur betreffs eines Teils ihrer Wurzeln, namentlich bei den Pronomina und Zahlwörtern, und betreffs der Unterscheidung des grammatischen Geschlechts überein. Sonst sind die hamitischen Sprachen grammatisch sehr wenig, die semitischen dagegen im höchsten Grad entwickelt, indem sie, die verschiedenen grammatischen Beziehungen, sowohl am Nomen als am Verbum, teils durch vorn oder hinten antretende Affixe, teils durch Variation des Wurzelvokals ausdrücken. Jede Wurzel enthält drei Konsonanten, welche stets unverändert bleiben, so sehr die Vokale wechseln. VII. Der indogermanische Sprachstamm zerfällt in acht Gruppen: 1) Indische Gruppe: Jetzt ausgestorben sind das Sanskrit, Prâkrit und Pâli; lebende Sprachen sind: Hindi und Hindostani (Urdu), fast in ganz Nordindien verbreitet, wo es von nahezu 100 Mill. Menschen gesprochen wird, Pandschabi am obern, Sindi am untern Indus, Marathi und Gadscherati in der Präsidentschaft Bombay, Bengali, Assami, Oriya in Bengalen, Nepali, Kaschmiri im Norden, nach einigen auch das Singhalesische auf der Südhälfte der Insel Ceylon, nördlich von Indien das Kafir und Dardu, in Europa die mit diesen beiden Idiomen nahe verwandte Sprache der Zigeuner, die Auswanderer aus Indien 2) Iranische Gruppe: Zend oder Altbaktrisch, Altpersisch der Keilinschriften, Pehlewi oder Mittelpersisch, Pazend und Parsi, wahrscheinlich auch die Sprache der Skythen nordwärts vom Schwarzen Meer (Müllenhoff) sind die toten, Neupersisch, Kurdisch, Belutschi, Afghanisch oder Puchtu und Ossetisch (im Kaukasus) die lebenden Sprachen dieser Gruppe, die mit der indischen sehr nahe verwandt ist. 3) Armenisch, früher zu der iranischen Gruppe 4) Griechische Gruppe: Dazu gehören die alt- und neugriechischen Dialekte und Schriftsprachen; das Neugriechische herrscht auch auf der Südküste von Kleinasien, in Kreta 5) Illyrische Gruppe: Albanesisch in Epirus. 6) Italische Gruppe: Latein, Umbrisch, Oskisch im Altertum; in der Neuzeit die romanischen Sprachen: Spanisch nebst Katalonisch, Portugiesisch, Italienisch, Französisch nebst Provençalisch, Rumänisch, Ladinisch nebst Rätoromanisch (in Südtirol, Graubünden und 7) Keltische Gruppe: Kymrisch in Wales und der Bretagne, dazu das ausgestorbene Cornisch in Cornwallis; Gälisch in Irland, dem schottischen Hochland (Erse) und auf der Insel Man (Manx). Auch die nur aus einigen Inschriften bekannte Sprache der alten Gallier gehört hierher. 8) Slawisch-lettische Gruppe, dazu: a) Altslawisch oder Kirchenslawisch, jetzt ausgestorben, Russisch nebst Weiß- und Kleinrussisch (Russinisch, Ruthenisch), Serbo-kroatisch, Slowenisch oder Südslawisch in Steiermark, Kärnten etc., Tschechisch-Slowakisch in Böhmen und Mähren, Polnisch in Preußisch- und Russisch-Polen und Galizien, Wendisch in der Lausitz, b) Altpreußisch (jetzt ausgestorben), Litauisch, 9) Germanische Gruppe, zerfallend in: a) Ost- und Nordgermanisch mit Gotisch (ausgestorben), Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Isländisch. b) Westgermanisch mit Hoch- oder Oberdeutsch, Mitteldeutsch, Niederdeutsch od. Plattdeutsch, Vlämisch, Niederländisch und Englisch. Der indogermanische Sprachstamm ist, wie der wichtigste u. verbreitetste, so der vollkommenste aller Sprachtypen, dem nur der semitische einigermaßen nahekommt. Wie die übrigen grammatisch entwickelten Sprachstämme, bildet er die Wörter aus Wurzeln und Affixen, welch letztere in der Regel der Wurzel nachfolgen. Die große Anzahl der Affixe, welche überdies in beliebiger Menge aufeinander gehäuft werden können, ihre innige Vereinigung mit der Wurzel zu einem vollkommen selbständigen, neuen Wort ermöglichen den charakteristischen Wort- und Bedeutungsreichtum der indogermanischen Sprachen. Auch die feine und mannigfaltige Gliederung der Sätze ist ihnen eigentümlich. VIII. Der amerikanische Sprachstamm umfaßt die Sprachen der Eingebornen von Nord- und Südamerika mit Ausnahme der Eskimo im äußersten Norden. Es gehört dazu der an die Eskimosprachen angrenzende athabaskische Sprachstamm (dazu nach Buschmann auch die Kenaisprachen in Alaska), dessen südwestliche Ausläufer, die Idiome der Apatschen und der Navajo, bis nach Mexiko hinein reichen; die Algonkinsprachen (dazu das Delaware, Mohikan, Odschibwä, Minsi, Kri, Mikmak etc.) südlich davon sind besonders im Osten heimisch und reichten früher von Labrador bis nach Südcarolina; westlich vom Hudson schließt sich daran das Irokesische, weiter nach Westen, jenseit des Mississippi, das Dakota der Sioux-Indianer, das Pani der Pani-Indianer am Arkansas etc. Im Felsengebirge und Quellengebiet des Missouri beginnt mit der Gruppe der Schoschonensprachen der Sonora-Sprachstamm, der im südlichen Arizona und Kalifornien sowie im nördlichen Mexiko herrscht; dazu gehören wohl auch das Nahuatl der Epoche Montezumas und das davon abgeleitete moderne Aztekisch nebst zahlreichen Dialekten, die bis nach San Salvador reichen. Im Süden und Südosten schließen sich daran die Sprachen der Urbewohner Mexikos, der mittelamerikanischen Republiken und der Antillen: Otomi, Mixtekisch, Zapotekisch, Tarasca, Cibuney, Cueva, Maya u. a. Die Hauptsprachen Südamerikas sind: das Galibi oder Karibische nebst dem Arowakischen, vom Isthmus von Panama bis nach Guayana, zur Zeit der Entdeckung Amerikas auch auf den Antillen heimisch, verwandt mit dem weitverbreiteten Tupi (Lingoa geral, d. h. allgemeine Umgangssprache, genannt) im Innern von Brasilien und dem Guarani am La Plata; das Chibcha in Kolumbien; die andoperuanische Gruppe mit Kechua und Aymara als Hauptsprachen; die andisische Gruppe östlich davon, mit den Sprachen der Yuracare u. a.; das Araukanische, Patagonische, Guaicuru, Chiquito, Abiponische und die Sprache der Pescheräh oder Feuerländer. Alle diese Sprachen oder Sprachstämme Amerikas nebst vielen andern hier ungenannten Sprachen (Amerika zählt deren über 400) haben zwar keine Wurzeln, aber den gleichen grammatischen Bau miteinander gemeinsam. Der ganze Satz geht im Verbum auf, mit welchem Subjekt, Objekt und adverbiale Bestimmungen zu Einem Wort verschmolzen werden, wodurch die ungeheuern Wortkonglomerate entstehen, welche die amerikanischen Sprachen charakterisieren. Über die außerhalb der angeführten acht Sprachstämme stehenden sogen. isolierten Sprachen vgl. den Text, S. 181 f. SPRACHENKARTE. Gegenwärtige Verbreitung der Sprachstämme. Maßstab am Äquator l:155 000 000. Indogermanischer Sprachstamm: Ural-Altaischer Sprachstamm: Finnisch-Ugrisch Türkisch u. Jakut. ^Tiutgusisch ^Samojectiscfv Südostasiatischer Sprachstamm: Hamito-Semitischer Sprachstamm: Semitisch (Arabisch) Malayo-Polynesischer Sprachstamm: Bantu-Sprachstamm Drawida-Sprachen (nur dem Bau nach verwandt) Isolirte oder noch unerforschte Sprachen zum Artikel "Sprachwissenschaft" Sprache und Sprachwissenschaft (Verbreitung u. Einteilung der erwartetes Licht verbreitet worden, indem die Ausscheidung der allen indogermanischen Sprachen gemeinsamen Wörter erkennen ließ, welchen Kulturgrad diese Völker vor ihrem Aufbruch aus der gemeinsamen asiatischen Heimat schon erreicht hatten. Auch hat sich im Anschluß an diese Forschungen eine vergleichende Mythologie und eine vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte entwickelt. Selbst die schwierige Frage nach dem Ursprung der Sprache ist, wie schon erwähnt, in ein ganz neues Licht getreten. Das wichtigste Ergebnis bleibt aber immer die Klassifikation der Sprachen, weil dadurch zugleich die wichtigsten Fragen der Anthropologie auf einem ganz neuen Weg ihrer Lösung entgegengeführt werden. Man unterscheidet zwischen einer morphologischen und einer genealogischen Einteilung der Sprachen. Bei der erstern gibt der grammatische Bau der Sprachen den Einteilungsgrund ab, und man stellt meistenteils drei Hauptarten desselben auf. Die isolierenden Sprachen, wie z. B. das Chinesische, bestehen aus lauter einsilbigen Wurzeln, welche stets unverändert bleiben, selbst wenn sie miteinander zusammengesetzt werden. Der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt und überhaupt alle grammatischen Verhältnisse werden nur durch die Stellung der Wörter im Satz ausgedrückt. Agglutinierende ("anleimende") Sprachen sind solche, welche einen Teil ihrer Wurzeln zum Zweck des Beziehungsausdrucks an andre regelmäßig anfügen und dabei die erstern verändern, während dagegen die Hauptwurzel, welche den Begriff des Wortes enthält, unverändert bleibt. Eine Unterart dieser sehr zahlreichen Klasse sind die polysynthetischen Sprachen, die, wie z. B. die amerikanischen, alle abhängigen oder minder wichtigen Satzglieder in verkürzter Form an die Hauptwurzel anhängen. Diese unbeholfene Ausdrucksweise ist vielleicht als ein Überbleibsel aus der primitiven Stufe des Sprachlebens anzusehen, als man noch nicht dazu gelangt war, den Satz in seine einzelnen Bestandteile aufzulösen. Von den polysynthetischen Sprachen trennen manche als eine besondere Klasse die einverleibenden ab, die, wie das Baskische, die Nebenbestimmungen zwischen Wurzel und Endung einschieben. Flektierend sind diejenigen Sprachen, welche in Zusammensetzungen sowohl die erste als die zweite nebst den folgenden Wurzeln beliebig verändern können, um verschiedene Nebenbeziehungen auszudrücken. Zu dieser höchsten morphologischen Klasse rechnet man nur den indogermanischen und semitischen Sprachstamm. Die morphologische Verschiedenheit läßt sich auch durch Zeichen ausdrücken, indem man die unveränderlichen Wurzeln durch große, die veränderlichen durch kleine Buchstaben bezeichnet. Die Wörter der isolierenden Klasse können dann nur die Form A oder A B, B A, A B C etc., die der agglutinierenden außerdem auch die Form A b, A c, b A etc., die der flektierenden noch die Formen a b, b a, a b c etc. annehmen. Übrigens kommen nicht nur in den flektierenden und agglutinierenden Sprachstämmen Wortbildungen nach dem isolierenden, sondern auch in den isolierenden Sprachen solche nach dem agglutinierenden und selbst dem flektierenden Prinzip vor, so daß sich diese Einteilung keineswegs streng durchführen läßt. Viel wichtiger als die morphologische Klassifikation ist daher die genealogische Einteilung der Sprachen, welche Gemeinsamkeit der Abstammung zum Einteilungsgrund macht. Stimmen zwei oder mehrere Sprachen sowohl in betreff ihrer Wörter und Wurzeln als ihres grammatischen Baues überein, oder haben sie wenigstens in einer diesen beiden Beziehungen so viel miteinander gemein, daß die Annahme einer bloß zufälligen Ähnlichkeit völlig ausgeschlossen ist, so muß man annehmen, daß sie auf eine und dieselbe Grundsprache zurückgehen. Hieraus folgt zugleich, daß die Völker, welche die betreffenden Sprachen sprechen, zu irgend einer Zeit einmal ein einziges Volk gebildet haben müssen, und es ergeben sich so aus der genealogischen Klassifikation der Sprachen die wichtigsten Resultate für die Einteilung der Völker und Rassen, Resultate, die viel sicherer sind als diejenigen der Schädelvergleichung, da die Sprachen weniger leicht der Mischung unterliegen und stattgehabte Mischungen weit leichter erkennbar sind als bei den Körpermerkmalen. Verbreitung und Einteilung der Sprachen. (Hierzu die "Sprachenkarte", mit Textblatt.) Die Gesamtzahl der lebenden Sprachen mag in runder Summe etwa 1000 betragen. Adelung in seinem "Mithridates" zählte deren über 3000 auf; dagegen veranschlagen Balbi und Pott sie nur auf 860, Max Müller auf 900, welche Ziffern jedoch wahrscheinlich zu niedrig gegriffen sind. Die Sprachenstatistik wird dadurch sehr erschwert, daß es unmöglich ist, die Grenze zwischen Sprache und Dialekt zu bestimmen. Bei einer Übersicht über die geographische Verbreitung der Sprachen handelt es sich vorzugsweise darum, ihre Zusammengehörigkeit zu größern oder kleinern Gruppen, die von einer gemeinsamen Ursprache herstammen, zur Anschauung zu bringen. Auf beifolgender "Sprachenkarte" und der zugehörigen Übersicht sind nur die wichtigern der bis jetzt von der Linguistik ermittelten Sprachstämme und deren Unterabteilungen vollständig (letztere auch einschließlich der jetzt ausgestorbenen), von den einzelnen Sprachen sind nur die hervorragendsten aufgeführt, namentlich von den in Amerika gesprochenen. Dort ist die Sprachverschiedenheit am größten; geringer ist sie in den Weltteilen, die wenigstens teilweise von alters her von Kulturvölkern bewohnt und daher früher zur Ausbildung von Schriftsprachen gelangt sind, in Asien und Afrika, am geringsten in Europa, wo es nur 53 Sprachen gibt; die Sprachen der Eingebornen von Australien sind teilweise schon ausgestorben. Nach den bisherigen Ergebnissen der genealogischen Einteilung der Sprachen unterscheiden wir nun acht Sprachstämme: 1) einsilbige Sprachen in Südostasien; 2) den malaio-polynesischen Sprachstamm; 3) die Drawidasprachen in Südindien; 4) den uralaltaischen Sprachstamm; 5) die Bantusprachen (südafrikanischer Sprachstamm); 6) den hamito-semitischen Sprachstamm; 7) den indogermanischen Sprachstamm; 8) den amerikanischen Sprachstamm. Außerdem gibt es noch eine beträchtliche Anzahl isolierter Sprachen, welche sich, wenigstens auf Grund der bisherigen Forschungen, in keinen der größern Sprachstämme einreihen lassen. Dazu gehören: in Europa das Baskische in den Pyrenäen und das jetzt ausgestorbene Etruskische (nach Corssen Indogermanisch) in Toscana; die meisten Negersprachen in Nord- und Zentralafrika, so das Wolof, Bidschogo, Banyum, Haussa, Nalu, Bulanda, Baghirmi, Bari, Dinka etc., von denen nur einzelne, wie die Nuba-, Fulbe-, Mande-, Nil-, Kru-, Ewe-, Bornusprachen, sich zu Gruppen vereinigen lassen; in Südafrika die verschiedenen Sprachen der Hottentoten und Buschmänner, welche sich durch das Vorhandensein zahlreicher Schnalzlaute, im Buschmännischen acht, auszeichnen, übrigens dem Aussterben nahe sind; die Sprachen des Kaukasus, unter denen man einen südkaukasischen Sprachfehler - Sprachreinigung. mit Georgisch, Mingrelisch und Lasisch nebst Suanisch und einen nordkaukasischen Sprachstamm mit Tscherkessisch, Awarisch, Udisch, Tschetschenzisch etc. unterscheiden kann; im Innern von Ostindien die Mundasprachen (Ho und Santhal) etc.; das Japanische und Koreanische in Japan und Korea; das Jukagirische, Korjakische u. Tschuktschische, Kamtschadalische, Aino, Giljakische, Jenissei-Ostjakische und Kottische in Nordasien; die Sprachen der Aleuten in Nordamerika; die Maforsprache auf Neuguinea und andre Papuasprachen; die südaustralischen und die jetzt ausgestorbenen tasmanischen Sprachen auf Vandiemensland; die Sprachen der Mincopie auf den Andamanen sowie der Negrito auf den Philippinen und der Halbinsel Malakka und andre Sprachen. Vgl. außer den S. 180 angeführten Werken: Pott, Die quinäre und vigesimale Zählmethode bei Völkern aller Weltteile (Halle 1847); Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues (Berl. 1860); Max Müller, Essays (deutsch, Leipz. 1869 ff., 4 Bde.); Schleicher, Die deutsche Sprache (5. Aufl., Stuttg. 1888); Whitney, Leben u. Wachstum der Sprache (deutsch von Leskien, Leipz. 1876); Sayce, Introduction to the science of language (2. Aufl., Lond. 1883, 2 Bde.); Hovelacque, La linguistique (3. Aufl., Par. 1882); Pezzi, Glottologia aria recentissima (Tur. 1877); Fr. Müller, Grundriß der Sprachwissenschaft (Wien 1876-88, 4 Bde.); G. Curtius, Kleine Schriften (Leipz. 1886, 2 Bde.); Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium (2. Aufl., das. 1884); Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft (Straßb. 1885); Jolly, Schulgrammatik und Sprachwissenschaft (Münch. 1874); Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland (das. 1869); Brücke, Physiologie und Systematik der Sprachlaute (2. Aufl., Wien 1876); Sievers, Grundzüge der Phonetik (3. Aufl., Leipz. 1885). Eine "Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft" wird von Techmer herausgegeben (Leipz., seit 1884). Sprachfehler (besser Sprachstörungen) werden bedingt durch Bildungsfehler oder Erkrankungen 1) der lautbildenden Organe (Kehlkopf, Schlund, Mund), 2) des diesen Artikulationsorganen zugehörenden Nervenapparats. Über S. der ersten Gruppe s. die betreffenden Artikel. Die S. der zweiten Gruppe, die eigentlichen S., äußern sich als solche der Artikulation, d. h. der mechanischen Silben- und Wortbildung, und solche der Diktion, d. h. der Fähigkeit, einen Gedanken in richtiger Wahl und Anordnung der Wörter zum Ausdruck zu bringen. Bei den Fehlern der Artikulation handelt es sich um Beeinträchtigung derjenigen Muskelbewegungen, welche nötig sind, um einen bestimmten Laut hervorzubringen; diese Muskeln werden in Thätigkeit versetzt von dem zwölften Gehirnnerv (nervus hypoglossus), und da die Ursprungsstellen oder Kerne dieses Nervs im verlängerten Mark (bulbus), am Boden des vierten Gehirnventrikels, gelegen sind, so sind es besonders häufig Blutungen oder andre Veränderungen dieses Gehirnteils, welche zu schweren Bewegungsstörungen der Lippen-, Zungen- und Schlundmuskulatur (Bulbärparalyse, s. d.) führen. Die S. der Diktion sind stets bedingt durch Erkrankungen des Großhirns (z. B. Gehirnerweichung), und zwar sind es besonders zwei Stellen der Großhirnrinde, deren Zerstörung die als Aphasie benannten S. herbeiführt. Die eine dieser Stellen (von Broca entdeckt) findet sich bei Rechtshändern im Fuß der dritten linken Stirnwindung, die andre (nach Wernicke) in der ersten Schläfenwindung. Ist die erstere erkrankt, so findet sich motorische oder ataktische Aphasie, d. h. der Kranke ist nicht im stande, die Bewegungen seiner Sprachwerkzeuge so zu beeinflussen, daß ein ihm in seinem Bewußtsein vorschwebender Laut ertönt. Bei Schädigung der zweiten Stelle tritt sensorische Aphasie (Worttaubheit Kußmauls) ein, wobei der Kranke trotz vorhandener Intelligenz und bei intaktem Gehör den Sinn gesprochener Worte nicht auffassen kann. Als amnestische Aphasie bezeichnet man das Unvermögen des Kranken, für einen ihm bekannten Gegenstand die richtige Bezeichnung zu finden; als Paraphasie das Verwechseln ganzer Wörter oder Silben, ein krankhaftes Sichversprechen. - Den Störungen der Sprache entsprechen solche des Schreibens, der Aphasie die Agraphie; doch findet sich z. B. bei sensorischer Aphasie nicht etwa auch sensorische Agraphie, d. h. das Unvermögen, Geschriebenes zu verstehen, woraus hervorgeht, daß die Zentren des Hörens und Lesens an verschiedenen Stellen der Gehirnrinde ihren Sitz haben. Da die meisten S. durch solche Gehirnveränderungen bedingt werden, welche einen dauernden Verlust von Rindensubstanz mit sich bringen, so sollte man annehmen, daß diese S. unheilbar sein müßten; doch lehrt die Erfahrung, daß teilweise oder völlige Heilung eintreten kann, wobei namentlich methodischer Unterricht von Erfolg ist. Vgl. Kußmaul, Störungen der Sprache (2. Aufl., Leipz. Sprachgewölbe, Gewölbe, welche so gebaut sind, daß alles, was an einem bestimmten Punkt ihres Innern leise gesprochen wird, nur an einem andern Punkte desselben gehört werden kann. Sie müssen ellipsoidisch gebaut sein, weil Ellipsen die Eigenschaft haben, alle Schallstrahlen, welche von dem einen ihrer beiden Brennpunkte ausgehen, nach dem andern zurückzuwerfen und dort zu vereinigen. Die Pariser Sternwarte, die Kuppel der Paulskirche in London, das Ohr des Dionys besitzen oder bilden solche [korrigiert für "soche"] S. Vgl. Echo. Sprachlehre, s. Grammatik. Sprachreinigung, die Ausscheidung fremdartiger, im weitern Sinn auch fehlerhafter Beimischungen (Solözismen) aus einer Sprache und die Ersetzung derselben durch einheimische und regelrecht gebildete Wörter und Wortverbindungen. Das hierauf gerichtete Streben ist an sich löblich; doch muß dabei mit Vorsicht, gründlicher Sprachkenntnis, gesundem Urteil und geläutertem Geschmack zu Werke gegangen werden, da es leicht in Übertreibung (Purismus) ausartet. Wörter wie Fenster, Wein, Pforte, opfern, schreiben etc. (v. lat. fenestra, vinum, porta, offerre, scribere) lassen nur für den Sprachforscher den fremden Ursprung erkennen; seit frühster Zeit eingebürgert, haben sich dieselben mit den auf deutschem Sprachboden erwachsenen Wörtern verschwistert und gleiche Rechte erworben (vgl. Fremdwörter). Auch werden heutzutage, wenn neue technische und wissenschaftliche Begriffe eine sprachliche Bezeichnung verlangen, die Ausdrücke dafür mit Recht vornehmlich dem griechischen und lateinischen Sprachschatz entnommen. Mit einheimischen vertauscht, sind diese häufig unverständlich oder zu unbestimmt oder müssen gar umschrieben werden; auch wird dadurch der Verkehr mit fremden Nationen erschwert. Mehr als lächerlich ist es aber, wenn der Purismus sich an solchen Wörtern vergreift, die nur scheinbar fremden Ursprungs sind, wie z. B. von Deutschtümlern für Nase der Ausdruck "Gesichtserker" vorgeschlagen wurde, während Nase keineswegs von dem lateini- Sprachrohr - Sprachunterricht. schen nasus stammt, sondern ein Urwort ist, das sich in allen indogermanischen Sprachen übereinstimmend wiederfindet (sanskr. nas, nasa, altpers. naha, lat. nasus, altslaw. nosu etc.). Auch die S., die in neuester Zeit von einigen Germanisten an den durch Volksetymologie (s. Etymologie) entstandenen Wörtern Sündflut, Friedhof u. a. versucht wurde, ist, obwohl sie auf gründlicher Sprachkenntnis beruht, nicht zu billigen. In diesen Fällen hat die jetzige Schreibung und Deutung dieser Wörter längst das Bürgerrecht erlangt, wenn auch "Sinflut" und "Freithof", wie man nach jenen Gelehrten schreiben sollte, früher "die große Flut" und den "eingefriedigten Hof" bedeutet haben. Ihren triftigen Grund hat dagegen die S., wenn aus bloßer Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit oder aus Vorliebe für das Ausländische ohne alle Not Fremdwörter eingeschwärzt werden. Einen solchen Kampf hatte namentlich die deutsche Sprache zu führen seit dem Anfang des 17. Jahrh., als der Verkehr mit den Franzosen zunahm und der Deutsche die größere Freiheit und Gewandtheit derselben auch durch Nachäffung ihrer Sprache sich anzueignen suchte. Energisch trat diesem Unwesen zuerst Martin Opitz in seinem Buch "Von der teutschen Poeterei" entgegen; weiter noch ging Philipp v. Zesen teils mit seiner Schrift "Rosenmond", teils durch die Stiftung der Deutschgesinnten Genossenschaft (s. d.) in Hamburg. Ähnliche Zwecke verfolgten: die Frucht bringende Gesellschaft zu Weimar, der Blumenorden an der Pegnitz zu Nürnberg, der Schwanenorden an der Elbe und die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig. Größern Erfolg aber als diese Verbindungen, die von abgeschmackt puristischen Bestrebungen sich nicht frei erhielten, hatten die Bemühungen einzelner für die Sache begeisterter Männer, namentlich Leibniz', der, obschon er nur selten in deutscher Sprache schrieb, dennoch die Kraft und Ausdrucksfähigkeit derselben wohl erkannte und in seinen "Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache" (1717) und der "Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben" (hrsg. von Grotefend, Hannov. 1846) gerade die deutsche Sprache als die geeignetste für die Darstellung einer wahren Philosophie erklärte. Noch freilich fehlten Werke, die mit dem Streben nach reiner und edler Form auch gediegenen Inhalt verbanden. Sobald aber im 18. Jahrh. die große Blütezeit der deutschen Litteratur anbrach, erhob sich auch die Sprache aus ihrer tiefen Erniedrigung und gedieh durch unsre Klassiker noch vor dem Ende des Jahrhunderts zu hoher Vollendung. Nicht ohne Verdienst waren dabei auch die besondern, ausdrücklich auf S. gerichteten Bemühungen J. H. Campes (s. d.) und Karl W. Kolbes (gest. 1835; "Über Wortmengerei", Berl. 1809), während Chr. Heinr. Wolke (gest. 1825) sich wieder in übertriebenen Purismus verirrte. In der neuesten Zeit wurde der Kampf gegen den noch immer über Gebühr herrschenden Gebrauch von Fremdwörtern sowohl als von sprachwidrigen Wortbildungen und Redensarten von M. Moltke in seiner Zeitschrift "Deutscher Sprachwart" (1856-79) und namentlich von dem 1885 begründeten Allgemeinen Deutschen Sprachverein und der "Zeitschrift" desselben (hrsg. von Riegel in Braunschweig) wieder aufgenommen. Vgl. Wolff, Purismus in der deutschen Litteratur des 17. Jahrhunderts (Straßb. 1888); H. Schultz, Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts für Reinigung der deutschen Sprache (Götting. 1888); Riegel, Der Allgemeine Deutsche Sprachverein (Heilbr. 1885). Sprachrohr, eine Blechröhre von der Form eines abgekürzten Kegels, dessen kleinere Öffnung der Sprechende vor den Mund nimmt, während er die weitere einer entfernt stehenden Person zuwendet. Je größer das S. ist, desto lauter und weiter vernehmbar ist das hineingesprochene Wort. Auf Schiffen bedient man sich meist solcher von 1,25-2 m Länge bei einer Stärke von 5 cm an dem obern und von 15-25 cm an dem untern Ende. Eine starke Mannsstimme soll sich durch ein S. von 5,5-7,5 m Länge auf 5,5 km vernehmlich machen lassen, mit einem 1,5 m langen aber kann man auf eine Entfernung von höchstens 1,5-2 km verstanden werden. Erfunden ward das S. 1670 von dem Engländer Morland, welcher die ersten aus Glas, dann aus Kupfer verfertigte. Die Theorie des Sprachrohrs bearbeitete namentlich Lambert. Überall gleich weite Rohre (Blei-, Zinkrohre etc.) mit Mundstück, welche zwei entfernte Räume direkt miteinander verbinden und zur Übermittelung von gesprochenen Worten dienen, nennt man wohl auch Sprachrohre (Kommunikationsrohre). Durch ein 950 m langes Rohr hört man noch leise Geräusche. Sprachunterricht. Da die Sprachen in der Regel zu praktischen Zwecken erlernt werden, d. h. um verstanden und gesprochen zu werden, so bietet sich als der natürliche Weg zum Ziel die Art, wie wir unsre Muttersprache erlernen. Man gibt also Kindern ausländische Erzieherinnen und bringt es nicht selten dahin, daß gut begabte Kinder sich in mehreren Sprachen auszudrücken vermögen, allerdings meist auf Kosten ihrer Muttersprache; da aber die Korrektheit des Ausdrucks und der Umfang des Sprachmaterials notwendig von dem oft sehr geringen Bildungsgrad der Bonnen abhängen, so kann von einer Beherrschung der Sprache gar keine Rede sein. Für Erwachsene ist ein längerer Aufenthalt im Ausland sowie die unausgesetzte Übung im Gebrauch des fremden Idioms notwendig, wenn die Fertigkeit, sich leicht und fließend in der fremden Sprache auszudrücken, erreicht werden soll. "Es gehört eine gar große Gewandtheit dazu, der Natur entgegen, die eigentlich jeden nur an Eine Sprache, wie an Ein Vaterland gewiesen hat, sich zweier Sprachen bis zum Schreiben und Reden zu bemächtigen, und nur diejenigen können hierin den Mund zum Fordern weit aufthun, die keine solcher Forderungen selbst zu erfüllen vermögen" (Fr. A. Wolf). Leute, die als Dienstboten, Handwerker, Handlungsdiener etc. sich in einem fremden Land aufhalten, vermögen zwar nach einer gewissen Zeit sich im fremden Idiom auszudrücken; da sie aber immer nur einen eng umgrenzten Wortschatz und Ideenkreis beherrschen, so haben sie beim Versuch, sich in einer andern geistigen Sphäre zu bewegen, fast dieselben Schwierigkeiten zu überwinden, als sollten sie eine neue Sprache erlernen. Ebenso sind die Deutsch-Amerikaner ein redender Beweis dafür, daß der ausschließliche Gebrauch eines fremden Idioms, das bedingungslose Aufgehen in das Wesen einer fremden Nation immer den Verlust der Muttersprache zur Folge hat. In vielsprachigen Ländern, wie Österreich, Rußland etc., fehlt es nicht an Menschen, die fünf und sechs Sprachen nebeneinander sprechen; aber vollständig beherrschen sie selten auch nur eine. Bei dieser Art der Spracherlernung kann natürlich von S. keine Rede sein; die Erfahrung hat aber gelehrt, daß ein Aufenthalt im Ausland erst dann wirklich fruchtbar ist, wenn die Grundlage einer guten grammatischen Vorbildung vorhanden ist. Diese muß sogar ausreichen für alle die, welche weder Zeit Sprachunterricht (Schule und Selbststudium). noch Mittel haben, das Ausland aufzusuchen, und denen es weniger auf Sprachfertigkeit als auf die Befähigung ankommt, die in der fremden Sprache geschriebenen Werke zu verstehen und vielleicht auch einen Brief in derselben abzufassen. Diese Vorbildung erwirbt man gewöhnlich mit Hilfe eines Lehrers unter Zugrundelegung eines Lehrbuchs; die Methoden des Unterrichts sind entweder die analytische oder die synthetische. Während die analytische Methode, welche auch die natürliche, praktische oder die induktive genannt wird, mit der mechanischen Einübung eines Sprachstoffes beginnt und an diesem die Gesetze der Sprache zu erkennen und zu entwickeln lehrt, geht die synthetische, wissenschaftliche oder deduktive Methode den umgekehrten Weg, von der Regel zum Beispiel, von dem in Form und Geltung erkannten Einzelwort zur Bildung eines Sprachganzen. Diesen Weg haben im allgemeinen alle gelehrten Schulen bis auf den heutigen Tag eingeschlagen, nur daß wohl kaum noch die Synthese in ihrer Reinheit angewendet wird; jedenfalls erfährt der propädeutische Kursus jetzt eine vorwiegend praktische und methodische Behandlung. Das Verdienst, diese in die Schule eingeführt zu haben, anfangs allerdings nur für das Französische, gebührt Seidenstücker (Rektor in Soest, gest. 1817). Nach ihm wird mit den einfachsten Sätzen begonnen, und an ihnen werden die Elemente der Sprache zur Anschauung gebracht, dann allmählich und stufenweise fortgeschritten, bis das Wichtigste aus der Grammatik sowie die notwendigsten lexikalischen Kenntnisse vorgeführt sind und durch unablässige Übung festgewußt werden; erst dann schreitet man zu leichtern, zusammenhängenden Lesestücken. Diese Methode, welche ohne besondere Berechtigung die Ahnsche genannt wird, ist von Schifflin, Seyerlein, Barbieux, Schmitz u. a. selbständig fortgebildet worden und hat ihre Anwendung auf alle europäischen Sprachen gefunden; sie ist am bekanntesten geworden durch die französischen Lehrbücher von Plötz (s. d.), welche eine große Verbreitung gefunden haben. Die geschickte Anordnung und leichtfaßliche Darstellung des Sprachstoffes sowie die Betonung der Wichtigkeit einer guten Aussprache sind ihre Hauptvorzüge, während mit Recht über die oft überaus trivialen Übungssätze, über den Zwang, den seine "Methodik" auf den Gang des Unterrichts ausübt, und über den Mangel an Wirtschaftlichkeit geklagt wird. Die Versuche, die rein analytische Methode für den Unterricht nutzbar zu machen, gehen alle auf die Interlinearmethode des Franzosen Jacotot (s. d.) und des Engländers Hamilton (s.d. 9) zurück, welche darauf beruht, daß zuerst ein Sprachganzes vollständig eingeübt, dann in seine Teile zerlegt und erläutert wird. Es wird also ein Abschnitt aus dem zu Grunde gelegten Musterbuch (bei Jacotot der "Telémaque" von Fénelon, bei Hamilton das Evangelium Johannis), welches mit fortlaufender Interlinearübersetzung versehen ist, so lange gelesen, übersetzt und abgefragt, bis der Schüler es vollständig innehat. So schafft man durch unablässige Wiederholung einen festen Besitz von Wörtern und Phrasen und bringt mit diesem Grundstock das jedesmal hinzutretende Neue in lebendige Verbindung. Erst spät tritt grammatische Analyse und bei Jacotot auch Synthese hinzu. Die bessere Durcharbeitung und Durchführung der Methode ist unbedingt Jacotot nachzurühmen; ihre größte Schwäche bestand in der Gefahr, das Interesse der Schüler durch die mechanische Behandlung des Stoffes abzustumpfen und sie zu einer Oberflächlichkeit zu erziehen, welche äußerliche Fertigkeit und Dressur mit wirklichem Wissen und Können verwechselt. Dennoch erwarben die unzweifelhaften Erfolge, welche die Erfinder aufzuweisen hatten, ihrer Methode viele Freunde, und wenn auch die Versuche andrer, nach derselben zu unterrichten (z. B. von L. Tafel in Württemberg, L. Lewis in Österreich, W. Blum in Leipzig), scheiterten, so haben doch einige Lehrbücher, in denen die analytische Methode mehr ausgebildet wurde und zwar durch stärkere Betonung der grammatischen Synthese, große Verbreitung gefunden, z. B. die englischen Lehrbücher von Gesenius, Fölsing u. a. Großes Aufsehen haben die Reformvorschläge von Perthes in Karlsruhe erregt, welche die analytische Methode auch auf den lateinischen Unterricht (und zwar zur leichtern Erlernung der Sprache) anwenden wollen und zuerst in der "Zeitschrift für Gymnasialwesen" 1873-75 veröffentlicht wurden. Seine Methode besteht hauptsächlich darin, daß der Knabe von Anfang an zur Induktion angeleitet wird, daß die Wörter und Phrasen, die ihm entgegentreten, nicht aus ihrem natürlichen Zusammenhang gerissen werden, daß das Neue stets nach der sogen. gruppierenden Repetitionsmethode an das Gelernte angeknüpft werde, und daß der Unterricht durch Hinweisung auf abgeleitete Wörter und naheliegende oder leicht abzuleitende Begriffe aus der unbewußten Aneignung derselben möglichst Nutzen ziehe. Die Hauptsache sind, wie bei allen Methodikern, seine Hilfsbücher, welche mit großem Fleiß und Geschick gearbeitet sind und eine treffliche Anleitung zur Präparation geben. Allein trotz der Anerkennung, welche diese Vorschläge gefunden haben, verhält sich die überwiegende Mehrzahl der Fachmänner ablehnend; besonders wird das Prinzip der unbewußten Aneignung bestritten sowie die Anwendbarkeit der Induktion auf die Erlernung der Grammatik. Auch im Französischen sind in neuester Zeit Versuche gemacht worden, die rein analytische Methode in den Anfangsunterricht einzuführen. Man geht von kleinen Erzählungen aus, übt sie mechanisch ein, lehrt daran lesen, sprechen, schreiben und, durch Zusammenstellung des Gleichartigen, die Grammatik, doch nur, soweit sie am Übungsstoff in die Erscheinung tritt. Diese Methode, welche sich auf die Lehrbücher von Mangold und Coste, von Ulbrich u. a. stützt, rühmt sich großer Erfolge, findet aber auch starken Widerspruch und wird ihn ebenso wie die Perthessche finden, solange an den Schulen die Erreichung einer logisch-formalen Bildung als das Hauptziel des Unterrichts Wer zur Erlernung einer Sprache auf Privatunterricht oder Selbststudium angewiesen ist, hat die Auswahl unter einer Anzahl von Lehrbüchern, welche sich zwar alle einer ihnen eigentümlichen Methode rühmen, aber doch samt und sonders an die natürliche Art der Spracherlernung durch den Gebrauch anknüpfen. Zu den verbreitetsten gehören die von Ollendorff. In ihnen sind die Regeln auf ein geringes Maß beschränkt, Vokabeln und Sätze dem gewöhnlichen Leben entnommen und außer den fremdsprachlichen Musterbeispielen nur deutsche Übungssätze gegeben, welche, auf Einführung in die Konversation berechnet, hauptsächlich Fragen und Antworten enthalten. Der eng begrenzte Kreis von Wörtern und Gedanken, in denen sich diese Sätze bewegen, bedingt eine fortwährende Wiederholung des meist trivialen und absurden Stoffes und führt zu einer mechanischen, geistlosen Dressur. Ebenso wie Ollendorff geht Robertson darauf aus, den Lernenden möglichst bald zum Sprechen zu befähigen. Diese Methode (weitergebildet von Ölschläger und A. Boltz) nähert Sprachvergleichung - Spreewald. sich der Hamiltonschen, unterscheidet sich aber darin, daß auf jeden Textabschnitt mit der Interlinearversion eine möglichst ausführliche Erläuterung grammatischer, lexikologischer und andrer Schwierigkeiten folgt, die dem Schüler am besten vorbehalten bleibt. Eine andre viel angepriesene Methode, das Meisterschaftssystem von Rich. S. Rosenthal, welche in drei Monaten bei täglich halbstündiger Arbeit eine fremde Sprache lesen, sprechen und schreiben lehren will, kann ihr Programm nur erfüllen durch weise Beschränkung auf die für den Reisenden und Geschäftsmann notwendige Sprache. Von "System" ist allerdings wenig zu merken; die Grammatik wird vollständig zerpflückt, und in Bezug auf die Aussprache muß der Verfasser den Schüler an einen ausländischen Lehrer verweisen! Einen großen Teil seiner Regeln, Beispiele etc. hat das "Meisterschaftssystem" der sogen. Konversationsmethode von Gaspey-Otto-Sauer entnommen, deren Lehrbücher für Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Holländisch, Russisch großen Nachdruck auf Sprechübungen legen und die oben erwähnten Lehrbücher durch größere Einfachheit und Zuverlässigkeit übertreffen. Das Meisterschaftssystem unter gleichzeitiger Anwendung der Robertsonschen Methode hat F. Booch-Árkossy in Leipzig für seine modernen Grammatiken benutzt, die für Schul- und Selbstunterricht eingerichtet sind und nicht nur alle neuern Sprachen, sondern auch Latein und Griechisch lehren wollen; er "berechnet das Studium dieser letztern auf je ein Jahr, welches bei ausschließlicher Verwendung dieser Zeit auf den betreffenden Gegenstand hinreichen wird, dem fleißig Studierenden die betreffende klassische Litteratur zum selbständigen nützlichen und angenehmen Gebrauch zu erschließen". Nützlich und empfehlenswert sind die von Thum herausgegebenen Lehrbücher des Englischen, Französischen etc. für den Kaufmann und Gewerbtreibenden; sie beschränken sich auf die dem geschäftlichen Leben angehörigen Phrasen, Vokabeln und Übungen und führen leicht und sicher in den kaufmännischen Stil ein. Eine ausgezeichnete Hilfe für das Selbststudium bieten die Unterrichtsbriefe von Toussaint-Langenscheidt für Französisch und Englisch. Diese, von vortrefflichen Kennern der beiden Sprachen zusammengestellt, geben nicht nur Anleitung zur richtigen Aussprache, sondern auch klar und präzis gefaßte Regeln und einen durchaus korrekten Sprachstoff ("Atala" von Chateaubriand und "The Christmas Carol" von Dickens). Durch die Reichhaltigkeit des Stoffes, die leichte Verständlichkeit der Darstellung sowie die Richtigkeit des Gebotenen übertreffen diese "Briefe" alle ähnlichen Werke, stellen aber an den Lernenden so hohe Anforderungen, daß er nur mit "großer Anstrengung, Ausdauer und Einsetzung der edelsten Kräfte" sein Ziel in der angegebenen Zeit (9 Monate) erreichen wird. Diese "Briefe" sind häufig nachgeahmt worden. In allerneuester Zeit macht die Methode von Berlitz aus Nordamerika viel von sich reden, welche darin besteht, daß der Lehrer sich beim Unterricht ausschließlich des fremden Idioms bedient und auch die Schüler zwingt, in demselben zu antworten. Sie ist also im Grund nichts andres als die systematisierte Form der Erlernung einer fremden Sprache im fremden Lande durch den wirklichen Gebrauch. Sprachvergleichung, Sprachwissenschaft, s. Sprache und Sprachwissenschaft. Sprangrute, s. Vogelfang. Spratzen, die Eigenschaft einiger Metalle, im flüssigen Zustand absorbierte Gase während der Abkühlung zu entlassen, wobei das gewaltsam entweichende Gas Metallteilchen mit fortreißt und zuweilen auf der Oberfläche des Metalls blumenkohlähnliche Auswüchse hervorbringt. So absorbiert Silber Sauerstoff, Kupfer schweflige Säure, Stahl Kohlenoxydgas. Spray (engl., spr. spreh), "Sprühregen" von antiseptischer Flüssigkeit, welcher nach Listers Vorschriften der Wundbehandlung bei Operationen über das ganze Operationsfeld, die Hände des Chirurgen und die Instrumente mittels Richardsonschen Doppelgebläses unterhalten werden soll. Nachdem bakteriologische Untersuchungen die Unschädlichkeit der Luft erwiesen haben, wird die S. kaum noch Sprechmaschine, s. Sprache, S. 178. Sprechsaal, in vielen Tages- und Wochenzeitschriften eine Abteilung, in welcher die Redaktion Anfragen ihrer Abonnenten beantwortet, auch Zuschriften derselben von gemeinnützigem Interesse zum Abdruck bringt und einen schriftlichen Verkehr zwischen den Lesern vermittelt. Vgl. Eingesandt. Spree, der bedeutendste unter den Nebenflüssen der Havel in der Mark Brandenburg, entspringt bei dem Vorwerk Ebersbach in der sächsischen Oberlausitz, unweit der böhmischen Grenze, in mehreren Quellen, von denen der Spreeborn in Spreedorf und der Pfarrborn in Gersdorf als Hauptquellen angesehen werden und neuerdings vom Humboldt-Verein in Zittau eingefaßt und mit Anlagen umgeben worden sind, durchfließt die sächsische Oberlausitz, teilt sich hinter Bautzen in zwei Arme, die bei Hermsdorf und Weißig auf preußisches Gebiet übertreten und bei Spreewitz wieder zusammenfließen. Die S. fließt dann an Spremberg und Kottbus vorbei, wendet sich unterhalb letzterer Stadt westlich, teilt sich in viele Arme und bildet den Spreewald (s. d.). Oberhalb Lübben vereinigen sich diese Arme wieder, woraus die S. eine nordöstliche Richtung nimmt und sich unterhalb Lübben abermals in mehrere Arme teilt, die sich bei Schlepzig wieder vereinigen. Sie wird bei Leibsch für kleinere Fahrzeuge schiffbar, durchfließt den Schwielug- und Müggelsee, bildet bei Berlin eine Insel, auf der ein Hauptteil dieser Stadt, Kölln an der S., gebaut ist, und mündet unterhalb Spandau links in die Havel, nachdem sie einen Lauf von 365 km (wovon 180 schiffbar) zurückgelegt hat. Ihre Hauptzuflüsse sind rechts: die Schwarze Schöps, Malxe, das schiffbare Rüdersdorfer Kalkfließ und die Panke (in Berlin); links: die Berste und die schiffbare Dahme, die wieder mehrere schiffbare Gewässer, darunter die Notte, aufnimmt. Das ganze Flußgebiet der S. beträgt 9470 km (172 QM.). Durch den Friedrich Wilhelms- oder Müllroser Kanal, neuerdings auch durch den Oder-Spreekanal (s. d.) ist sie mit der Oder verbunden; außerdem bestehen noch bei Berlin mehrere schiffbare Kanäle, von denen der Landwehrkanal Berlin auf der Südseite umgeht und der Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal (9 km lang) unterhalb Berlin die S. auf der rechten Seite verläßt und zur Havel bei Saatwinkel führt. Um die S. innerhalb Berlins mit großen Schiffen befahren zu können und den Durchgangsverkehr zwischen Elbe und Oder (Hamburg und Breslau) zu erlangen, ist eine Tieferlegung des Flußbettes innerhalb des Weichbildes der Stadt in Aussicht genommen, deren Kosten auf 9,5 Mill. Mk. veranschlagt sind. Spreewald, bruchige Niederung an der Spree im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, in den Kreisen Kottbus, Kalau und Lübben, ist in seinem Hauptteil, dem obern S., zwischen Peitz und Lübben, 30 km lang und zwischen Neuzauche und Lübbenau 10 km Sprehe - Sprengen. breit, während der untere S., unterhalb Lübben, 15 km Länge und 6 km Breite hat. Von der Spree in zahlreichen netzförmig verbundenen Armen durchflossen, ist die Niederung oft überschwemmt. Ein Teil des sumpfigen Bodens ist durch Kanäle entwässert und in Felder und Wiesen umgewandelt worden, während der andre, mit Wald (größtenteils Erlen) bestandene Teil nur auf Kähnen zugänglich ist. Der gleiche Verkehr findet auch in den Orten Burg (Kaupergemeinde), Lehde und Leipe statt, wo jedes Gehöft auf einer einzelnen Insel liegt. Die Einwohner sind nur noch im östlichen Teil des obern Spreewaldes (Burg) Wenden, sonst bereits germanisiert; sie treiben außer Viehzucht und Fischerei besonders Gemüsebau, dessen Produkte (Gurken von Lübbenau) weit verfahren werden. Durch die Bemühungen des Spreewaldvereins ist neuerdings Sorge getragen, die Schönheiten des Spreewaldes noch mehr aufzuschließen, namentlich auch die für den Fremdenverkehr meist unzulänglichen Wirtshäuser zu heben. Vgl. Franz, Der S. in physikalischer und statistischer Hinsicht (Görl. 1800); "Führer durch den S." (Lübben 1889); Trinius, Märkische Streifzüge, Bd. 3 (Mind. 1887); Köhler, Die Landesmelioration des Spreewaldes (Berl. 1885); v. Schulenburg, Wendische Volkssagen aus dem S. (Leipz. 1879); Virchow und v. Schulenburg, Der S. und der Schloßberg von Burg, prähistorische Skizze (Berl. 1880). Sprehe (Spreu), Vogel, s. v. w. Star. Sprekelia formosissima, s. Amaryllis. Spremberg, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, an der Spree und der Linie Berlin-Görlitz der Preußischen Staatsbahn, 104 m ü. M., hat 2 evangelische und eine neue gotische kath. Kirche, ein Realprogymnasium, eine Webschule, ein Rettungshaus, ein Amtsgericht, eine Reichsbanknebenstelle, sehr bedeutende Tuchfabrikation nebst Wollspinnerei, Papp- und Möbelfabrikation, ein großes Mühlenwerk, Braunkohlengruben und (1885) 10,999 meist evang. Spreng., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Kurt Sprengel (s. d.). Sprengarbeit, s. Sprengen. Sprengbock, in der Baukunst, s. Bock. Sprengel, 1) Kurt, Arzt und Botaniker, geb. 3. Aug. 1766 zu Boldekow bei Anklam, studierte seit 1784 in Halle Theologie, später Medizin und Naturwissenschaften, ward 1789 daselbst Professor der Medizin, 1797 auch der Botanik und starb hier 15. März 1833. S. erweckte zu Anfang des 19. Jahrh. erneutes Interesse für Phytotomie und lieferte mehrere Untersuchungen über Zellen und Gefäße; größere Verdienste erwarb er sich als Historiker der Medizin und Botanik. Er schrieb: "Pragmatische Geschichte der Arzneikunde" (Halle 1792-1803, 5 Bde.; 3. Aufl. 1821-28; Bd. 6 von Eble, Wien 1837-40; Bd. 1, 4. Aufl. von Rosenbaum, Leipz. 1846); "Historia rei herbariae" (Amsterd. 1807-1808, 2 Bde.); "Geschichte der Botanik" (Altona u. Leipz. 1817-18, 2 Bde.); "Neue Entdeckungen im ganzen Umfang der Pflanzenkunde " (das. 1819-22, 3 Bde.). Seine "Opuscula academica" nebst Biographie gab Rosenbaum heraus (Leipz. 1844). - Ein Oheim Sprengels, Christian Konrad S., geb. 1750, gest. 7. April 1816 als Rektor in Spandau, entdeckte die Bestäubung der Blüten durch Insekten und schrieb: "Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen" (Berl. 2) Karl, Landwirt, geb. 1787 zu Schillerslage bei Hannover, besuchte die Thaerschen Institute in Celle und Möglin und war seit 1808 als Ökonom in Sachsen und Schlesien thätig, studierte 1821-24 in Göttingen Naturwissenschaften, habilitierte sich 1830 daselbst als Privatdozent der Ökonomie und Chemie und folgte 1831 einem Ruf als Professor der Landwirtschaft an das Carolinum in Braunschweig, von wo er 1839 als Generalsekretär der Ökonomischen Gesellschaft in Pommern nach Regenwalde ging. Hier gründete er eine höhere landwirtschaftliche Lehranstalt und eine Ackergerätfabrik und starb 19. April 1859. S. gehört zu den Vorläufern Liebigs, insofern er die Naturforschung in die Landwirtschaft einführte und namentlich die Chemie auf Bodenkunde und Düngerlehre anwandte. Er betonte bereits, daß jede Pflanze eine bestimmte Menge nicht organischer Stoffe zu ihrer Ausbildung bedürfe, und daß auch der Stickstoffgehalt des Düngers und des Bodens zu berücksichtigen sei. Auch bildete er die Boden- und Düngeranalyse aus und wollte durch künstlichen Dünger Ersatz für die durch die Analyse festgestellte Erschöpfung des Bodens geben. Er schrieb: "Chemie für Landwirte" (Braunschw. 1831-32); "Bodenkunde" (2. Aufl., Leipz. 1844); "Die Lehre vom Dünger" (2. Aufl., das. 1845) und "Die Lehre von den Urbarmachungen" (2. Aufl., das. 1846). Seit 1840 gab er die "Allgemeine landwirtschaftliche Monatsschrift" (Kösl. 1840-44, Berl. 1844 ff.) heraus. Sprengen, Zertrümmerung fester Materialien, wobei es sich um die Gewinnung der Bruchstücke (Bergbau, Steinbruchbetrieb etc.) oder nur um Beseitigung des Materials (Tunnel-, Straßen-, Kanalbau, Eissprengung) oder um Verwertung der den Bruchstücken erteilten lebendigen Kraft (Sprenggeschosse, Minen) handelt. Gesteine sprengt man zur Gewinnung regelmäßig geformter großer Werkstücke mittels eiserner Keile, indem man in der Richtung der herzustellenden Spaltfläche nach unten zu gespitzte Rinnen einarbeitet, in diese keilförmig zusammengebogene Bleche bringt und dann eiserne Keile durch mäßige, später kräftige Schläge eintreibt. Die alten Ägypter arbeiteten Keillöcher in das Gestein, trieben in diese künstlich getrocknete Pflöcke aus Weidenholz und übergossen letztere mit heißem Wasser, unter dessen Einwirkung das Holz sich so energisch ausdehnte, daß es die Sprengung herbeiführte. Hierher gehört auch das S. mit gebranntem Kalk. Man preßt aus demselben unter einem Druck von 40,000 kg Cylinder von 65 mm Dicke, läßt an der Peripherie jedes Cylinders eine schmiedeeiserne Röhre mit Längsschlitz und vielen Löchern ein und schiebt diese Vorrichtung, in einen Leinwandsack eingeschlossen, in ein Bohrloch ein, welches mit kurzem Lehmbesatz verschlossen wird. Pumpt man nun mittels einer Druckpumpe Wasser in das Rohr, so löscht sich der Kalk, und unter dem Druck von 250 Atmosphären, welche die Dampfspannung erreichen soll, erfolgt die Sprengung. Beim S. durch Feuersetzen, welches schon die Römer kannten, wird das Gestein nach einer Seite hin stark erhitzt, so daß eine ungleiche Spannung in seinen Teilen entsteht, die sich bis zum Zerreißen des Steins steigert. Durch starke Hammerschläge, auch durch plötzliches Abkühlen wird dies Zerreißen befördert. Viel häufiger sprengt man gegenwärtig mit Hilfe von Explosivstoffen (Sprengstoffen). Schieß- oder Sprengpulver wurde im Bergbau angeblich 1613 in Freiberg, 1632 in Klausthal zum S. benutzt. Man bohrt in das Gestein Löcher von 2,25-3 cm Durchmesser mit dem Meißel- oder Kronenbohrer, bei sehr hartem Gestein mit dem Stern- oder Kreuzbohrer und hebt das Steinmehl, welches hierbei entsteht, mittels eines kleinen Löffels an langem eisernen Stiel (Krätzer) von Zeit zu Zeit heraus. Öfteres Eingießen von Wasser ins Bohrloch beschleunigt die Arbeit (Naßbohren). Die Tiefe des Bohrlochs richtet sich nach der Dicke des abzusprengenden Steins. Man stößt in dasselbe die Patrone hinab, führt die kupferne Räumnadel an der einen Seite des Bohrlochs bis in die Mitte des Pulvers ein und füllt nun das Bohrloch mit dem Besatz aus. Dieser besteht aus Lehm und Ziegelmehl, aus Thonschiefermehl, auch aus Schieferstücken oder Sand. Unmittelbar über die Patrone füllt man lockern Besatz, die höhern Schichten aber werden fest eingestampft, bis das Bohrloch gefüllt ist. Dann zieht man die Räumnadel heraus und führt in den Kanal ein Zündröhrchen (Raketchen, Schredel) ein, an dessen äußerm Ende ein längerer Schwefelfaden befestigt wird. Vorteilhafter ist die Bickfordsche Zündschnur, welche mit dem einen Ende in der Patrone steckt und mit dem andern aus dem Bohrloch herausragt, so daß man das gefährliche Herausziehen der Räumnadel vermeidet. Zum Abthun des Schusses wird der Schwefelfaden oder das freie Ende der Zündschnur entzündet, worauf die Arbeiter fliehen u. die Explosion abwarten. Größere Sicherheit und, wenn es sich bei großen Sprengungen um das gleichzeitige Abthun mehrerer Schüsse handelt, höhern Effekt erzielt man durch elektrische Zündung, u. zwar benutzt man Zündung durch den Funken häufiger als durch Erglühen eines dünnen Drahts. Die Drähte, zwischen denen der Funke überspringen soll, werden gut isoliert in die Patrone geführt und hier so gebogen, daß ihre Enden sich gegenüberstehen. Eine bei jeder Witterung, selbst in feuchten Gruben stets brauchbare Elektrisiermaschine von Bornhardt zeigt Fig. 1 und 2. Die Maschine steht in einem durch eine Glasplatte hermetisch verschlossenen Blechkasten. Die Scheibe B besteht aus Ebonit, das Reibzeug aus eigentümlich präpariertem Pelzwerk ohne Amalgam. Die Saugarme A sitzen unmittelbar auf der kleinen Leidener Flasche F. Die Achse der Scheibe B geht durch eine Stopfbüchse in der Rückwand des Kastens hindurch und trägt außerhalb desselben eine Kurbel. Das Reibzeug und die äußere Belegung der Leidener Flasche stehen mit dem Blechkasten und mithin auch mit dem Metallring b, in welchen das eine Ende der zum Zünder führenden Drahtleitung eingehängt wird, in leitender Verbindung. Das andre Ende der Drahtleitung wird an den Ring a befestigt, welcher mit einem vertikalen Messinghebel, der die Kugel k trägt, in leitender Verbindung steht, aber von dem Blechkasten durch zwei Ebonitplatten D isoliert ist. Als Zündung dient eine Mischung von Schwefelantimon und chlorsaurem Kali, in welcher der Funke überspringt. Der Zünder wird in die Patrone eingeführt, und die aus dem Bohrloch hervorragenden Drähte verbindet man mit den Leitungsdrähten. Sollen mehrere Bohrlöcher miteinander verbunden werden, so schaltet man sie hintereinander in die Leitung ein, indem man den ersten Draht des ersten Bohrlochs mit der Hinleitung, den zweiten mit dem ersten Drahte des zweiten Bohrlochs verbindet und so fortfährt, bis der zweite Draht des letzten Bohrlochs mit der Rückleitung verbunden wird. In neuerer Zeit wird statt des Pulvers meist Dynamit verwendet. Dasselbe wird in Patronen in das Bohrloch bis zur erforderlichen Ladehöhe eingedrückt und mit einer Zündpatrone versehen. Letztere besteht aus einem Zündhütchen, welches man an dem einen Ende der Zündschnur durch Einkneifen befestigt und bis zu dieser Stelle in das Dynamit einer kleinen Patrone versenkt, deren Papier an die Zündschnur gebunden wird. Auf diese Weise erreicht man sicher, daß die Zündschnur zunächst das Zündhütchen und nicht direkt das Dynamit entzündet. Geschähe letzteres, so würde das Dynamit abbrennen, aber nicht explodieren. Die Zündpatrone wird in das Bohrloch eingeführt, welches nun auf halbe Länge mit losem Besatz und dann völlig mit festem Satz gefüllt wird. Bei Verwendung in Wasser muß man die Umhüllung des Dynamits und die Zündschnur durch Wachs oder Talg vor Feuchtigkeit schützen, auch wendet man vorteilhaft Cellulosedynamit an, das durch Feuchtigkeit weniger leidet. Stärkere Ladungen setzt man gern in Weißblechbüchsen ein. Die Wirkung der verschiedenen Sprengstoffe ist abhängig von der Schnelligkeit, mit welcher sie sich zersetzen, von ihrer Brisanz. Man kann bei Sprengungen eine Zermalmungs-, eine Verschiebung- und eine Trennungszone unterscheiden. Je brisanter ein Sprengungsstoff ist, um so größer werden bei gleicher Ladungsstärke die kubischen Inhalte der beiden ersten Zonen. Schwarzpulver erzeugt fast gar keine Zermalmungs-, eine mittelgroße Verschiebungs-, aber Sprenger - Sprengwerk. eine verhältnismäßig große Trennungszone, während Dynamit um so mehr zermalmt, je stärker es ist. Die starken Dynamitsorten zerbrechen und zermalmen die zunächst gelegenen Massen, und ihre Wirkung ist eine ziemlich scharf begrenzte, die schwächern Dynamitsorten brechen nur in unmittelbarer Nähe, trennen aber die Gesteine weithin. - Sprengarbeit kommt im Bergbau, beim Bau von Tunnels, Eisenbahnen, Straßen, Kanälen, zur Beseitigung von Felsen in Flußläufen etc. vor. Auch aus Ackerland werden Felsklippen durch S. fortgeschafft. Ebenso werden Bodenvertiefungen für Baumpflanzungen und Lockerung des Ackerbodens auf Tiefen, in die kein Ackergerät reicht, durch S. hervorgebracht (Sprengkultur). Große Wurzelstöcke werden vorteilhaft durch S. zerrissen. In Steinbrüchen gewinnt man das Material durch S., auch sprengt man Stahl- und Gußeisenblöcke. Für Kriegszwecke baut man Minen und benutzt S. in Geschossen (Granaten, Schrapnells) und Torpedos, zum Zerstören von Brücken, Eisenbahnen etc. Vgl. Mahler, Die Sprengtechnik (2. Aufl., Wien 1882); Krause, Die moderne Sprengtechnik (Leipz. 1881); Hamm, Sprengkultur (Berl. 1877); Zickler, Elektrische Minenzündung (Braunschw. 1888). Sprenger, Aloys, Orientalist, geb. 3. Sept. 1813 zu Nassereit in Tirol, studierte zu Wien neben Medizin und Naturwissenschaften besonders orientalische Sprachen, ging 1836 nach London, wo er als Hilfsarbeiter des Grafen von Münster an dessen großem Werk über die Geschichte der Kriegswissenschaften bei den mohammedanischen Völkern thätig war, 1843 nach Kalkutta und ward hier 1848 zum Vorsteher des Kollegiums in Dehli ernannt, in welcher Stellung er viele Unterrichtsschriften aus europäischen Sprachen in das Hindostani übertragen ließ. 1848 wurde er nach Lathnau geschickt, um einen Katalog der dortigen königlichen Bibliothek anzufertigen, wovon der erste Band 1854 in Kalkutta erschien. Dieses Buch mit seinen Listen persischer Dichter, seiner sorgfältigen Beschreibung aller Hauptwerke der persischen Poesie und seinem wertvollen biographischen Material ist ein treffliches Hilfsmittel für die Durchforschung des noch so wenig angebauten Feldes neupersischer Litteratur. 1850 ward S. zum Examinator, Dolmetsch der Regierung und Sekretär der Asiatischen Gesellschaft in Kalkutta ernannt. Von seinen Publikationen aus jener Zeit sind noch zu erwähnen: "Dictionary of the Technical terms used in the sciences of the Musulmans" (arab., Kalk. 1854); "Ibn Hajar's biographical dictionary of persons who knew Mohammed" (arab., 1856); "Soyuti's Itqân on the exegetic sciences of the Qoran in Arabic" (1856) u. a. Seit 1857 wirkte S. als Professor der orientalischen Sprachen an der Universität zu Bern, siedelte aber im Nov. 1881 nach Heidelberg über. Seine reichhaltige Sammlung arabischer, persischer, hindostanischer und andrer Manuskripte und Drucke hat die königliche Bibliothek in Berlin angekauft. Sonstige Werke von S. sind: "Otby's history of Mahmud of Ghaznah" (arab., Dehli 1847); "Masudî's meadows of gold" (Übersetzung, Lond. 1849, Bd. 1); "The Gulistân of Sady" (pers., Kalk. 1851), eine korrekte Ausgabe des berühmten didaktischen Werkes, u. a.; ferner in deutscher Sprache: "Das Leben und die Lehre des Mohammed" (Berl. 1861-65, 3 Bde.); "Post- und Reiserouten des Orients" (Leipz. 1864); "Die alte Geographie Arabiens als Grundlage der Entwickelungsgeschichte des Semitismus" (Bern 1875) und "Babylonien, das reichste Land in der Vorzeit und das lohnendste Kolonisationsfeld" (Heidelb. 1886). Sprenggelatine, s. Nitroglycerin. Sprenggeschosse, s. Explosionsgeschosse. Sprengglas, s. v. w. Glasglanz. Sprenggummi, s. v. w. Sprenggelatine, s. Nitroglycerin. Sprengkultur, s. Sprengen, S. 188. Sprengling, Fisch, s. Äsche. Sprengmörser, s. v. w. Petarde. Sprengöl, Nobelsches, s. v. w. Nitroglycerin. Sprengpulver, s. Schießpulver, S. 453. Sprengsel, s. v. w. Heuschrecke. Sprengstoffe, Substanzen, welche durch Erwärmung, Stoß oder Druck plötzlich mehr oder weniger vollständig aus dem starren oder flüssigen in den gasförmigen Zustand übergehen (s. Explosivstoffe) und durch den dabei sich entwickelnden Gasdruck in der Nähe befindliche Körper zertrümmern oder fortschleudern. Der zuerst angewandte Sprengstoff, das Sprengpulver, besitzt im allgemeinen die Zusammensetzung des Schießpulvers, welche nur aus Rücksichten auf den Preis und in der Absicht, eine stärkere Gasentwickelung zu erzielen, etwas modifiziert wurde. Gegenwärtig ist das Sprengpulver durch neuere Präparate, namentlich durch die nitroglycerinhaltigen, also hauptsächlich durch die Dynamite (s. Nitroglycerin) und durch die Schießbaumwolle (s. d.), stark zurückgedrängt worden. Auch pikrinsäurehaltige Mischungen, Nitrocellulose und ähnliche Substanzen spielen eine größere Rolle. Diese neuen S., welche viel größere Brisanz besitzen als Schießpulver und selbst, gegen die zu sprengenden Körper gelegt und zur Explosion gebracht, ihre zerstörende Wirkung äußern, führen im Bergbau und Tunnelbau zu erheblichen Ersparnissen an Zeit, Bohr- und Verdämmungsarbeit, und ihre Explosionsgase sind bei weitem weniger gesundheits- und lebensgefährlich als die des Sprengpulvers. Bei hartem Gestein gewähren sie eine Ersparnis an Handarbeit von 30 Proz., bei sehr weichem Gestein und Kohle etwas weniger; die Zeitersparnis beträgt bei Sprengungen im Trocknen ca. 30 Proz., in wasserhaltigem Gestein aber 100 Proz. und mehr. Ebenso große Vorteile erzielt man durch die neuen S. im Kriegswesen, wo man Schießbaumwolle mit großem Erfolg zur Füllung von Granaten angewandt hat. Wegen des weithin hörbaren hellen Knalles hat man Schießbaumwolle auch im Signalwesen benutzt. Vgl. Upmann, Das Schießpulver (Braunschw. 1874); v. Meyer, Die Explosivkörper (das. 1874); Trauzl, Die Dynamite (Wien 1876 und Berl. 1876); Heß, Sprenggelatine (das. 1878); Rziha, Theorie der Minen (Lemb. 1866). Sprengweite, s. Intervall. Sprengwerk, im Gegensatz zu Hängewerk (s. d.) Baukonstruktion, mittels deren Balken oder Balkenlagen von mehr oder minder bedeutender Länge durch Streben oder durch Streben und Spannriegel von unten gestützt werden. Sprengwerke werden zur Unterstützung von Brückenbahnen und von Dachstühlen, seltener von Zwischendecken, verwendet und bestehen in ihrer einfachsten Gestalt aus einem durch zwei Streben (Fig. 1) oder aus einem durch zwei Streben und einen Spannriegel (Fig. 2) unterstützten Balken. Bei zunehmenden Längen der Balken werden dieselben durch je vier, je sechs und mehr Streben ohne Spannriegel oder mit bez. je zwei, je drei und mehr der letztern unterstützt. Bei Dachstühlen werden die Sprengwerke meist aus mehreren in Form eines Polygons verbundenen geraden Streben zusammengesetzt (Fig. 3), während sie bei Brückenbauten meist fächerförmig angeordnet werden. Wo, besonders im Sprenkel - Springbrunnen. letztern Fall, die Streben sehr lang werden und eine geringe Neigung erhalten müssen, werden sie an einem oder mehreren Punkten durch Zangen, welche mit den Hauptbalken verbunden sind, versteift (Fig. 4) oder die Streben aus mehreren, meist verdübelten Balken zusammengesetzt. Bogensprengwerke sind aus gebogenen Balken oder aus teils wagerecht (System Emy), teils lotrecht (System Delorme) untereinander verbundenen Bohlen bestehende Sprengwerke, die früher teils im Hoch-, teils im Brückenbau Anwendung fanden. Unter die bedeutendsten hölzernen Bogensprengwerke im Hochbau gehören das nach dem Delormeschen System gebaute Kuppeldach der Kornhalle in Paris und der katholischen Kirche in Darmstadt sowie der nach dem Emyschen System erbaute Dachstuhl einer Reitbahn zu Libourne bei Bordeaux. Die bedeutendsten hölzernen Sprengwerkbrücken sind die nach dem Emyschen System konstruierten Viadukte von Willington und St.-Germain (Fig. 5) sowie die 1848 und 1849 von Brown in der Eriebahn erbaute Kaskadebrücke, welch letztere eine Schlucht von 53,34 m Weite überspannt, und deren vier Tragrippen aus je zwei gekrümmten, durch Fachwerk verbundenen Balkenlagen (Fig. 6) bestehen. Sprenkel, s. Vogelfang. Sprenzling, Fisch, s. v. w. Äsche. Spreublätter (Paleae), trockenhäutige, nichtgrüne Deckblätter in den Köpfchen vieler Spreuschuppen, Epidermoidalorgane an Stämmen und Wedeln der Farne (s. d., S. 50). Spreustein, s. Natrolith. Sprichwörter (lat. Proverbia), kurze und bündige, leichtfaßliche Sätze, welche eine Regel der Klugheit oder des sittlichen Verhaltens oder eine Erfahrung des praktischen Lebens ausdrücken und, dem Volksmund entstammend, in die volkstümliche Redeweise übergegangen sind. Sie bilden ein nicht unwichtiges Mittel zur Erkenntnis und Beurteilung des Charakters eines Volkes, insofern sie dessen Anschauung und Denkweise, Sitten und Gebräuche treu abspiegeln. S. sind bei allen Völkern im Gebrauch, und zwar hat jedes Volk seine eigentümlichen, obwohl manche räumlich und zeitlich weit verbreitet sind. Auch haben fast alle zivilisierten Nationen die Bedeutung der S. zu würdigen gewußt und Sammlungen derselben angelegt. Schon bei den Griechen fand dies statt (s. Parömiographen). Eine große, aber ungeordnete Menge griechischer und lateinischer S. und ähnlicher Ausdrücke gab Erasmus in seinem "Adagia" betitelten Buch. Sammlungen lateinischer S. veröffentlichten Goßmann (Landau 1844), Wiegand (Leipz. 1861), Wüstemann (2. Aufl., Nordhaus. 1864), Georges (Leipz. 1863) u. a. Auch Sammlungen deutscher S. erschienen seit dem 16. Jahrh. zahlreich; hervorzuheben sind die von Agricola (zuerst 1529), Seb. Franck (1541), Eyering (1601), Zinkgref (zuerst 1626), Lehmann (1630); aus neuerer Zeit die von Körte (2. Aufl., Leipz. 1861), Simrock (4. Aufl., Frankf. 1881), Binder (Stuttg. 1874), Wächter (Gütersloh 1888), ferner Sutermeister ("Schweizerische S.", Aar. 1869), Birlinger ("So sprechen die Schwaben", Berl. 1868), Eichwald ("Niederdeutsche S." Leipz. 1860), Frischbier ("Preußische S.", Berl. 1865) und als umfangreichste Sammlungen: Wanders "Deutsches Sprichwörterlexikon" (Leipz. 1863-80, 5 Bde.) und v. Reinsberg-Düringsfelds "S. der germanischen und romanischen Sprachen, vergleichend zusammengestellt" (das. 1872-75, 2 Bde.). Arabische S. veröffentlichte Socin (Tübing. 1878), niederländische Harrebomée (Utr. 1853-70, 3 Bde.), italienische Passerini (Rom 1875), sizilische Pitrè (Palermo 1879, 3 Bde.). S. auch Rechtssprichwort. Vgl. Nopitsch, Litteratur der S. (Nürnb. 1833); Zacher, Die deutschen Sprichwörtersammlungen (Leipz. 1852); Duplessis, Bibliographie parémiologique (Par. 1847); Wahl, Das Sprichwort der neuern Sprachen (Erf. 1877); Prantl, Die Philosophie in den Sprichwörtern (Münch. 1858); Borchardt, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund (Leipz. Spriet, das bei Sprietsegeln von Booten und andern Fahrzeugen benutzte Rundholz zur Ausbringung der obern, äußern Ecke des länglich vierkantigen Segels, wobei das untere Ende des Spriets am untern Teil des Mastes Springaufblumen, s. Convallaria. Springbock, s. Antilopen, S. 639. Springbrunnen (Fontäne), Vorrichtung zum Emportreiben eines oder mehrerer freier Wasserstrahlen. Leitet man aus einem hoch gelegenen Reservoir das Wasser in einer Röhre nach einem tiefer liegenden Ort und läßt es hier aus einer passend angebrachten Öffnung ausströmen, so springt ein Strahl empor, welcher nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren die Höhe des Wasserspiegels im Reservoir erreichen würde, wenn nicht durch Reibung ein Kraft- Springe - Springer. verlust entstände. Finden sich die hier künstlich geschaffenen Bedingungen in der Natur, so entstehen die natürlichen S., zu welchen auch die artesischen Brunnen gehören (s. Brunnen). Die Steighöhe des Wasserstrahls hängt bei einer guten Anordnung der Rohrleitung auch noch hauptsächlich von der Sprungöffnung ab. Die senkrecht emporspringenden Wasserstrahlen steigen (unter nicht sehr kleinem Druck) aus kurzen konischen, konoidischen und innen gehörig abgerundeten cylindrischen Ansatzröhren bei gleichem Querschnitt und gleichem innern Druck höher als die aus Mündungen in der sogen. dünnen Wand ausfließenden kontrahierten Wasserstrahlen. Der Widerstand der Luft ist bei schwächern Strahlen ein verhältnismäßig größerer als bei dickern Strahlen. Wasserstrahlen von kreisförmigem Querschnitt springen unter gleichen Verhältnissen höher als solche mit quadratischem oder anders geformtem Querschnitt. Auch das zurückfallende Wasser hemmt den aufsteigenden Strahl; neigt man daher einen senkrechten Strahl, so daß das zurückfallende Wasser seitlich fortgeht. so erreicht der Strahl sofort eine größere Höhe. Künstliche S. kann man durch Wasser- und Windmühlen, Dampfmaschinen etc. betreiben, indem man Pumpen in Bewegung setzt, durch welche das Wasser in hoch liegende Reservoirs geschafft oder in Windkessel gepreßt wird, aus welchen es die komprimierte Luft in die Höhe treibt. Zu den kleinern künstlichen S. gehört der Heronsbrunnen, welcher aus drei Gefäßen besteht, einem obern schüsselförmigen und zwei verschlossenen, ferner aus drei Röhren, von denen die eine am Boden des obern Gefäßes mündet und im untern bis dicht an den Boden reicht, die zweite vom Deckel des untern Gefäßes im mittlern bis fast an den Deckel reicht und die dritte durch den Boden des obern Gefäßes fast bis auf den Boden des mittlern hinabreicht. Nachdem das mittlere Gefäß mit Wasser gefüllt ist, gießt man auch in das schüsselförmige Gesäß Wasser, welches nun in das untere Gefäß abfließt, dadurch aber die Luft in diesem und im mittlern Gefäß zusammendrückt, so daß aus diesem ein Wasserstrahl emporsteigen muß. Springe (Hallerspringe), Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Hannover, am Ursprung der Haller und an der Linie Hannover-Altenbeken der Preußischen Staatsbahn, 113 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Teppich- und Wattefabrikation, Spinnerei, Ziegelei und (1885) 2700 Einw. In der Nähe ein kaiserlicher Saupark mit Jagdschloß; auf dem Ebersberg die "Deisterpforte" mit Aussichtsturm. Springen, eigentümliche Art der Fortbewegung des Körpers, bei welcher der Körper vermittelst der Wadenmuskulatur energischer vom Boden abgestoßen wird und längere Zeit frei in der Luft schwebt als beim Laufen. Der Körper erhält beim S. durch die kräftige Zusammenziehung der Wadenmuskeln eine Wurfbewegung, bei welcher der Schwerpunkt des Körpers eine parabolische Linie beschreibt, entsprechend einem geworfenen, bez. fallenden Körper. Gewöhnlich geht dem S. der Eillauf (Anlauf) voran, weil dadurch der Körper schon eine gewisse Schnelligkeit der Bewegung erhält, welche ihm dann beim S. zu statten kommt. Ebenso werden die beim S. hauptsächlich beteiligten Wadenmuskeln durch eine Wurfbewegung der Arme unterstützt. Springer, 1) Robert, Schriftsteller, geb. 23. Nov. 1816 zu Berlin, widmete sich erst dem Lehrfach, privatisierte studierend eine Reihe von Jahren in Paris, Rom, Wien und Leipzig und lebte seit 1853 dauernd in Berlin, wo er 21. Okt. 1885 starb. Er veröffentlichte: "Weimars klassische Stätten" (Berl. 1867); "Die klassischen Stätten von Jena und Ilmenau" (das. 1869); die Romane: "Gräfin Lichtenau" (das. 1871, 3 Bde.), "Devrient und Hoffmann" (das. 1873, 3 Bde.), "Sidney Smith" (das. 1874, 3 Bde.), "Anna Amalia von Weimar und ihre poetische Tafelrunde" (das. 1875, 2 Bde.) etc.; ferner: "Enkarpa. Kulturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoreischen Lehre" (Hannov. 1884); "Essays zur Kritik und Philosophie und zur Goethe-Litteratur" (Minden 1885); "Charakterbilder und Szenerien" (das. 1886); auch zahlreiche beliebte Jugendschriften, letztere meist unter dem Pseudonym A. Stein. 2) Anton, Geschichtschreiber und Kunsthistoriker, geb. 13. Juli 1825 zu Prag, widmete sich auf der Universität daselbst sowie in München und Berlin den Studien der Philosophie und der Kunst, ging, nachdem er 1846 kurze Zeit die Stelle eines Lehrers der Kunstgeschichte an der Prager Akademie bekleidet, auf ein Jahr nach Italien und ließ sich sodann in Tübingen nieder, wo er seine erste Schrift: "Die Hegelsche Geschichtsanschauung", erscheinen ließ. Das Jahr 1848 rief ihn nach Prag zurück. S. trat hier für die föderative Verfassung des Kaiserstaats ein und galt als ein Wortführer der Rechte des Reichstags in der Presse. Im Herbste d. J. habilitierte er sich zu Prag für neuere Geschichte; doch zogen ihm seine freisinnigen Vorlesungen, welche sodann als "Geschichte des Revolutionszeitalters" (Prag 1849) im Druck erschienen, die Ungunst der Regierung zu, so daß er seine Lehrthätigkeit aufgab und eine Reise zu kunsthistorischen Studien durch die Niederlande, Frankreich und England unternahm. Von London aus durch seine politischen Freunde zurückgerufen, trat er an die Spitze der Zeitung "Union", die aber, weil er darin die Rechte Preußens auf die Führerrolle in Deutschland vertrat, 1850 unterdrückt wurde. Während des orientalischen Kriegs 1854-56 arbeitete S. zahlreiche Druckschriften im Auftrag der serbischen Regierung aus, in welchen er für die Emanzipation der türkischen Vasallenstaaten, aber gegen das russische Protektorat plaidierte. Dieselben politischen Grundsätze führten ihn im letzten russisch-türkischen Krieg wiederum auf den publizistischen Kampfplatz und veranlaßten ihn zu zahlreichen Aufsätzen in "Im neuen Reich" gegen die russische Politik. Im Herbst 1852 habilitierte er sich in Bonn als Privatdozent der Kunstgeschichte, und 1859 ward er zum Professor derselben ernannt. Bei der Gründung der Universität Straßburg 1872 wurde er als Professor für neuere Kunstgeschichte berufen; seit 1873 gehört er der Universität Leipzig an. Von seinen historisch-politischen Schriften sind noch hervorzuheben: "Österreich nach der Revolution" (Prag 1850); "Österreich, Preußen und Deutschland" (das. 1851) und "Südslawische Denkschrift" (das. 1854); "Paris im 13. Jahrhundert" (Leipz 1856); " Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden" (das. 1863-64, 2 Bde.); "Friedr. Christoph Dahlmann", Biographie (das. 1870-72, 2 Bde.); "Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen Reichstag 1848-49" (das. 1885). Springers Kunstanschauung, wenngleich zunächst durch die Hegelsche Philosophie vermittelt, hat sich von dem beschränkenden Einfluß dieser Schule loszumachen gewußt. Sein Hauptstudium hat er den Schöpfungen des Mittelalters und der neuern und neuesten Zeit, besonders der Periode der klassischen italienischen Kunst, zugewendet. Seine vorzüglichsten kunstgeschichtlichen Werke sind: "Kunsthistorische Briefe" Springerle - Springschwänze. (Prag 1852-57); "Handbuch der Kunstgeschichte" (Stuttg. 1855); "Geschichte der bildenden Künste im 19. Jahrhundert" (Leipz. 1858); "Bilder aus der neuern Kunstgeschichte" (Bonn 1867; 2. Aufl., das. 1887, 2 Bde.); "Raffael u. Michelangelo " (Leipz. 1877; 2. Aufl. 1883, die beste Biographie der beiden Meister); "Grundzüge der Kunstgeschichte" (das. 1887-88). Auch hat S. die deutsche Ausgabe von Crowes und Cavalcaselles "Geschichte der altniederländischen Malerei" (Leipz. 1875) bearbeitet. Springerle, ein in Süddeutschland und der Schweiz sehr beliebtes Backwerk, eine Art Anisbrot. Springfield (spr. -fild), 1) Hauptstadt des nordamerikan. Staats Illinois, liegt südlich vom Sangamonfluß an der Grenze der Prärien, hat ein Kapitol (Staatenhaus), einen Gerichtshof, ein Zeughaus, ein Zollamt, eine sogen. Hochschule, Uhren- und andre Fabriken, Eisenbahnwerkstätten und (1880) 19,743 Einw. Auf dem Ridge Cemetery das Grabmal des Präsidenten Lincoln. - 2) Hauptstadt der Grafschaft Hampden im nordamerikan. Staat Massachusetts, am Connecticut, hat ein großartiges Zeughaus mit Waffenfabrik (Vorrat von Gewehren etc. für 175,000 Mann), eine Bibliothek von 30,000 Bänden, Baumwoll-, Woll-, Papierkragen-, Waffen- u. Eisenbahnwagenfabriken, Goldschmiederei und (1885) 37,577 Einw. S. ist Knotenpunkt zahlreicher Eisenbahnen; es wurde 1635 gegründet. - 3) Stadt im nordamerikan. Staat Missouri, Grafschaft Greene, 320 km südwestlich von St. Louis, hat Tabaksfabriken, Bau landwirtschaftlicher Geräte etc. und (1880) 6522 Einw. - 4) Hauptstadt der Grafschaft Clarke im nordamerikan. Staat Ohio, am Mad River, 64 km westlich von Columbus, Sitz des lutherischen Wittenberg College, ist berühmt wegen seiner Turbinen und landwirtschaftlichen Maschinen und hat (1880) 20,720 Einw. Springflut, s. Ebbe und Flut. Springfrüchte, alle trocknen oder saftigen Früchte, deren Wandung bei der Reife in irgend welcher Weise sich öffnet und die Samen frei werden läßt, wie Balgfrucht, Hülse, Schote, Kapsel oder auch die Frucht der Roßkastanie, deren saftiges, mit Stacheln versehenes Perikarp sich klappig öffnet. Springgurke, s. v. w. Momordica. Springhase, s. v. w. Springmaus. Springinklee, Hans, deutscher Maler und Zeichner für den Holzschnitt, arbeitete in der Werkstatt und unter dem Einfluß Dürers und fertigte unter andern 50 Zeichnungen zu den Holzschnitten in einem Nürnberger Gebetbuch: "Hortulus animae" (1518). Springkäfer, s. v. w. Schnellkäfer. Springkasten, s. Tisch. Springkörner, s. Euphorbia. Springkraut, s. Impatiens; kleines S., s. Euphorbia. Springkürbis, s. Momordica. Springläuse, s. Blattflöhe. Springmaus (Dipus Schreb.), Gattung aus der Ordnung der Nagetiere und der Familie der Springmäuse (Dipodina), kleine Tiere mit gedrungenem Leib, sehr kurzem Hals, hasenähnlichem Kopf, großen, häutigen Ohrmuscheln, großen Augen, sehr langen Schnurrhaaren, sehr langem Schwanz, stark verkürzten Vorderfüßen (welche beim Springen größtenteils im Pelz versteckt werden, daher der Name Zweifuß, Dipus) mit vier Zehen und wohl sechsfach längern Hinterfüßen mit drei Zehen, die mit steifem Borstenhaar bedeckt sind, und deren Krallen rechtwinkelig zum Nagelglied stehen. Die Sohle ist mit elastischen Springballen versehen. Die Wüstenspringmaus (Djerboa, D. aegyptius Hempr. et Ehbg., s. Tafel "Nagetiere I"), 17 cm lang, mit 21 cm langem Schwanz, oben grausandfarben, schwarz gesprenkelt, unterseits weiß, mit breitem, weißem Schenkelstreifen, oben blaßgelbem, unten weißlichem Schwanz mit weißer, pfeilartig schwarz gezeichneter Quaste, bewohnt Nordostafrika bis Mittelnubien und das westliche Asien und findet sich in den ödesten Steppen und in Sandwüsten, zuweilen in größern Gesellschaften. Sie gräbt vielverzweigte, flache Gänge im Boden, um bei der geringsten Gefahr in diese Zufluchtsstätten zu flüchten. In der Ruhe steht sie oft aufrecht wie ein Känguruh, im Lauf macht sie weite Sprünge und entwickelt eine außerordentliche Geschwindigkeit. Sie nährt sich hauptsächlich von Knollen und Wurzeln, frißt aber auch Blätter, Früchte und Kerbtiere. Gegen Hitze ist sie sehr unempfindlich, doch erscheint sie als echtes Nachttier und verfällt bei Kälte und Nässe in eine Art Erstarrung. Sie soll in ihrem Bau 2-4 Junge werfen. In der Gefangenschaft zeigt sie sich sehr harmlos und zutraulich. Die Araber essen das Fleisch der S. und benutzen das Fell zu kleinen Pelzen für Kinder und Frauen, zu Besatz etc. Die Alten erwähnen die S. häufig, auch finden sich bildliche Darstellungen auf Münzen und Tempelverzierungen. Jesaias verbot, das Fleisch der S. zu genießen (Jes. 66, Springprozession, s. Echternach. Springraupe, s. Zünsler. Spring-Rice (spr. -reiß), Thomas, Baron Monteagle von Brandon, brit. Staatsmann, geb. 8. Febr. 1790 in Irland, studierte zu Cambridge und saß seit 1816 als Mitglied der Whigpartei im Unterhaus. Als diese 1830 unter Grey ans Staatsruder kam, ward er Unterstaatssekretär des Innern, dann Sekretär des Schatzes und gelangte nach Stanleys Rücktritt 1834 als Staatssekretär der Kolonien ins Ministerium, welches jedoch schon im November zurücktreten mußte. Bei der Bildung des neuen Whigministeriums 1835 übernahm S. die Finanzverwaltung, bewies sich aber nicht befähigt für dieselbe. Als er im August 1839 aus dieser Stellung schied, erhielt er die Peerswürde mit dem Titel eines Lord Monteagle und das Amt eines Kontrolleurs der Schatzkammer. Er starb 7. Febr. 1866; in der Peerswürde folgte ihm sein Enkel Thomas S., geb. 31. Mai 1849. Springschwänze (Poduren, Poduridae Burm.), Insektenfamilie aus der Ordnung der Thysanuren, kleine, meist langgestreckte Tiere mit behaarter oder beschuppter Oberfläche, meist wagerecht gestelltem Kopf, derben, vier- bis sechsgliederigen Fühlern, jederseits 4-8 (selten bis 20) einfachen Augen, verborgenen Mundteilen, derben Beinen mit zweilappigen, in eine gespaltene Klaue endenden Tarsen und an der Spitze des Hinterleibs mit langer, unter den Bauch geschlagener Springgabel, mittels welcher sie sich weit fortschnellen. Sie leben am Boden unter faulenden Vegetabilien, bedürfen großer Feuchtigkeit, erscheinen oft im Winter massenhaft auf dem Schnee, sind sehr fruchtbar, entwickeln sich aber langsam. Der Gletscherfloh (Desoria glacialis Nic.), 2 mm lang, schwarz, dicht behaart, findet sich häufig auf den Alpengletschern und kann bei -11° einfrieren, ohne Schaden zu leiden. Auf Schnee erscheint auch häufig die gelblichgraue, schwarz gestreifte Degeeria nivalis L.; auf stehenden Gewässern findet sich in zahlloser Menge der Wasserfloh (Podura aquatica de Geer), welcher 2 mm lang, schwarzblau, an Fühlern und Beinen rot ist. Der zottige Springschwanz (Podura villosa L.), 3,37 mm lang, gelbrot mit schwarzen Binden, lebt wie der gleichgroße Springwurm - Spruner. bleigraue Springschwanz (P. plumbea L.) im Gebüsch unter abgefallenem Laub. Springwurm, s. Madenwurm. Springzeit, Flutzeit, s. Ebbe und Flut. Sprinz, s. Sperber. Sprit, s. v. w. gereinigter Spiritus; auch s. v. w. Essigsprit (s. Essig, S. 860). Spritzflasche, chemischer Apparat zum Auswaschen von Niederschlägen etc., besteht aus einer etwa zur Hälfte mit Wasser gefüllten Flasche mit durchbohrtem Kork, in welchem ein kurzes, zu einer Spitze ausgezogenes Glasrohr steckt. Bläst man durch dieses Rohr, um die Luft in der Flasche zu verdichten, so schießt aus der mit der Mündung nach unten gekehrten Flasche ein Wasserstrahl hervor. Bequemer steckt man in den zweimal durchbohrten Kork ein bis auf den Boden der Flasche reichendes Rohr, das im spitzen Winkel umgebogen ist und am abwärts gerichteten Schenkel in eine Spitze ausläuft, und außerdem ein stumpfwinkelig gebogenes Blasrohr, welches dicht unter dem Kork endet. Spritzgurke, s. v. w. Momordica Elaterium. Spritzloch, bei den Walen und den meisten Haifischen eine oder zwei Öffnungen am Kopf zum Ausstoßen von Luft oder Wasser. Bei den Haifischen liegt ein Paar Spritzlöcher hinter den Augen, entspricht einem Paar Kiemen und spritzt Wasser aus, bei den Walen ist das S. enger, geht aus der Verschmelzung der Nasenlöcher hervor und entläßt den Atem, dessen Feuchtigkeit in der kalten Luft sich zu einer hohen Säule von Wasserdampf verdichtet und so den Anschein hervorruft, als würde Wasser ausgespritzt. Sprocke (Sprockwürmer), s. Köcherjungfern. Sprödglaserz (Stephanit, Schwarzgüldigerz, Melanglanz), Mineral aus der Ordnung der Sulfosalze, kristallisiert in rhombischen, dick tafelartigen oder kurz säulenförmigen Kristallen, findet sich auch eingesprengt, in derben Massen und als Anflug, ist eisenschwarz bis bleigrau, selten bunt angelaufen, Härte 2-2,5, spez. Gew. 6,2-6,3, und besteht aus Antimon, Silber und Schwefel 5Ag2 + Sb2S3 mit 68,36 Silber und 15,44 Antimon. Das auf Gängen der kristallinischen Schiefer, der ältesten Sedimentformationen und trachytischer Gesteine brechende Mineral kommt besonders im Erzgebirge, am Harz, in Böhmen, Ungarn, Mexiko sowie auf dem Comstockgang in Nevada vor und ist ein sehr reiches Silbererz. Vgl. Eugenglanz. Sprödigkeit, Eigenschaft harter Körper, vermöge welcher sie leicht durch einen Stoß oder durch eine geringe Verletzung ihrer Oberfläche in mehr oder weniger zahlreiche Stücke zerspringen, wie z. B. Glas. Vgl. Sproß, in der Botanik der ganze Einer Achse angehörige Pflanzenteil, also insbesondere jeder Zweig, der aus einer Achse niedern Grades entspringt, samt allen seinen seitlichen Organen. Sprossen, die Enden am Hirschgeweih unterhalb der Krone (Augen-, Eis-, Mittelsprosse). Sprossentanne, s. Tsuga. Sprosser, s. Nachtigall. Sprossung, s. Knospe und Proliferierend; hefeartige Sprossung, s. Pilze, S. 65. Sprottau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Liegnitz, an der Mündung der Sprotte in den Bober und der Linie Lissa-Hansdorf der Preußischen Staatsbahn, 132 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein stattliches Rathaus, ein öffentliches Schlachthaus, ein Realgymnasium, ein Amtsgericht, Fabrikation von Tabak und Zigarren, Brückenwagen, Zündwaren, Teppichen und künstlichen Blumen, Strumpfwirkerei, Bierbrauerei, Ziegelbrennerei, große Mühlwerke, bedeutende Stadtforst und (1885) mit der Garnison (eine Abteilung Feldartillerie Nr. 5) 7552 meist evang. Einwohner. In der Nähe die Eisenhütte und Maschinenbauanstalt Wilhelmshütte. S. erhielt 1289 deutsches Stadtrecht. Sprotte (Breitling, Clupea sprattus L.), Fischart aus der Gattung Hering, 10-13 cm lang, dem gemeinen Hering ähnlich, mit gekieltem, deutlich gezähneltem Bauch, auf dem Rücken dunkelblau mit grünem Schimmer, sonst silberweiß, mit dunkler Rücken- und Schwanzflosse und weißer Brust-, Bauch- und Afterflosse, findet sich in der Nord- und Ostsee, nördlich bis Island gewöhnlich in bedeutender Tiefe, laicht im Mai und Oktober und wird an der Küste Englands, Frankreichs und in der Ostsee im Juni bis September und im November bis Frühling in großer Zahl mit feinmaschigen Netzen gefangen und zusammen mit den sehr zahlreichen jungen Heringen, die ebenfalls in das Netz geraten waren, auf den Markt gebracht. Geschätzt sind in Deutschland besonders die geräucherten Kieler Sprotten. In Hamburg wird auch der Stint zu "Kieler Sprotten" verarbeitet. In Norwegen macht man die S. ein und bringt sie als Anschovis in den Handel, wie sich auch den Sardellen u. Sardinen viele Sprotten beimischen. Mit Gewürzen zubereitet ist die S. als russische Sardine im Handel. Spruchband, s. Banderole. Sprüche Salomos (lat. Proverbia), Titel einer Gnomensammlung des Alten Testaments, welche aus mehreren, durch besondere Überschriften bezeichneten Hauptteilen und einigen Anhängen besteht. Der erste Teil (Kap. l-9) enthält eine zusammenhängende Empfehlung der Weisheit in Form der Rede eines Vaters an seinen Sohn; dann folgen unter dem Titel: "Denksprüche Salomos" (10, 1) einzelne aneinander gereihte Sentenzen. Eine dieser Sammlungen (Kap. 25-29) soll nach ihrer Aufschrift unter Hiskias' Regierung durch Gelehrte des Hofs veranstaltet worden sein. Somit erscheint Salomo (s. d.) bloß als Kollektivname zur Charakterisierung dieser ganzen Art von Lehrdichtung. Kommentiert wurden die S. zuletzt von Hitzig (Zürich 1858), Zöckler (Bielef. 1867), Ewald (Götting. 1867), Delitzsch (Leipz. 1873), Nowack (das. Spruchliste, s. Schwurgericht, S. 781. Sprüchwörter, s. Sprichwörter. Sprudelstein, Absatz oder Niederschlag aus brodelnden Quellen, z. B. der Aragonitabsatz, den die Karlsbader Quelle liefert, und als besondere Abart der Pisolith oder Erbsenstein, zusammengebackene konzentrisch-schalige Kugeln, durch Umrindung fremdartiger Gesteinsbrocken entstanden. Gegen einen Vergleich des Erbsensteins mit den Oolithen der frühern geologischen Perioden spricht das Vorkommen dieser Oolithe: sie sind mitunter in mächtigen Schichten über große Strecken gleichmäßig verbreitet und stellen mithin keine Quellabsätze, die sich doch nur lokal hätten entwickeln können, dar. Den S. verarbeitet man auf allerlei kleine Gebrauchs- und Schmuckgegenstände, auch läßt man Objekte (Blumen, Holzschnitzereien etc.) durch längeres Einhängen in die Quellen mit S. überziehen. Spruner, Karl S. von Mertz, Geschichtsforscher und Kartograph, geb. 15. Nov. 1803 zu Stuttgart, ward, seit 1814 im Kadettenkorps zu München gebildet, 1825 Leutnant, 1851 Hauptmann im Generalstab, 1855 Oberstleutnant und Lehrer der Militärgeographie im Kadettenkorps, 1869 endlich Generaleutnant. Daneben hatte ihn König Maximilian II. zu Sprung - Spurgeon. seinem Flügeladjutanten, König Ludwig II. 1864 zu seinem Generaladjutanten ernannt. Im Sommer 1886 trat S. in den Ruhestand. Er schrieb: "Bayerns Gaue" (Bamb. 1831) und gab eine "Gaukarte des Herzogtums Ostfranken" (das. 1835) heraus. Sein Hauptwerk ist der große auf Grund der sorgfältigsten Detailforschung sehr sauber ausgeführte "Historisch-geographische Handatlas" (Gotha 1853-64) in 3 Abteilungen: "Atlas antiquus" (3. Aufl. bearbeitet von Menke, 31 Bl., 1862-64), "Handatlas für die Geschichte des Mittelalters und der neuern Zeit" (neubearbeitet von Menke, 90 Bl., 3. Aufl. 1879) und "Zur Geschichte Asiens, Afrikas etc." (18 Bl., 2. Aufl. 1855). Außerdem veröffentlichte S. einen trefflichen "Historischen Atlas von Bayern" (Gotha 1838, 7 Bl.), einen "Historisch-geographischen Schulatlas" (23 Bl., das. 1856, 5. Aufl. 1870), desgleichen historisch-geographische Schulatlanten von Österreich (13 Bl., das. 1860) und von Deutschland (12 Bl., 2. Aufl., das. 1866), den "Historico-geographical handatlas" (26 Bl., Gotha 1860) u. a. Historische Schriften von S. sind: "Leitfaden zur Geschichte von Bayern" (2. Aufl., Bamb. 1853), " Pfalzgraf Rupert der Kavalier" (Münch. 1854) und "Die Wandbilder des bayrischen Nationalmuseums" (das. 1858), später unter dem Titel: "Charakterbilder aus der bayrischen Geschichte" (das. 1878) neu herausgegeben. Endlich hat S. auch mehrere historische Schauspiele sowie die Schriften: "Jamben eines greisen Ghibellinen" (Bonn 1876) u. "Aus der Mappe des greisen Ghibellinen" (Münch. 1882) Sprung (lat. Saltus), in der Logik und zwar im Beweis das Auslassen von Mittelsätzen, die nicht fehlen dürfen, wenn der Schlußsatz bewiesen, in der Metaphysik und Naturphilosophie das Auslassen von Mittelstufen, die nicht übergangen werden dürfen, wenn das Ziel der Entwickelung erreicht werden soll. Ersteres, die Stetigkeit der Beweisführung, wird durch den Satz, daß die Folge nur aus der Gesamtheit der Gründe, letzteres, die Stetigkeit der Entwickelung, durch den Satz, daß die Wirkung nur aus der Gesamtheit der Ursachen entspringe, die Anwendung des letztern auf die Natur insbesondere durch den Kanon ausgedrückt, daß es in dieser keinen S. gebe (in natura non datur saltus). Sprung, in der Jägersprache mehrere beisammenstehende Rehe. Sprungbein, s. Fuß, S. 800. Sprungzügel, s. Zaum. Spule, eine hölzerne Walze zum Aufwickeln von Garn, Spülkanne, s. v. w. Irrigator (s. d.). Spuller (spr. spüllähr), Eugène, franz. Politiker, geb. 8. Dez. 1835 zu Seurre (Côte d'Or) von aus Baden eingewanderten Eltern, studierte die Rechte, ließ sich 1859 in Paris als Advokat einschreiben, widmete sich aber seit 1863 ganz der demokratischen Journalistik, trat in enge Freundschaftsbeziehungen zu Gambetta, dessen Sekretär er während seiner Diktatur 1870-71 war, ward 1872 Redakteur der "République française" und 1876 Mitglied der Deputiertenkammer. Er gehörte in dieser zum Republikanischen Verein und unterstützte Gambettas Politik mit hingebendem Eifer. Als dieser im November 1881 Ministerpräsident wurde, ernannte er S. zum Unterstaatssekretär des Auswärtigen, was er aber bloß bis zum Januar 1882 blieb. 1884 wurde er zum Vizepräsidenten der Deputiertenkammer erwählt und war vom Mai bis Dezember 1887 im Ministerium Rouvier Unterrichtsminister. Im März 1889 ward er Minister des Äußern. Spulmaschine, Vorrichtung zum Aufwickeln von Fäden Spulrad, eine einem Spinnrad ähnliche Vorrichtung zum Bewickeln einer Garnspule. Spulwurm (Ascaris L.), Gattung aus der Klasse der Nematoden (Fadenwürmer) und der Familie der Askariden (s. d.), derbhäutige Eingeweidewürmer von mäßiger Dicke und ansehnlicher Länge, mit stark entwickelten, hohen und breiten Lippen, welche einen mehr oder minder kugeligen Kopfzapfen zusammensetzen und bei den größern Arten am Rand gezähnelt sind. Sie legen meist hartschalige Eier, welche nach längerm Aufenthalt in feuchter Umgebung einen Embryo entwickeln, der vielleicht überall zunächst in einen Zwischenwirt gelangt und seine ganze Metamorphose in der Regel erst in dem definitiven Wirt durchläuft. Die zahlreichen Arten bewohnen mit wenigen Ausnahmen den Darm von Wirbeltieren, besonders Warmblütern. Der gemeine S. (A. lumbricoides L., s. Tafel "Würmer"; das Männchen etwa 40 cm lang und reichlich 5 mm dick, das Weibchen bedeutend kleiner), meist gelblichbraun oder rötlich, verbreitet einen unangenehmen Geruch, bewohnt den Dünndarm des Menschen, besonders der Kinder, bisweilen in so beträchtlicher Menge, daß er denselben fast unwegsam macht, findet sich auch im Rind und Schwein und scheint über die ganze Erde verbreitet zu sein. Er produziert im Jahr etwa 60 Mill. Eier, die beständig mit dem Kot abgehen, sehr lange auch in Frost und Trockenheit ihre Keimkraft behalten und sich in Wasser oder feuchter Erde langsam entwickeln. Ob die Embryonen beim Genuß von abgefallenem Obst, rohen ungereinigten Rüben, Bachwasser etc. direkt in den Menschen oder zunächst in einen Zwischenwirt gelangen, ist noch nicht ermittelt. Sie verursachen mancherlei Störungen und nicht selten schwerere Leiden. Der Katzenspulwurm (A. mystax Fab.) schmarotzt auch im Hund und gelegentlich im Menschen, der großköpfige S. (A. megalocephala Cloquet), bis 37 cm lang, im Darm des Pferdes und des Esels und erzeugt oft bösartige Verstopfungen, Katarrh der Darmschleimhaut etc. Spur, im Hüttenwesen die Öffnung in der Vorwand von Schachtöfen, durch welche die geschmolzenen Massen aus dem Schmelzraum in einen Sammelraum vor dem Ofen fließen; daher Spuröfen, Öfen mit einer solchen Öffnung. Spuren nennt man beim Kupferhüttenprozeß die Anreicherung des Kupfers in den Kupferlechen (Kupfersteine) durch Rösten u. reduzierend-solvierendes Schmelzen, wobei Spurstein (Konzentrations-, Anreich-, Dublier-, Mittelstein) entsteht (s. Kupfer, S. 319). Über den Ausdruck S. in der Jägersprache Spur (Spurweite), s. Eisenbahnbau, S. 450. Spüren, in der Jägersprache s. v. w. Spurensteine, die natürlichen äußern Abgüsse pflanzlicher oder tierischer Organismen, besonders aber die Fährten vorweltlicher Tiere. Spurgeon (spr. spörrdsch'n), Charles Haddon, engl. Kanzelredner, geb. 19. Juni 1834 zu Kelvedon in Essex, war zunächst Hilfslehrer an einer Schule zu Newmarket und schloß sich, von Bunyans Pilgerreise beeinflußt, 1850 der baptistischen Gemeinde in Cambridge an, deren Lehren er bald als Landprediger zu Teversham vertrat; seine große Jugend verschaffte ihm hier den Beinamen "the boy preacher". Kaum 17 Jahre alt, wurde er Prediger einer kleinen Baptistenkapelle zu Waterbeach und erreichte als solcher Erfolge, wie sie an Wesley und Whitefield erinnerten. Seit 1853 an der Baptistenkapelle in der New Spurinna - Srászy. Parkstreet zu London, predigte er unter solchem Zudrang, daß sehr bald eine Vergrößerung des Gebäudes nötig wurde. Doch auch das neue Gebäude genügte auf die Dauer nicht, denn bald war S. die merkwürdigste Charakterfigur des so überreich verzweigten kirchlichen Lebens der englischen Metropole und ihr populärster Kanzelredner, zu welchem Vertreter aller Stände und Bekenntnisse wallfahrteten. So veranlaßten seine Verehrer 1856 eine öffentliche Subskription zum Bau einer mächtigen Halle, welche, in Newington Butts gelegen und zu den Sehenswürdigkeiten Londons gehörend, 1861 unter dem Namen "Spurgeon's Tabernacle" eröffnet wurde und 4400 Zuhörern Raum darbietet. Von seinen Predigten erschienen viele Hunderte im Druck, zahlreiche auch in deutschen Übersetzungen (gesammelt in 5 Bänden, Hamb. 1860-73); zuletzt noch seine "Lectures to my students" (Lond. 1875; deutsch, Hamb. 1878-80, 2 Bde.). Vgl. Pike, Ch. H. S. (deutsch, Hagen 1887). Spurinna, 1) Vestricius, röm. Feldherr und Dichter in der ersten Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr., focht siegreich gegen die Germanen am Rhein, zog sich aber später vom öffentlichen Leben zurück. Die angeblichen Fragmente seiner lyrischen Poesien, deren Anmut die Alten rühmten, sind ein modernes Fabrikat des Polyhistors Kasp. Barth (abgedruckt in Rieses "Anthologia latina", Bd. 2, Leipz. 1870, und Bährens' "Poetae latini minores", Bd. 5, das. 1883). 2) Haruspex und Wahrsager, welcher Cäsar vor dem verhängnisvollen 15. März warnte. Spurius (lat., "unecht"), s. v. w. Bastard. Spurstein, s. Spur. Spurstränge (Blattspuren), in der Pflanzenanatomie die untern, im Stengel befindlichen Endigungen der in die Blätter ausbiegenden Gefäßbündel. Spurweite, s. Eisenbahnbau, S. 450. Spurzapfen (Grundzapfen), Zapfen, bei denen der größte vorkommende Druck in der Richtung der Achse des Zapfens wirkt und von der Grundfläche des Zapfens aufgenommen wird. Vgl. Zapfen. Sputum (lat.), der Auswurf. Spuz (spr. spuhsch), Städtchen in Montenegro, an der Zeta, mit Citadelle und ca. 1000 Einw.; lange Schauplatz von Kämpfen mit den Türken, kam durch den Berliner Frieden 1878 an Montenegro. Squalidae, Haifische. Squalius, Elten (Fisch). Squamae (lat.), Schuppen (s. d. und Fruchtschuppen); squamös, schuppig. Squarcione (spr. skwartschohne), Francesco, ital. Maler, geb. 1394 zu Padua, gest. 1474 daselbst, Haupt der paduanischen Malerschule und vornehmlich als Lehrer Mantegnas bekannt. Von seinen Werken ist nur eine Madonna mit dem Kind (im Besitz der Familie Lazzara zu Padua) durch seine Namensinschrift Square (engl., spr. skwehr), Quadrat, daher S. mile, Quadratmeile; auch ein viereckiger oder runder, von Häusern umgebener, mit Rasen und Baumgruppen versehener und meist durch ein eisernes Gitter abgeschlossener Platz in englischen (und danach auch in andern) Städten. Derartige Plätze von halbkreisförmiger Gestalt heißen Crescent ("Halbmond"). Squatter (engl., spr. skwotter, von to squat, niederkauern), in den Vereinigten Staaten von Amerika ein Ansiedler, der sich ohne Rechtstitel auf einem Stück Land niederläßt, insbesondere derjenige, welcher noch nicht angebautes Regierungsland ohne Kauf okkupiert. Da diese Praxis viel zum raschen Anbau, namentlich der westlichen Staaten, beitrug, indem unbemittelte Leute in Gegenden, wohin die Kolonisation auf dem gewöhnlichen Weg erst spät gedrungen sein würde, Niederlassungen gründeten, so suchte man dergleichen Ansiedler durch sogen. Präemtionsgesetze in dem Besitz der von ihnen eigenmächtig okkupierten Ländereien zu schützen. Nach einem bereits 1808 in Massachusetts erlassenen Gesetz wurde das Eigentumsrecht auf ein Grundstück schon durch 40jährige Okkupation erworben; spätere Kongreßbeschlüsse erteilten den Squatters das Recht, von ihnen okkupierte Staatsländereien, ohne Rücksicht auf den inzwischen gestiegenen Wert derselben, zum Minimalpreis von 11/4 Doll. pro Acre zu erwerben. Nachdem 1830 dies Gesetz für eine bestimmte Anzahl von Jahren auf das ganze Unionsgebiet ausgedehnt worden, kam 1841 das Präemtionsgesetz zu stande, wodurch die Squatters allenthalben in den Vereinigten Staaten die Befugnis erhielten, durch Erlegung jenes Minimalpreises sich einen gesetzlichen Rechtstitel auf die von ihnen bebauten Grundstücke zu erwerben, wobei nur die Beschränkung stattfinden sollte, daß kein Kolonist mehr als 160 Acres auf einmal ankaufen oder auf die zu Schul- und andern gemeinnützigen Zwecken bestimmten Ländereien Anspruch machen dürfte. Seit Erlaß des Heimstättegesetzes von 1862 (homesteadbill) müssen jedem, der sich in gutem Glauben ansiedelt und Bürger ist oder seine Absicht, Bürger zu werden, erklärt, 160 Acres Kongreßland unentgeltlich bewilligt werden. - In Australien heißen Squatters die Viehzüchter, welche große Strecken neu angebauten Landes von der Regierung pachten. Squaws (spr. skwahs), die Frauen der nordamerikan. Squier (spr. skwihr), Ephraim George, nordamerikan. Altertumsforscher, geb. 17. Juni 1821 zu Bethlehem (New York), ward Ingenieur, stellte mit Davis Untersuchungen über die alten Denkmäler im Mississippithal an, worüber er in "The ancient monuments of the Mississippi valley" (Washingt. 1848) berichtete, und ward 1849 zum Geschäftsträger der Union in den zentralamerikanischen Republiken ernannt, welche Staaten er ebenfalls (wiederholt 1853) zu wissenschaftlichen Zwecken erforschte. Später besuchte er Europa, war 1863-64 Kommissar der Union in Peru, 1868 Generalkonsul für Honduras in New York und wurde 1871 Präsident des Anthropological Institute daselbst. Er starb 17. April 1888 in New York. Von seinen Schriften sind noch zu nennen: "Aboriginal monuments of the state of New York" (Washingt. 1849); "The serpent symbols" (New York 1851); "Travels in Central-America: Nicaragua, its people, scenery and monuments" (das. 1852, 2 Bde.); "The states of Central America" (das. 1857, 2. Aufl. 1870); "Honduras, descriptive, historical and statistical"(1870); "Peru. Incidents and explorations in the land of the Incas" (1877; deutsch, Leipz. 1883). Squillace (spr. -latsche), Flecken in der ital. Provinz Catanzaro, unweit des Golfs von S. des Ionischen Meers, an der Eisenbahn Metaponto-Reggio gelegen, Bischofsitz, mit Kathedrale, geistlichem Seminar, Industrie in Seide und Thonwaren und (1881) 2673 Einw. S. ist das antike Scylacium, eine Stadt der Bruttier und Geburtsort des Cassiodorus (s. d.). Squire (engl., spr. skweir), entstanden aus Esquire (s. Adel, S. 111, und Esquire), s. v. w. Gutsherr. Sr, in der Chemie Zeichen für Strontium. Srászy (spr. ssrahschi), poln. Gericht, mit Zwiebeln u. dgl. gedünstete Scheiben von Rindfleisch. Sredec - Staat. Sredec, bulgar. Name für Sofia (s. d.). Srinagar, 1) Hauptstadt von Kaschmir, in der Nordwestecke Ostindiens, 1568 m ü. M., am Dschelam, in einem durch seine malerischen Reize weltberühmten Thalkessel, mit großem Palast, Fort, Gewehrfabrik, Münze, engen, schmutzigen Straßen aus hohen Holzhäusern und 150,000 Einw. (meist Mohammedaner, nur 20,000 Hindu), welche besonders berühmte Shawlweberei betreiben. Zur Unterkunft der in beschränkter Zahl zugelassenen Europäer (300 bis 400) gibt es jetzt Pensionen und Hotels. - 2) Hauptort des Distrikts Garwhal (s. d. 1). S romanum (Flexura sigmoidea, F. iliaca), der S-förmig gekrümmte untere Abschnitt des Grimmdarms, der an den Mastdarm anstößt. Ss... Die so beginnenden russischen Namen s. unter einfachem Ssant s. Acacia. Ssossar s. Acacia. Sselo (russ.), s. v. w. Kirchdorf; vgl. Derewnja. St., Abkürzung für Sanctus, Sankt oder St., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Jakob Sturm (s. d.) oder für H. Steudner (s. d.). Staab, Stadt in der böhm. Bezirkshauptmannschaft Mies, an der Radbusa und der Böhmischen Westbahn, hat ein Bezirksgericht, (1880) 2068 Einw., Bierbrauerei und Dampfbrettsäge. Staal, Marguerite Jeanne, Baronin de, durch Geist und Bildung ausgezeichnete Französin, geb. 1693 zu Paris als Tochter eines armen Malers, Cordier, dessen Namen sie ablegte, um den ihrer Mutter, Delaunay, anzunehmen, war zuerst Kammerjungfer der tyrannischen Herzogin von Maine, machte sich durch ihre Verse und Pläne zu Theaterstücken den Prinzen und vielen geistreichen Männern des Hofs bekannt und ward schließlich die Tonangeberin in den Salons von Paris. Ihre Ergebenheit für die Herzogin brachte sie auf zwei Jahre in die Bastille. 1735 heiratete sie den Offizier der Garde, Baron von S. Sie starb 16. Juni 1750 bei Paris. Ihre "Mémoires" (Par. 1755, 4 Bde.; neue Ausg. von Lescure, 1878, 2 Bde.) zeichnen sich durch scharfe Beobachtung und feine Satire aus und sind in einem Stil geschrieben, dem die Kritik nur denjenigen Voltaires vorzog. Ihre "OEuvres complètes" erschienen Paris 1821, 2 Bde. Vgl. Frary, Étude sur Mad. S. (1863). Staar, Augenkrankheit und Vogel, s. Star. Staat, das öffentliche Gemeinwesen, welches eine auf einem bestimmten Gebiet ansässige Völkerschaft in der Vereinigung von Regierung und Regierten umfaßt. Diese Definition ist freilich keine allgemein angenommene; vielmehr gehen in der Wissenschaft die Ansichten über Wesen und Zweck des Staats sehr auseinander. Jedenfalls müssen aber folgende Requisite vorhanden sein, wenn von einem S. die Rede sein soll: Staatsgebiet, Regierung, Regierte und eine zweckentsprechende Organisation. [Wesen und Zweck des Staats.] Die Geschichte lehrt uns, daß von eigentlichen Staaten erst dann die Rede sein kann, wenn eine größere Gesamtheit von Menschen zu einem gemeinsamen Organismus vereinigt ist. Die Familie mag als die natürliche Grundlage und als der Ausgangspunkt dieses Organismus betrachtet werden; der S. selbst aber charakterisiert sich gerade im Gegensatz zur Familie dadurch, daß seine Angehörigen nicht durch das Band der Verwandtschaft, sondern durch eine besondere Organisation zusammengehalten werden, und das Charakteristische ebendieser Organisation besteht wieder darin, daß eine Vereinigung von Regierung (Staatsregierung, Gouvernement) einerseits und von Regierten (Staatsangehörigen, Staatsbürgern, Unterthanen) anderseits gegeben ist. Endlich ist aber noch als wesentlicher Faktor des Staatsbegriffs das Vorhandensein eines bestimmten Gebiets (Staatsgebiet, Territorium) hervorzuheben, auf welchem sich jene Gesamtheit von Menschen dauernd niedergelassen hat. Der Zustand eines Nomadenvolkes ist die Negation des Staatsbegriffs. Diejenigen Rechte nun, welche der Staatsregierung und deren Inhaber, dem Staatsbeherrscher (Staatsoberhaupt, Souverän), als solchem zustehen, die sogen. Hoheitsrechte, bilden den Inhalt der Staatsgewalt (Regierungsgewalt), welche namentlich insofern, als sie das Recht des Staatsbeherrschers zur Ausübung der Hoheitsrechte auf dem Staatsgebiet und in Ansehung der auf demselben lebenden Menschen (Territorialitätsprinzip) bedeutet, als Souveränität (Staatshoheit, Suprema potestas) bezeichnet zu werden pflegt. Das Subjekt der Staatsgewalt sowie die Art und Weise ihrer Ausübung durch ersteres, also die Staats- und Regierungsform, wird durch die Staatsverfassung (Konstitution) bestimmt. Wenn man aber ferner die Staatsgewalt in die gesetzgebende, die richterliche und die vollziehende Gewalt (Exekutive) einzuteilen pflegt, so ist dies im Grund nur eine Bezeichnung der verschiedenen Richtungen, nach denen hin die Staatsgewalt thätig ist; denn die Staatsgewalt selbst ist und bleibt unteilbar, einheitlich und ausschließend. Die wissenschaftliche Begründung und Rechtfertigung des Staatsbegriffs ist von Philosophen und Publizisten auf die verschiedenste Weise versucht worden, während andre sich damit begnügen wollen, den S. und das damit gegebene Verhältnis der Unterordnung der Regierten als eine historische Thatsache und ebendarum der philosophischen Rechtfertigung nicht bedürftig hinzustellen. Dagegen finden wir schon im Altertum in den Theokratien der Orientalen die sogen. religiöse Theorie vertreten, welche den S. als eine göttliche Stiftung und die Einsetzung der Regierungsgewalt als einen Teil der göttlichen Weltordnung auffaßt; eine Theorie, welche man neuerdings als die Lehre vom Königtum "von Gottes Gnaden" zu modernisieren suchte, wie dies z. B. von Stahl geschehen ist. Andre wollen die Entstehung des Staats aus dem sogen. Rechte des Stärkern, aus der Übermacht, welche auch in dem Ausdruck "Staatsgewalt" angedeutet sei, herleiten, während auf der entgegengesetzten Seite der S. (Patriarchalstaat) auf die väterliche Gewalt zurückgeführt und als eine Erweiterung der Familie hingestellt wird. Eine weitere, früher auch in Deutschland vielfach praktisch geltend gemachte Theorie (Patrimonialprinzip) stellt die Staatsgewalt als Ausfluß des Eigentums (Patrimonialität) am Grund und Boden hin. Es ist dies die Theorie der absoluten Monarchie, vermöge deren sich die Staatsbeherrscher gewissermaßen als Eigentümer von Land und Leuten betrachteten, und welche zu jenem Satz führen konnte, der Ludwig XIV. in den Mund gelegt wird: "Ich bin der S." Auch der sogen. Vertragstheorie ist hier zu gedenken, welche die Entstehung des Staats auf eine vertragsmäßige Unterwerfung der Unterthanen unter die Staatsgewalt (Contrat social) zurückzuführen sucht und durch Jean Jacques Rousseau populär geworden ist, zuvor aber schon durch die Engländer Hobbes und Locke vertreten worden war. Dagegen bezeichneten Kant und nach ihm Karl Salomo Zachariä und Wilh. v. Humboldt den S. als durch das Rechtsgesetz gerechtfertigt. Staat (Staatsformen, Staatenverbindungen). Im Zusammenhang damit stellte man den Schutz des Rechts als den eigentlichen Zweck des Staats (Rechtsstaat) hin. Dieser Theorie (Manchestertheorie) steht die sogen. Wohlfahrtstheorie gegenüber, welche die öffentliche Wohlfahrt des Staats und die allgemeine Wohlfahrt seiner Angehörigen als den Staatszweck bezeichnet, damit aber freilich nicht selten zu einer Bevormundung des Volkes und zum sogen. Polizeistaat geführt hat. Dazwischen steht die vermittelnde Theorie, welche das Recht als die Basis und den Hauptzweck des Staats bezeichnet und im übrigen die Staatshilfe nur als völkerschaftliche Unterstützung zur selbstthätig freien Entwickelung der Staatsangehörigen eintreten lassen will, indem das gesamte staatliche Leben sich in den Angeln des Rechts bewegen soll (Kulturstaat). Übrigens pflegt man gegenwärtig den Ausdruck "Rechtsstaat" kaum noch in jener engen Bedeutung, sondern vielmehr gleichbedeutend mit "Verfassungsstaat" zu gebrauchen, indem man für den Staatsbürger nicht nur in Privatrechtssachen, sondern auch auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts die Möglichkeit richterlicher Entscheidung fordert und die Grenzen der staatlichen Machtvollkommenheit durch Verfassung und Gesetz festgelegt wissen [Staatsformen.] Nach der Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Regierung und Regierten geordnet ist, werden verschiedene Staats- und Regierungsformen unterschieden. Bis in die neueste Zeit hat sich die alte Einteilung des Aristoteles erhalten, welcher zwischen Monarchie (Einzelherrschaft), Aristokratie (Herrschaft einer bevorzugten Volksklasse) und Demokratie (Volksherrschaft) unterschied und als die Entartungen dieser Staatsformen die Despotie, die Oligarchie und die Ochlokratie hinstellte. Manche haben noch eine sogen. Theokratie hinzugefügt, als eine Staatsbeherrschungsform, bei welcher die Gottheit selbst als durch ihre Priester regierend gedacht ist. Richtiger und den modernen Verhältnissen entsprechend ist es wohl, nur zwei Hauptarten der Staatsformen zu unterscheiden: die Monarchie und den Freistaat oder die Republik. In der erstern steht ein Einzelner an der Spitze des Staatswesens, während in der Republik die Gesamtheit des Volkes als regierend gedacht ist, welcher die Einzelnen als die Regierten gegenüberstehen. Bezüglich der Monarchie ist dann zwischen der absolutistischen Staatsbeherrschungsform, der Autokratie, wie sie z. B. in Rußland besteht, zu unterscheiden und zwischen der konstitutionellen Monarchie, in welcher dem Volk durch seine Vertretung ein Mitwirkungsrecht bei den wichtigern Regierungshandlungen und namentlich bei der Gesetzgebung eingeräumt ist. Bezüglich der Autokratie kann man übrigens wiederum zwischen reinen Autokratien unterscheiden und solchen mit geregelten Staatsformen und bestimmten Staatsgrundgesetzen. Der Konstitutionalismus aber ist nicht als eine Teilung der Staatsgewalt zwischen Monarch und Volksvertretung aufzufassen, auch ist der Monarch selbst der Volksvertretung nicht verantwortlich; wohl aber ist letzteres in Ansehung der Minister der Fall. Bezüglich der Republik endlich ist, abgesehen von dem Unterschied zwischen Aristokratie und Demokratie, zwischen der unmittelbaren (antiken) und der repräsentativen Demokratie zu unterscheiden, je nachdem das Volk selbst in der Volksversammlung die Regierung ausübt, oder je nachdem dies durch seine Vertreter geschieht. Vgl. die Artikel über die einzelnen Staatsformen und die Übersicht über die Staats- und Regierungsformen bei dem Art. "Bevölkerung". Staatenverbindungen. Die regelmäßige Erscheinungsform des Staats ist der Einheitsstaat, d. h. der für sich bestehende souveräne S. mit einem einheitlichen Staatsgebiet unter einer und derselben Staatsregierung. Dadurch, daß der S. zu andern Staaten Beziehungen unterhält und mit solchen vorübergehend oder dauernd in Verbindung tritt, wird die Selbständigkeit des Einheitsstaats nicht beeinträchtigt. Zwischen den nebeneinander bestehenden Staaten entwickeln sich eben naturgemäß ein geistiger und materieller Völkerverkehr und ein völkerrechtliches Verhältnis, welches namentlich auf dem Gebiet des Handels und der Rechtspflege vielfach durch besondere Staatsverträge geregelt ist. Man bezeichnet dies Verhältnis selbständig nebeneinander bestehender, aber durch freundschaftliche Beziehungen verbundener Staaten als Staatensystem (im weitern Sinn) und pflegt so namentlich von einem europäischen Staatensystem zu sprechen. Treten nun verschiedene Staatskörper zu einer nähern Vereinigung mit einem bestimmten Zweck zusammen, so wird dies als Bund bezeichnet. Dieser Bund kann aber a) nur vorübergehend zu einem speziellen Zweck ins Leben treten (Allianz, Koalition) oder b) auf die Dauer zur Verwirklichung umfassender politischer Zwecke berechnet sein (Staatsverbindung, Staatensystem im engern Sinn). Ein Beispiel der erstern Art ist das gegenwärtig zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn bestehende Schutz- und Trutzbündnis. In dem zweiten Fall dagegen trägt die Vereinigung selbst einen staatlichen Charakter, ohne daß jedoch die selbständige staatliche Existenz der einzelnen verbündeten Staaten aufgehoben wäre, wie dies bei der Vereinigung mehrerer Staaten zu einem Einheitsstaat der Fall ist. Letzteres kann nämlich entweder so geschehen, daß die zu einem Einheitsstaat zusammengefügten Staaten einen ganz neuen S. bilden, wie dies z. B. bei der Gründung des Königreichs Italien geschah, oder so, daß der eine S. dem andern einverleibt wird, in welcher Weise z. B. Preußen den 1866 annektierten Staaten gegenüber verfuhr. Im erstern Fall spricht man von einer Union in diesem besondern Sinn, während in dem letztern Fall eine Inkorporation vor sich geht. Bei der Staatenverbindung dagegen bleiben die verbündeten Staatswesen nach wie vor nebeneinander bestehen, und zwar ist es möglich, daß diese verbündeten Staaten an und für sich völlig unabhängig voneinander, oder daß dieselben zu einem politischen Gesamtwesen vereinigt sind. Im erstern Fall ist eine Union (im engern Sinn), im zweiten eine Konföderation gegeben. Es kommt nämlich einmal vor, daß verschiedene, an und für sich voneinander getrennte und unabhängige Monarchien unter einem und demselben Souverän stehen, also durch die Identität des Staatsbeherrschers miteinander verbunden sind (Union, Unio civitatum); sei es nun, daß eine Personalunion (Unio personalis), sei es, daß eine Realunion (Unio realis) vorliegt. Die Personalunion ist dann gegeben, wenn rein thatsächlich zwei oder mehrere an und für sich selbständige Staaten unter dem Zepter eines gemeinsamen Monarchen vereinigt sind. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn in einer Wahlmonarchie ein Fürst an die Spitze des Staats gestellt wird, der bereits das Oberhaupt eines andern Staats ist. So erklärt sich z. B. die Personalunion Sachsens und Polens unter August dem Starken. Der Hauptfall der Personalunion aber ist der, daß infolge einer Übereinstimmung der Thronfolgeordnung dasselbe Glied derselben Dynastie zur Regierung Staat (Staatenbund und Bundesstaat). Länder gerufen wird. Hierfür bietet die Geschichte in der Vereinigung von Spanien und Deutschland, Hannover und England, Preußen und Neuenburg Beispiele. Auch Holland und Luxemburg stehen zu einander im Verhältnis der Personalunion. Ist dagegen die Union eine verfassungsmäßige, dauernde und von Rechts wegen unauflösliche, so liegt eine Realunion vor. Die einzelnen Kronländer sind, wie dies in Österreich-Ungarn der Fall ist, zwar besondere Staaten, aber sie sind verfassungsmäßig unter Einem Zepter vereinigt. Sie stellen sich daher in ihrer Verbindung und namentlich dem Ausland gegenüber als eine staatliche Gesamtheit dar. Ihre gemeinsamen Interessen werden in Österreich-Ungarn durch ein gemeinsames Reichsministerium wahrgenommen, und aus den Volksvertretungen der beiden Reichshälften, dem österreichischen Reichsrat und dem ungarischen Reichstag, werden Delegationen (Parlamentsausschüsse) zum Zweck der Teilnahme an der gemeinsamen Gesetzgebung abgeordnet. Ebenso stehen Schweden und Norwegen seit 1814 in Realunion, während die Elbherzogtümer Schleswig und Holstein ehedem zu einander im Verhältnis der Realunion, zur Krone Dänemark aber in demjenigen der Personalunion gestanden haben. Was dagegen die Konföderation (Föderation) anbetrifft, so wird zwischen Staatenbund (lat. Confoederatio civitatum, ital. Confederazione degli stati) und Bundesstaat (Bundesreich, Föderativstaat, Gesamtreich, Gesamtstaat, Staatenstaat, Civitas foederata s. composita, von den italienischen Publizisten Stato federativo genannt) unterschieden. Bei dem Staatenbund wie bei dem Bundesstaat ist eine Mehrheit von Staaten mit besondern Staatsgebieten und Staatsregierungen und, wofern die letztern monarchische sind, auch mit verschiedenen Staatsbeherrschern vorhanden. Beide sind im Gegensatz zu der nur vorübergehenden Allianz auf die Dauer berechnet, beide stellen ferner einen politischen Organismus mit einer Zentralgewalt dar. Allein bei dem Staatenbund sind es immer nur bestimmte Aufgaben, welche den Zweck des Bundes bilden, der Bundesstaat dagegen sucht die Zwecke des Staats überhaupt zu erfüllen. Der Staatenbund ist vorwiegend Bund, der Bundesstaat ist vorwiegend Staat. Der Staatenbund ist ein völkerrechtlicher Verein mit internationalem Charakter, der Bundesstaat ist ein wirkliches Staatswesen mit nationalem Charakter. So war die Schweiz bis 1848 nur ein Staatenbund, während sie jetzt vermöge der Verfassung vom 12. Sept. 1848 ein Bundesstaat ist. Auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind ein solcher, und als dritter Bundesstaat kommt das gegenwärtige Deutsche Reich hinzu, während der vormalige Deutsche Bund ein bloßer Staatenbund war. Freilich entspricht in Deutschland der gegenwärtige Sprachgebrauch des praktischen politischen Lebens dem theoretischen Schulbegriff nicht. Denn man pflegt offiziell die einzelnen verbündeten deutschen Staaten als Bundesstaaten zu bezeichnen, während theoretisch der Gesamtstaat, zu welchem sie vereinigt sind, also das Deutsche Reich, der Bundesstaat Im einzelnen treten dabei namentlich folgende Gegensätze hervor: Im vormaligen Deutschen Bund als einem bloßen Staatenbund waren die einzelnen Staaten völlig souverän. Das Organ dieses Bundes, der Frankfurter Bundestag, setzte sich lediglich aus den instruierten Bevollmächtigten der verschiedenen souveränen Bundesregierungen zusammen. Der Angehörige des einzelnen Staats stand zu jenem Zentralorgan in keiner direkten Beziehung, sondern die Bundesbeschlüsse hatten nur für die verbündeten Regierungen, nicht aber für die von diesen Regierten rechtsverbindliche Kraft. Sie erhielten diese für die Angehörigen der einzelnen Staaten vielmehr erst dadurch, daß sie von der betreffenden Einzelregierung als Gesetz verkündet wurden. Das Deutsche Reich als ein Gesamtstaat hat dagegen eine wirkliche Staatsgewalt im Gegensatz zu der lediglich vertragsmäßig geschaffenen Zentralgewalt des Staatenbundes. In der Unterordnung unter jene Staatsgewalt des Gesamtstaats liegt eine Beschränkung der Souveränität der einzelnen Regierungen. Das Reich übt ferner eine wirkliche gesetzgebende Gewalt aus, die Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor, und sie erhalten ihre rechtsverbindliche Kraft für die Unterthanen des Reichs und der Einzelstaaten durch die Verkündigung von Reichs wegen. Dem vormaligen deutschen Bundestag entspricht jetzt der Bundesrat. Aber ihm steht im Deutschen Reich als einem wirklichen konstitutionellen Staat in dem Reichstag eine Volksvertretung zur Seite. An der Spitze dieses Gesamtstaats steht ein einzelner Monarch, welcher die Reichsgesetze verkündet und vollzieht, auch das Reich völkerrechtlich zu vertreten hat, namens desselben den Krieg erklärt und den Frieden schließt. In dem Reichskanzler ist ihm ein verantwortlicher Minister beigegeben, von welchem natürlich im Staatenbund nicht die Rede sein kann. Das Bundesreich hat ferner seine eignen Reichsbeamten, sein eignes Heer und seine eignen Finanzen wie ein wirklicher Staat. Die Unterthanen der einzelnen deutschen Staaten stehen jetzt in einem doppelten Unterthanenverhältnis; sie sind Bürger des Einzelstaats, dem sie angehören, und Unterthanen der betreffenden Einzelregierung, aber sie sind auch zugleich Unterthanen und Bürger des Deutschen Reichs und im Verhältnis zu einander keine Ausländer mehr. Während endlich der Deutsche Bund sich lediglich "die Erhaltung der äußern und innern Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten" als Zweck gesetzt hatte, ist der Zweck des nunmehrigen Bundesreichs "der Schutz des Bundesgebiets und des innerhalb desselben gültigen Rechts sowie die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes", also der allgemeine Staatszweck. Die Organisation des Deutschen Reichs und der oben genannten beiden andern Bundesstaaten veranschaulicht die nachstehende Übersicht: Bundesstaaten Vollziehende Gewalt Gesetzgebende Gewalt Vertretung der Staaten Vertretung des Volkes Deutsches Reich Kaiser Bundesrat Reichskanzler Bundesrat Nordamerikanische Union Präsident Senat Repräsentantenhaus Schweiz Bundesrat Ständerat Nationalrat Bundesversammlung [s. Bildansicht] Die Verhältnisse und Beziehungen der Staatsregierung zu den Staatsunterthanen und die Beziehungen der letztern untereinander werden, insoweit sie sich auf den S. beziehen, durch das Staatsrecht (s. d.) geregelt. Dorthin gehören auch die Satzungen über die Rechtsverhältnisse in einem zusammengesetzten S., als welchen man vornehmlich die Realunion und den Bundesstaat bezeichnen kann. Für Staatenbund - Staatsanwalt. das Deutsche Reich bildet die Gesamtheit jener Rechtsgrundsätze das Reichsstaatsrecht. Das Staatsleben dagegen bildet den Gegenstand der Politik (s. d.), während die rechtlichen Beziehungen mehrerer selbständiger Staaten untereinander sich nach dem Völkerrecht (s. d.) bestimmen. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats (in seinen "Grundzügen der Politik", Kiel 1862); Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen (Wien 1882); Brie, Der Bundesstaat (Leipz. 1874); Derselbe, Theorie der Staatenverbindungen (Stuttg. Staatenbund, Staatensystem, s. Staat. Staateninsel, die östlichste Insel des Feuerlandes, von der Hauptinsel durch die 60 km breite Le Maire-Straße getrennt, hat steile, von Baien tief eingeschnittene Küsten, steigt bis 900 m an und ist fast das ganze Jahr durch mit Schnee bedeckt. Nahe ihrem Ostende liegt St. John's Hafen. Die Insel wurde 1616 von Schouten zu Ehren der "Staaten" (Stände) der Niederlande benannt. Staatsadreßbuch, s. Staatshandbuch. Staatsangehörigkeit (Heimatsrecht, Indigenat), die Eigenschaft als Unterthan in einem bestimmten Staatswesen. Im Bundesstaat ist der Staatsangehörige einer doppelten Herrschaft unterworfen; er steht unter der Staatsgewalt des Einzelstaats, welchem er angehört, und er ist der Bundes-(Reichs-) Gewalt untergeordnet, welche in dem Gesamtstaat besteht, welchem jener Einzelstaat zugehört. So ergibt sich für die Angehörigen des Deutschen Reichs eine S. oder ein Landesindigenat und eine Reichsangehörigkeit oder ein Bundesindigenat (s. d.). Die Reichsangehörigkeit setzt die S. in einem deutschen Einzelstaat voraus, sie wird mit der S. erworben und endigt mit derselben. Nach dem Bundes-(Reichs-) Gesetz vom 1. Juni 1870 über den Erwerb und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit wird die S., mit welcher also die Reichsangehörigkeit von selbst verbunden ist, erworben durch Abstammung von einem inländischen Vater und für uneheliche Kinder durch die Geburt von einer dem betreffenden Staat angehörigen Mutter, auch durch die nachfolgende Legitimation seitens des natürlichen Vaters; sodann seitens einer Ehefrau durch deren Verheiratung mit einem Staatsangehörigen und endlich für den Angehörigen eines Bundesstaats durch dessen Aufnahme in einen andern (Überwanderung) und für Ausländer oder Nichtdeutsche durch die Naturalisation (Einwanderung) derselben. Beides, Aufnahme u. Naturalisation, erfolgt durch die höhere Verwaltungsbehörde des betreffenden Staats und zwar die Aufnahme kostenfrei. Der Hauptunterschied zwischen Aufnahme und Naturalisation besteht darin, daß die Aufnahme jedem Angehörigen eines andern Bundesstaats erteilt werden muß, wenn er darum nachsucht und zugleich nachweist, daß er in dem Bundesstaat, in welchem er um die Aufnahme nachsucht, sich niedergelassen habe; es müßte denn einer der Fälle vorliegen, in welchen nach dem Freizügigkeitsgesetz die Abweisung eines Neuanziehenden oder die Versagung der Fortsetzung des Aufenthalts als gerechtfertigt erscheint. Dagegen besteht keine Verpflichtung zur Naturalisation eines Ausländers, deren allgemeine Voraussetzungen Dispositionsfähigkeit, resp. Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, Unbescholtenheit, Wohnung am Orte der Niederlassung und die Fähigkeit, sich und seine Angehörigen ernähren zu können, sind. Bei Staats-, Kirchen- und Gemeindedienern vertritt die Bestallung die Aufnahme- oder die Naturalisationsurkunde. Die S. geht verloren durch zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Ausland, es sei denn, daß sich der Betreffende im Besitz eines Reisepapiers oder Heimatscheins befindet; durch Verheiratung einer Inländerin mit einem Ausländer oder mit einem Angehörigen eines andern Bundesstaats sowie bei dem unehelichen Kind einer inländischen Frauensperson durch die Legitimation seitens des ausländischen Vaters. Außerdem geht die S. verloren durch die Entlassung, welche unbedenklich zu erteilen ist, wenn der zu Entlassende in einem andern deutschen Staate die S. erworben hat. Die Entlassung ist gegenüber Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum 25. Lebensjahr zu beanstanden, desgleichen Militärpersonen und den zum aktiven Dienst einberufenen Reservisten und Landwehrleuten gegenüber. Ferner kann ein Deutscher der S. und damit auch der Reichsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, wenn er ohne Erlaubnis seiner Regierung in fremde Staatsdienste tritt, oder wenn er im Fall eines Kriegs oder einer Kriegsgefahr im Ausland sich aufhält und einer Aufforderung zur Rückkehr innerhalb der hierzu gesetzten Frist keine Folge leistet. Dagegen geht die S. nicht dadurch verloren, daß man in einem andern Staat naturalisiert wird, wie dies in Frankreich der Fall ist. Deutschen, welche ihre S. durch zehnjährigen Aufenhalt im Ausland verloren haben, kann die S. in dem frühern Heimatstaat wieder verliehen werden, auch wenn sie sich in diesem Heimatstaat nicht wiederum niederlassen, wofern sie keine anderweite S. erworben haben. Sie muß ihnen wieder verliehen werden, wenn sie sich dort wieder niederlassen, selbst wenn sie inzwischen eine anderweite S. erworben haben sollten. Übrigens wird jene zehnjährige Frist durch Eintrag in die Matrikel eines Reichskonsuls auf weitere zehn Jahre unterbrochen. Die Bescheinigung über die S. heißt Staatsangehörigkeits-Ausweis (Heimatschein). Vgl. v. Martitz, Das Recht der S. im internationalen Verkehr (Leipz. 1875); Folleville, Traité de la naturalisation (Par. 1880); Cahn, Das Reichsgesetz über die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und S. (Berl. 1889). Staatsanleihen, s. Staatsschulden. Staatsanwalt, der zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in Rechtssachen und insbesondere in Untersuchungssachen bestellte Staatsbeamte; Staatsanwaltschaft (ministère public), die hierzu geordnete ständige Behörde. Dem Altertum war das Institut der Staatsanwaltschaft fremd. Man überließ es dem Verletzten oder seinen Familiengenossen, gerichtliche Genugthuung zu suchen, und nur zuweilen traten Redner mit einer öffentlichen Anklage hervor, ohne daß sie von Staats wegen dazu veranlaßt waren. Der Ursprung der S. ist in Frankreich zu suchen, woselbst die heutigen Staatsanwalte aus den fiskalischen Beamten (gens du roi, avocats généraux, procureurs du roi) hervorgingen, welche die königlichen Gerechtsame bei den Gerichten wahrnahmen und die fiskalischen Interessen zu vertreten hatten. Aber schon im Mittelalter wurde diesen Beamten auch die Wahrnehmung der öffentlichen Interessen verbrecherischen Handlungen gegenüber übertragen, und so entwickelte sich in Frankreich die strafprozessualische Thätigkeit der Staatsanwaltschaft als die hauptsächlichste, wenn auch nicht ausschließliche Berufssphäre derselben. Nach heutigem französischen Recht, wie dasselbe namentlich durch das Organisationsgesetz Napoleons I. vom 20. April 1810 normiert ist, gilt nämlich der S. überhaupt als Wächter des Gesetzes. Er tritt daher auch in bürgerlichen Rechte Staatsärar - Staatsarzneikunde. streitigkeiten, auch wenn das staatliche Interesse direkt dabei nicht in Frage kommt, in Thätigkeit. Der S. vermittelt ferner den Verkehr des Justizministeriums mit den Gerichten; er nimmt als Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft auch an Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit teil, vermittelt den Verkehr der Gerichte untereinander und mit dem Ausland, überwacht den Geschäftsgang der Gerichte, beantragt Disziplinaruntersuchungen, beaufsichtigt die Anwalte und die Subalternbeamten und überwacht das Gefängniswesen. In Strafsachen geht die Verfolgung aller verbrecherischen Handlungen und ebenso der Vollzug der Strafurteile von dem S. aus. Die Funktionen der Staatsanwaltschaft werden bei dem Kassationshof durch den Procureur général (Generalprokurator) und sechs Vertreter desselben (avocats généraux) wahrgenommen. Ebenso fungiert bei den Appellhöfen ein Generalprokurator, welchem Generaladvokaten und Substituten (substituts du procureur général) beigegeben sind. Bei den Untergerichten sind Staatsanwalte (procureurs de la république) und Substituten oder Gehilfen derselben bestellt, während bei den Polizeigerichten die staatsanwaltlichen Funktionen von Polizeikommissaren wahrgenommen werden. Nach diesem französischen Muster ist die Staatsanwaltschaft in den meisten europäischen Staaten eingerichtet worden; doch war es, wenigstens in Deutschland, die strafprozessualische Seite der staatsanwaltschaftlichen Thätigkeit, auf welche sich diese Nachahmung beschränkte, abgesehen von der in den Rheinlanden vollständig nach französischem Muster durchgeführten Justizorganisation. Die deutschen Justizgesetze von 1877 haben jene Einschränkung zur Regel erhoben. Die Zivilprozeßordnung kennt eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im öffentlichen Interesse nur in Ehesachen und im Entmündigungsverfahren, wenn es sich darum handelt, eine Person unter Zustandsvormundschaft zu stellen. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz aber erklärt ausdrücklich, daß den Staatsanwalten eine Dienstaufsicht über die Richter nicht übertragen werden dürfe. Das Amt der Staatsanwaltschaft selbst wird bei dem Reichsgericht durch einen Oberreichsanwalt und durch einen oder mehrere Reichsanwalte, bei den Oberlandesgerichten, den Landgerichten und den Schwurgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwalte und bei den Amts- und Schöffengerichten durch einen oder mehrere Amtsanwalte ausgeübt. Zum Oberreichsanwalt, zu Reichsanwalten und Staatsanwalten können nur zum Richteramt befähigte Beamte ernannt werden. Oberreichsanwalt und Reichsanwalte sind dem Reichskanzler untergeordnet, während hinsichtlich aller übrigen staatsanwaltschaftlichen Beamten die Landesjustizverwaltung das Recht der Aufsicht und Leitung ausübt; auch sind den ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und Landgerichten alle Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks untergeordnet. Die ersten Staatsanwalte bei den Oberlandesgerichten und in manchen Staaten auch die bei den Landgerichten führen den Titel Oberstaatsanwalt. Der frühere Amtstitel "Generalstaatsanwalt" für den S. bei den Gerichten höchster Instanz kommt nur noch als Auszeichnungstitel vor. Die Bezeichnung "Kronanwalt" ist nicht mehr üblich. In Österreich führt der S. bei dem obersten Gerichts- und Kassationshof in Wien den Titel "Generalprokurator". Bei den österreichischen Oberlandesgerichten fungieren Oberstaatsanwalte. Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Weisungen ihres Vorgesetzten nachzugehen. Die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sind Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und sind in dieser Eigenschaft verpflichtet, den Anordnungen der Staatsanwalte und der diesen vorgesetzten Beamten Folge zu leisten. Die Thätigkeit der Staatsanwaltschaft besteht nach der deutschen Strafprozeßordnung im wesentlichen in der Vorermittelung verbrecherischer Handlungen (Vorverfahren, Ermittelungs-, Skrutinialverfahren), in dem Antrag auf Voruntersuchung und dem Mitwirken bei derselben sowie in der Erhebung und Vertretung der öffentlichen Klage bei strafbaren Handlungen. Nur bei Körperverletzungen und Beleidigungen, soweit diese Vergehen auf Antrag verfolgt werden, ist es Sache des Verletzten oder des an seiner Stelle zur Stellung des Strafantrags Berechtigten, die Strafverfolgung mittels der Privatklage zu betreiben. Bloß dann, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint, übernimmt auch in solchen Fällen der S. die Strafverfolgung. Die sogen. subsidiäre Privatklage, d. h. das Recht des Verletzten, im Fall einer Ablehnung der Strafverfolgung seitens der Staatsanwaltschaft diese Strafverfolgung selbst zu betreiben, wurde in die Strafprozeßordnung nicht aufgenommen, obwohl sich der deutsche Juristentag dafür ausgesprochen hatte. Es ist aber für den Fall, daß die Staatsanwaltschaft dem bei ihr angebrachten Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage keine Folge gibt, nicht nur das Recht der Beschwerde an die vorgesetzte Dienstbehörde, sondern auch gegen einen ebenfalls ablehnenden Bescheid der letztern die Berufung auf gerichtliche Entscheidung statuiert. Diese geht von dem Oberlandesgericht und in den vor das Reichsgericht gehörigen Sachen von diesem selbst aus. Auf diese Weise ist also das sogen. Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft abgeschwächt. Übrigens kann die Staatsanwaltschaft gerichtlichen Entscheidungen gegenüber auch zu gunsten des Beschuldigten von den gesetzlich zulässigen Rechtsmitteln Gebrauch machen. Endlich ist auch die Strafvollstreckung Sache der Staatsanwaltschaft. In Preußen liegt übrigens dem S. auch die Überwachung der durch das Handelsgesetzbuch den Kaufleuten auferlegten Verpflichtungen ob. Vgl. Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz, § 142-153; Deutsche Strafprozeßordnung, § 151-175, 225 ff., 483 ff.; Österreichische Strafprozeßordnung, § 29 ff.; Berninger, Das Institut der Staatsanwaltschaft (Erlang. 1861); von Holtzendorff, Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft (Berl. 1865); Keller, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland (Wien 1866); Gneist, Vier Fragen zur Strafprozeßordnung (das. 1874); König, Die Geschäftsverwaltung der Staatsanwaltschaft in Preußen (Berl. 1882); Tinsch, Die Staatsanwaltschaft im deutschen Reichsprozeßrecht (Erlang. 1883); von Marck, Die Staatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten (Berl. 1884); Massabiau, Manuel du ministère public (4. Aufl., Par. 1876, 3 Bde.; "Répertoire" dazu, 1885). Staatsärar, s. v. w. Fiskus (s. d.). Staatsarzneikunde, derjenige Teil der Medizin, welcher der öffentlichen Gerichtsbarkeit und Gesundheitspflege dient. Der Begriff fällt im gewöhnlichen Sprachgebrauch mit demjenigen der gerichtlichen Medizin zusammen, das neuerrichtete Institut für S. in Berlin enthält außer einem Raum für die Leichenschau, in welchem unbekannte Verunglückte zur Rekognoszierung ausgestellt werden, auch die zum Unterricht in der gerichtlichen Medizin notwendigen Einrichtungen. Im weitern Sinn gehören zur S. Staatsausgaben - Staatsflandern. größere Teile der Gesundheitspflege (s. d.), der Medizinalpolizei, des Militärmedizinalwesens, allein sowohl im akademischen Unterricht als in der praktischen Verwaltung sind diese einzelnen Teile der S. völlig getrennte Fächer. Vgl. Kraus und Pichler, Encyklopädisches Wörterbuch der S. (Stuttg. 1872 bis 1878, 4 Bde.). Staatsausgaben, s. Finanzwesen, S. 267. Staatsbankrott, derjenige Zustand der Staatswirtschaft, bei welchem der Staat, sei es mit, sei es ohne ausdrückliche Erklärung, seine Schuldverbindlichkeiten nicht erfüllt oder sich Einnahmen verschafft, welche mit der Verfassung oder doch mit einer gesunden Finanzverwaltung im Widerspruch stehen. Wie jeder Private, kann auch der Staat in die Lage kommen, daß er unfähig wird, seinen Verpflichtungen zu genügen. Die formellen Folgen, welche eine Insolvenz dem Privatmann gegenüber hat, der Konkursprozeß, die Unfähigkeit zu eigner Vermögensverwaltung, treten alsdann freilich dem Staat gegenüber nicht ein, und es trägt demnach der S. den Charakter eines einseitigen Gewaltaktes. Derselbe kommt in folgenden Formen vor: 1) Repudiation der Staatsschulden, d. h. die Erklärung, daß der Staat seine Schulden oder einen Teil derselben überhaupt nicht verzinsen oder zurückzahlen werde. Eine solche Weigerung kam früher oft beim Wechsel der Regierung vor, indem die neue Regierung die von der frühern eingegangenen Verpflichtungen als ungesetzlich erklärte (einzelne nordamerikanische Freistaaten 1841, Dänemark 1850, welches das Anlehen der vom Deutschen Bund in Schleswig-Holstein eingesetzten Bundesregierung nicht anerkannte, Frankreich zur Revolutionszeit); 2) Einstellung der Zahlungen auf unbestimmte Zeit; 3) einseitige, d. h. ohne das Angebot etwaniger Heimzahlung, also ohne die Zustimmung der Gläubiger, herbeigeführte Zinsreduktion; 4) einseitige oder verhältnismäßig zu hohe Besteuerung der Koupons der Staatsschulden, also eine verschleierte Herabsetzung des Zinsfußes; 5) Ausgabe einer übermäßigen Menge Papiergeldes mit Zwangskurs. Vom moralischen Standpunkt muß jede Abweichung von der Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen um so mehr verurteilt werden, als dieselbe mit einer der ersten Aufgaben des Staats, der Wahrung der Rechtsordnung, im Widerspruch steht. Aber auch in finanzieller Beziehung ist sie zu mißbilligen, da sie für die Zukunft den Kredit des Staats erschwert und verteuert. Solide Staatsverwaltungen werden deshalb auch den Bankrott zu vermeiden suchen und sich bemühen, das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben durch wirtschaftliche Bemessung der letztern, Reorganisation der Verwaltung und zweckentsprechende Ausnutzung des Besteuerungsrechts herzustellen. Staatsbetrieb, der Betrieb von Unternehmungen durch den Staat, welche mehr oder weniger einen privatwirtschaftlichen Charakter tragen. Derselbe kann ganz auf dem Boden des freien Wettbewerbs stehen (Domänen, Forsten, Bergwerke), oder er ist im finanziellen Interesse (z. B. bei dem Tabaksmonopol) oder aus andern Gründen monopolisiert oder regasiert. Vgl. Aufwandsteuern und Regalien. Staatsbürger, im weitern Sinn jeder Staatsangehörige (s. Staatsangehörigkeit); im engern Sinn derjenige, welcher selbstthätig in der durch die Verfassung bezeichneten Weise an den öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt. Zu den Rechten des Staatsbürgers in diesem Sinn gehören insbesondere die Fähigkeit zu öffentlichen Ämtern und das aktive und passive Wahlrecht. Dieses Staatsbürgerrecht kann durch richterliches Urteil wegen Verbrechen und durch Konkurs ganz oder vorübergehend entzogen werden (s. Ehrenrechte). Staatsbürgereid, s. Huldigung. Staatsdienst, derjenige Dienst, der auf einem besondern, von der Staatsgewalt ausgehenden Auftrag beruht und den Beauftragten zur Verwaltung bestimmter Staatsangelegenheiten anweist. Hiernach schließt man vom S. jeden Dienst aus, worin nur die Erfüllung einer allgemeinen Bürgerpflicht liegt; ferner jeden Dienst, der, wenn auch zu seiner Ausübung eine Bevollmächtigung oder Bestätigung durch die Staatsgewalt erforderlich ist, doch nicht Staatsangelegenheiten, sondern nur Privatinteressen betrifft, welche den Staat bloß mittelbar berühren, wie namentlich die Funktionen der Privat- und Hofdiener des Fürsten, der Korporations- und Gemeindediener, der Diener der Kirche und aller, welche, wie Ärzte und Rechtsanwälte, nur die ihnen vom Publikum an vertrauten Angelegenheiten besorgen; endlich jeden Dienst, der, wenn auch auf öffentliche Zwecke gerichtet, doch nicht vom Inhaber der Staatsgewalt übertragen wird (Mitglieder der Ständeversammlung, Geschworne). Dagegen sind die Offiziere Staatsdiener, wenn auch der Ausdruck S. zuweilen auf den Zivildienst allein beschränkt wird. Insofern übrigens Kommunalbeamte mit gewissen Funktionen betraut sind, die von dem Staat auf die Gemeinde oder auf einen Kommunalverband übertragen wurden, pflegt man dieselben als mittelbare Staatsbeamte zu bezeichnen. Die Berufung zum S. geschieht durch das Staatsoberhaupt, in der Regel auf gutachtliche Vorschläge der vorgesetzten Behörden; bei Subalternbeamten pflegt die Anstellung von der Oberbehörde kraft erteilter Vollmacht seitens des Regenten auszugehen. Die Beschäftigung mit dem öffentlichen Dienst ist in der Regel eine ausschließliche, neben welcher andre regelmäßige Erwerbsgeschäfte nicht betrieben werden dürfen. Daher muß aber auch der Unterhalt durch ausreichende Besoldung (Gehalt) und für den Fall unverschuldeter Dienstuntüchtigkeit durch Gewährung eines Ruhegehalts gesichert werden (s. Pension). In der Regel darf der Staat den Beamten nicht ohne weiteres entfernen, sofern er nicht durch Vergehen oder durch ihm zuzurechnende Dienstunfähigkeit die Entfernung verschuldet. Ebensowenig kann der Beamte seinen Dienst ohne weiteres verlassen. Der Beamte ist dem Staatsoberhaupt Gehorsam schuldig und für seine Handlungen verantwortlich; er steht unter der staatlichen Disziplinargewalt (s. d.). Der Gehorsam ist aber nur ein verfassungsmäßiger; der Befehl muß von der zuständigen Behörde und in der gesetzmäßigen Form ergangen sein und in den Bereich des Dienstes fallen, um Gehorsam beanspruchen zu können; auch darf nichts gefordert werden, was dem allgemeinen Sitten- und dem Rechtsgesetz entgegen ist. Eine eigentümliche Stellung nehmen die Richter (s. d.) und die Minister (s. d.) ein, welch letztere mit ihrer Verantwortlichkeit die Handlungen des Fürsten decken. Im einzelnen sind die Rechtsverhältnisse der Staatsdiener (Staatsbeamten) in den meisten Staaten durch besondere Gesetze geregelt; für die deutschen Reichsbeamten insbesondere ist dies durch Reichsgesetz vom 31. März 1873 (mit Nachtragsgesetz vom 25. Mai 1887) geschehen (s. Reichsbeamte und die dort angeführte Litteratur). Staatseinnahmen, s. Finanzwesen, S. 268. Staatsflandern, s. Flandern. Staatsforstwissenschaft - Staatsrat. Staatsforstwissenschaft, die Lehre von dem Verhältnis des Staats zu den Forsten. Zur S. gehören die Forstpolitik, welche lehrt, wie dies Verhältnis sein soll, und das Forstverwaltungsrecht, welches das rechtlich geordnete Verhältnis, wie es ist, darstellt. S. Forstpolitik u. Forstverwaltung. Staatsgarantie, die von der Staatsregierung übernommene Bürgschaft, vermöge deren sie für die vertragsmäßige Rückzahlung und Verzinsung einer von einem Dritten gewirkten Schuld einsteht. Der hauptsächlichste Fall einer solchen S. ist der, daß der Staat, um das Zustandekommen eines im öffentlichen Interesse wünschenswerten Eisenbahnbaues zu ermöglichen, den Aktionären eine bestimmte Dividende "garantiert", d. h. alljährlich für einen gewissen Prozentsatz einsteht, für welchen er dann selbst aufzukommen hat, wenn und soweit die Einnahmen der Bahn nicht ausreichen. Auch kommt es vor, daß der Staat für die Verzinsung und Amortisation einer Anleihe einsteht, welche im Interesse einer Eisenbahnanlage kontrahiert wird. Zuweilen wird eine solche Eisenbahngarantie seitens des Staats nur auf eine bestimmte Reihe von Jahren übernommen, auch kommt dabei eine sogen. Rückgarantie vor, welche darin besteht, daß gewisse bei dem Bahnbau besonders interessierte Gemeinden, Korporationen etc. sich verpflichten, den Staat für den Fehlbetrag, für welchen er eventuell aufzukommen hat, ganz oder teilweise schadlos zu halten. In konstitutionellen Staaten ist zur Übernahme einer S. die Zustimmung der Volksvertretung nötig. Staatsgefangene, Gefangene, welche nicht wegen eines begangenen Verbrechens durch gerichtliches Urteil der Freiheit beraubt waren, sondern die man eingekerkert hatte, weil es das Interesse des Staats oder Fürstenhauses zu fordern schien. Staatsgerichtshof, derjenige Gerichtshof eines Landes, welcher über die gegen einen Minister erhobene Anklage wegen Verfassungsverletzung zu entscheiden hat. In England ist die Peerskammer der S., während in den meisten deutschen Staaten das oberste Gericht des Landes die Funktionen des Staatsgerichtshofs auszuüben hat oder, wie in Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg, ein besonderer Gerichtshof in solchem Fall niedergesetzt wird, und zwar in der Weise, daß Krone und Stände gleichmäßig dessen Besetzung bewirken. S. wird auch die zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden bestellte Behörde genannt, endlich auch das zur Aburteilung schwerer politischer Verbrechen bestellte Ausnahmegericht. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz (§ 136) verweist Verbrechen der letztern Art, sofern sie gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind, vor das Reichsgericht. Staatsgewalt, s. Staat, S. 195. Staatsgrundgesetz, s. Staatsverfassung. Staatsgut, s. v. w. Domäne (s. d.). Staatshandbuch (Staatsadreßbuch, Staatskalender), Namensverzeichnis der Beamten eines Staats, insbesondere die offizielle Darstellung eines Hof- und Staatswesens unter Aufführung aller oder doch der höhern Staats- und Hofbeamten unter Hinzufügung genealogischer und statistischer Notizen. Wahrscheinlich ist der französische "Almanach royal" (1679 von dem Buchhändler Laurent Houry in Paris gegründet) der Vorläufer der Staatshandbücher. Im 18. Jahrh. erschienen ähnliche Almanache nach und nach in allen, selbst in den kleinsten, europäischen Staaten sowie in den verschiedenen Gebieten des damaligen Deutschen Reichs. Die ersten darunter waren: das "Namensregister für die vereinigten Niederlande" (1700), der "Preußisch-brandenburgische Staatskalender" (seit 1704), der "Regensburger Komitialkalender" (seit 1720), der "Kursächsische Staatskalender" (seit 1728), der englische "Royal calendar" (seit 1730) etc. Auch der "Gothaische Genealogische Hofkalender" nebst "Diplomatisch-statistischem Jahrbuch" (1889 im 126. Jahrgang erscheinend) ist hier zu nennen. Wie jetzt für die meisten europäischen Staaten amtlich redigierte Staatshandbücher herausgegeben werden, z. B. für Preußen das "Handbuch über den königlich preußischen Hof und Staat", so wird auch ein "Handbuch für das Deutsche Reich" (Berl. 1876 ff.) vom Reichsamt des Innern herausgegeben. Staatshaushalt, s. Finanzwesen und Budget. Staatshaushaltskontrolle, die Gesamtheit derjenigen Einrichtungen, durch welche festgestellt werden soll, ob die Finanzverwaltung des Staats unter Beobachtung des Etatsgesetzes und der sonstigen gesetzlichen Schranken erfolgt ist. Die Befugnis der Volksvertretung, nach Ablauf der Budgetperiode die Staatsrechnungen zu prüfen und die Entlastung der Staatsregierung auszusprechen, ist eine notwendige Folge des Budgetrechts selbst. Dieser parlamentarischen S. geht aber regelmäßig eine Prüfung der Staatsrechnungen durch eine unabhängige Revisionsbehörde voraus, so z. B. in Preußen durch die Oberrechnungskammer (s. d.), welche auch als Rechnungshof für das Deutsche Reich fungiert. In manchen Kleinstaaten findet diese Vorprüfung durch einen Finanzausschuß des Landtags unter Zuziehung eines Finanzministerialbeamten statt. Staatshoheit (Souveränität), die dem Staat als solchem zukommende Unabhängigkeit, vermöge deren er selbst sich die Gesetze seines Handelns gibt und an fremden Staaten nur die gleiche Unabhängigkeit zu achten hat. Die S. ist mit dem Dasein des Staats selbst gegeben, ohne daß es der völkerrechtlichen Anerkennung bedarf; vielmehr kann und muß jeder Staat die Achtung seiner S. von andern Staaten fordern. Thatsächliche Verhältnisse haben aber zur Bildung halb souveräner Staaten geführt, welche der Oberhoheit (Suzeränität) eines andern unterworfen sind; auch kommen in den sogen. zusammengesetzten Staaten Beschränkungen der S. der Einzelstaaten im Interesse des Gesamtstaats vor (s. Staat). Staatskreditzettel, s. v. w. Schatzscheine (s. d.). Staatskunst, s. Politik. Staatsministerium, s. Minister. Staatsnotrecht, s. Notrecht. Staatspapiere nennt man alle Schuldverschreibungen, welche über die Einzelbeträge ausgestellt sind, in die eine vom Staat aufgenommene Schuld zerlegt ist. Im weitern Sinn umfassen sie auch die unverzinslichen Papiere (Papiergeld oder Staatsnoten, Kassenanweisungen), im engern nur die verzinslichen (Staatsobligationen, Staatseffekten, Schatzscheine), bez. mit Gewinnaussicht verbundenen (Prämienscheine, Losbriefe). Vgl. Staatsschulden. Staatspraxis, s. v. w. praktische Politik. Staatsrat, Kollegium, welches die wichtigsten Staatsangelegenheiten in gutachtliche Beratung zieht und sich über die Grundsätze für deren weitere Behandlung ausspricht. Durch das Vertrauen des Fürsten aus hochgestellten und erfahrenen Personen berufen, hat der S. die Aufgabe, Einheit in die Maßregeln der einzelnen großen Verwaltungszweige zu bringen und demnach teils die Organisation der Staatsverwaltung im ganzen, teils die Grundlagen der Gesetzgebung, teils die auswärtigen Verhältnisse Staatsrechnungshof - Staatsromane. zu beraten. In Preußen (Verordnungen vom 20. März 1817 und 6. Jan. 1848) war der S. bis 1848 eine wichtige Institution, deren Bedeutung jedoch mit der Entwickelung des Konstitutionalismus nahezu aufhörte, wenn auch ein Erlaß vom 12. Jan. 1852 eine Wiederbelebung versucht hat. Auch der 1884 gemachte Wiederbelebungsversuch und die Übertragung des Vorsitzes auf den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm hatten keinen nennenswerten Erfolg. Der S. setzt sich zusammen aus den Prinzen des königlichen Hauses, sobald sie das 18. Lebensjahr erreicht haben, und aus den Staatsdienern, welche durch ihr Amt zu Mitgliedern des Staatsrats berufen sind, nämlich dem Präsidenten des Staatsministeriums, den Feldmarschällen, den aktiven Staatsministern, dem Chefpräsidenten der Oberrechnungskammer, dem Geheimen Kabinettsrat und dem Chef des Militärkabinetts. Ferner haben die kommandierenden Generale und die Oberpräsidenten, wenn sie in Berlin anwesend sind, Sitz und Stimme im S. Dazu kommen dann diejenigen Staatsdiener, welchen aus besonderm königlichen Vertrauen Sitz und Stimme im S. beigelegt ist. Derartige Ernennungen erfolgten 1884 in beträchtlicher Anzahl. Auch in Bayern, Elsaß-Lothringen, Sachsen und Württemberg besteht ein S. Vgl. Sailer, Der preußische S. (Berl. 1884). In der absoluten Monarchie, insbesondere in Rußland, ist der S. (in Rußland "Reichsrat") eine Art Ersatz der Volksvertretung. In manchen Staaten ist S. auch Titel für höhere Staatsbeamte, namentlich für die verantwortlichen Vorstände von Ministerialabteilungen, in Rußland auch für verdiente Staatsrechnungshof, s. Oberrechnungskammer. Staatsrecht (Jus publicum) im weitern Sinn s. v. w. öffentliches Recht; im engern und eigentlichen und zwar im subjektiven Sinn wird damit unter Ausscheidung des Straf- und Prozeßrechts, des Kirchen- und Völkerrechts der Inbegriff der Rechte und Pflichten bezeichnet, welche durch das Staatswesen für die Regierung und für die Regierten im Verhältnis zueinander und für die letztern untereinander begründet, im objektiven Sinn die Gesamtheit derjenigen Rechtsgrundsätze, durch welche jene Rechte und Pflichten normiert werden. Je nachdem nun diese Grundsätze unmittelbar aus dem Begriff und aus dem Wesen des Staats überhaupt abgeleitet und entwickelt werden, oder je nachdem es sich um die positiven Satzungen eines bestimmten Staats, z. B. des Deutschen Reichs, handelt, wird zwischen allgemeinem (philosophischem, natürlichem) und besonderm (positivem, historischem) S., z. B. dem S. des Deutschen Reichs, unterschieden. Ferner unterscheidet man nach den Gegenständen, auf welche sich jene Satzungen beziehen, zwischen äußerm und innerm S., je nachdem es sich um die äußern Verhältnisse und um die Stellung des Staats andern Staaten gegenüber oder um innere Staatsangelegenheiten handelt. Für Deutschland insbesondere war zur Zeit des frühern Deutschen Reichs die Einteilung in Reichsstaatsrecht und Territorial- oder Landesstaatsrecht von Wichtigkeit, indem man damit die auf Verfassung und Regierung des Reichs bezüglichen Satzungen den für die einzelnen Territorien besonders gegebenen staatsrechtlichen Bestimmungen gegenüberstellte, eine Einteilung, welche nach der Errichtung des neuen Deutschen Reichs, und nachdem so die bisherige Einteilung in Bundesrecht und Landesstaatsrecht hinweggefallen, wiederum praktische Bedeutung gewonnen hat. Ferner pflegt man neuerdings aus dem S. das Verwaltungsrecht auszuscheiden, als den Inbegriff derjenigen Rechtsgrundsätze, nach welchen sich die Thätigkeit der Verwaltungsorgane in den einzelnen Fällen richtet. Dem S. (Verfassungsrecht) verbleibt alsdann die Lehre von dem Herrschaftsbereich und von der Organisation der Staatsgewalt (Monarch, Volksvertretung, Behörden, Kommunalverbände), von ihren Funktionen und von den Rechtsverhältnissen der Unterthanen. Die staatsrechtliche Litteratur, namentlich die deutsche, ist eine sehr reichhaltige. Die zahlreichen Publizisten des 16. und 17. Jahrh., unter denen besonders Pufendorf, Leibniz, Cocceji und Thomasius zu nennen sind, wurden von J. J. Moser durch die Gründlichkeit, womit er in seinen zahlreichen Schriften die verschiedenen Zweige des Staatsrechts behandelte, und von Pütter, dem größten Staatsrechtslehrer des vorigen Jahrhunderts, übertroffen, welcher auf historischer Grundlage zuerst einer systematischen Bearbeitung des Staatsrechts die Bahn eröffnete. Unter den neuern Systemen des Staatsrechts sind die von Zachariä (3. Aufl., Götting. 1865-67, 2 Bde.), Zöpfl (5. Aufl., Leipz. 1863), Held (Würzb. 1856-57, 2 Bde.), Gerber (3. Aufl., Leipz. 1880), Laband (Tübing. 1876-82, 3 Bde.), G. Meyer (2. Aufl., Leipz. 1885), Zorn (Berl. 1880-83, 2 Bde.), H. Schulze (Leipz. 1881), Kirchenheim (Stuttg. 1887) und Gareis u. Hinschius (Freib. 1887) hervorzuheben. Unter den Bearbeitungen des partikulären Staatsrechts, von welchen besonders die von Schulze (Preußen), Mohl (Württemberg), Pözl (Bayern), Milhauser (Sachsen) und Wiggers (Mecklenburg) zu nennen sind, steht Rönnes "S. der preußischen Monarchie" (4. Aufl., Leipz. 1882 ff., 5 Bde.) obenan. Ebenso ist unter den systematischen Bearbeitungen des deutschen Reichsstaatsrechts der Gegenwart das Werk von Rönne (2. Aufl., Leipz. 1877) wegen seiner Reichhaltigkeit und Gründlichkeit von Bedeutung. Um die Bearbeitung des allgemeinen Staatsrechts hat sich namentlich Bluntschli verdient gemacht, welcher in der "Deutschen Staatslehre für Gebildete" (2. Aufl., Nördling. 1880) auch eine populäre Darstellung des Staatsrechts zu geben versuchte. Vgl. außer den angeführten Lehr- u. Handbüchern des Staatsrechts: Bluntschli, Lehre vom modernen Staat (Stuttg. 1875 ff.), Bd. 1. "Allgemeine Staatslehre", Bd. 2: "Allgemeines S." (6. Aufl. des frühern Werkes, welches unter diesem Titel erschien), Bd. 3: "Politik"; Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege (Tübing. 1880); Marquardsen, Handbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (in Einzelbeiträgen, Freib. 1885 ff.); Hirth, Annalen des Deutschen Reichs (Leipz. 1871 ff.). Encyklopädische Werke: Rotteck u. Welcker, Staatslexikon (3. Aufl., Leipz. 1856-66, 14 Bde.); Bluntschli und Brater, Staatswörterbuch (Stuttg. 1856-70, 11 Bde.); kleinere Lexika von K. Baumbach (Lpz. 1882), Rauter (Wien 1885) u. a. Staatsromane, Schriften, welche in der Form eines Romans die Zustände und Einrichtungen eines Staats behandeln, und zwar indem sie "den realen Erscheinungen des staatlichen Lebens gegenüber ein Ideal aufstellen, welchem sie das Gewand der Wirklichkeit geben". Werke ähnlicher Art finden sich schon bei den Griechen; wir erinnern nur an Platons "Republik" und Xenophons "Kyropädie". In der modernen Litteratur eröffnete den Reigen der S. Thomas Morus' "Beschreibung der Insel Utopia (1515), der sich ein Jahrhundert später des Dominikanermönchs Thomas Campanella "Sonnenstaat" ("Civitas solis", 1620; deutsch von Grün, Darmst. 1845), J. Valentin Andreäs "Reipublicae christiano-poli- Staatsschatz - Staatsschulden. tanae descriptio" (1619), Bacons "Nova Atlantis" (geschrieben um 1624), Harringtons "Oceana" (1656) u. a. anreihten. Aus späterer Zeit sind hervorzuheben: Fénelons "Télémaque" (1700) nebst Ramsays "Voyages de Cyrus" (1727); Holbergs "N. Klimii iter subterraneum" (1741); Morellys "Naufrage des îles flottantes, ou la Basiliade" (1753) und "Code de la nature" (1755); Stanislaus Leszczynskis "Entretien d'un Européen avec un insulaire du royaume de Dimocala" (1756); Fontenelles (?) "République des philosophes" (1768); Albr. v. Hallers Romantrilogie "Usong" (1771), "Alfred, König der Angelsachsen" (1773) und "Fabius und Cato" (1774); Wielands "Goldener Spiegel" (1772); Cabets "Voyage en Icarie" (1840) u.a. Vgl. R. v. Mohl, Die S. (in seiner "Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften", Bd. 1, Erlang. 1855). Staatsschatz, s. v. w. Staatskasse, insbesondere ein Vorrat an barem Geld, welcher vom Staat für außergewöhnliche Bedürfnisse, vornehmlich zur Deckung der ersten großen Ausgaben vor Ausbruch und bei Beginn eines Kriegs zurückgelegt und unter besonderer Verwaltung gehalten wird. Ein solcher Schatz wurde früher von Herrschern im dynastischen Interesse (Perser, orientalische Fürsten) erhalten. Gegenwärtig hat nur das Deutsche Reich einen S. von Bedeutung. In Preußen, wo Friedrich Wilhelm I. einen ansehnlichen S. bildete, mußten Etatsüberschüsse, sofern über dieselben nicht anderweit durch Gesetz verfügt war, in den S. abgeliefert werden, ohne daß für die Höhe eine Grenze gesetzt war. 1866 wurde, nachdem der vorhandene Schatz für Kriegszwecke verwandt worden war, ein neuer S. im Betrag von 30 Mill. Thlr. gebildet. An dessen Stelle ist 1871 der Reichskriegsschatz (s. d.) getreten. Die volkswirtschaftlichen, teilweise aus merkantilistischen Überschätzungen des Geldes hervorgegangenen Bedenken, welche man früher gegen den S. hegte, als werde durch denselben dem Verkehr produktives Kapital entzogen, halten nicht Stich gegenüber dem Bedürfnis, bei unvermutetem Ausbruch eines Kriegs auf eine bereite Summe rasch zurückgreifen zu können, ohne durch sofortige Ausschreibung von Kriegssteuern Mißtrauen zu erregen oder sich der Gefahr auszusetzen, bei Auflegung eines Anlehens nicht die ganze gewünschte Summe zu erhalten oder dasselbe zu allzu niedrigem Kurs begeben zu müssen. Wie viele andre Güter, welche für den Fall eines Bedürfnisses bereit gehalten werden müssen, ist der S., auch wenn er keine Zinsen trägt, keineswegs als totes Kapital zu betrachten, sobald er nur seinen Zweck erfüllt. Übrigens ist die Notwendigkeit der Ansammlung eines Staatsschatzes eine durchaus relative, indem sie durch die politische Stellung des Staats, Beschaffenheit des Staatsgebiets, Ausbildung des Kreditwesens etc. bedingt ist. Staatsschrift, s. Deduktion. Staatsschuldbuch, amtliches Register, in welches Darlehnsforderungen an die Staatskasse in der Form von Buchschulden eingetragen werden können. Nach dem preußischen Gesetz vom 20. Juli 1883 kann der Inhaber einer Schuldverschreibung der konsolidierten Staatsanleihe gegen Einlieferung des Schuldbriefs die Eintragung dieser Schuld in das bei der Hauptverwaltung der Staatsschulden geführte S. beantragen. Dadurch entsteht eine Buchschuld des Staats auf den Namen des eingetragenen Gläubigers. Dieser Eintrag vertritt die Stelle einer Obligation. Der Gläubiger erhält zwar über den erfolgten Eintrag eine Benachrichtigung, allein diese Benachrichtigung ist auch nichts weiter als eine solche; sie repräsentiert nicht wie die Staatsobligation die Forderung selbst. Da noch ein zweites Exemplar des Staatsschuldbuchs an einem andern Ort geführt wird, so ist durch das S. der Vorteil einer absoluten Sicherheit gegeben. Das S. ist so für Stiftungen, Fideikommisse, vormundschaftliche und ähnliche Vermögensverwaltungen, aber auch für einzelne Privatpersonen von großer Wichtigkeit. Durch Löschung der Buchschuld und Ausreichung eines neuen Inhaberschuldbriefs kann der betreffenden Forderung die Zirkulationsfähigkeit wiedergegeben werden. Vgl. "Amtliche Nachrichten über das preußische S." (3. Ausg., Berl. 1888). In Frankreich wurde ein S. (Grand-livre de la dette publique) schon durch Gesetz vom 24. Aug. 1793 eingeführt. Staatsschulden. Auch bei durchaus geordnetem Staatsleben ist eine unmittelbare Deckung der erforderlichen Ausgaben nicht immer möglich. Oft können Leistung und Gegenleistung der Natur der Sache nach sich nicht sofort begleichen, und es sind infolge dessen Kreditverträge unvermeidlich. Hieraus entspringen die sogenannten Verwaltungsschulden, d. h. diejenigen, welche aus der Wirtschaftsführung der einzelnen Verwaltungszweige hervorgehen, und die innerhalb des Rahmens der diesen Zweigen überwiesenen Kredite oder ihrer eignen Einnahmen ihre Tilgung finden (A. Wagner). Zu unterscheiden hiervon sind die Finanzschulden, d. h. solche, welche die allgemeine Finanzverwaltung macht. Dieselben werden zum Teil nur zu dem Zweck aufgenommen, um in einer Finanzperiode den Etat kassengeschäftlich durchzuführen. Einnahmen und Ausgaben sind in einer solchen Periode nicht immer gleich hoch, wenn sie sich auch summarisch begleichen. Erfolgen die Einnahmen erst später, während vorher die entsprechenden Ausgaben zu bestreiten sind, so kann man sich durch Aufnahme einer vorübergehenden Anleihe, einer sogen. schwebenden Schuld (franz. dette flottante, engl. Floating debt, flottierende Schuld, auch unfundierte Schuld genannt) helfen, deren Rückzahlung mit Hilfe jener bestimmten Einnahmen in Aussicht genommen werden kann. Die übliche Form solcher Schulden ist die Ausgabe von verzinslichen, zu festgesetzter Zeit wieder einlösbaren Schatzscheinen (s. d.). Dem Wesen nach sind hierher auch alle diejenigen Schulden zu rechnen, welche dazu dienen, um Störungen infolge unerwarteter Mindereinnahmen oder Mehrausgaben zu begleichen, die in der folgenden Finanzperiode ihre Deckung finden sollen und meist ebenfalls durch Begebung von Schatzscheinen aufgenommen werden können. Solche schwebende Schulden werden oft prolongiert und dadurch thatsächlich zu dauernden. Sie werden aber auch oft, wenn die Finanzverwaltung mehr nur die Bedürfnisse der Gegenwart ins Auge faßt, formell in bleibende oder fundierte Schulden umgewandelt. Überhaupt gehören zu den schwebenden Schulden alle kurzfristigen und stets fälligen Verbindlichkeiten, insbesondere die verschiedenen Depositenschulden, welche in Frankreich (Caisse des depôts et des consignations) einen hohen Betrag ausmachen. Ursprünglich bezeichnete man als fundierte Schulden solche, für deren Verzinsung und Tilgung bestimmte Einnahmen vorgesehen oder auch verpfändet waren. Heute, wo diese Art der Fundierung meist außer Gebrauch gekommen ist, nennt man fundierte Schulden schlechthin solche, für welche eine rasche Rückzahlung nicht vorgesehen oder eine bestimmte Tilgungspflicht nicht übernommen wird. Da grund- Staatsschulden (Arten der Staatsanleihen, Emission). sätzlich die ordentlichen Ausgaben durch ordentliche Einnahmen gedeckt werden sollen, so dürfte die Aufnahme von dauernden Schulden nur in Frage kommen, wenn es sich darum handelt, Mittel zur Ermöglichung außergewöhnlicher Aufwendungen zu beschaffen, wie sie im Interesse des Schutzes und der Selbsterhaltung (Krieg) oder in demjenigen einer positiven Wohlfahrtsförderung durch Ausführung kostspieliger Unternehmungen (Meliorationen, Flußregulierungen, Bahnbau etc.) nötig werden. Da nun in solchen Fällen alle Aufwendungen tatsächlich jetzt schon gemacht werden, so sind auch alle Opfer von der Gesamtheit heute schon zu tragen, sie können nicht der Zukunft durch Aufnahme von Anlehen zugewälzt werden. Dieser Umstand gab zur Forderung Veranlassung, es sollten auch alle außerordentlichen Ausgaben durch Besteuerung gedeckt werden. Man übersieht jedoch hierbei, daß alle Ausgleichungen von Störungen des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts mit Opfern verknüpft sind, ferner daß, wenn auch bei der Steuer wie beim Anlehen die jetzt aufzulegende Last die gleiche ist, doch nicht in beiden Fällen die gleichen Personen als Träger derselben erscheinen. Die Steuer muß von allen Staatsangehörigen entrichtet werden ohne Rücksicht darauf, ob die Summen überall gleich verfügbar sind. Bei dem freiwilligen Anlehen werden dagegen vorwiegend die disponibleren Summen angeboten. Strömt bei demselben auch Kapital aus dem Ausland zu, so führt die augenblickliche örtlich-persönliche Übertragung der Last auch für das ganze Volk zu einer zeitlichen, indem die jetzige Aufwendung von einer spätern Generation bei der Tilgung getragen wird. Was hier von Volk zu Volk, das tritt im andern Fall von Klasse zu Klasse ein. Insofern kommt auch hier eine zeitliche Überwälzung der Last vor. Eine solche Überwälzung ist an und für sich gerechtfertigt, wenn den spätern Steuerträgern auch die Vorteile der außerordentlichen Aufwendung zu gute kommen. Zu ungunsten der Besteuerung kann noch weiter der Umstand sprechen, daß die Veranlagung derselben praktisch immer unvollkommen ist, Ungleichmäßigkeiten aber um so schwerer empfunden werden, je höher die Steuer ist. Hiernach kommen bei der Frage, ob Anlehen oder Besteuerung, im wesentlichen die Wirkung der Steuerauflegung und die der außerordentlichen Aufwendung in Betracht. Ist letztere sehr hoch, und kommt sie den spätern Staatsangehörigen vorzüglich zugute, so ist das Anlehen, im andern Fall die Besteuerung am Platz. Da nun ersteres die Möglichkeit der Lastenüberschiebung bietet, so gibt es allerdings leicht Veranlassung zu unwirtschaftlichen Mehrausgaben, welche unterblieben wären, wenn man sie sofort hätte decken müssen. Für das Anlehen wird weiter geltend gemacht, daß dasselbe Gelegenheit zu sicherer Kapitalanlage biete, infolgedessen zu Fleiß und Sparsamkeit anrege und in den Gläubigern konservative staatserhaltende Kräfte schaffe, während freilich damit auch die Bildung müßiger Rentnerexistenzen veranlaßt wird. Arten der Staatsanleihen. Emission. Man unterscheidet freiwillige und erzwungene oder Zwangsanleihen. Zu letztern rechnet man die Einziehung von Bank- und Kautionskapitalien, Einstellung fälliger Zahlungen, erzwungene Steuervorschüsse, die eigentlichen Zwangsanleihen mit Zins- und Tilgepflicht, dann auch die Ausgabe von Papiergeld. Die eigentlichen Zwangsanleihen, früher auch patriotische Anleihen genannt, kommen beider heutigen Kreditentwickelnng nur noch selten vor, und man greift in der Not schon lieber zum Mittel der Ausgabe von Papiergeld (s. d.). Letzteres bildet jedoch als unverzinsliche Schuld ein verlockendes, deshalb aber auch gefährliches Mittel. Der Verkehr wird jeweilig bis zu einer gewissen Menge Papiergeld willig annehmen, ohne daß der Kurs unter pari sinkt. Dies geschieht jedoch, sobald jene Grenze überschritten wird, ohne daß dafür gesorgt ist, daß die überschüssige Menge bei vorhandenen Einlösungsstellen wieder zurückfließen kann. Der Zwangskurs führt somit von jener Grenze ab zur Entwertung, welche für Geldwesen, Verkehr und Staatskredit gleich schädlich ist. Die freiwilligen Anlehen sind innere, wenn sie im Inland aufgelegt werden, was jedoch nicht ausschließt, daß sich bei denselben auch fremdes Kapital beteiligt. Die äußern Anlehen werden im Ausland aufgenommen und lauten dann auf fremde Währung oder auf mehrere in ein festes Verhältnis zu einander gesetzte Geldsorten. Bei unentwickeltem Kredit müssen den Gläubigern besondere Sicherheiten bestellt werden. Dies geschah früher durch Verpfändung von Domänen und Landesteilen, durch "Radizierung" von Verzinsung und Tilgung auf bestimmte Einnahmequellen, welche auch oft den Gläubigern zur eignen Verwaltung überwiesen wurden. In modernen Kulturstaaten mit entwickeltem Kredit ist die Verpfändung nicht mehr nötig. An ihre Stelle tritt der allgemeine auf Reichtum des Volkes u. Vertrauenswürdigkeit seiner Regierung gegründete Staatskredit, von dessen Höhe Zins und Emissionskurs abhängen. Die Begebung (Emission) von Staatsanleihen erfolgt entweder auf direktem Weg, indem der Staat sich unmittelbar an die Kapitalisten wendet, oder indirekt, indem der Staat sich der Zwischenhändler bedient. Im erstern Fall kann der Staat die Anlehenspapiere (Staatsschuldscheine, Staatspapiere) auf eigne Rechnung durch Agenten und Makler gegen Provision verkaufen (Kommissionsanleihe, weil das Zusammenbringen der Zeichnungen in Kommission gegeben wird), was bei kleinen Beträgen anwendbar ist, bei großen leicht einen Kursdruck bewirkt, oder er befolgt das französische System des beständigen Rentenverkaufs durch Hauptsteuereinnehmer, welche das Recht haben, Inskriptionen im großen Buch vorzunehmen und Schuldtitel auszustellen, oder endlich, er beschreitet bei großem Bedarf den Weg der Auflegung zur allgemeinen öffentlichen Subskription. Bei letzterer werden die Kapitalbesitzer unmittelbar aufgefordert, an bestimmten Stellen (Zeichen-, Subskriptionsstellen) ihre Erklärung zur Beteiligung an dem Anlehen in vorgeschriebener Weise kundzugeben und gegen meist ratenweise Einzahlung die betreffenden Dokumente in Empfang zu nehmen. Wird der geforderte Betrag überzeichnet, so findet gewöhnlich eine Reduktion nach Verhältnis der gezeichneten Summen statt. Die indirekte Emission (Negoziation) kommt meist in der Form der Submission vor. Der Staat fordert größere Geldinstitute, bez. Bereinigungen von solchen (Konsortien) auf, ein Angebot zu stellen, leiht die erforderliche Summe von demjenigen, welcher sich unter sonst gleich günstigen Bedingungen mit dem geringsten Gewinnsatz begnügt, also den höchsten Kurs zahlt, und überliefert ihm hierauf die bedungenen Obligationen, welche der Darleiher bei dem Publikum durch Subskription, Verkauf an der Börse oder sonst unter der Hand zu möglichst hohem Kurs auf eigne Rechnung unterzubringen sucht. Der gewöhnlich in Prozenten des Anleihekapitals ausgedrückte Gewinn, den hierbei der Übernehmer der Anleihe er- Staatsschulden (Kündigung, Tilgung, Konversion). zielt, heißt Bonus. Derselbe kann um so kleiner sein, je größer der Staatskredit und je mehr Kapital auf dem Geldmarkt zur Verfügung steht. Auch können die Unternehmer, statt unmittelbar die Obligationen an den Staat zu bezahlen, die Garantie für ein bestimmtes Minimalerträgnis übernehmen. Diese Form der Emission bietet den Vorteil, daß die gewünschte Summe vollständig beschafft wird und alle einzelnen Punkte in Bezug auf Zahlung, Raten und Fristen von vornherein festgestellt werden können. Dagegen kommt sie leicht sehr teuer, wenn die Darleiher wegen hohen Risikos auf hohen Gewinn rechnen müssen. Darum wird, wenn die Summe nicht plötzlich ihrem vollen Betrag nach aufzubringen ist und der Kredit des Darlehensnehmers einen hohen Emissionskurs anzusetzen gestattet, ohne daß aus einem submissionsweisen Unterbieten erhebliche Vorteile zu erwarten wären, die direkte Emission am Platze sein. In besonders kapitalreichen Ländern, welche der Garantie durch Bankiers nicht bedürfen, werden mit der Subskription überhaupt leicht günstigere Erfolge erzielt. Die Anlehenspapiere werden meist unter pari begeben, so daß der wirkliche Zinssatz unter den Nominalzinsfuß zu stehen kommt. Je höher der vom Nominalbetrag gewährte Zins, um so höher kann der Emissionskurs sein. Ob nun ein niedriger Nominalzinsfuß mit geringem oder ein hoher mit hohem Kurs vorzuziehen ist, hängt im wesentlichen von der Art der Tilgung und den Schwankungen des landesüblichen Zinssatzes ab. Ist ein Sinken des Zinses wahrscheinlich und Gefahr vorhanden, daß der Staat kündigt, sobald der Kurs über pari gestiegen ist, so wird die Neigung größer sein, Papiere zu nehmen, die zu geringem, als solche, die zu hohem Nominalzins ausgeboten werden. Infolgedessen werden Papiere der erstern Art zu verhältnismäßig höherm Kurs begeben werden können. Allerdings wird damit auch die Tilgung erschwert, indem bei der Einlösung der Nennbetrag zurückzuzahlen Die Staatsschuldscheine lauten entweder auf den Inhaber oder auf Namen. Im letztern Fall werden die Namen der Besitzer im Staatsschuldbuch (s. d.) eingetragen. Die Übertragung auf Dritte erfolgt durch Umschreibung, kann aber auch durch Ausgabe von Certifikaten (s. d.) erleichtert werden. Einzelne Staaten besorgen auf Wunsch die Umwandlung von Inhaberpapieren in Namenpapiere und umgekehrt (vgl. Außerkurssetzung). Die Papiere selbst bestehen aus der eigentlichen Schuldurkunde und, wenn sie periodisch auszuzahlende Zinsen tragen, aus dem meist mit einem Talon versehenen Kouponbogen (s. Koupon). Der Nominalbetrag lautet auf abgerundete Summen, und zwar sind die Appoints so zu wählen, daß auf genügende Beteiligung desjenigen Publikums gerechnet werden darf, dessen Zuziehung als erwünscht erscheint. Kündigung. Tilgung. Die Staatsschuld kann sein 1) eine von beiden Seiten aufkündbare. Eine solche kann zur Bedrängnis der Finanzverwaltung führen. Sie ist deshalb um so weniger zu empfehlen, als die Erfahrung lehrt, daß den Gläubigern ein freies Kündigungsrecht nicht eingeräumt zu werden braucht; 2) eine von beiden Seiten unaufkündbare und zwar entweder mit festem Rückzahlungstermin oder ohne solchen. In die letztere Klasse gehört die echte ewige Rente, welche nur dadurch getilgt werden kann, daß die Rententitel an der Börse zurückgekauft werden; in die erstere Klasse gehören die temporären oder Zeitrenten, wie die eigentlichen Zeitrenten oder Annuitäten (s. d.), durch deren Zahlung in bestimmter Frist das Kapital verzinst und getilgt wird, dann dem Wesen der Sache nach die Leibrenten und Tontinen (s. Rente), ferner die Lotterieanlehen (s. Lotterie) sowie diejenigen Obligationen, bei denen bestimmte Tilgungstermine festgesetzt sind und durch Verlosung die zu tilgenden Serien und Nummern festgestellt werden. Die Schuld kann endlich auch sein 3) eine nur vom Staat, nichts aber auch vom Schuldner jederzeit aufkündbare (terminable, amortisierbare Anlehen, deren Titel gewöhnlich schlechthin Obligationen genannt werden). Hierher sind auch viele Rentenschulden zu rechnen wie z. B. die englischen Konsols, deren Rentenverschreibungen (bonds) sich auf eine bestimmte Kapitalsumme beziehen, zu welcher der Staat jederzeit einlösen kann. Bisweilen wird auch eine Minimal- und eine Maximalfrist für die Rückzahlung bestimmt, innerhalb deren die Verwaltung freie Hand hat. Eine Verpflichtung zur Tilgung zu bestimmter Zeit kann für die Finanzverwaltung sehr lästig werden. Die Tilgung kann dann leicht zu einem Zeitpunkt stattfinden, in welchem keine Mittel verfügbar oder gar zu großen außerordentlichen Aufwendungen Anlehen aufgenommen werden müssen. Alsdann kann leicht der Fall eintreten, daß nicht allein neue Schulden lediglich zu dem Zweck gemacht werden müssen, um alte heimzuzahlen, sondern daß auch neue Anlehen unter ungünstigern Bedingungen abgeschlossen werden. Aus diesem Grund empfiehlt es sich auch nicht, einen besondern Tilgungsfonds (s. d.) zu bilden, sondern vielmehr jeweilig Tilgungen vorzunehmen, wenn die Einnahmen die Ausgaben übersteigen. Allerdings wäre im Interesse eines geordneten Staatshaushalts schon bei Aufstellung des Budgets darauf zu sehen, daß auch wirklich vorteilhafte Tilgungen stattfinden können. Andernfalls würde Schuld auf Schuld gehäuft und eine unbillige Lastenabwälzung bewirkt. Für die technische Erledigung der Geschäfte, welche sich an die Staatsschulden anknüpfen, sind besondere Stellen erforderlich, und zwar können hierfür entweder besondere Behörden und Kassen (Staatsschuldenverwaltung, Amortisations-, Schuldentilgungskasse) eingerichtet oder auch Banken mit der Besorgung beauftragt werden. Für Kontrolle der Staatsschuldenverwaltung werden in mehreren Staaten aus den Mitgliedern der Volksvertretung besondere Staatsschuldenkommissionen gebildet. Ist der Staat nicht durch einen Verlosungsplan oder überhaupt durch einen Vertrag an die Tilgung gebunden, und hat er freies Kündigungsrecht, so kann er Obligationen aufrufen und zum Nominalbetrag heimzahlen oder dieselben durch Agenten an der Börse aufkaufen lassen. Ersteres empfiehlt sich, wenn bei sinkendem Zinsfuß der Kurs der Papiere über pari steigt, letzteres, wenn bei niedrigem Kurs verfügbare Geldbestände in der genannten Weise vorteilhaft verwendet werden können. Konversion. Statistisches. Kündigungen sind nicht allein am Platz, wenn Schulden getilgt werden sollen, sondern auch wenn der Staat in der Lage ist, neue Anlehen zu günstigern Bedingungen aufzunehmen, insbesondere wenn der Staatskredit gestiegen oder der landesübliche Zinsfuß gesunken ist. In diesem Fall kann der Staat Zinsherabsetzungen (Zinsreduktionen), bez. Schuldumwandlungen (Konversionen, Rentenkonversionen) durch Änderung von Schuldbedingungen, welche die Zinsenlast verringern, vornehmen. Solche Konversionen oder Reduktionen sind dann angezeigt, wenn bei gu- Staatssekretär - Staatsverbrechen. tem Kredit des Staats der Kurs über pari gestiegen, mithin Geld zu einem niedrigern Zins zu haben ist. Zur sichern Durchführung der genannten Maßregel ist es nötig, daß die Finanzverwaltung der Einwilligung der meisten Gläubiger gewiß ist und die nötigen Mittel bereit gehalten werden, um die erforderlichen Heimzahlungen vollständig bewirken zu können. Hierauf werden die Gläubiger öffentlich aufgefordert, ihren Willen zu erklären. Diejenigen, welche den neuen Bedingungen zustimmen, erhalten für die alten Obligationen, falls dieselben nicht nur einfach abgestempelt werden, neue mit entsprechenden Kouponbogen, die übrigen Schuldtitel werden gegen bar eingelöst. Meist wird, um die Gläubiger der Konversion geneigt zu stimmen, noch eine besondere Konversionsprämie in einem Prozentsatz der umzutauschenden Summe zugestanden. Solche Konversionen sind dann unmöglich, wenn der Staat sich an einen bestimmten Tilgungsplan gebunden hat oder die Kündigung überhaupt ausgeschlossen ist; sie werden unvorteilhaft, wenn das Anlehen zu einem zu niedrigen Nominalzinsfuß und damit auch zu niedrigem Kurs begeben worden ist. Die Zinsreduktionen werden oft mit der Konsolidation oder Schuldzusammenziehung verbunden, d. h mit Operationen, durch welche mehrere Anlehen verschiedener Benennung und mit verschiedenen Nominalzinsfüßen in eine einzige mit nur einem Zinsfuß zusammen verbunden werden. Dieser Umstand hat dazu Veranlagung gegeben, daß die Worte Konversion, Zinsreduktion und Konsolidation oft als gleichbedeutend gebraucht werden. Die Konvertierung kann auch unter der Form der Arrosierung auftreten. Unter letzterer ist jede Nachzahlung zu verstehen, welche zu dem Zweck gemacht wird, um bereits bestehende Ansprüche behaupten zu können. So verlangte Österreich 1805 und 1809 Nachzahlungen von den Inhabern von Schuldscheinen, welche ihrer Forderungsrechte überhaupt nicht verlustig gehen wollten. Die Arrosierungsanlehen können jedoch auch den Charakter freier Übereinkunft behaupten. Steigt der Zinsfuß erheblich, während der Kurs vorhandener, zu niedrigem Nominalzinsfuß abgeschlossener Anlehen stark sinkt, so kann die Möglichkeit einer spätern Zinsreduktion und einer Tilgung dadurch geschaffen werden, daß der Nominalzinsfuß erhöht wird und zudem Ende die Gläubiger zu Zahlungen aufgefordert werden. Gewaltsame Ermäßigung von Zins und Schuldsumme ohne Einverständnis der Gläubiger nennt man Staatsbankrott (s. In den meisten Ländern ist bei der gegebenen Lage der Finanzverwaltung (fortwährend steigende Ausgaben) an eine erfolgreiche Tilgung der Schulden nicht zu denken. Letztere sind vielmehr seit Ende vorigen Jahrhunderts stetig gestiegen. Eine genaue Vergleichung der Schulden verschiedener Länder und Zeiten ist zwar unmöglich; doch bieten die Zahlen nachfolgender Tabelle immerhin einen brauchbaren Inhalt für die Beurteilung im allgemeinen. Unter der Hauptsumme von 91,794 Mill. Mk. (für 1880) sind 6984 Mill. Mk. Eisenbahnschulden. Auf Deutschland allein entfallen davon 2700 Mill. Mk., so daß unter den Großstaaten Deutschland verhältnismäßig am günstigsten gestellt ist. Die Ausgaben für Verzinsung und Tilgung der[e] Schuld waren in Millionen Mark 1885: in Frankreich 1067, England 591, Rußland 521, Italien 436, Österreich-Ungarn 372, Spanien 219, Vereinigte Staaten 201, Niederlande 58, Preußen 182, Bayern 51, Sachsen 31, Württemberg 17, Deutsches Reich 17. Es betrugen die S. (in Millionen Mark) in: Länder...................1787 1816 1846 1874 1880 Frankreich.............1500 1680 3300 18126 24798 Großbritannien.......4800 16990 16080 15690 14834 Spanien..................600 2250 3600 7200 10333 Italien.....................240 900 1200 7830 10006 Österreich-Ungarn... 690 1800 2490 7290 7992 Rußland...................600 2400 1800 6700 7211 Türkei - - - 2250 5727 Deutschland ...........240 1020 900 3150 4821 Portugal ..................60 240 480 2160 1745 Belgien .................. - - 450 564 1633 Niederlande...........1500 2700 2400 1520 1579 Rumänien..............- - - 120 377 Griechenland..........- - 120 212 277 Schweden................18 24 30 144 220 Dänemark................46 108 330 270 194 Serbien...................- - - - 28 Norwegen................- 26 16 40 17 Zusammen:............10294 30058 33196 75266 91794 Regelmäßige Angaben über die S. aller Länder der Erde liefert das "Diplomatisch-statistische Jahrbuch des Gothaischen Hofkalenders". Vgl. Nebenius, Der öffentliche Kredit (2. Aufl., Karlsr. 1829); Baumstark, Staatswissenschaftliche Versuche über Staatskredit, Steuern und Staatspapiere (Heiden. 1833); Hock, Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Eug. Richter, Das preußische Staatsschuldenwesen (Bresl. 1869); Salings Börsenpapiere, finanzieller Teil (12. Aufl., Berl. 1888). Staatssekretär, der Chef eines Verwaltungsressorts. Wenn man auch den Ausdruck S. vielfach gleichbedeutend mit Minister gebraucht, so besteht zwischen beiden im konstitutionellen Staatswesen doch ein wichtiger Unterschied, indem der Minister der Volksvertretung verantwortlich ist, der S. nicht. Der Minister hat eine politische, der S. eine geschäftliche Stellung. Im Deutschen Reich ist der Reichskanzler der alleinige verantwortliche Minister. Die Chefs der einzelnen Reichsämter, die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Reichsamtes des Innern, des Reichsjustizamtes, des Reichsschatzamtes und des Reichspostamtes haben keine selbständige politische Stellung. Den Staatssekretären des Auswärtigen und des Innern sind Unterstaatssekretäre beigegeben. In Preußen führen die Vertreter der verantwortlichen Minister den Amtstitel Unterstaatssekretär. In Elsaß-Lothringen führt der unter dem Statthalter stehende Chef des Ministeriums den Titel S. Die Chefs der einzelnen Ministerialabteilungen heißen Unterstaatssekretäre. Staatsservituten (öffentliche Servituten), dauernde Beschränkungen der Staatshoheit eines unabhängigen Staatswesens im Interesse und zugunsten eines andern Staats oder sonstigen Berechtigten. In diesem Sinn wurde früher z. B. das dem Haus Thurn und Taxis zustehende Postrecht in den einzelnen deutschen Staaten als Staatsservitut bezeichnet. Auch die Verpflichtung, fremde Truppen auf bestimmten Etappenstraßen durch das eigne Staatsgebiet marschieren zu lassen, gehört Staatssozialismus, diejenige soziale Richtung, welche unter Befestigung der Machtstellung der Monarchie von der letztern eine Hebung der Lage der Arbeiter, insbesondere aber eine Einschränkung der Herrschaft der Bourgeosie und des beweglichen Kapitals erwartet. Vgl. Arbeiterfrage, S. 752, und Sozialismus. Staatsstreich, s. Revolution. Staatsverbrechen, s. Majestätsverbrechen. Staatsverfassung - Stabel. Staatsverfassuug, Inbegriff der Bestimmungen, welche den Zweck eines Staats (s. d.), die dazu bestehenden Einrichtungen, Formen, Grenzen und Inhaber der Staatsgewalt und deren Verhältnisse zu den Staatsbürgern bezeichnen und regeln; dann Bezeichnung eines umfassenden Gesetzes (Konstitution, Charte, Grundgesetz), in welchem die Staats- und Regierungsform eines Landes verbrieft, auch der Urkunde selbst, welche darüber aufgenommen ist. Je nachdem eine solche S. einseitig von dem Staatsbeherrscher gegeben oder nach vorgängiger Vereinbarung mit Vertretern des Volkes erlassen worden ist, wird zwischen oktroyierter und paktierter (vereinbarter) Verfassung unterschieden. Insbesondere spricht man in der konstitutionellen Monarchie im Gegensatz zur absoluten von der bestehenden S., wonach der Monarch in der Gesetzgebung an die Zustimmung von Vertretern der Staatsbürger gebunden ist, sei es, daß diese nur für einzelne bevorrechtete Klassen (ständische Verfassung) oder daß sie zur Vertretung des ganzen Volkes berufen sind (Repräsentativsystem). Über die verschiedenen Arten der S. (Staatsformen) s. Staat. Staatsvertrag, das zwischen zwei selbständigen Staaten getroffene völkerrechtliche Übereinkommen. Ein solches kann verschiedene Angelegenheiten betreffen, in welchen befreundete Staaten miteinander in Beziehung treten, so z. B. Rechtshilfe, Auslieferung von Verbrechern u. dgl. Besonders wichtig sind die Handels- und Schiffahrtsverträge. In konstitutionellen Staaten ist zum Abschluß von Staatsverträgen in der Regel die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich. Nach der deutschen Reichsverfassung bedürfen Verträge über Gegenstände, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, zu ihrem Abschluß der Zustimmung des Bundesrats und zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung des Reichstags. Staatsverwaltung, s. Verwaltung. Staatswirtschaft, die Wirtschaft des Staats, umfaßt alle Thätigkeiten und Veranstaltungen, welche zur Befriedigung von Staatsbedürfnissen dienen, wird im engern Sinn auch oft als mit der Finanzverwaltung identisch betrachtet (vgl. Finanzwesen). Staatswirtschaftslehre, Lehre von der Wirtschaft des Staats, Finanzwissenschaft, auch als gleichbedeutend mit Volkswirtschaftslehre (s. d.) gebraucht. Staatswissenschaften (Kameralwissenschaften), im allgemeinen Bezeichnung für diejenigen Wissenschaften, deren Gegenstand der Staat ist. Sie sind teils erzählende und beschreibende (historische), teils erörternde (dogmatische), teils philosophische und teils politische. Zu der erstern Kategorie gehören die Statistik oder Staatenkunde, welche dermalige Zustände und Einrichtungen schildert, und die Staatengeschichte. Die staatswissenschaftliche Dogmatik dagegen behandelt systematisch Zweck, Wesen und Eigenschaften des Staats und seine rechtlichen Beziehungen, und zwar sowohl diejenigen unter den Staaten selbst (Völkerrecht) als diejenigen zwischen der Staatsgewalt und den Staatsangehörigen sowie zwischen den letztern untereinander (Staatsrecht). Sie handelt ferner von den Mitteln zur Erreichung des Staatszwecks (Verwaltungsrecht, Polizei- und Finanzwissenschaft). Die dogmatische Staatswissenschaft hat einen gegebenen Staat und dessen positive Satzungen zum Gegenstand, während die Staatsphilosophie nicht das, was ist, sondern das, was nach der Staatsidee sein soll, ins Auge faßt, und so entsteht namentlich der Gegensatz zwischen positivem und allgemeinem philosophischen Staats- und Völkerrecht. Die politische Behandlungsweise endlich betrachtet den Staat, seine Mittel und seine Zwecke vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit aus, und eben dadurch wird das Gebiet der Politik ebenso wie dasjenige der Volkswirtschaftslehre (Nationalökonomie) staatswissenschaftlich abgegrenzt. Stab (lat. Scipio), im Altertum Auszeichnung für ältere Personen oder Könige (s. Zepter); außerdem war der S. in besonderer Form auch gewissen Priesterschaften, namentlich den Augurn, die damit die Weltgegenden bezeichneten, beigelegt, worauf ihn später in der christlichen Kirche der Bischof symbolisch als Hirt der Gemeinde trug (Hirtenstab, Bischofstab). Den S. als Attribut und Gerät der Zauberer (Zauberstab) führte schon im alten Chaldäadie "Dame (Göttin) des magischen Stabes", sodann Moses, Zoroaster und in der griechischen Mythe Hermes, der mit Hilfe desselben "Schlummer gibt und enthebt". Auch ist der S. Zeichen der richterlichen und oberherrschaftlichen Gewalt und trägt dann an der Spitze die Hand als Schwur- oder Machtsymbol. - Als Ellenmaß war ein S. in Frankreich = 1,188 m, in Berlin = 1,75 Ellen, in Frankfurt a. M. = 2,166 Ellen. - In der Baukunst, und im Kunsthandwerk (Möbeltischlerei) ist S. ein rundes Glied von verschiedener Form: als Astragal, Rundstab, gebrochener S. (s. Figur), gewundener S., gewunden mit Hohlkehlen etc. (vgl. Viertelstab). [Gebrochener Stab.] Stab (franz. État-major), die zu dem Kommando eines Truppenteils gehörigen Personen. Man unterscheidet den Oberstab (Offiziere und im Offiziersrang stehende Beamte), z. B. beim Bataillon: den Kommandeur, den Adjutanten, Arzt und Zahlmeister, und den Unterstab: die Schreiber, Ordonnanzen, Büchsenmacher u. dgl. Höhere Stäbe sind diejenigen der Armeen, Korps und Divisionen, welche neben einer größern Zahl von Offizieren etc. noch Geistliche, Auditeure, Post-, Kassen-, Proviant- und andre Beamte, dann zum Botendienst im Frieden die Stabsordonnanzen, zur Sicherung im Felde die Stabswachen umfassen. Vgl. Generalstab. Stabat mater (lat., "die Mutter [Jesu] stand [am Kreuz]"), Anfangsworte eines geistlichen Textes in lateinischen Terzinen, der als sogen. Sequenz (s. d.) in der katholischen Kirche, besonders am Feste der sieben Schmerzen Mariä, gesungen wurde und wahrscheinlich von dem Minoriten Jacopone da Todi herrührt. Von den Kompositionen desselben sind die berühmtesten die von Palestrina, Pergolese und Astorga, aus neuerer Zeit die von Jos. Haydn, Winter und Rossini. Vgl. Lisco, Stabat mater (Berl. 1843). Stäbchenalgen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen, s. Algen, S. 343. Stäbchenbakterie, s. Bacterium. Stabeisen, Schmiedeeisen in Stabform, auch Eisen- oder Stahlstangen von gleichmäßigem Querschnitt. Stabel, Anton von, bad. Staatsmann, geb. 9. Okt. 1806 zu Stockach, studierte in Tübingen und Heidelberg die Rechte und trat 1828 in den Staatsjustizdienst. 1832 wurde er zum Obergerichtsadvokaten und Prokurator in Mannheim, 1838 zum Mitglied des dortigen Hofgerichts, 1841 zum Hofgerichtsrat und in demselben Jahr zum Professor der Jurisprudenz in Freiburg ernannt. 1845 wurde er Hofgerichts- Staberl - Stachel. präsident in Freiburg, 1847 Vizekanzler des Oberhofgerichts in Karlsruhe und 1849 Präsident der Ministerien des Innern und der Justiz im sogen. Reaktionsministerium; er machte sich um die Reform der Justiz sehr verdient. Nachdem er 1850 Mitglied des Erfurter Parlaments gewesen, trat er 1851 wieder als Oberhofrichter an die Spitze des obersten Gerichtshofs und ward 1853 zum Mitglied und Vizepräsidenten der Ersten Kammer ernannt. Als Berichterstatter der Kommission der Ersten Kammer über das Konkordat in der Landtagssession 1859-1860 wies er nach, daß für dasselbe gemäß der Verfassung die ständische Zustimmung unerläßlich sei. Als infolgedessen das Konkordatsministerium Meysenbug-Stengel stürzte, ward S. im April 1860 zum Minister der Justiz und des Auswärtigen und 1861 zum Präsidenten des Ministeriums und Staatsminister ernannt. Er leitete nun die badische Kirchengesetzgebung und schuf die vortreffliche badische Gerichtsverfassung. Im Juli 1866 in Ruhestand versetzt, trat er Anfang 1867 nochmals als Justizminister in das Ministerium Mathy ein, schied aber nach dessen Tod 1868 wieder aus und zog sich in das Privatleben zurück. 1877 in den erblichen Adelstand erhoben, starb er 22. März 1880 in Karlsruhe. Er verfaßte mehrere bedeutende juristische Schriften: "Vorträge über das französische und badische Zivilrecht" (Freiburg 1843); "Vorträge über den bürgerlichen Prozeß (Heidelb. 1845); "Institutionen des französischen Zivilrechts" (Mannh. 1871, 2. Aufl. 1883) u. Staberl, stehend gewordene Figur der Wiener Lokalposse, welche einen Wiener Bürger des Mittelstands (Parapluiemacher) darstellt, der sich in fremdartigen Verhältnissen zwar ungelenk benimmt, aber durch Mutterwitz sich immer zu helfen weiß; von A. Bäuerle (s. d.) erfunden. Stabheuschrecken, s. Gespenstheuschrecken. Stabiä, alte Stadt in Kampanien, zwischen Pompeji und Surrentum, beim heutigen Castellammare (s. d.), wurde im Bundesgenossenkrieg von Sulla zerstört, dann als Badeort wiederhergestellt, der bei dem Ausbruch des Vesuvs mit Herculaneum und Pompeji zugleich verschüttet ward. Einige Gebäude der alten Stadt wurden im vorigen Jahrhundert (seit 1749) ausgegraben; die aufgefundenen Kunstwerke befinden sich in Neapel. Stabil (lat.), beständig, nicht veränderlich; stabilieren, festigen, fest begründen; Stabilismus, das Beharren beim Bestehenden, Herkömmlichen. Stabilität (lat.), in der Mechanik das Vermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüber selbständig zu behaupten, s. Standfähigkeit. Allgemeiner gebraucht man S. für Beständigkeit, Unveränderlichkeit, Beharren in dem Bestehenden. Stablo, belg. Stadt, s. Stavelot. Stabmessung (Stäbchenmessung), s. v. w. Bakulometrie Stabrecht, das (zuweilen dem Gutsherrn oder der Gemeinde zustehende) Recht, fremde Schafe hüten, weiden und düngen zu lassen, während man mit Stabgemeinschaft lediglich das Verhältnis derjenigen bezeichnet, welche sich für ihre Schafe gemeinschaftlich einen Hirten halten. Stabreim, s. Allitteration. Stabsapotheker, s. Feldapotheker. Stabschrecken, s. v. w. Stabheuschrecken. Stabsführer, s. Führer. Stabskapitän, früher militär. Rangklasse, etwa dem heutigen 13. Hauptmann entsprechend. Stabsoffiziere, militär. Rangklasse, welche die Obersten, Oberstleutnants und Majore, in der Marine den Kapitän zur See und Korvettenkapitän umfaßt. Stabsquartier, s. v. w. Hauptquartier. Stabswachen, beim Militär die den mobilen höhern Stäben dauernd zugeteilte Mannschaft zum Sicherheits- und Ordonnanzdienst: bei der Division 8 Mann Infanterie, 4 Reiter; beim Armeekorps 1 Offizier, 52 Mann, 26 Stabtierchen (Bacillarien), s. v. w. Diatomeen (s. Algen, Stabübungen, den Freiübungen verwandte Turnübungen mit einem jetzt meist eisernen Stab von 1 m Länge und 11/2 -2 cm Stärke, hauptsächlich durch Otto Jäger (s. d. 4) zu mannigfaltiger Verwendung gekommen, besonders im Schulturnen. Über das Springen mit langen Stäben s. Stangenspringen. Vgl. Zettler, Die Schule der S. (Leipz. 1887); Mayr, Übungen mit langen Stäben (Hof Stabwurz, s. Artemisia. Stabziemer, s. Drossel. Staccato (ital., abgekürzt stacc., "abgestoßen"), eine musikalische Vortragsbezeichnung, welche fordert, daß die Töne nicht direkt aneinander geschlossen, sondern deutlich getrennt werden sollen, so daß zwischen ihnen wenn auch noch so kurze Pausen entstehen. Über die verschiedenen Arten des S. beim Klavierspiel, Violinspiel etc. s. Anschlag und Bogenführung. Das S. beim Gesang besteht in einem Schließen der Stimmritze nach jedem Ton; seine virtuose Ausführung ist sehr schwer. Entsprechend wird das S. bei den Blasinstrumenten durch Unterbrechung des Atemausflusses (stoßweises Blasen) hervorgebracht. Stachel (Aculeus), in der Botanik jede mit einer starren, stechenden Spitze versehene, durch Umwandlung aus Haargebilden, Blättern oder ganzen Sprossen hervorgehende Bildung, auch die Dornen (spinae) umfassend. Die Stacheln treten bald nur als Anhangsgebilde fertig angelegter Organe an Blättern oder Stengeln auf (Haut- oder Trichomstacheln), oder sie entstehen durch Umwandlung von ganzen Blättern oder Blattteilen (Blatt- oder Phyllomstacheln), oder sie stellen selbständig umgewandelte Sprosse (Dornen oder Kaulomstacheln) dar. Die Hautstacheln sind bald einzellige Haarbildungen, bald vielzellige Gewebekörper oder Zwischenbildungen beider; bald gehen sie nur aus der Epidermis hervor, wie bei der Brombeere, bald beteiligt sich auch das unter der Oberhaut liegende Rindengewebe, das Periblem, an ihrer Bildung, wie bei dem S. der Rose. In den meisten Fällen sind die Hautstacheln gefäßlos, bisweilen, z. B. bei den Stacheln auf den Kapfeln des Stechapfels und der Roßkastanie, führen sie Gefäßbündel. Übergangsbildungen zwischen den Haut- und Blattstacheln finden sich bei den Kakteen, deren Stacheln aus den Vegetationspunkten der Achselknospen wie wahre Blätter, jedoch ohne deren Entwickelungsfähigkeit, hervorgehen. Unter den Blattstacheln bilden sich einige durch Metamorphose von Nebenblättern, z. B. die Stacheln der Robinie; andre gehen aus umgewandelten Blattteilen hervor (Blattzahnstacheln), wie die Stacheln der Stechpalme, welche Gefäßbündel und Blattparenchym enthalten. Eine dritte Gruppe besteht aus denen, die durch Umwandlung eines ganzen Blattes entstehen, wie die gefiederten Stacheln von Xanthium oder die dreigeteilten Stacheln der Berberitze, aus deren Achseln Laubsprosse entspringen. Ebenso verschieden ist auch der Ursprung der Kaulomstacheln oder Dornen; es können überzählige Knospen, wie bei Genista, Ulex, Gleditschia, oder auch normale Achselknospen, wie bei Ononis, zu Stacheln Stachelbeerstrauch - Stachelschwein Die höchste Form der Stachelbildung tritt bei vielen Pomaceen und Amygdalaceen, besonders bei Arten von Crataegus und Prunus ein; hier wandelt sich ein ganzer blatttragender Zweig in einen S. um. Auch kann umgekehrt durch Kultur der S. wieder als blatttragender Zweig erscheinen. Auch der Hauptsproß erzeugt unter Umständen, wie bei Rhamnus cathartica, durch Verholzung des Vegetationspunktes einen endständigen S. Im allgemeinen zeigt sich, daß der Begriff des Stachels durchaus nicht durch ein einheitliches morphologisches Merkmal zu bestimmen ist, sondern daß hier wie überall die Pflanze die verschiedensten morphologischen Glieder demselben physiologischen Zweck anzupassen weiß. Die biologische Aufgabe der Stacheln besteht teils darin, als Schutzorgan der Pflanze gegen die Angriffe weidender Tiere zu dienen, teils in der Rolle eines Verbreitungsmittels, insbesondere bei stachligen Früchten, die in dem Haar- oder Federkleid von Tieren hängen bleiben und dadurch weiter transportiert werden; endlich sind auch Beziehungen zwischen stacheltragenden Pflanzen und insektenfressenden Vögeln, wie den Würgerarten, bekannt, die ihre Beute an den Stacheln von Dornsträuchern aufzuspießen pflegen. Vgl. Delbrouck, Die Pflanzenstacheln (Bonn 1875). Bei Tieren ist der S. eine Waffe zur Verteidigung oder zum Angriff, aber auch zur Anbohrung von Pflanzen, Erdreich etc., um die Eier hineinzulegen (Legestachel). Besonders verbreitet bei den Insekten (Bienen, Wespen etc.): häufig fließt durch ihn ein in besonderer Drüse bereitetes Gift in die Wunde (Giftstachel); stets sitzt er am Ende des Hinterleibes, nie am Munde (die Stechvorrichtungen der Mücken, Wanzen etc. sind Mundteile und heißen Stechborsten, nicht Stacheln). Beim Stachelschwein sind die Stacheln Haargebilde, bei Fischen umgewandelte Flossenstrahlen. Vgl. auch Echinodermen. Stachelbeerstrauch (Ribitzel, Grossularia Mill.), Untergattung der Gattung Ribes (Familie der Saxifragaceen), Sträucher mit sehr verkürzten Zweigen, meist dreiteiligen Dornen an der Basis derselben, büschelförmig gestellten Blättern und einzeln oder in arm-, selten reichblütigen Trauben stehenden Blüten. Der gemeine Stachelbeerstrauch (Krausbeere, Klosterbeere, R. Grossularia L.), mit meist dreiteiligen Stacheln, drei- bis fünflappigen Blättern, 1-3 grünlichgelben Blüten an gemeinschaftlichem Stiel und grünlichweißen oder roten Früchten, ist wahrscheinlich im nordöstlichen Europa heimisch, wo er in Norwegen bis 63° nördl. Br. vorkommt, und findet sich bei uns vielfach verwildert. Linné u. a. unterscheiden drei Arten: R. uva crispa, mit schließlich unbehaarten, grünlichen oder gelben Früchten, im Norden; R. Grossularia, niedriger, behaart, sehr stachlig, mit behaarten, grünlichen oder gelben Früchten, in den Alpen, in Griechenland, Armenien, auf dem Kaukasus, Himalaja, seltener bei uns verwildert; R. reclinatum, mit roten, glatten Früchten, aus dem Kaukasus, vielleicht bei uns verwildert. Die meisten Kultursorten dürften von der ersten Art abstammen, die roten von den letztern; doch werden auch viele Blendlinge kultiviert. Der S. wächst am besten in lockerm, nahrhaftem Boden in freier, aber geschützter Lage; man pflanzt ihn meist auf Rabatten, doch darf er nicht zu dicht und nicht unter hohen Bäumen stehen. Im Spätherbst oder im zeitigen Frühjahr schneidet man allzu lange oder schlecht gestellte Zweige wie auch Wurzelschößlinge fort, nach dem Fruchtansatz gibt man zweimal einen Düngerguß und pflückt zu dicht hängende Beeren aus; man vermehrt ihn durch Stecklinge aus vorjährigen, im Herbst geschnittenen Trieben oder durch Wurzelausläufer und gewinnt die besten Früchte von einstämmig erzogenen Kronenbäumchen, welche durch Unterdrücken der Seitentriebe und Wurzelsprosse, sehr gut und dauerhaft durch Okulieren und Kopulieren auf R. aureum zu erziehen sind. Empfehlenswerte Sorten sind: rote: Alexander, Blood hound, Farmer's Glory, Jolly Printer, Over all; grüne: Early green hairy, Freecost, Green Willow, Nettle green; gelbe: Britannia, Bumper, Golden, Smiling Beauty, Yellow Lion; weiße: Balloon, Large hairy, Ostrich White. Queen Mary, Sämling von Pausner. Über die Zusammensetzung der Stachelbeeren s. Obst. Der Strauch wird zuerst in einem französischen Psalmenbuch des 12. Jahrh. als Groisellier, die Frucht vom Trouvère Rutebeuf im 13. Jahrh. erwähnt. Gegenwärtig ist die Stachelbeere eine Lieblingsfrucht der Engländer, welche vorzügliche Sorten erzogen haben. Man benutzt sie auch viel zur Bereitung von Obstwein. Mehrere amerikanische Stachelbeersträucher werden bei uns als Ziersträucher kultiviert. Stachelbeerwein, s. Obstwein. Stachelberg, Bad im schweizer. Kanton Glarus, in romantischer Lage des Linththals, 664 m ü. M., mit heilkräftiger Schwefelquelle (7,7° C.), jetzt zugänglicher durch die Bahnlinie Glarus-Schwanden-Linththal. Vgl. König, Bad S. (Zürich 1867). Stachelflosser, s. Fische, S. 298. Stachelhäuter, s. Echinodermen. Stachelkümmel, s. Cuminum. Stachelmohn, s. Argemone. Stachelnuß, s. Datura. Stachelschwamm, s. Hydnum. Stachelschwein (Hystrix L.), Gattung aus der Ordnung der Nagetiere und der Familie der Stachelschweine (Hystrichina), sehr gedrungen gebaute Tiere mit kurzem Hals, dickem Kopf, kurzer, stumpfer Schnauze, kleinen Ohren, kurzem, mit hohlen, federspulartigen Stacheln besetztem Schwanz, verhältnismäßig hohen Beinen, fünfzehigen Füßen, stark gekrümmten Nägeln und ungemein stark entwickeltem Stachelkleid. Das gemeine S. (Hystrix cristata L., s. Tafel "Nagetiere II"), 65 cm lang, mit 11 cm langem Schwanz, 24 cm hoch, hat auf der Oberlippe glänzend schwarze Schnurren, längs des Halses eine Mähne aus starken, rückwärts gerichteten, sehr langen, gebogenen, weißen oder grauen Borsten mit schwarzer Spitze, auf der Oberseite verschieden lange, dunkelbraun und weiß geringelte, scharf gespitzte, leicht ausfallende Stacheln und borstige Haare, an den Seiten des Leibes kürzere und stumpfere Stacheln, am Schwanz abgestutzte, am Ende offene Stacheln, an der Unterseite dunkelbraune, rötlich gespitzte Haare. Die dünnen, biegsamen Stacheln werden 40 cm, die starken nur 15-30 cm lang, aber 5 mm dick; alle sind hohl oder mit schwammigem Mark gefüllt. Das S. stammt aus Nordafrika und findet sich jetzt auch in Griechenland, Kalabrien, Sizilien und in der Campagna von Rom. Es lebt ungesellig am Tag in langen, selbstgegrabenen Gängen, sucht nachts seine Nahrung, die in allerlei Pflanzenstoffen besteht. Alle Bewegungen des Stachelschweins sind langsam und unbeholfen, nur im Graben besitzt es einige Fertigkeit. Im Winter schläft es tagelang in seinem Bau. Vollkommen harmlos und unfähig, sich zu verteidigen, erliegt es jedem geschickten Feind. Es ist stumpfsinnig, aber leicht erregbar. Gereizt grunzt es, sträubt die Stacheln und rasselt mit Stachelschweinaussatz - Stadion. selben, wobei oft einzelne ausfallen, was zu der Fabel Veranlassung gegeben hat, daß es die Stacheln fortschießen könne. In der Not rollt es sich wie ein Igel zusammen. Die Paarung erfolgt im Frühjahr, und 60-70 Tage nach der Begattung wirft das Weibchen in einer Höhle 2-4 Junge, deren kurze, weiche Stacheln sehr bald erhärten und ungemein schnell wachsen. In der Gefangenschaft wird es leicht zahm, hält sich gut, pflanzt sich auch fort, bleibt aber stets scheu und furchtsam. Italiener ziehen mit gezähmten Stachelschweinen von Dorf zu Dorf. Man ißt sein Fleisch und benutzt die Stacheln zu mancherlei Zwecken. Die Bezoarkugel eines ostindischen Stachelschweins war früher als Heilmittel hochgeschätzt. Stachelschweine mit Wickelschwanz, welche andern Gattungen angehören, leben als Baumtiere in Stachelschweinaussatz, s. v. w. Fischschuppenkrankheit Stachelschweinholz, s. Cocos. Stachelschweinmenschen, an Ichthyosis oder Fischschuppenkrankheit (s. d.) Leidende. Stachelzaundraht, Drahtlitzen mit in kurzen Abständen eingeflochtenen kurzen, spitzigen Draht- oder Blechstückchen oder aus zackig ausgeschnittenem Bandeisen, dient zu billigen Einfriedigungen. Stachine, Fluß, s. Stikeen. Stackelberg, Otto Magnus, Freiherr von, Archäolog und Künstler, geb. 25. Juli (a. St.) 1787 zu Reval, studierte in Göttingen, machte hierauf eine Kunstreise durch Südfrankreich, Oberitalien und sein eignes Vaterland, ging 1808, um die Malerei zu erlernen, nach Dresden, dann nach Rom und unternahm von da aus 1810-14 mit Brönstedt u. a. eine Expedition nach Griechenland und Kleinasien, auf der er mit seinen Gefährten die äginetischen Statuen und die Reste des Apollontempels zu Bassä (Phigalia) auffand. Seine Zeichnungen des letztern samt der Umgebung sind seinem Werk "Der Apollotempel zu Bassä (Berl. 1826) beigefügt. Eine andre Frucht dieser Reise sind die "Costumes et usages des peuples de la Grèce moderne" (Rom 1825). Von Rom aus unternahm er später Reisen nach Großgriechenland, Sizilien und Etrurien, wo er 1827 die etrurischen Hypogäen von Corneto entdeckte, bereiste dann Frankreich, England und die Niederlande und starb 27. März 1837 in Petersburg. Noch sind von seinen Arbeiten hervorzuheben: "La Grèce, vues pittoresques ettopographiques" (Par. 1830, 2 Bde.); "Trachten und Gebräuche der Neugriechen" (Berl. 1831-1835, 2 Abtlgn.) und besonders "Die Gräber der Hellenen in Bildwerken und Vasengemälden" (das. 1836-37, mit 80 Tafeln). Eine Biographie Stackelbergs nach seinen Tagebüchern und Briefen veröffentlichte seine Tochter Natalie v. S. (Heidelb. 1882). Slackh., bei botan. Namen Abkürzung für John Stackhouse, geb. 1740, gest. 1819 in Bath (Algen). Stade, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks der preuß. Provinz Hannover, an der schiffbaren Schwinge und der Eisenbahn Harburg-Kuxhaven, hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, verbunden mit Realprogymnasium, ein Schullehrerseminar, eine Taubstummenanstalt, einen Historischen Verein (für Bremen und Verden), eine königliche Regierung, ein Konsistorium, ein Landratsamt, ein Landgericht, ein Hauptsteueramt, einen Ritterschaftlichen Kreditverein, eine Handelskammer, Eisengießerei, Maschinen-, Schiff- und Mühlenbau, Tabaks- und Zigarrenfabrikation, Brennerei, Bierbrauerei, Färberei, Ziegeleien, Schiffahrt, lebhaften Handel und (1885) mit der Garnison (ein Füsilierbataillon Nr. 75 und eine Abteilung Feldartillerie Nr. 9) 9997 meist evang. Einwohner. In der Nähe viele Ziegeleien sowie ein Gipslager und bei dem Dorf Kampe eine Saline. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die elf Amtsgerichte zu Bremervörde, Buxtehude, Freiburg, Harburg, Jork, Neuhaus a. O., Osten, Otterndorf, S., Tostedt und Zeven. - S. erscheint schon im Anfang des 10. Jahrh. als der Stammsitz eines gräflichen Geschlechts, das 1056 auch in den Besitz der sächsischen Nordmark gelangte, sie fast ein Jahrhundert behielt und 1168 ausstarb. Von den Welfen Kaiser Otto IV. und seinem Bruder, dem Pfalzgrafen Heinrich, ward S. 1202 erobert, fiel aber um 1204 an Bremen zurück, nachdem es von Otto IV. umfangreiche Freiheiten erhalten hatte. In diese Zeit fällt die Einführung des Elbzolles. 1648 im Westfälischen Frieden ward es Schweden zuerkannt und zur Hauptstadt des Fürstentums Bremen gemacht. 1676 von den Hannoveranern, 1712 von den Dänen erobert, kam es 1719 nebst dem Bistum Bremen an Hannover. 1807 ward es Westfalen einverleibt, 1810 von Napoleon I. in Besitz genommen, 1813 aber von den Alliierten an Hannover zurückgegeben und von diesem wieder zur Festung gemacht und 1816 neu befestigt. Hannover mußte den Elbzoll durch Vertrag vom 22. Juni 1861 gegen eine Entschädigung von 2,857,338 Thlr. aufheben (s. Elbe, S. 503). Am 18. Juni 1866 wurde die Festung S. von den Preußen ohne Kampf genommen und fiel dann mit dem übrigen Hannover an Preußen. Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Hannover etc.") umfaßt 6786 qkm (123,25 QM.), zählt (1885) 325,916 Einw. (darunter 320,329 Protestanten, 4118 Katholiken und 1126 Juden) und besteht aus den 14 Kreisen: Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm Achim 286 5,19 19973 70 Blumenthal 174 3,16 19224 110 Bremervörde 579 10,52 16760 29 Geestemünde 630 11,44 33656 53 Hadeln 326 5,92 17086 52 Jork 167 3,03 21097 126 Kehdingen 378 6,87 20214 53 Lehe 633 11,50 28797 45 Neuhaus a. Oste 522 9,48 28474 55 Osterholz 479 8,70 27736 58 Rotenburg i. Hann 816 14,82 19282 24 Stade 725 13,17 34536 48 Verden 409 7,43 25257 62 Zeven 662 12,02 13824 21 Stadel, in Süddeutschland s. v. w. Scheune; auch Vorrichtung zum Rösten der Erze (s. Rösten). Städelsches Institut, s. Frankfurt a. M., S. Staden, Stadt in der hess. Provinz Oberhessen, Kreis Friedberg, an der Nidda, hat eine evang. Kirche, ein Schloß und (1885) 376 Einw. Stadion, uraltes Adelsgeschlecht, dessen Stammschloß S. ob Küblis in Graubünden jetzt Ruine ist, und das sich später in Schwaben an der Donau niederließ; von Walter von S. (Stategun) an, der als habsburgischer Landvogt von Glarus 1352 im Kampf gegen die Glarner fiel, läßt sich die Geschichte des Geschlechts genau verfolgen. Die bemerkenswertesten Sprößlinge desselben sind: Christoph von S., Bi- Stadium - Stadt. schof von Augsburg, geb. 1478, ein Freund Kaiser Maximilians I. und Ferdinands I., aber auch Melanchthons, mit dem er in Verkehr wegen der Reformation der Kirche und Wiedervereinigung der beiden christlichen Kirchen stand; starb 1543. Johann Kaspar von S., Hochmeister des Deutschen Ordens, österreichischer Kriegspräsident und Feldzeugmeister, zeichnete sich besonders 1634 in der Schlacht bei Nördlingen aus. Johann Philipp von S., Staatsminister von Kurmainz, geb. 1652, war die Seele aller Reichsgeschäfte, 1711 Botschafter bei der Wahl Karls VI. und Gesandter des rheinischen Kreises beim Utrechter und Badener Friedenskongreß. Mit ihm ward das Geschlecht 1705 in den Reichsgrafenstand erhoben. Er starb 1741 und ward durch seine beiden Söhne der Stifter der jetzt noch blühenden Fridericianischen und Philippinischen Linie. Ersterer gehörte an Johann Philipp Karl Joseph, Graf von S., geb. 18. Juni 1763. Derselbe hatte auf deutschen Hochschulen eine tüchtige Bildung erhalten, war 1788 österreichischer Gesandter zu Stockholm, 1790 bis 1792 zu London, trug 1797 nicht wenig dazu bei, die durch die polnischen Teilungen zwischen Österreich und Preußen entstandene Spannung zu heben, betrieb, seit 1804 Botschafter in Petersburg, eifrig die Bildung der dritten Koalition und folgte 1805 dem Kaiser Alexander I. zur Armee. Von reichsritterlichem Stolz und echt deutschem Patriotismus erfüllt, haßte er Napoleon aus ganzer Seele. Nach dem Preßburger Frieden mit dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten betraut, hatte er die Absicht, Österreich im Innern zu reorganisieren, seine äußere Macht wiederherzustellen und es an die Spitze des wieder befreiten Deutschland zu bringen. Er löste die drückenden Geistesfesseln, förderte den Gemeinsinn und betrieb vor allem die Reform des Heerwesens und die Bildung einer Landwehr. Das plötzliche Erscheinen eines deutschen Patriotismus in Österreich beim Beginn des auf seinen Antrieb unternommenen Kriegs von 1809 war Stadions Werk. Der unglückliche Ausgang des Kriegs nötigte ihn, dem Grafen Metternich im Ministerium Platz zu machen; doch ward er schon 1812 wieder nach Wien berufen und erhielt nach der Schlacht bei Lützen eine Sendung zu Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. Nach dem Frieden mußte er sich abermals dem schwierigen Auftrag der Herstellung der Finanzen unterziehen. Die Ausgaben des Staats wurden beschränkt und genau bestimmt und die Steuerverfassung nach vernünftigen Grundsätzen geregelt. Er starb 18. Mai 1824 in Baden bei Wien. Franz Seraph, Graf von S., zweiter Sohn des vorigen, geb. 27. Juli 1806, trat früh in den Staatsdienst ein und zeichnete sich namentlich als Administrativbeamter aus. In Triest und Galizien, wo er 1846 an die Spitze der Verwaltung trat, sicherte er sich ein dankbares Andenken. Nach Niederwerfung der Wiener Revolution trat er mit Schwarzenberg und Bach ins Ministerium vom 21. Nov. 1848 und vertrat hier die freisinnigere Richtung. Schon im Mai 1849 aber mußte er wegen eines Körperleidens zurücktreten; er starb in Geisteszerrüttung 8. Juni 1853. Vgl. Hirsch, Franz Graf S. (Wien 1861). Sein Neffe Philipp, Graf von S., geb. 29. Mai 1854, ist jetzt das Haupt der Fridericianischen Linie; die Philippinische wird repräsentiert durch Friedrich, Grafen von S., geb. 13. Dez. 1817, erblichen Reichsrat der Krone Bayern. Stadium (griech. Stadion), bei den Alten Längenmaß, eine Strecke von 600 griech. Fuß, aber thatsächlich von schwankender Länge; das Itinerarstadium (s. d.) war jedenfalls kleiner, und man kann es bis in die Mitte des 2. Jahrh. v. Chr. auf etwa 1/50 geogr. Meile ansetzen. Das olympische S. betrug ungefähr 1/40 Meile. In der römischen Kaiserzeit rechnete man 7,5 Stadien auf eine römische Meile. Ursprünglich bezeichnete das Wort die für den Wettlauf bestimmte Rennbahn von der angegebenen Länge, namentlich die zu Olympia (s. d., mit Plan), nach der die andern eingerichtet wurden. Die Konstruktion des Stadiums erkennt man deutlich aus vielen noch vorhandenen Ruinen. Demnach war es der Länge nach durch mehrere Richtungssäulen in zwei Hälften geteilt und eine oder mehrere Seiten desselben oft mit Benutzung des Terrains mit aufsteigenden Sitzreihen versehen. An einem der schmalen Enden wurde die Bahn in der Regel von einem Halbkreis eingeschlossen, in dem sich die Plätze für die Kampfrichter (Hellanodiken) und die vornehmern Zuschauer befanden, und wo auch die übrigen Wettkämpfe stattfanden. Bei den Römern kamen die Stadien zu Cäsars Zeit auf und wurden hier auch zu andern Vergnügungen, namentlich zu Tierhetzen, benutzt. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet man mit S. jeden einzelnen Abschnitt in dem Verlauf oder der Entwickelung einer Sache. Stadler, Maximilian, Abbe, Kirchenkomponist, geb. 7. Aug. 1748 zu Melk in Unterösterreich, genoß seine musikalische Ausbildung vorwiegend als Zögling des Wiener Jesuitenkollegiums, trat dann in das Benediktinerstift seines Geburtsorts, ward 1786 zum Abt von Lilienfeld und drei Jahre später zum Abt und Kanonikus von Kremsmünster ernannt. Nachdem er 1791 von dieser Stelle freiwillig zurückgetreten war, lebte er bis zu seinem Tod 8. Nov. 1833 in Wien, als Mensch und Künstler hochgeachtet und mit allen musikalischen Berühmtheiten seiner Zeit in lebhaftem Verkehr stehend. Unter seinen zahlreichen durch kontrapunktische Gewandtheit ausgezeichneten Kompositionen sind besonders sein Oratorium "Die Befreiung Jerusalems", ein großes Requiem und Klopstocks "Frühlingsfeier" hervorzuheben. Stadt (Stadtgemeinde), größere Gemeinde mit selbständiger Organisation und Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten. Verschiedene Merkmale, welche früher für den Unterschied zwischen S. und Dorf oder zwischen Stadt- und Landgemeinde von Bedeutung waren, sind es jetzt nicht mehr. Wie die alten Stadtthore und Stadtmauern gefallen sind, welche früher einem Ort im Gegensatz zum platten Lande den städtischen Charakter verliehen, so hat sich auch der Unterschied zwischen der rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung des städtischen Bürgers und des Landmanns mehr und mehr verwischt. Die Größe und Einwohnerzahl ist nicht mehr schlechthin entscheidend. Denn manche Industriedörfer sind heutzutage volkreicher als kleine Landstädtchen mit vorwiegend landwirtschaftlicher Beschäftigung der Ackerbürger. Beseitigt sind ferner durch die moderne Gesetzgebung die einstige Ausschließlichkeit des zunftmäßigen Gewerbebetriebs innerhalb des städtischen Weichbildes und das Recht der Stadtgemeinde, innerhalb der städtischen Bannmeile jeden für den städtischen Verkehr nachteilige Gewerbebetrieb zu untersagen. Das Marktrecht, welches einst den städtischen Gemeinden ausschließlich zukam, ist jetzt auch größern Landgemeinden (Marktflecken) zugestanden. Auch die Beschäftigung auf dem Gebiet des Handels und der Industrie findet sich nicht mehr ausschließlich und in manchen Gegenden nicht einmal mehr vorwiegend in den Städten. Dagegen besteht noch in verschiedenen Staaten in Ansehung der Gemeindeverfassung ein Stadt (Entwicklung des Städtewesens). erheblicher Unterschied zwischen S. und Land (s. Gemeinde); doch auch dieser Unterschied ist bereits in manchen Gegenden mehr oder weniger beseitigt. Die Entwickelung des Städtewesens. Die ersten Städte wurden unter den mildern Himmelsstrichen Asiens, Afrikas, Griechenlands und Italiens gegründet. In Griechenland erhielten sie sich meist ihre volle Selbständigkeit und wurden Mittelpunkte besonderer Staaten. Bei den Babyloniern und Assyrern dienten sie vornehmlich als feste Plätze, als Handelsniederlassungen bei den Phönikern. Bei den Etruskern und Latinern gab es schon früh städtische Niederlassungen, zunächst mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet und durch Bündnisse geeint, bis sich Rom zur Herrin Italiens, dann sogar der ganzen zivilisierten Welt machte und unter Beibehaltung städtischer Verfassungsformen die Herrschaft über ein ausgedehntes Reich zu führen wußte. Während bei den Kelten, ja auch bei den Slawen die Sitte des städtischen Zusammenwohnens von Anbeginn wohlbekannt war, fehlte den alten Germanen jede Neigung zum Stadtleben. Die ersten Städte in Deutschland verdankten vielmehr den Römern ihre Entstehung; sie erwuchsen meist aus den am Rhein und an der Donau angelegten Lagern und Kastellen. So entstanden: Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Bingen, Koblenz, Remagen, Bonn, Köln, Xanten, Utrecht, Leiden im Rheinthal; im Gebiet der Donau: Augsburg, Regensburg, Passau, Salzburg und Später ging mit der Ausdehnung des Deutschen Reichs über den slawischen Osten die Entwickelung des Städtewesens Hand in Hand. Um die zum Schutz der deutschen Landschaft angelegten Burgen entstanden städtische Niederlassungen, wie sie zuerst Heinrich I., den man den Städtegründer genannt hat, begründete; ihm verdanken Quedlinburg, Merseburg und Goslar ihren Ursprung. Seinem Beispiel folgten die Markgrafen der östlichen Gebiete. Als Beamte erscheinen in größern Orten Burggrafen, in kleinern Schultheißen, in bischöflichen Vögte. In Orten, wo sich eine altfreie Einwohnerschaft erhalten hatte, erlangte diese in der Folgezeit das Übergewicht in der städtischen Verwaltung. Hier übten Schöffen die Rechtspflege aus; es gab einen Rat mit einem Schultheißen oder, wie in Köln, mit zwei Bürgermeistern an der Spitze. Die Rechte des Reichs nahm daneben ein Burggraf wahr, wozu in Bischofstädten noch der Vogt trat. Die glänzendste Entwickelung aber haben die königlichen Pfalzstädte genommen, aus deren bevorrechteter Stellung allmählich die Reichsfreiheit erblühte (s. Reichsstädte). Dagegen blieben die fürstlichen Städte, welche meist von den Fürsten selbst gegründet waren, noch lange und viele für immer unter der Territorialhoheit derselben. Doch auch hier besteht wenigstens ein Schein von Selbstverwaltung: sie wählen ihren Schultheißen, ihre Schöffen selbst. Wo dann die herzogliche Gewalt erlischt oder geteilt wird, wie in Schwaben und Sachsen, haben sich die fürstlichen Städte zur Reichsfreiheit emporgeschwungen. Je reicher und unabhängiger die Städte wurden, um so mehr übten sie innerhalb des Reichs politischen Einfluß aus. Da ihr Handel nur bei der Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, so war die Aufrechterhaltung des Landfriedens ihre vornehmste Sorge. Deshalb schlossen sie Bündnisse, wie die rheinischen und schwäbischen Städte und besonders die Hansa, welche sogar den Norden Europas in den Bereich ihrer Machtsphäre zu ziehen vermocht hat. Als innerhalb der Städte einzelne Klassen durch Handel an Reichtum zunahmen, schlossen sie sich von den niedern ab und suchten möglichst allein die Leitung der städtischen Angelegenheiten sich anzueignen. Dies hatte dann zur Folge, daß die Handwerker sich in Zünfte organisierten und um Beteiligung am Stadtregiment sich bemühten. Sie erhielten denn auch meist einige Stellen oder eine besondere Bank im Rat. An den deutschen Reichstagen nehmen die Reichsstädte vereinzelt schon seit Wilhelm von Holland teil; Ludwig der Bayer hat sie mehr herangezogen, doch wird ihre Beteiligung an jenen Versammlungen erst seit 1474 regelmäßig. Seit dem 16. Jahrh. bilden die Reichsstädte neben den Kurfürsten und Fürsten eine besondere Körperschaft auf den Reichstagen. Die Auffindung des Seewegs nach Ostindien und die Entdeckung Amerikas habenden deutschen Handel schwer geschädigt und den Mittelpunkt der merkantilen Interessen nach dem Westen, nach Spanien, Holland und England, verlegt. Verheerend schritt dann der Dreißigjährige Krieg über die deutschen Gauen, und unter seiner blutigen Geißel erstarb die Blüte der einst so mächtigen Städte. Viele Reichsstädte verloren ihre Reichsunmittelbarkeit und wurden Landstädte der Fürsten, und selbst der Hansabund ging seinem Untergang entgegen. Zur Zeit des Beginns der französischen Revolution gab es nur noch 51 Reichsstädte, die aber noch vor und nach der Auflösung des Deutschen Reichs bis auf vier, 1866 bis auf drei, Hamburg, Bremen und Lübeck, welche noch jetzt selbständige Staaten sind, ihre Selbständigkeit verloren. Inzwischen waren namentlich die Residenzstädte der Fürsten zur Blüte gekommen, die sich um so schneller und glänzender entwickelte, je entschiedener die Fürstengewalt der Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland wurde. Im 19. Jahrh. aber hat nicht nur der Bau von Eisenbahnen, sondern auch der Aufschwung im Bergbau, in der Fabrikthätigkeit und im Handel dem Städtewesen in Deutschland einen ungeahnten Aufschwung gegeben. Städte, welche im Mittelpunkt wichtiger Eisenbahnnetze, ergiebiger Bergbau- und Industriebezirke liegen, haben ihre Bevölkerung bisweilen verzehnfacht. Einen bedeutenden Aufschwung hatte das Städtewesen frühzeitig in Italien genommen. Die einzelnen Einwohnerklassen traten in Vereinigungen zusammen, so in Mailand die vornehmen Lehnsleute, die Ritter und Vollfreien, und erwarben zu Ende des 11. Jahrh. für ihre Vorsteher (consules) die Verwaltung und Gerichtsbarkeit innerhalb der S. Friedrich I. hatte den Anspruch erhoben, diese Consules in den lombardischen Städten zu ernennen, mußte ihnen aber nach furchtlosem Kampf 1183 das Wahlrecht der Konsuln zugestehen. Diese wurden dann vom König oder in den bischöflichen Städten vom Bischof mit den Regalien belehnt. Neben jenen Beamten finden sich häufig ein Rat von 100 Personen (credenza) und eine allgemeine Bürgerversammlung (parlamentum). Seit dem 13. Jahrh. wurde es Sitte, Mitgliedern auswärtiger adliger Familien unter dem Titel "Podestà" die militärische und richterliche Gewalt auf ein Jahr anzuvertrauen, neben denen zwei Ratskollegien, ein Großer und ein Kleiner Rat, fungierten. Auch die Handwerker bemühten sich, Anteil am Stadtregiment zu erhalten, bildeten Innungen und organisierten sich unter Consules oder einem eignen Podestà oder Capitano del popolo als besondere Gemeinde neben den Adelsgeschlechtern. Diese Rivalität unter den einzelnen Bevölkerungsklassen erhielt einen neuen Impuls durch die Parteiungen der Guelfen und Ghibellinen. Stadt (Bevölkerungsverhältnisse). In diesen blutigen Kämpfen ging meist die städtische verloren. Erst in neuerer Zeit nahm das Städtewesen in Italien wiederum einen erfreulichen Aufschwung. In Südfrankreich findet anfangs eine ähnliche Entwickelung wie in Italien statt. Auch hier gibt es Consules, Ratskollegien und ein Parlamentum, aber daneben macht sich auch erstarkende Staatsgewalt geltend; ihre Vertreter sind die Baillis, denen die höhere Gerichtsbarkeit vorbehalten bleibt. In den bischöflichen Städten von Nordfrankreich traten die untern Stände zu Vereinigungen (Kommunen) zusammen, nahmen den Kampf gegen ihre Bischöfe auf und fanden dabei bei den Königen lebhafte Unterstützung. Diese vertraten den wohlwollenden Grundsatz, daß jede "Kommune" unter dem König stehe, obwohl sie die Städte ihres unmittelbaren Gebiets (des alten Francien) nicht sonderlich begünstigten. Als Beamte finden sich in diesen Städten: ein Maire, mehrere Schöffen (Jurati) und ein Bailli. Als die Macht des Königtums wuchs, wurde die städtische Selbstverwaltung mehr und mehr eingeschränkt. In England sind die Städte teils auf keltischen, auf römischen Ursprung zurückzuführen. Sie besaßen in der angelsächsischen Zeit eine seltene Freiheit und Selbständigkeit, berieten ihre Angelegenheiten in eigner Versammlung und standen unter Burggrafen. Innerhalb der städtischen Bevölkerung haben sich schon früh Vereinigungen (Gilden) gebildet, welchen die Pflicht gegenseitiger Rechtshilfe und der Blutrache oblag. Diese Gilden hatten Statuten und eigne Vorsteher. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen die Rechte der Städte vielfach verkürzt; sie gerieten in Abhängigkeit von den Königen, Baronen oder Bischöfen. Seit dem 15. Jahrh. erhielten sie von den Königen umfangreichere Privilegien, doch haben schon früher bei der eigenartigen Entwickelung der englischen Verfassung Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten gewonnen. Ihnen wurden bestimmte Anteile der aufzubringenden Steuern nicht ohne ihre auferlegt und die Verteilung und Eintreibung im einzelnen ihnen überlassen. In der Magna Charta ist jedoch nur London und sieben andern Städten oder Häfen ein Recht der Teilnahme am zugestanden. Später stieg die Zahl dieser Städte bisweilen auf 200, doch hing die Berufung der städtischen Abgeordneten von der Könige ab. Schon um die Mitte des 13. Jahrh. kam für die Vertreter der Städte die Bezeichnung "Gemeine" (communitas totius regni Angliae) auf; sie bildeten neben der Versammlung der Barone und Prälaten Kollegium und erhielten einen Sprecher. Ihr Hauptrecht war Verwilligung von Abgaben. Manche Städte sendeten einen, Vertreter zur Versammlung der Gemeinen, wozu im 14. Jahrh. noch Vertreter aus jeder Grafschaft kamen. Seit dem 16. Jahrh., aber seit den Zeiten Elisabeths, hob sich mit dem wachsenden der Einfluß der Städte. Die Mehrzahl der englischen Städte hat jedoch erst seit dem vorigen Jahrhundert durch Handel, Schiffahrt und einen bewunderungswürdigen Aufschwung genommen; denn noch 17. Jahrh. gab es außer London, das damals 1/2 Mill. Einwohner zählte, nur zwei Städte (Bristol und Norwich) mit 30,000 und vier andre mit mehr als 10,000 Einw. Bevölkerungsverhältnisse. Naturgemäß bildet die S. vorzüglich den Standort für Handel und Gewerbe, welche die Anhäufung vieler Betriebe auf kleinem Flächenraum nicht allein gestatten, sondern in derselben eine vorzügliche Gedeihen und Weiterentwickelung finden, während die auf die Bebauung der Bodenoberfläche angewiesene Landwirtschaft eine Zerstreuung Bevölkerung über das ganze Land hin bedingt. Land und S. versorgen einander gegenseitig. Demnach können große Städte, welche stets der Zufuhr von Massengütern (Lebensmittel, Brennstoffe etc.) bedürfen, nur bestehen, wenn die Verkehrsverhältnisse für sie genügend entwickelt sind. Darum sind solche Städte früher vornehmlich an Meeresküsten und schiffbaren Strömen entstanden. Zwar hatte auch das Altertum seine Großstädte, doch konnte die Zahl derselben nur verhältnismäßig klein sein. Und im Mittelalter bis zum 19. Jahrh. trat in den europäischen Ländern die städtische Bevölkerung gegenüber der ländlichen erheblich zurück. Eine wesentliche Änderung wurde in dieser Beziehung durch die Fortschritte der modernen Technik und insbesondere Verkehrswesens herbeigeführt. Die städtische Bevölkerung wächst in größerm Verhältnis und zwar vorzugsweise durch Zuzug als diejenige des flachen Landes. Als Folge dieses Umstandes läßt sich in den Städten eine stärkere Besetzung der Altersklassen von 15-35 Jahren wahrnehmen. So enthielten Prozente der Bevölkerung die Altersklassen unter 15 Jahren im Deutschen Reich 35, in einer Reihe größerer deutscher Städte nur 25; für die Alter von 20-30 Jahren waren die Prozente 16 u. 26, für von 30-40 Jahren: 13 u. 16, für die Alter über 40 Jahren dagegen: 25 u. 20. Schon aus diesem Grund wird es nicht als auffallend wenn in den Städten Heirats- u. Geburtszahl verhältnismäßig hoch sind. Gleichzeitig ist aber auch und zwar vornehmlich, weil hier gesamten Lebensverhältnisse andrer Art sind, die Anzahl der Geburten und der Sterbefälle in den meisten Städten relativ größer als auf dem Land. In Orten mit über 2000 Einw. leben Prozente von gesamten Bevölkerung: in den Niederlanden 80, Belgien 60, Großbritannien und Irland 45, Spanien und Italien 43, Portugal 41, Deutschland (Sachsen 52, Rheinland 60, Posen 22), Schweiz 39, Österreich-Ungarn 37, Frankreich 30, Dänemark 22, Norwegen 15, Schweden 11, 11. Vorzüglich ist in den letzten Jahren die Bevölkerung der großen Städte und zwar am meisten die der Städte mit mehr als Einw. gewachsen. In geringerm Grad hat die der kleinern zugenommen, während in Orten von weniger als 3000 Seelen nicht selten ein Rückgang zu beobachten war. Auf der ganzen Erde gibt es zur Zeit 206 Städte mit über 100,000 Einw. Hiervon entfallen je 2/5 auf Europa und Asien. Von der gesamten Bevölkerung lebten 1881 in solchen Großstädten: in England und Wales 33 Proz., Belgien u. Niederlande 12,5, 7,7, Deutschland 7,1, Italien 6,7, Österreich-Ungarn 3,3, Proz. Die Art des raschen Wachstums einiger Großstädte wird durch nachstehende Zahlen verdeutlicht. Es hatten in Tausenden Städte Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr Einw. Jahr London 1801 959 1851 2362 1875 3445 1886 4120 Paris 1817 714 1856 1171 1876 1989 1886 2345 Berlin 1801 173 1851 425 1875 967 1885 1315 Wien 1800 231 1857 476 1875 677 1880 726¹ New York - - 1850 516 1875 1029 1886 1439² Leipzig 1801 32 1852 67 1875 127 1885 170 ¹ Mit 35 angrenzenden Gemeinden 1888: 1,200,000. ² Mit Brooklyn, Jersey City und Hoboken 21/4 Stadt (Verfassungen). Sind die Städte schon infolge davon in politischer und wirtschaftlicher Beziehung in vielen Ländern tonangebend, daß in denselben das gesamte geistige Leben und der menschliche Verkehr viel reger ist als auf dem Land, so wird ihr Einfluß durch das Wachstum der Volkszahl noch weiter gesteigert. Mit dieser Zunahme erwachsen den Städten eine Reihe von Aufgaben, welche das Landleben entweder gar nicht oder doch nur in einem viel bescheidenern Umfang kennt, und die vollständig zu bewältigen erst mit den Fortschritten der modernen Technik möglich wurde. So werden in unsern Millionenstädten großartige Aufwendungen gemacht im Interesse der Sicherheit, der Sittlichkeit und Reinlichkeit, für Gesundheitspflege, Wasserbeschaffung, Kanalisierung, Abfuhr von Abfallstoffen, Beleuchtung, Unterrichtswesen, Verkehrswesen etc., welche die Budgets vieler kleinerer Staaten weit übertreffen. Übrigens gilt der Satz: "Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten" ganz vorzüglich von den Städten, insbesondere von Großstädten, in welchen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann. Städteverfassungen. In Bezug auf die Verfassung der Stadtgemeinden stehen sich gegenwärtig in Deutschland hauptsächlich zwei Systeme gegenüber. Das eine hat sich namentlich im Anschluß an die preußische (Steinsche) Städteordnung vom 19. Nov. 1808 entwickelt. Es charakterisiert sich dadurch, daß die Verfassung der Städte und der Landgemeinden eine verschiedene, und daß den Städten eine weiter gehende Selbstverwaltung eingeräumt ist als den ländlichen Ortschaften. An der Spitze der Stadtgemeinde befindet sich nach diesem System in der Regel eine kollegialische Vollzugsbehörde, der als Vertretung der Bürgerschaft das städtische Kollegium zur Seite steht. Die erstere Behörde ist der Magistrat oder Stadtrat (Gemeindevorstand, Ortsvorstand), bestehend aus einem ersten Bürgermeister (Stadtschultheißen), welcher in größern Städten den Titel Oberbürgermeister führt, dem zweiten Bürgermeister oder Beigeordneten und in größern Städten aus einer Anzahl von besoldeten und unbesoldeten Stadträten (Ratsherren, Schöffen, Ratsmännern, Magistratsräten). Dazu kommen nach Bedürfnis noch besondere besoldete Magistratsmitglieder für einzelne Zweige der städtischen Verwaltung (Kämmerer, Baurat, Schulrat, Syndikus etc.). Der Magistrat ist das Organ der Verwaltung; insbesondere steht ihm auch die Handhabung der Ortspolizei zu, wofern diese nicht, wie in manchen größern Städten, einer staatlichen Behörde (Polizeipräsident, Polizeidirektion) übertragen ist. Die Vertretung der Bürgerschaft ist die Stadtverordnetenversammlung (Gemeinderat, städtischer Ausschuß, Kollegium der Bürgervorsteher, Stadtältesten, Stadtverordneten, Stadtrat). Diese Körperschaft hat das Recht der Kontrolle; ihre Zustimmung ist zur Aufstellung des städtischen Haushaltsetats, zu wichtigen Akten der Vermögensverwaltung und zum Erlaß von Ortsstatuten erforderlich. Die Stadtverordneten versehen ihre Funktionen als Neben- und Ehrenamt; ihre Wahl erfolgt durch die Bürgerschaft. Dagegen werden die Magistratsmitglieder in der Regel durch die Stadtverordneten gewählt; sie sind teils besoldete Berufsbeamte, was namentlich von den Bürgermeistern in den größern Städten gilt, teils fungieren sie im Ehrenamt. Die Wahlperiode der Stadtverordneten ist eine drei- bis sechsjährige, für die Magistratsmitglieder beträgt sie 6, 9, 12 Jahre; auch ist bei den letztern Wahl auf Lebenszeit zulässig. Gegenüber diesen Gemeindewahlen hat die Regierung ein Bestätigungsrecht, dessen Umfang jedoch verschiedenartig begrenzt ist. Dies System des kollegialischen Magistrats und Gemeinderats ist namentlich im Norden und im Osten Deutschlands verbreitet. Es besteht zunächst in den östlichen Provinzen Preußens und in den Provinzen Hannover, Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Städteordnung vom 19. Nov. 1808 hatte nämlich die preußischen Städte von den beengenden Fesseln einer weitgehenden staatlichen Bevormundung befreit. Ihr folgte die revidierte Städteordnung vom 17. März 1831, welche die Möglichkeit erweiterte, durch Ortsstatuten Sonderbestimmungen treffen zu können. Nach einem mißglückten Versuch, die Gemeindeverfassung für die Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke für das ganze Staatsgebiet in einheitlicher Weise zu regeln, folgte die Städteordnung vom 30. Mai 1853 für die östlichen Provinzen, indem nur Neuvorpommern und Rügen für die dortigen Städte ihre auf besondern Bestimmungen beruhende Verfassung behielten. Die neuern Verwaltungsgesetze haben übrigens manche Abänderungen dieser Städteordnung herbeigeführt. Dasselbe gilt von der Städteordnung für Westfalen vom 19. März 1856. Eine besondere Städteordnung ist 25. März 1867 für Frankfurt a. M. erlassen. Der erste Bürgermeister wird dort aus den von der S. präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Die Städteordnung für Schleswig-Holstein vom 14. April 1869 überweist die Verwaltung einem aus Bürgermeister und "Ratsverwandten" bestehenden Magistratskollegium. Auch in der Provinz Hannover (Städteordnung vom 24. Juni 1858) ist der Magistrat, ebenso wie das Kollegium der Bürgervorsteher, kollegialisch organisiert. Dasselbe System finden wir im rechtsrheinischen Bayern (Gesetze von 1817, 1818, 1869 und 1872), im Königreich Sachsen (revidierte Städteordnung vom 24. April 1873), in Braunschweig, Oldenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Lippe und Schaumburg-Lippe. In Sachsen-Meiningen und -Altenburg beruht die Städteverfassung zumeist auf ortsstatutarischer Bestimmung, ebenso in Mecklenburg. Neben dem bisher erörterten System findet sich aber in Deutschland ein zweites, welches seine Verbreitung wesentlich dem Einfluß der französischen Gesetzgebung verdankt. Dies kennt für Stadt- und Landgemeinden nur Eine Verfassung (sogen. Bürgermeistereiverfassung). Die Verwaltungsgeschäfte der S. werden hiernach von einem Bürgermeister mit einem oder mehreren Beigeordneten geführt, die Gemeindevertretung ist Sache eines gewählten Gemeinderats. Dies System ist in der Rheinprovinz (Städteordnung vom 15. Mai 1856), in der bayrischen Pfalz, in Hessen, Sachsen-Weimar, Anhalt, Waldeck und in den reußischen und schwarzburgischen Fürstentümern vertreten. Ein drittes zwischen jenen beiden vermittelndes System gilt in Württemberg, Baden und in Hessen-Nassau. Auch hier ist die Verfassung für S. und Land eine einheitliche; sie nähert sich aber mehr der städtischen als der ländlichen Verfassung, indem sie neben dem Vorstand der Gemeinde noch einen Gemeinderat für die Verwaltungsgeschäfte und dann als Vertretung der Bürgerschaft den Gemeindeausschuß hat. In Elsaß-Lothringen besteht das französische System, doch ist seit 1887 die Änderung getroffen, daß der Bürgermeister und die Beigeordneten nicht Stadtältester - Stadtlohn. mehr notwendig dem Gemeinderat zu entnehmen sind, wie dies früher vorgeschrieben war. Auch kann jenen Gemeindebeamten, entgegen den in Frankreich geltenden Bestimmungen, kraft ministerieller Anordnung eine Besoldung gewährt werden. Eine Entschädigung für Repräsentationsaufwand war schon nach französischem Recht zulässig. In Frankreich selbst erscheinen die Städte wesentlich als Verwaltungsbezirke, und von einer eigentlichen Selbständigkeit derselben ist nicht die Rede. Dagegen hat Schweden durch Gesetz vom 3. Mai 1862 seinen Städten die Selbstverwaltung verliehen. Auch in England ist die Städteverfassung von dem Regierungseinfluß möglichst unabhängig. Für Rußland ist eine Städteordnung 16. Juni 1870 erlassen. [Litteratur.] Vgl. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland (Erlang. 1869-71, 4 Bde.); Heusler, Der Ursprung der deutschen Städteverfassung (Weim. 1872); Hüllmann, Städtewesen des Mittelalters (Bonn 1825-29, 4 Bde.); Arnold, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte (Gotha 1854, 2 Bde.); Brülcke, Die Entwickelung der Reichsstandschaft der Städte (Hamb. 1881); "Chroniken der deutschen Städte" (hrsg. von der Münchener Historischen Kommission 1862-89, Bd. 1-21); Lambert, Die Entwickelung der deutschen Städteverfassungen im Mittelalter (Halle 1865, 2 Bde.); v. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (Düsseld. 1888); Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte zu Ende des Mittelalters etc. (Berl. 1886) und die Litteratur bei Art. Stadtrechte; ferner Steffenhagen, Preußische Städteordnung vom 30. Mai 1853 (6. Aufl., Demmin 1885); Derselbe, Handbuch der städtischen Verfassung und Verwaltung in Preußen (Berl. 1887-1888, 2 Bde.); Örtel, Städteordnung vom 30. Mai 1853 (Liegn. 1883, 2 Bde.); Kotze, Die preußischen Städteordnungen (2. Aufl., Berl. 1883); Ebert, Der Stadtverordnete im Geltungsgebiet der Städteordnung vom 30. Mai 1853 (2. Aufl., das. 1883); "Städteordnung für die Rheinprovinz" (3. Aufl., Elberf. 1882); v. Bosse, Die sächsische Städteordnung (4. Aufl., Leipz. 1879); Schwanebach, Russische Städteordnung (St. Petersb. 1874); Gneist, Selfgovernment (3. Aufl., Berl. 1871); Kohl, Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Leipz. 1874); Sitte, Der Städtebau (geschichtlich, Wien 1889). Stadtältester, in Preußen Ehrentitel eines Magistratsmitglieds, welches sein Amt mindestens neun Jahre lang mit Ehren bekleidet hat; wird vom Magistrat in Übereinstimmung mit der Stadtverordnetenversammlung verliehen. In andern Staaten heißen die Stadtverordneten zuweilen Stadtälteste. Stadtamhof, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberpfalz, an der Mündung des Regen in die Donau, Regensburg gegenüber, hat eine kath. Kirche, 2 Waisenhäuser, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, Schiffahrt, Speditionshandel und (1885) 3449 meist kath. Einwohner. Stadtausschuß, s. Stadtkreis. Stadtbahn, entweder das durch die Straßen einer Stadt gelegte, zum Befahren mit Pferdewagen oder Straßenlokomotiven bestimmte Schienennetz (s. Straßeneisenbahn) oder die zur Vermittelung des Lokalverkehrs und durchgehenden Eisenbahnverkehrs durch eine Stadt geführte Lokomotiveisenbahn. Stadtberge, Stadt, s. Marsberg. Stadtbücher, s. Grundbücher. Städtebünde, die Verbindungen der Städte im Mittelalter zur Verteidigung ihrer Freiheiten gegen fürstliche Herrschaftsansprüche und in den Zeiten des Faustrechts zum Schutz ihres Handels und Verkehrs: so bildete sich in Italien der Lombardische Städtebund gegen Kaiser Friedrich I., in Deutschland im 14. Jahrh. der Rheinische und der Schwäbische Städtebund, in Norddeutschland vor allem die Hansa (s. d.), in Preußen im 15. Jahrh. der Westpreußische Städtebund u. a. Städteordnung, die für Städte im Gegensatz zu den Landgemeinden gegebene Gemeindeordnung (s. Stadt, S. Städtereinigung, die Beseitigung aller Abfallstoffe aus den Städten zur Vermeidung schädlicher Zersetzungen derselben und einer Verunreinigung des Bodens und des Grundwassers mit fäulnisfähigen Substanzen, welche die Entwickelung krankheiterregender Organismen begünstigen. In den meisten ältern großen Städten ist der Boden durch Senkgruben, Schlachthäuser etc. arg verunreinigt, und an vielen Orten ist infolgedessen das Wasser aus den städtischen Brunnen nur noch für gewisse technische Zwecke brauchbar. Die moderne S. kann daher nur durch rationelle Abfuhr der Exkremente (s. d.), durch Kanalisation (s. d.), Zentralisation des Schlächtereibetriebs in öffentlichen Schlachthäusern etc. weiterer Verunreinigung vorbeugen und die Selbstreinigung des Bodens vorbereiten, für die Versorgung mit gutem Trinkwasser müssen Wasserleitungen angelegt werden. Wo S. konsequent durchgeführt ist, hat sich der Gesundheitszustand gehoben und ist die Sterblichkeit gesunken. Vgl. Varrentrapp, Entwässerung der Städte (Berl. 1868); "Reinigung und Entwässerung Berlins" (das. 1870-79, 13 Hefte); Pettenkofer, Kanalisation und Abfuhr (Münch. 1876); Sommaruga, Die Städtereinigungssysteme in ihrer land- und volkswirtschaftlichen Bedeutung (Halle 1874); kleinere Schriften von v. Langsdorff, Lorenz, Martini, Riedel, Stammer u. a. Stadthagen, Stadt im Fürstentum Schaumburg-Lippe, Knotenpunkt der Linien Braunschweig-Hamm und S.-Osterholz der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein Landratsamt, ein Amtsgericht, Steinkohlengruben, Glasfabrikation, Gerberei, Holzschneiderei, Steinbrüche, Ziegeleien und (1885) 4394 meist evang. Einwohner. Stadtilm, Stadt im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, Landratsamt Rudolstadt, an der Ilm, 348 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Hutfabrik, Gerberei, Orgelbau, Bierbrauerei und (1885) 3107 evang. Einwohner. 1599 ward hier der Hauptrezeß, betreffend die Teilung der schwarzburgischen Länder, geschlossen. Stadtkreis, in Preußen der besondere Kreis- und Kommunalverband, welchen die sogen. großen Städte, d. h. diejenigen, welche mit Ausschluß der aktiven Militärpersonen mindestens 25,000 Einwohner haben, bilden können. Kleinere Städte können nur ausnahmsweise auf Grund königlicher Verordnung aus dem Kreisverband ausscheiden. Die Geschäfte des Kreistags und des Kreisausschusses, soweit sich die Thätigkeit des letztern auf die Verwaltung der Kreiskommunalsachen bezieht, werden von den städtischen Behörden wahrgenommen. Im übrigen besteht an Stelle des Kreisausschusses ein Stadtausschuß unter dem Vorsitz des Bürgermeisters oder seines Stellvertreters. Stadtlohn, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Münster, Kreis Ahaus, an der Berkel, hat eine kath. Kirche, bedeutende Nesselweberei, Lein- und Halbleinweberei, Bleicherei, Thonwarenfabrikation und (1885) 2189 Einw. Hier 6. Aug. 1623 Sieg Stadtmusikus - Stael-Holstein. serlichen unter Tilly über Herzog Christian von Braunschweig und im August 1638 der Kaiserlichen (Hatzfeld) über die Schweden (King). Stadtmusikus (Stadtpfeifer), s. Musikantenzünfte. Stadtoldendorf, Stadt im braunschweig. Kreis Holzminden, an der Linie Holzminden-Jerxheim der Preußischen Staatsbahn, 195 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Sandsteinbrüche und (1885) 2571 Einw. Dabei das ehemalige Cistercienserkloster Amelunxborn mit einer berühmten Klosterschule von 1569 bis 1754. Stadtprozelten, Stadt im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken, Bezirksamt Marktheidenfeld, am Main, hat eine kath. Kirche, eine Burgruine, ein Amtsgericht, ein Forstamt, ein reiches Hospital, Obst- und Weinbau und (1885) 844 Einw. Dabei das Dorf Dorfprozelten mit 1017 Einw. Stadtrat, städtische Kollegialbehörde, welcher die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten obliegt. Das vollziehende Organ ihrer Beschlüsse ist der Magistrat (Bürgermeisteramt). Mitunter wird aber auch der letztere S. genannt und für die Mitglieder desselben die Bezeichnung "Stadträte" (Magistratsräte) gebraucht. Vgl. Stadt, S. Stadtrecht (Weichbildrecht), ursprünglich das kaiserliche oder landesherrliche Privilegium, wodurch eine Gemeinde zur Stadt erhoben ward; dann Inbegriff der in einer Stadt gültigen Rechtssätze. Solche Stadtrechte entstanden in Deutschland seit dem 10. Jahrh., und es wurden dadurch nicht nur Privatrechtsverhältnisse, sondern auch Gegenstände des öffentlichen Rechts normiert. Oft ward das Recht einer Stadt mehr oder minder vollständig von andern rezipiert; so die Stadtrechte von Münster, Dortmund, Soest und andern westfälischen Städten, ganz besonders aber die Stadtrechte von Magdeburg, Lübeck und Köln. Das lübische Recht gewann die Küstenstriche von Schleswig ab bis zu den östlichsten deutschen Ansiedelungen, das Magdeburger die Binnenlande bis nach Böhmen, Schlesien und Polen hinein und verbreitete sich als Kulmer Recht über ganz Preußen. Infolge der Umgestaltung der Territorialverhältnisse sowie der Rechtsbegriffe machten sich Umänderungen der Stadtrechte notwendig, und so entstanden im Lauf des 15., 16. und 17. Jahrh. an vielen Orten verbesserte Stadtrechte, sogen. "Reformationen", wobei aber unter Einwirkung der Rechtsgelehrten mehr und mehr römisches Recht eingemischt ward bis zuletzt die alten Stadtrechte zugleich mit der eignen Gerichtsbarkeit und der Autonomie der Städte bis auf dürftige Reste der Autorität der Landesherren weichen mußten. Nur für das Familien- und Erbrecht haben sich einzelne Satzungen der alten Stadtrechte (Statuten) bis auf die Gegenwart erhalten. Vgl. Gaupp, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (Bresl. 1851-52, 2 Bde.); Gengler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters (neue Ausg., Nürnb. 1866); Derselbe, Codex juris municipalis Germaniae (Erlang. 1863-67, Bd. 1); Derselbe, Deutsche Stadtrechtsaltertümer (das. 1882). Stadtreisender, s. Platzreisender. Stadtsteinach, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, an der Steinach, hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein Forstamt, Eisensteingruben und (1885) 1490 meist kath. Einwohner. Stadtsulza, s. Sulza. Stadtverordnete, s. Stadt, S. 214. Staël-Holstein (spr. stal), Anne Louise Germaine, Baronin von, berühmte franz. Schriftstellerin, geb. 22. April 1766 zu Paris, Tochter des Ministers Necker, entwickelte sich frühzeitig unter dem Einfluß einer streng protestantischen Mutter und der philosophischen Anschauungen, denen man im Haus ihres Vaters huldigte, verfaßte mit 15 Jahren juristische und politische Abhandlungen und verheiratete sich 1786 auf den Wunsch ihrer Mutter mit dem schwedischen Gesandten, Baron von S. Doch war diese Ehe nicht glücklich; 1796 trennte sie sich von ihrem geistig tief unter ihr stehenden Gemahl, näherte sich ihm aber 1798 wieder, als er krank wurde, um ihn zu pflegen, und blieb bei ihm bis zu seinem Tod (1802). Seit dem ersten Jahr ihrer Ehe entwickelte sie eine eifrige litterarische Thätigkeit. 1786 war ihr Schauspiel "Sophie, ou les sentiments secrets" erschienen, dem als letzter Versuch dieser Art 1790 die Tragödie "Jane Gray" folgte; sie sah ein, daß sie für Bühnendichtung nicht geschaffen war. Besser gelangen ihr die überschwenglich lobenden "Lettres sur les écrits et le caractère de J. J. Rousseau" (1788); doch fehlt die Kritik fast ganz. Das immer reichlicher fließende Blut ließ ihre anfängliche Begeisterung für die Revolution bald schwinden; ein Plan zur Flucht, den sie der königlichen Familie unterbreitete, wurde nicht angenommen; am 2. Sept. 1792 mußte sie selbst flüchten. Auch ihre beredte Schrift zu gunsten der Königin: "Réflexions sur le procès de la reine" (1793) hatte keine Wirkung. Dagegen erregte sie Aufsehen durch ihre Schriften: "Réflexions sur la paix, adressées à M. Pitt et aux Français" (Genf 1795) und besonders durch "De l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations" (Laus. 1796), ein Werk voll tiefer und lichtvoller Gedanken. Nach ihrer Rückkehr verfeindete sie aber ihr energisches Eintreten für konstitutionelle Ideen derart mit Bonaparte, daß sie auf 40 Stunden im Umkreis von Paris verbannt wurde. Sie ging nach Coppet, lebte aber meist auf Reisen. Ihr schriftstellerischer Ruf hatte sich inzwischen in weitern Kreisen verbreitet durch ihre Schrift "De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales" (1799, 2 Bde.) und durch den Roman "Delphine" (1802, 6 Bde., u. öfter; hrsg. von Sainte-Beuve, 1868; deutsch, Leipz. 1847, 3 Bde.), eine Schilderung ihrer eignen Jugend in Briefform. 1803 machte sie ihre erste Reise nach Deutschland, wo sie längere Zeit in Weimar und Berlin verweilte; 1805 bereiste sie Italien. Seit dieser Zeit war A. W. v. Schlegel, den sie in Berlin kennen gelernt hatte, ihr Begleiter, und sein Umgang ist nicht ohne Einfluß auf ihre Ansichten, besonders über Kunst und deutsche Litteratur, geblieben. Die Frucht ihrer Reise nach Italien war der Roman "Corinne, ou l'Italie" (1807, 2 Bde., u. öfter; deutsch von Fr. Schlegel, Berl. 1807; von Bock, Hildburgh. 1868), eine begeisterte Schilderung Italiens und das glänzendste ihrer Werke. 1810 ging sie nach Wien, um Stoff zu ihrem schon lange geplanten Werk "De l'Allemagne" zu sammeln, einem Gemälde Deutschlands in Beziehung auf Sitten, Litteratur und Philosophie; doch wurde die ganze Auflage auf Befehl des damaligen Polizeiministers Savary sogleich vernichtet und gegen die Verfasserin von Napoleon I. ein neues Verbannungsdekret erlassen, das sich auf ganz Frankreich erstreckte. Erst zu Ende 1813 erschien das Werk (3 Bde.) zu London, darauf 1814 auch zu Paris. So reich es an geistvollen Gedanken ist und so achtungswert durch die Wärme, womit es den Franzosen deutsche Art und Kunst empfiehlt, so enthält es doch auch viele schiefe Ansichten und erhebliche Unrichtigkeiten. Jedenfalls Stäfa - Staffordshire. aber hat es den größten und dauerndsten Eindruck gemacht und muß darum als ihr Hauptwerk gelten. S. lebte in der nächsten Zeit wieder zu Coppet, wo sie sich insgeheim mit einem jungen Husarenoffizier, de Rocca, verheiratete. Von der französischen Polizei fort und fort verfolgt, begab sie sich im Frühjahr 1812 nach Moskau und Petersburg und von da nach Stockholm, wo ihr jüngster Sohn, Albert, im Duell blieb. Im Anfang des folgenden Jahrs ging sie nach England; erst nach Napoleons Sturz kehrte sie nach langer Verbannung, deren Ereignisse sie in "Dix années d'exil" (1821; deutsch, Leipz. 1822) teilweise erzählt, nach Paris zurück. Nach Bonapartes Rückkehr von Elba zog sie sich nach Coppet zurück. Nach der zweiten Restauration erhielt sie Vergütung für die alte Schuld von 2 Mill. Frank, die ihr Vater bei seinem Abschied im öffentlichen Schatze zurückgelassen hatte, und lebte fortan in einem glücklichen häuslichen Kreis und im engen Verkehr mit litterarischen und politischen Freunden in Paris, bis zu ihrer letzten Krankheit mit Ausarbeitung der trefflichen "Considérations sur les principaux événements de la Révolution française" (1818, 3 Bde.; neue Ausg. 1861; deutsch von A. W. v. Schlegel, Heidelb. 1818, 6 Bde.) beschäftigt. Sie starb 14. Juli 1817. Zu erwähnen sind noch die Werke: "Vie privée de M. Necker", an der Spitze der Ausgabe der Manuskripte ihres Vaters (1804); "Réflexions sur le suicide" (1813); "Zulma et trois nouvelles" (1813); "Essais dramatiques" (1821), eine Sammlung von 7 Stücken in Prosa, darunter das Drama "Sapho". Eine Ausgabe ihrer Werke (Par. 1820-21, 17 Bde.) veranstaltete ihr ältester Sohn, Auguste Louis, Baron von S. (geb. 1790), der sich selbst als Schriftsteller bekannt machte und 1827 starb (seine "OEuvres divers" gab seine Schwester, die Herzogin von Broglie, heraus, 1829, 3 Bde.). Vgl. Baudrillart, Éloge de Mad. de S. (1850); Norris, Life and times of Mad. de S. (Lond. 1853); Gérando, Lettres inédites et Souvenirs biographiques de Mad. Récamier et de Mad. S. (Par. 1868); Stevens, Mad. de S. (Lond. 1880, 2 Bde.); Lady Blennerhassett, Frau von S. und ihre Freunde (Berl. 1887-89, 3 Bde.); ferner "Correspondance diplomatique du baron de S., documents inédits" (hrsg. von Léouzon le Duc, Par. Stäfa, Gemeinde im schweizer. Kanton Zürich, am rechten Ufer des Zürichsees, mit Weinbau, Baumwoll- und Seidenweberei und (1880) 3874 Einw., durch Dampfschiffahrt mit sämtlichen Uferorten verbunden. Stafette (franz. Estafette), ein außerordentlicher reitender Bote, welcher Briefe so schnell wie möglich befördert, namentlich den Verkehr der Regierungen mit den obern Behörden und den Gesandtschaften vielfach unterhält. Seit der Entwickelung des Eisenbahn- und Telegraphenverkehrs ist die Sache und mit ihr das Wort sehr außer Gebrauch gekommen. Für Deutschland sind Bestimmungen über die Estafettenbeförderung in Abschnitt II, § 45 der Postordnung gegeben. Staffa, eine der innern Hebriden, westlich von Mull, nur 360 Hektar groß, aber berühmt wegen ihrer Basaltsäulen und Höhlen, unter denen die Fingalshöhle (s. d.) die berühmteste ist. Staffage (spr. -ahsche), Bezeichnung für einzelne Figuren oder ganze Gruppen von Menschen und Tieren, welche in einer Landschaft oder einem Architekturbild zur Belebung der Darstellung angebracht werden, jedoch ohne die Hauptsache derselben zu Staffelei, hölzernes Gestell, dessen sich der Maler beim Anfertigen seiner Bilder zum Aufstellen derselben bedient. Es hat an der Rückseite eine bewegliche Stütze zum Behuf einer willkürlich schrägen Stellung und an der Vorderseite ein bewegliches Querholz zum Höher- und Niedrigerstellen des Bildes, was durch eiserne oder hölzerne Bolzen erfolgt, welche in parallel angebrachte Öffnungen gesteckt werden, und auf denen das Querholz aufliegt. Daher Staffeleigemälde, kleinere Gemälde, welche auf der S. verfertigt werden, Gegensatz von Wandgemälden. Staffelgiebel, die an den Seitenkanten durch stufenförmige Einschnitte gegliederten Hausgiebel, welche in der Profanbaukunst des Mittelalters häufig angewendet wurden, auch Katzentreppen (s. d.) und Treppengiebel genannt. Staffelit, Mineral aus der Ordnung der Phosphate, nach dem Fundort Staffel in Nassau benannt, vielleicht nur eine Varietät des Phosphorits, bildet hellgrüne, traubige und nierenförmige, mikrokristallinische Aggregate und enthält bis zu 9 Proz. kohlensauren Kalk, etwas Wasser und Spuren von Staffeln, s. v. w. Stufen, beim Militär die Teile von Truppenkörpern, die sich in gewissen Abständen folgen, z. B. bei der Artillerie die Wagenstaffeln der Batterien und Kolonnen. Über S. im taktischen Sinn s. Echelon. Staffelngebete, s. Stufengebete. Staffelrechnnng, s. Kontokorrent, S. 47. Staffelrecht, s. Stapelgerechtigkeit. Staffelschnitt, in der Heraldik die stufenförmige Teilung eines Wappenschildes. Staffelstein, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, an der Lauter und der Linie München-Bamberg-Hof der Bayrischen Staatsbahn, 295 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Obst-, Wein- und Spargelbau, Bierbrauerei, 2 Kunstmühlen, Landesprodukten-, Gerberrinden-, Weidenreifen- und Holzhandel und (1885) 1837 Einw. Dabei der pittoreske Staffelberg (mit Kapelle), reich an Versteinerungen. S. war der Geburtsort des Rechenmeisters Adam Riese. Staffieren (v. altfranz. estoffer), mit dem nötigen Stoff oder Zubehör versehen, verzieren, mit Beiwerk ausschmücken. Vgl. Staffage. Stäffis am See, Ort, s. Estavayer le Lac. Stafford, altertümliche Hauptstadt von Staffordshire (England), am Sow, der sich dicht bei der Stadt mit dem Trent vereinigt, hat 2 alte Kirchen, eine Grafschaftshalle (Shire Hall), ein Rathaus mit großer Markthalle, ein neues Schloß, Irrenhaus, Zuchthaus, große Stiefelfabriken, Gerberei, Brauereien und (1881) 19,977 Einw. Staffordshire (spr. stäffordschir), engl. Grafschaft, von den Grafschaften Derby, Warwick, Worcester, Salop und Chester begrenzt, umfaßt 3022 qkm (54,9 QM.) mit (1881) 981,013 Einw. Der Norden des Landes besteht aus kahlem, unfruchtbarem, bis zu 552 m ansteigendem Hügelland mit großen Strecken Moorland; im O. liegt Needwood Forest, ein ausgedehnter Strich Heide; das Thal des Trent aber ist ungemein fruchtbar, und auch der wellenförmige Süden ist vorzüglich angebaut. Von der Oberfläche sind 39,7 Proz. unter dem Pflug, 56,8 Proz. bestehen aus Wiesen, und an Vieh zählte man 1887: 143,159 Rinder, 244,394 Schafe und 116,956 Schweine. Die wichtigsten Produkte des Bergbaues sind: Steinkohlen (1887: 12,853,000 Ton.), Eisen (938,018 T. Erz), Blei und Kupfer. Die Industrie ist ungemein entwickelt und liefert namentlich Eisenwaren, Töpferwaren (in dem Stage - Stahl. als "Potteries" bekannten Bezirk), Glas, Seidenwaren, Baumwollwaren und Stiefel. Hauptstadt ist Stafford, die volkreichste Stadt ist Wolverhampton. Stage, Taue aus Hanf oder Draht, welche von den Spitzen der Masten und Stengen schräg nach vorn und unten verlaufen, um den genannten Rundhölzern einen bessern Halt zu geben; sie gestatten die Anbringung von Stagsegeln. Stageiros (Stagira), von Andriern im 7. Jahrh. v. Chr. gegründete Stadt im alten Makedonien, auf der Halbinsel Chalkidike, berühmt als Geburtsort des Aristoteles (daher der Stagirite), von Philipp II. 348 v. Chr. zerstört, aber später wieder aufgebaut. Heute Ruinen Lymbiada. Stägemann, Friedrich August von, preuß. Staatsmann und Dichter, geb. 7. Nov. 1763 zu Vierraden in der Ukermark, studierte zu Halle die Rechte und ward 1806 Geheimer Oberfinanzrat, 1807 vortragender Rat bei dem nachmaligen Staatskanzler v. Hardenberg und nach dem Tilsiter Frieden Mitglied der zur Verwaltung des Landes niedergesetzten Immediatkommission, unter dem Ministerium Stein vortragender Rat, 1809 Staatsrat, in welcher Stellung er Hardenberg nach Paris, London und zum Wiener Kongreß begleitete. Er starb 17. Dez. 1840 in Berlin. Seine vaterländischen Gedichte, gesammelt als "Historische Erinnerungen in lyrischen Gedichten" (Berl. 1828), zum Teil in kunstvoller Odenform, spiegeln den idealistisch-patriotischen Geist, welcher zur Zeit der Befreiungskriege die gebildeten Kreise durchdrang. Dem Andenken seiner Gattin (gest. 1835) gewidmet ist die als Manuskript gedruckte Sonettensammlung "Erinnerungen an Elisabeth" (Berl. 1835); von ihr selbst erschienen: "Erinnerungen für edle Frauen" (Leipz. 1846, 3. Aufl. 1873). Vgl. auch "Briefe von S., Metternich, Heine und Bettina v. Arnim" (aus Varnhagens Nachlaß, Leipz. 1865). Stagione (ital., spr. stadschohne), Jahreszeit, Stagnation (lat.), Stillstand, Stockung. Stagnelius, Erik Johan, schwed. Dichter, geb. 14. Okt. 1793 zu Gärdslösa auf Örland, studierte in Lund und Upsala und erhielt dann eine Anstellung in der königlichen Kanzlei. Seine Muße widmete er philosophischen Studien, namentlich suchte er Schellings Identitätslehre mit gnostischer Mystik zu verschmelzen. Finster und verschlossen, dabei maßlos ausschweifend, verfiel er in periodischen Wahnsinn und starb 23. April 1823. Seinen litterarischen Ruf begründete 1817 das epische Gedicht "Wladimir ten store", das von der schwedischen Akademie gekrönt wurde. Seine Hauptwerke aber sind der halb philosophische, halb religiöse Gedichtcyklus "Liljor i Saron" (1820), das antike Trauerspiel "Bacchanterna", die nordischen Tragödien "Visbur" und "Sigurd Ring", das Drama "Riddartornet", die Schauspiele "Gladjetlickan i Rom" und "Karlekena fter doden" und die religiöse Tragödie "Martyrerne", worin die Idee vom Leben als einer Strafe und einem Leiden in ergreifender Weise durchgeführt ist. Auch viele seiner kleinern, im Volkston gehaltenen Lieder sind vortrefflich. Seine "Gesammelten Schriften" gab zuletzt C. Eichhorn (Stockh. 1866-68, 2 Bde.) heraus; eine deutsche Übersetzung Kannegießer (Leipz. 1853, 6 Bde.). Stagnieren (lat.), stillstehen, stocken. Stagnone (spr. stanjohne), flacher Meerbusen an der Westseite Siziliens, zwischen Marsala und Trapani, welcher durch die niedrigen, fast ganz mit Salinen bedeckten Stagnoneinseln gegen das Meer geschlossen ist. Dieser Inseln sind drei: Borrone, Isolalonga und in der Mitte die kleine kreisrunde Insel San Pantaleone, berühmt als Sitz der karthagischen Stadt Motye, von der noch einzelne Reste vorhanden sind. Stahl, s. Eisen, S. 418 ff. Stahl, 1) Georg Ernst, Chemiker und Mediziner, geb. 21. Okt. 1660 zu Ansbach, studierte in Jena wurde 1687 Hofarzt des Herzogs von Weimar, 1694 Professor der Medizin in Halle, 1716 Leibarzt des Königs von Preußen; starb 14. Mai 1734 in Berlin. S. stellte eine Theorie der Chemie auf, welche bis auf Lavoisier allgemeine Geltung behielt und auf der Annahme des Phlogistons beruhte. Auch entdeckte er viele Eigenschaften der Alkalien, Metalloxyde und Säuren. Seine Hauptwerke sind: "Experimenta et observationes chemicae" (Berl. 1731) und "Theoria medica vera" (Halle 1707; Leipz. 1831-33, 3 Bde.; deutsch von Ideler, Berl. 1831-32, 3 Bde.), in welcher er Hoffmann bekämpfte und die Lehre vom psychischen Einfluß (Animismus, s. d.) aufstellte. 2) Friedrich Julius, hervorragender Schriftsteller im Fach des Staatsrechts und Kammerredner, geb. 16. Jan. 1802 zu München von jüdischen Eltern, trat 1819 in Erlangen zur protestantischen Kirche über, studierte in Würzburg, Heidelberg, Erlangen Rechtswissenschaft und habilitierte sich im Herbst 1827 als Privatdozent in München. In demselben Jahr erschien seine erste größere Schrift: "Über das ältere römische Klagenrecht" (Münch. 1827). Von Schelling angeregt, schrieb er: "Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht" (Heidelb. 1830-1837, 2 Bde. in 3 Abtlgn.; 5. Aufl. 1878), sein wissenschaftliches Hauptwerk, welches trotz großer Mängel epochemachend für die Geschichte der Staatswissenschaft ist. S. trat darin der naturrechtlichen Lehre schroff entgegen und begründete seine Rechts- und Staatslehre "auf der Grundlage christlicher Weltanschauung", indem er "Umkehr der Wissenschaft" zum Glauben an die geoffenbarte Wahrheit der christlichen Religion forderte. 1832 ward S. zum außerordentlichen Professor in Erlangen, im November zum ordentlichen Professor für Rechtsphilosophie, Pandekten und bayrisches Landrecht in Würzburg ernannt. Später kehrte er nach Erlangen zurück und lehrte hier Kirchenrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie. 1840 als Professor der Rechtsphilosophie, des Staatsrechts und Kirchenrechts nach Berlin berufen, 1849 von König Friedrich Wilhelm IV., der ihm seine Gunst zuwandte, zum lebenslänglichen Mitglied der damaligen Ersten Kammer, des spätern Herrenhauses ernannt, wurde S. der Hauptwortführer der Reaktion und der ritterschaftlichen Partei, der er bis zu seinem Ende treu geblieben ist. Auch auf kirchlichem Gebiet benutzte er seine Stellung als Mitglied des evangelischen Oberkirchenrats (I852-58) zur Lockerung der Union, zur Stärkung des lutherischen Konfessionalismus und zur Erneuerung der Herrschaft der orthodoxen Geistlichkeit über die Laienwelt. Der politische Umschwung infolge der Erhebung des Prinz-Regenten und der Sturz des Ministeriums Manteuffel brachen auch Stahls Herrschaft im Oberkirchenrat und veranlaßten 1858 seinen Austritt aus dieser Behörde. Seitdem setzte er den politischen Kampf gegen das "Ministerium der liberalen Ära" mit zäher Energie im Herrenhaus fort, drohend, "das Haus werde in seinem Widerstand gegen die neue liberale Richtung der Regierung vielleicht brechen, aber nicht biegen", erlebte jedoch nicht mehr den Umschlag der Regierung, welche nach schwachen liberalen Versuchen ihre Stütze wieder in dem Herrenhaus suchte. Er starb 10. August 1861 in Brückenau. Von seinen Schriften sind noch hervorzuheben: "Die Kirchenver- Stahlblau - Stahr. fassung nach Lehre und Recht der Protestanten" (Erlang. 1840, 2. Aufl. 1862); "Über Kirchenzucht" (Berl. 1845, 2. Aufl. 1858); "Das monarchische Prinzip" (Heidelb. 1845); "Der christliche Staat" (Berl. 1847, 2. Aufl. 1858); "Die Revolution und die konstitutionelle Monarchie" (das. 1848, 2. Aufl. 1849); "Was ist Revolution?" (1.-3. Aufl., das. 1852); "Der Protestantismus als politisches Prinzip" (das. 1853, 3. Aufl. 1854); "Die katholischen Widerlegungen" (das. 1854); "Wider Bunsen" (gegen dessen "Zeichen der Zeit", 1.-3. Aufl., das. 1856); "Die lutherische Kirche und die Union" (das. 1859, 2. Aufl. 1860). Nach seinem Tod erschienen: "Siebenzehn parlamentarische Reden" (Berl. 1862) und "Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche" (2. Aufl., das. 1868). Vgl. "Pernice, Savigny, S." (Berl. 1862). 3) Karl, Pseudonym, s. Gödeke. 4) Pierre Jules, Pseudonym, s. Hetzel. 5) Arthur, Pseudonym, s. Voigtel. Stahlblau, dunkelblaue Farbe, ähnlich dem angelaufenen Stahl, besonders wenn der so gefärbte Körper Metallglanz hat. Stahlbrillanten (Stahldiamanten), Stahlstückchen mit vielen glänzenden Facetten, bisweilen als Köpfe von Stahlstiften mit Schraubengewinde. Stahlbronze, s. Bronze, S. 460. Stahleck, Burg bei Bacharach (s. d.). Stahlfedern, Schreibfedern aus Stahl, werden dargestellt, indem man aus entsprechend dünnem Stahlblech Plättchen von der Gestalt der Federn mittels eines Durchstoßes ausschneidet, dann diese Plättchen unter einem andern Durchstoß mit dem Loch versieht, in welchem der Spalt endigt, und zugleich mit den beiden seitlichen Spalten, welche die Biegsamkeit der Feder erhöhen. Hierauf glüht man die Plättchen in eisernen Töpfen aus, versieht sie unter einem Fallwerk mit der Schrift und etwanigen Verzierungen und gibt ihnen auf einer Presse durch Hineintreiben in eine entsprechend konkave Stanze die rinnenförmige Gestalt. Die durch das Ausglühen sehr weich gewordenen Federn werden nun zum Zweck des Härtens in flachen, bedeckten Eisengefäßen rotglühend gemacht und schnell in Öl oder Thran geschüttet. Behufs ihrer Reinigung von dem Öl behandelt man sie dann mit Sägespänen in einer um ihre Achse rotierenden Trommel, scheuert sie durch eine ähnliche Prozedur mit zerstoßenen Schmelztiegelscherben und schleift sie nun einzeln auf der Außenseite ihres Schnabels durch fast nur augenblickliches Anhalten an eine schnell umlaufende Schmirgelscheibe. Die blau oder gelb angelaufenen S. erhalten diese Farbe durch Erhitzen in einer über Kohlenfeuer rotierenden Trommel aus Eisenblech. Diese Operation ist für alle S. erforderlich, da sie die Härte bestimmt, und es müssen daher diejenigen, welche nicht farbig in den Handel gebracht werden sollen, schließlich nochmals gescheuert werden. Zuletzt wird der Spalt mittels einer besonders gebauten kleinen Parallelschere erzeugt. Manche S. werden schließlich noch mit Schellackfirnis überzogen. Über die Erfindung der S. ist nichts Sicheres begannt. Die ersten S. soll auf Anregung des Chemikers Priestley der Metallwarenfabrikant Harrison in Birmingham hergestellt haben, aber erst sein Gehilfe Josiah Mason (gest. 1881) beutete die Erfindung aus und arbeitete Jahrzehnte für Perry, welcher als Begründer der Birminghamer Stahlfederindustrie gilt. Gegenwärtig gibt es 18 Stahlfedernfabriken: 13 in England, 2 in Nordamerika, 2 in Deutschland (Berlin und Plagwitz-Leipzig), 1 in Frankreich, welche zusammen wöchentlich 371/2 Mill. Stück fabrizieren. Stahlhof (Steelyard, wohl aus "Stapelhof" korrumpiert), die alte Faktorei der Hanseaten in London, die ihnen 1473 gegen eine Jahresmiete von 70 Pfd. Sterl. überlassen wurde und bis 1866 ihr Eigentum blieb, in welchem Jahr sie dieselbe an eine Eisenbahngesellschaft verkauften. Jetzt steht an der Stelle der Bahnhof in Canon Street. Stahlquellen, s. v. w. Eisenquellen, s. Mineralwässer, S. 652. Stahlrot, s. Englischrot. Stahlrouge, s. Polierrot. Stahlspiel, s. Lyra. Stahlstein, s. Spateisenstein. Stahlstich (Siderographie), die Vervielfältiggung von Bildwerken mittels geschnittener Stahltafeln, 1820 von dem Engländer Charles Heath erfunden. Das Verfahren dabei ist folgendes. Stahlblöcke oder Platten werden dekarbonisiert, d. h. des Kohlenstoffs beraubt, und dadurch bis zu dem Grad erweicht, daß sie sich beim Stich der Figuren noch besser behandeln lassen als Kupfer. Das Verfahren beim Stich ist dasselbe wie bei dem auf Kupfer, nur bedient man sich auf Stahl seltener und mit weniger Vorteil der kalten Nadel. Nach dem Stich wird durch ein chemisches Verfahren die Platte wieder gehärtet. Um den Stich auf andre Platten zu übertragen, schiebt man einen gleichfalls dekarbonisierten Cylinder von Stahl in die Übertragungspresse (transfer-press) und fährt damit über die eingeschnittenen Figuren der wieder gehärteten Stahlplatte hin. Die Einschnitte der Platte drücken sich hierbei dem Cylinder erhaben auf, und zwar wird es durch eine schwingende Bewegung der Presse und der Peripherie des Cylinders ermöglicht, daß sich immer eine neue Oberfläche zur Aufnahme des Stahlschnitts darbietet. Nachdem darauf der Cylinder ebenfalls gehärtet worden ist, drückt man damit auf neue dekarbonisierte Stahlplatten das ursprüngliche Bild der Originalplatte auf und druckt diese wie gewöhnlich ab. Auf diese Weise kann das Bild ins Unendliche vervielfältigt werden, so daß der 10,000. Abdruck nicht den geringsten Unterschied vom ersten zeigt. Dennoch ist für Kunstwerke höherer Gattung der Kupferstich in Geltung geblieben, da er größere Kraft, Sicherheit und Weichheit in der Linienführung gestattet, wogegen der S. besonders für solche Werke angewendet wird, welche einen starken Absatz versprechen, wie für Illustrationen, Veduten u. dgl. Der erste Stahlstecher in Deutschland war Karl Ludwig Frommel in Karlsruhe. Seit der Erfindung der Galvanoplastik, welche die Abnahme von Klischees von Kupferplatten gestattet, und der Verstählung von Kupferplatten ist der S. in Abnahme gekommen. Vgl. Kupferstecherkunst. Stahlwasser, eisenhaltiges Mineralwasser. Stahlweinstein, s. Eisenpräparate. Stahr, Adolf Wilhelm Theodor, Schriftsteller, geb. 22. Okt. 1805 zu Prenzlau, widmete sich in Halle den klassischen Studien, ward 1826 Lehrer am Pädagogium daselbst und 1836 Konrektor am Gymnasium zu Oldenburg. Seine litterarische Thätigkeit erstreckte sich zunächst auf die Geschichte, Kritik und Erklärung der Schriften des Aristoteles. Hierher gehören seine "Aristotelia" (Halle 1830-32, 2 Bde.), ferner: "Aristoteles bei den Römern" (Leipz. 1834) und die Bearbeitung der Aristotelischen "Politik" (das. 1836 bis 1838), denen sich "Aristoteles und die Wirkung der Tragödie" (Berl. 1859) und die Übersetzungen von Aristoteles' Poetik, Politik, Rhetorik und Ethik (Stuttg. 1860-63) anschließen. Neben dieser philologischen Thätigkeit hatte sich S. frühzeitig auch Stähr - Stair. allgemeinen litterarischen Interessen zugewandt. Er gab eine Handschrift von Goethes "Iphigenia", die er in der Bibliothek zu Oldenburg entdeckt hatte, mit einem trefflichen Vorwort heraus, schrieb eine "Charakteristik Immermanns" (Hamb. 1842) und nahm an dem versuchten Aufschwung der Oldenburger Hofbühne lebhaften Anteil, den seine "Oldenburgische Theaterschau" (Oldenb. 1845, 2 Bde.) bethätigte. Einen Wendepunkt seines Lebens bildete seine Reise nach Italien, die er 1845 antrat und die er in seinem lebendig geschriebenen, farbenreichen und weitverbreiteten Buch "Ein Jahr in Italien" (Oldenb. 1847-50, 3 Bde.; 4. Aufl., das. 1874) eingehend schilderte. In Rom lernte er Fanny Lewald (s. d.) kennen, mit der er sich nach Trennung seiner ersten Ehe 1854 verheiratete. Schon vorher hatte er wegen Kränklichkeit seine Stellung am Oldenburger Gymnasium niedergelegt und sich 1852 in Berlin niedergelassen, wo er lebte, bis ihn Gesundheitsrücksichten nötigten, verschiedene Kurorte zu seinem Wohnsitz zu wählen. S. starb 3. Okt. 1876 in Wiesbaden. Seine litterarische Produktivität hatte während der Zeit seines Berliner Aufenthalts sich beständig gesteigert. Die poetischen Anläufe in dem Roman "Die Republikaner in Neapel" (Berl. 1849, 3 Bde.) und den Gedichten "Ein Stück Leben" (das. 1869) erwiesen keine eigentliche Produktionskraft. So wandte sich S. in zahlreichen Kritiken, Essays und selbständigen Werken zur Kunst- und Litteraturgeschichte. Seinem "Torso; Kunst, Künstler und Kunstwerke der Alten" (Braunschw. 1854- 55, 2 Bde.; 2. Aufl. 1878) folgten: "Lessing, sein Leben und seine Werke", eine populäre Biographie und Charakteristik, die raschen Eingang ins Publikum gewann (Berl. 1859, 2 Bde.; 9. Aufl. 1887); "Fichte", ein Lebensbild (das. 1862); "Goethes Frauengestalten" (das. 1865-68, 2 Bde.; 7. Aufl. 1882); "Kleine Schriften zur Litteratur und Kunst" (das. 1871-75, 4 Bde.). Aus Lebenserinnerungen, persönlichen Eindrücken, namentlich der zahlreichen Reisen, die er mit seiner Gattin unternahm, gingen die Bücher: "Die preußische Revolution" (Oldenb. 1850, 2 Bde.; 2. Aufl. 1852), "Weimar und Jena", ein Tagebuch (das. 1852, 2 Bde.; 2. Aufl. 1871), "Zwei Monate in Paris" (das. 1851, 2 Bde.), "Nach fünf Jahren", Pariser Studien (das. 1857, 2 Bde.), "Herbstmonate in Oberitalien" (das. 1860, 3. Aufl. 1884), "Ein Winter in Rom", gemeinsam mit Fanny Lewald (Berl. 1869, 2. Aufl. 1871), hervor, während er in der Schrift "Aus der Jugendzeit" (Schwerin 1870-77, 2 Bde.) seine Jugendtage schilderte. Heftigen Widerspruch erfuhren seine "Bilder aus dem Altertum" (Berl. 1863-66, in 4 Bänden), "Tiberius" (2. Aufl. 1873), "Kleopatra" (2. Aufl. 1879), "Römische Kaiserfrauen" (2. Aufl. 1880), "Agrippina, die Mutter Neros" (2. Aufl. 1880) enthaltend, in denen S. den Versuch unternahm, die bisherige historische Auffassung, namentlich des Tacitus, zu entkräften und die genannten historichen Gestalten zu reinigen und zu rechtfertigen. Stähr, s. v. w. männliches Schaf, Bock. Staigue-Fort (spr. stäckfort), vorgeschichtliches Festungswerk der Grafschaft Kerry (Irland), bestehend aus einer ohne Mörtel erbauten Ringmauer von 114 Fuß äußerm Durchmesser. Stainer (Steiner), Jakob, berühmter Saiteninstrumentenmacher, geb. 14. Juli 1621 zu Absam bei Hall in Tirol, war ein Schüler von Amati zu Cremona. Im Leben von Sorgen und Mißgeschick heimgesucht, mußte er anfangs von seinen Violinen das Stück für 6 Gulden verkaufen. 1669 vom Erzherzog Leopold zum "Hofgeigenmacher" ernannt, wurde er gleichwohl von den Jesuiten als vermeintlicher Ketzer monatelang in Haft gehalten, verfiel in Wahnsinn und starb in größter Not 1683. Seine Geigen zeichnen sich durch besonders hohe Bauart und einen ganz vorzüglichen Ton aus und werden von Kennern jetzt teuer bezahlt. Auch sein Bruder Markus S. war als Instrumentenmacher bekannt. Vgl. Ruf, Der Geigenmacher J. S. (Innsbr. 1872). Staines (spr. stehns), Stadt in der engl. Grafschaft Middlesex, 24 km westsüdwestlich von Hyde Park (London), an der Themse, hat lebhaften Produktenhandel und (1881) 4628 Einw. Die Jurisdiktion Londons über die Themse erstreckt sich seit 1280 bis hierher. Stair (spr. stehr), 1) John Dalrymple, erster Graf von, brit. Staatsmann, geb. 1648, schloß sich wie sein als Jurist berühmter, 1690 zum Viscount S. erhobener Vater James Dalrymple (gest. 1695) Wilhelm III. von Oranien an, wurde 1691 zum Staatssekretär für Schottland ernannt, mußte aber wegen der von ihm 1692 angeordneten Niedermetzelung eines Clans jakobitischer Hochländer zu Glencoe, die das schottische Parlament für einen barbarischen Mord erklärte, 1695 seine Entlassung nehmen und wagte erst fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters im Oberhaus zu erscheinen. 1703 nichtsdestoweniger zum Grafen von S. ernannt, gehörte er zu den eifrigsten Vertretern der unter Königin Anna zu stande gebrachten Union zwischen England und Schottland und starb 18. Jan. 1707. 2) John Dalrymple, zweiter Graf von, Sohn des vorigen, brit. Staatsmann und Heerführer, geb. 1673 zu Edinburg, diente von 1702 bis 1709 unter Markborough in den Niederlanden und Deutschland und zeichnete sich in den Schlachten von Ramillies, Oudenaarde und Malplaquet aus. 1714 zum Gesandten in Paris ernannt, erlangte S. nach Ludwigs XIV. Tod bei dem Regenten so viel Einfluß, daß er den bourbonischen Familienbund zwischen Frankreich und Spanien sprengte und Frankreich vermochte, die Stuarts preiszugeben. 1720 aber erregte sein Widerstand gegen die Finanzpläne Laws den Unwillen der britischen Regierung und veranlaßte seine Zurückberufung. Erst nach dem Rücktritt Walpoles trat er wieder in den Staatsdienst, wurde Gesandter bei den Generalstaaten und 1742 Feldmarschall und Kommandeur der englischen Armee im österreichischen Erbfolgekrieg. Er drang mit seinem Heer bis Aschaffenburg vor und schlug 27. Juni 1743 die Franzosen unter Noailles bei Dettingen, verließ dann aber wegen Bevorzugung der hannoverschen Interessen und wegen Einmischung der Minister und Diplomaten die Armee. Infolge davon fiel er am Hof in Ungnade, bis der jakobitische Aufstand in Schottland (1745) ihn an die Spitze des in England aufgestellten Heers rief. Er starb 1. Mai 1747. 3) John Hamilton Dalrymple, achter Graf von, geb. 15. Juni 1771 aus einer Seitenlinie, diente seit 1790 in der britischen Armee, focht mit Auszeichnung 1794 und 1795 in Holland und Flandern und nahm 1807 an der Expedition nach Kopenhagen teil, worauf er zum Generalmajor befördert ward. 1832 wurde er ins Parlament gewählt, 1840 erbte er von seinem Vetter die Grafschaft S., und im April 1841 ward er als Lord Oxenfoord zum englischen Peer erhoben. In den Jahren 1840-41 und 1846-52 verwaltete er das Amt eines Großsiegelbewahrers für Schottland. Er starb 10. Jan. 1853 auf Oxenfoord Castle. Ihm folgten sein Bruder North Dalrymple, geb. 1776, gest. 9. Nov. 1864, Stake - Stallungen. als neunter und dessen Sohn John, Viscount Dalrymple, geb. 1. April 1819, als zehnter Graf von S. Vgl. Graham, Annals and correspondence of the Viscount and the first and second Earls of S. (Edinb. 1875, 2 Bde.). Stake, Wasserbaukunst, s. Buhne. Stake (engl., spr. stehk), Einsatz, Einlage (beim Spielen, Wetten etc.). Staket, Zaun aus Pfählen, Latten etc. (Staken). Stakholz, s. Fachholz. Stalagmiten und Stalaktiten, s. Tropfstein. Stalaktitengewölbe, eine Gewölbeform des arabischen Baustils, welche durch Verbindung von einzelnen Gewölbstückchen den Eindruck von Tropfsteinbildungen hervorruft. S. Baukunst, S. 492. Stalaktitenstruktur, s. Mineralien, S. 647. Stalbent, Adriaen van, niederländ. Maler, geb. 1580 zu Antwerpen, wurde 1610 Freimeister daselbst und starb 1662. Er hat meist Landschaften andrer Künstler mit Figuren in der Art des H. van Balen staffiert, aber auch selbständige Landschaften in der bunten Manier der ältern vlämischen Schule und Figurenbilder gemalt. Werke von ihm befinden sich in den Galerien von Antwerpen, Kassel (Kirmes), Frankfurt a. M., Dresden (Midasurteil, Göttermahlzeit), Berlin und Schwerin. Stalimene, Insel, s. Lemnos. Stälin, Christoph Friedrich von, deutscher Geschichtsforscher, geb. 4. Aug. 1805 zu Kalw in Württemberg, studierte zu Tübingen und Heidelberg Theologie und Philologie, ward 1826 Bibliothekar in Stuttgart, 1846 Oberbibliothekar, 1869 Bibliothekdirektor und leitete die königliche Bibliothek diese lange Zeit mit großem Geschick und Erfolg. Auch die königliche Münz- und Medaillen-, ebenso die Kunst- und Altertümersammlung ordnete und verwaltete er. Er starb 12. Aug. 1873. Außer kleinern Arbeiten über württembergische Landeskunde verfaßte er die "Wirtembergische Geschichte" (Stuttg. 1841-73, 4 Bde.), sein Hauptwerk und die beste deutsche Provinzialgeschichte. Seit 1858 Mitglied der Historischen Kommission in München, redigierte er mit Waitz und Häusser die "Forschungen zur deutschen Geschichte". - Sein Sohn Paul, geb. 23. Okt. 1840, Archivrat in Stuttgart, schrieb "Geschichte Württembergs" (Gotha 1882 Stall, s. Stallungen. Stallbaum, Gottfried, Philolog und Schulmann, geb. 25. Sept. 1793 zu Zaasch bei Delitzsch, vorgebildet in Leipzig, studierte daselbst seit 1815, ward 1818 Lehrer am Pädagogium in Halle, 1820 an der Thomasschule zu Leipzig und 1835 Rektor dieser Anstalt. Seit 1840 auch außerordentlicher Professor an der Universität, starb er 24. Jan. 1861. S. hat sich besonders um Platon verdient gemacht, nicht bloß durch tüchtige Bearbeitung einzelner Dialoge, des "Philebus" (Leipz. 1820, 2. Ausg. 1826), "Euthyphro" (das. 1823), "Meno" (das. 1827, 2. Ausg. 1839), "Dialogorum delectus" (das. 1838, 2. Ausg. 1851), "Parmenides" (das. 1839, 2. Aufl. 1848), sondern vor allem durch seine Gesamtausgaben, die große kritische (das. 1821-25, 12 Bde.; der Text auch besonders in 8 Bänden), die kommentierte in der Jacobs-Rostschen "Bibliotheca graeca" (Gotha 1827-1860, 10 Bde.; zum Teil in wiederholten Auflagen, zuletzt von Wohlrab und Kroschel) und die Tauchnitzsche Stereotypausgabe (1 Bd., das. 1850 u. 1873; 8 Bde., 1850 u. 1866-74). Sonst sind zu nennen seine Ausgaben des Herodot (Gotha 1819, 3 Bde.; 2. Aufl. 1825-26) und des Kommentars zu Homer von Eustathios (das. 1825-30, 7 Bde.) sowie Bearbeitungen der Ruddimanschen "Institutiones grammaticae latinae" (das. 1823, 2 Bde.) und des Westerhofschen "Terentius" (das. 1830-31, 6 Bde.). Stallfütterung, s. Futter, S. 811. Stallungen, Wohnungen der landwirtschaftlichen Haustiere. Die Lage des Stalles muß leichte Ableitung der Flüssigkeiten gestatten und Ansammlungen von Grundwasser, welches, durch die Auswurfstoffe der Tiere verunreinigt, zum Träger von Krankheitserregern wird, vermeiden. Die Hauptfronte legt man gegen Osten und den Ausgang an diese Hauptfronte; Thüren an der Westseite erleichtern das Eindringen von Fliegen, die gegen Abend warme Stellen aufsuchen. In der Mitte der Höhe geteilte Thüren gestatten durch Öffnen der obern Thürflügel eine leichte und gründliche Ventilation. Der Feuersgefahr wegen bringt man zahlreiche Thüren an; um aber zu vermeiden, daß bei Öffnung derselben der Luftzug die Insassen trifft, stellt man die Thüren in der Regel an die Enden der sogen. Stallgasse, welche meist zugleich als Mistgang dient. Die Thürpfosten macht man rund oder doch an den Kanten abgerundet und versieht sie mit 1,5 m hohen senkrechten Walzen, um Beschädigungen der Tiere beim Aus- und Eindrängen in den Stall vorzubeugen; ebendeshalb müssen Thüren und Thürflügel sich stets nach außen öffnen und nicht von selbst zufallen. Gegenwärtig sind vielfach Schiebthüren in Gebrauch. Die Stallfenster bringt man womöglich hinter den Köpfen der Tiere an und so hoch, daß Lichtstrahlen wie Luftströmungen über den Tieren hinwegstreichen. Erlaubt dies die Anlage des Gebäudes nicht, dann verwendet man matt geschliffene oder blaue Glasscheiben und schützt diese gegen Zerbrechen durch Drahtgitter. Mit Oberlicht können Vorrichtungen zur Lufterneuerung verbunden werden, und mit teilweise beweglichen Fenstern kann man lüften, ohne das ganze Fenster zu öffnen, und ohne daß die eindringende kalte Luft die Tiere unmittelbar trifft. Die Fensterrahmen werden am besten von Eisen hergestellt. Zur Ventilation der S. dürften senkrechte, an dem First ausmündende Dunstkamine immer noch verhältnismäßig ebensoviel leisten wie die neuern kostspieligen Einrichtungen. Die Abzugskanäle bleiben in kleinern S. am besten offen, werden aber wasserdicht eingerichtet und mit Wasserleitungsröhren in Verbindung gebracht. Offene, nicht zu tiefe Stallrinnen sind der bequemen und gründlichen, auch leicht kontrollierbaren Reinigung wegen vorzuziehen. Die größte Dauer und die sicherste Abscheidung zwischen Stall und darüber gelegenen Räumen gewähren steinerne Gewölbe, doch benutzt man auch Konstruktionen mit Eisenbahnschienen; bei Anwendung von Holz ist für enge Verbindung der einzelnen Bretter (Einlegen in Falze) zu sorgen. Der Fußboden soll den Tieren eine bequeme und nicht abkühlende Lagerstätte bieten, er darf daher nach hinten nur geringen Fall haben und nicht aus guten Wärmeleitern hergestellt sein. Das beste Pflasterungsmaterial geben hartgebrannte Backsteine ab. Die sogen. Brückenstände, d. h. über flache Kanäle gelegte Dielenböden, sind teuer, nicht dauerhaft und unreinlich, geben aber allerdings die wärmste Unterlage. Das Baumaterial für Ställe darf nicht porös sein, um die bei Zersetzung des Urins sich bildenden Stoffe nicht aufzusaugen. Die Bildung von Salpeter an den Stallwänden erhält diese stets feucht. Der Raumbedarf in den Ställen ist nach Tiergattung, Zahl der Tiere und den Nutzungszwecken äußerst verschieden zu bemessen. Man unterscheidet: a) Stallupönen - Stamma. offene Standplätze ohne Abgrenzung; b) Standplätze mit beweglichen Abscheidungen, den sogen. Latier- oder Raumbäumen, die an Säulen befestigt werden oder an Ketten hängen; c) Kastenstände, Standplätze mit festen Trennungsscheidewänden; d) Laufstände, Loose boxes, zur Aufnahme Eines frei gehenden Tiers ohne Raum zum Tummeln; e) Laufställe für mehrere frei gehende Tiere mit Raum zum Tummeln, für junge Tiere, Mutter mit Jungen etc.; f) Paddocks, Stallräume für einzelne Tiere, meist Pferde, z. B. Zuchtpferde, mit Ausgang in einen sicher abgegrenzten Hofraum, Tummelplatz oder in Weideabteilungen. Ein Pferd bedarf eines 1,70 m breiten und 3 m langen Standplatzes, nur bei beweglicher Abscheidung durch Latierbäume kann die Breite um 10-20 cm geringer sein; in Boxen berechnet man aufs Pferd 3 qm. Rindviehställe sollen Standplätze von 1,4 m Breite bei 2,8 m Länge haben, Kälber und Jungvieh solche von 2-3 qm. Bei Schafen veranschlagt man den Raum auf 2 für das einzelne Stück, für frei gehende auf 1 qm. Hinter den Standplätzen wird ein genügend breiter Stallgang eingerichtet (1,6-2,0-3,0 m breit), damit, namentlich in Pferdeställen, Menschen und Tiere ungefährdet verkehren können. In größern landwirtschaftlichen S. ist dieser Gang häufig breit genug, um das Einfahren von Futter- und Mistwagen zu gestatten. Stehen die Tiere in zwei Reihen mit den Köpfen einander gegenüber, wie vielfach in Rindviehställen, so wird dazwischen ein erhöhter Futtergang oder ein Futtertisch nötig; letzterer erleichtert die Fütterung erheblich. Zum Vorlegen des "Kurzfutters": Körner, Schrot, Häcksel, Wurzeln etc., vielfach auch zur Aufnahme des Getränks, dienen die Krippen. Abteilung der Krippe für die einzelnen Tiere (Krippenschüsseln für Pferde) gestattet die Zuteilung bestimmter Ration an jedes, zugleich auch die Kontrolle der Freßlust. Krippen aus weichem Holz sind schwer zu reinigen und begünstigen daher die Zersetzung des Futters; das beste Material sind: Granit, Jurakalk, gut gebrannte Backsteine, Zementguß; für Pferdeställe gußeiserne, innen gut emaillierte Krippenschüsseln. Hölzerne Krippen sowie hölzerne Krippenträger in Pferdeställen müssen zum Schutz gegen das Benagen durch die Tiere mit Eisenblech beschlagen werden. In den gewöhnlich oberhalb der Krippen angebrachten, meist leiter- oder korbförmigen Raufen wird das Lang- oder Rauffutter (fälschlich Rauh- oder Rauchfutter): Heu, Stroh, Grünfutter, verabreicht. Zur Vermeidung von Verletzungen an Kopf und Augen hat man die "Nischenraufe" empfohlen, bei welcher einige Zentimeter über der Krippe in einer Mauernische, vor der eine senkrechte Leiterraufe angebracht ist, das Langfutter dargereicht wird. Vgl. Rueff, Bau und Einrichtung der S. (Stuttg. 1875); Miles, Der Pferdestall (Frankf. a. M. 1862); Engel, Der Viehstall (2. Aufl., Berl. 1889); Derselbe, Der Pferdestall (das. 1876); Gehrlicher, Der Rindviehstall (Leipz. 1879); Wanderley, Die Stallgebäude (Karlsr. 1887). Stallupönen, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Gumbinnen, an der Linie Seepothen-Eydtkuhnen der Preußischen Staatsbahn, 80 m ü. M., hat ein Amtsgericht, ein Warendepot der Reichsbank, Maschinenfabrikation, Gerberei, Ziegelbrennerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Ulanen Nr. 12) 4181 meist evang. Einwohner. Stalwarts (engl., "Starke", "Mutige"), in Nordamerika Name derjenigen Republikaner, welche die Herrschaft dieser Partei nach dem Bürgerkrieg rücksichtslos zu ihrem Vorteil ausbeuten wollten und deshalb 1879 für die dritte Wahl Grants zum Präsidenten, wiewohl vergeblich, eintraten; ihre Führer waren Conkling, Cameron und Logan. Ihre Gegner in der Partei, die zur Versöhnung mit den Demokraten geneigten, der Korruption feindlichen Republikaner (unter Schurz und Curtis), hießen Mugwumps. Stalybridge (spr. stehlibriddsch), Fabrikstadt an der Grenze von Cheshire und Lancashire (England), am Tame, hat Baumwollmanufaktur, Maschinenbau, Nagelschmieden und (1881) 25,977 Stambul, türk. Name für Konstantinopel. Stambulow, St., bulgar. Staatsmann, geb. 1853 zu Tirnowa, studierte in Rußland die Rechte, erregte 1875 in Eski Zagra einen Aufstand gegen die Türken, mußte nach dessen Scheitern nach Bukarest fliehen, nahm 1877-78 als Freiwilliger am russisch-türkischen Krieg teil, ließ sich darauf in Tirnowa als Advokat nieder und ward Mitglied und bald Präsident der Sobranje. Als 21. Aug. 1886 der Staatsstreich gegen den Fürsten Alexander ausgeführt und eine revolutionäre Regierung eingesetzt wurde, stürzte er diese im Verein mit Mutkurow und Karawelow und bildete mit diesen eine neue Regierung, der nach der Abdankung Alexanders 7. Sept. die Regentschaft übertragen wurde. Er behauptete sich gegen alle Ränke seiner Nebenbuhler und die Wühlereien der russischen Agenten, besonders des Generals Kaulbars, und bewirkte 7. Juli 1887 die Wahl des Fürsten Ferdinand, nach dessen Regierungsantritt (14. Aug.) er an die Spitze des Ministeriums Stamen (lat.), Staubgefäß (s. d.). Stamford, 1) Stadt in Lincolnshire (England), am schiffbaren Welland, hat mehrere alte Kirchen, ein Museum, Brauereien, Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Handel mit Malz, Kohlen und Bausteinen und (1881) 8773 Einw. 1572 ließen sich vlämische Weber hier nieder. - 2) Hafenstadt im nordamerikan. Staat Connecticut, am Long Island-Sound, hat Eisen-, Woll- und Farbefabriken und (1880) 2540 Einw.; beliebter Sommeraufenthalt. Staminodie (lat.-griech.), die durch vor- oder rückschreitende Metamorphose bewirkte Umbildung eines Blütenteils in ein Staubblatt (s. Staubgefäß). Stamm, in der Botanik im weitesten Sinn s. v. w. Stengel (s. d.); im engern Sinn derjenige Teil des Stengels, welcher als unmittelbare Fortsetzung der Wurzel nach oben sich vertikal erhebt und größern Umfang besitzt als die in einer gewissen Höhe seitlich von ihm ausgehenden Äste. In der Sprachlehre ist S. der Teil des Wortes, welcher nach Ausscheidung aller Beugungsformen übrigbleibt; z. B. Haus in Haus-es, ruf in ruf-en. Trennt man auch die Ableitungssilben ab, so erhält man die Wurzel, wie z. B. in er-wach-en "erwach" der S., "wach" die Wurzel ist. Häufig fällt indessen der S. mit der Wurzel zusammen. Ferner versteht man unter S. Menschen oder Familien und Geschlechter, welche ihre Abkunft von Einem Elternpaar (Stammeltern) in ununterbrochener Reihe abzuleiten vermögen. Im Militärwesen heißt S. der Teil einer Truppe, welcher bei der Fahne bleibt, während die andern in die Heimat entlassen und durch Rekruten ersetzt werden. Stamma, Philipp, Schachmeister, gebürtig aus Aleppo in Syrien, ist der Verfasser eines der bekanntesten ältern Schachbücher, der "100 künstlichen Endspiele", 1737 zu Paris erschienen und herausgegeben von Bledow und O. v. Oppen (Berl. 1856). S. war der erste, welcher die jetzt bei uns gebräuchliche Notation mit Buchstaben und Zahlen Stammakkord - Stampiglia. Stammakkord, in der Harmonielehre der Gegensatz der abgeleiteten Akkorde. Man versteht unter S. meist einen in lauter Terzen aufgebauten Akkord, also Dreiklang, Septimenakkord oder Nonenakkord; die Umkehrungen dieser Akkorde (abgeleiteten Akkorde), bei denen die Terz, Quinte, Septime oder None tiefster Ton ist, sind Sextakkord, Quartsextakkord, Quintsextakkord, Terzquartsextakkord, Sekundquartsextakkord etc. Doch kann man die Bezeichnung S. auch als Gegensatz der durch Alteration oder Vorhalte veränderten reinen Harmonien gebrauchen. Stammaktien, s. Aktie, S. 263. Stammbaum, die Aufstellung der Nachkommenschaft einer bestimmten Persönlichkeit in männlicher Linie, in welcher die Töchter zwar aufgezählt werden können, aber (falls sie in ein andres Geschlecht heiraten) nicht deren Nachkommenschaft. Der Name S. rührt von dem Gebrauch her, die Aufstellung in der Form eines Baums zu entwerfen, an welchem die Zweige die verschiedenen Linien eines Geschlechts darstellen. Vgl. Stammbuch, s. Album. Stammeln, s. Stottern und Stammeln. Stammgüter, im weitern Sinn diejenigen von den Vorfahren ererbten Immobilien, welche die Bestimmung haben, bei der betreffenden Familie zu bleiben. Im einzelnen wird aber dabei wiederum zwischen Stammgütern im engern Sinn, zwischen Familienfideikommiß- und Erbgütern unterschieden. Erstere (bona stemmatica) sind Familiengüter des höhern und niedern Adels, bei welchen die Erbfolge vermöge Herkommens nur auf Agnaten, d. h. auf die durch Männer miteinander verwandten männlichen Familienangehörigen, übergeht. Bei den Familienfideikommißgütern ist durch besondere Disposition bestimmt, daß dieselben stets bei der Familie bleiben sollen (s. Fideikommiß), während die Erbgüter endlich, welche sich früher auch beim Bürgerstand fanden, dadurch ausgezeichnet sind, daß ihre Veräußerung, abgesehen von besondern Notfällen, im Interesse der Intestaterben untersagt oder doch erschwert ist. Vgl. Bärnreither, Stammgütersystem und Anerbenrecht in Deutschland (Wien 1882). Stammkapital, s. Aktie, S. 262. Stammprioritäten, s. Aktie, S. 264. Stammregister, s. v. w. Juxtabuch (s. d.). Stammrolle, das für Aushebungszwecke geführte Verzeichnis aller im militärpflichtigen Alter stehenden Männer eines Ortes; auch die Liste der Mannschaften einer Kompanie, Eskadron etc. Stammtafel, s. Genealogie. Stammtöne, in der Musik die Töne ohne Vorzeichen, von denen alle übrigen durch ^[Kreuz], ^[B], ^[Doppelkreuz] und ^[Doppel-B] abgeleitet sind. Die Folge der S. in Sekundschritten (Grundskala) ist und war schon im Altertum die Folge von 2 Ganztönen, 1 Halbton, 3 Ganztönen, 1 Halbton, welche sich in allen Oktaven wiederholt: ^[siehe Bildansicht] Eine Ausnahme machen nur die noch ältern fünftönigen Skalen (archaistische Tonleitern), welche sich der Halbtonschritte gänzlich enthalten und daher den untern oder obern Ton des Halbtonintervalls auslassen, so in uralter Zeit bei den Chinesen, aber auch bei den Griechen, Schotten (Tonleiter ohne Quarte und Septime) und vermutlich Stammzuchtbuch, s. Herdbuch. Stamnos, altgriech. faßartiges Vorratsgefäß aus gebranntem Thon zur Aufbewahrung von Wein, Öl u. dgl. (s. Tafel "Vasen", Fig. 7). Stampa (ital.), Gepräge, Stempel; Druck, Druckerei; Stampatore, Buchdrucker. Stampa, Gaspara, ital. Dichterin, geb. 1524 zu Padua, wird nicht mit Unrecht die "Sappho ihrer Zeit" genannt, denn auch ihr bereitete eine verkannte, unerwiderte Liebe, deren Sehnsucht sich in ihren Liedern ergoß, ein frühes Grab. Sie starb 1554 in Venedig. Ihre Gedichte, die sie selbst auch zur Laute sang, haben einen musikalischen Charakter und zeichnen sich durch ungewöhnliche Innigkeit wie durch leidenschaftliches Pathos vorteilhaft aus. Sie erschienen Venedig 1554 (neuere Ausg., das. Stampalia (griech. Astropalia, türk. Ustopalia), türk. Insel im Ägeischen Meer, südöstlich von Amorgos, 136 qkm (21/2 QM.) groß, besteht aus zwei gebirgigen Hälften, die durch einen schmalen Isthmus verbunden sind, hat mehrere treffliche Häfen und Reste aus dem spätern Altertum und den ersten christlichen Zeiten. Auf dem Isthmus liegt die Stadt S., mit Bergschloß und 1500 Einw. Im Altertum hieß die Insel Astypaläa. Stampfbau, s. Pisee. Stampfen, die oszillierende Bewegung eines Schiffs um seine Querachse, bei welcher Bug und Heck abwechselnd aus- und Stämpfli, Jakob, schweizer. Staatsmann, geb. 1820 zu Schupfen im Kanton Bern, widmete sich zu Bern juristischen Studien, ward 1843 Advokat und trat 1845 als Redakteur der "Berner Zeitung", des Organs der radikalen Partei, in Opposition zu der gemäßigt liberalen Fraktion, welche damals am Ruder war. In dem auf seinen Betrieb berufenen Verfassungsrat führte er neben Ochsenbein die Hauptstimme. Im Juli 1846 in den Regierungsrat berufen, übernahm er die Leitung der Finanzen und führte direkte Besteuerung, Aufhebung aller Feudallasten und Zentralisation des Armenwesens durch. 1849 wurde er Regierungspräsident, mußte aber 1850 beim Sturz der radikalen Partei ins Privatleben zurücktreten. 1849 von seinem Kanton in den schweizerischen Ständerat und 1850 in den Nationalrat gewählt, dem er 1851 und 1854 präsidierte, wurde er, nachdem er eben infolge der Fusion der beiden bernischen Parteien wieder in die Regierung des Kantons getreten war, im Dezember 1854 an Stelle Ochsenbeins in den Bundesrat berufen. 1856 und 1862 Bundespräsident, nahm er in der Neuenburger wie in der Savoyer Frage eine energische Stellung ein und forderte vergeblich den Bau und Rückkauf der Eisenbahnen durch den Staat, erfreute sich aber gerade deshalb außerordentlicher Popularität. 1863 schied er aus dem Bundesrat und stand 1865-78 der sogen. Eidgenössischen Bank vor. 1872 wurde er vom Bundesrat zum Mitglied des internationalen Schiedsgerichts in der Alabamafrage ernannt. Er starb 15. Mai 1879 in Bern. Stampfmühle (Stampfwerk), Maschine, welche aus niederfallenden Stampfen besteht und zum Zerkleinern der Ölfrüchte in Ölmühlen, der Ingredienzien zur Anfertigung von Schießpulver, der Materialien in Porzellan-, Glas- und dergleichen Fabriken, der Hadern in Papierfabriken, der Mineralien (Pochen) etc., zum Boken des Hanfs, zum Kalandern der Leinengewebe, zum Klopfen des Leders etc. dient. Vgl. Stampiglia (ital., spr. -pillja), "Stempel", wel- Stams - Standesherren. cher zum Abdruck des Titels einer Behörde, Anstalt, Firma etc. mittels Druckerschwärze oder Farbe aus Dokumenten, Briefen, Rechnungen u. dgl. benutzt wird. Stams, Dorf in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Imst, im Oberinnthal, an der Arlbergbahn, hat (1880) 565 Einw. und eine berühmte Cistercienserabtei (1271 von Elisabeth, der Mutter Konradins, gegründet) mit Bibliothek, reichen Sammlungen und der Gruft tirolischer Fürsten in der Klosterkirche. Stanco (türk. Istankoi, das alte Kos), türk. Insel im Ägeischen Meer, an der Südwestspitze von Kleinasien, 246 qkm (41/2 QM.) groß, ist bergig, aber an der Nordküste eben und fruchtbar, liefert Südfrüchte (Export jährlich 10-20,000 Ztr. Rosinen), trefflichen Wein und Salz und hat ca. 11,000 Einw., meist Griechen. - Die gleichnamige Stadt, an der Nordostküste, ist Sitz eines Bischofs und eines türkischen Kaimakams, hat eine alte Citadelle, einen schlechten Hafen und 3000 Einw. Stand, s. Stände. Standard (engl., spr. stanndard), s. v. w. gesetzlich, normal, mustergültig, z. B. s. gold, Goldlegierung von dem Gesetz entsprechendem (11/12) Feingehalt. Standard Hill, Hügel in der engl. Grafschaft Nork, bei Cutton, berühmt durch die Standartenschlacht zwischen Engländern und Schotten 22. Aug. 1138, in der 11,000 der letztern blieben. Standard of life (engl., spr. leif, "Lebenshaltung"), dasjenige, was der Mensch zum Leben braucht, um die von ihm erreichte Kulturhöhe zu behaupten. Vgl. Existenzminimum. Standarte (v. franz. étendard), ursprünglich das kaiserliche Reichsbanner, jetzt die Fahne der Kavallerie, mit kleinerm Tuch als die Fahne der Infanterie. Die Stange (Schaft) mit Metallbeschlägen steht mit der untern Spitze im Standartenschuh am rechten Steigbügel. Früher führte jede Eskadron eine S., jetzt hat in der Regel ein Kavallerieregiment nur eine Fahne. - In der Jägersprache heißt S. der Schwanz des Fuchses. Standbein, in der Bildhauerkunst bei einer stehenden menschlichen Figur dasjenige Bein, auf welchem nach Maßgabe der gewählten Stellung die Hauptlast des Körpers ruht. Das andre heißt Spielbein. Ständchen, s. v. w. Huldigungsmusik, Serenade, doch nicht wie letztere mit der Vorstellung einer bestimmten Tageszeit verknüpft, da es Abend- und Morgenständchen gibt. Der Form nach kann das S. in einem Lied bestehen, das der Liebhaber unter dem Fenster der Geliebten singt, aber auch aus größern Vorträgen vom Chor, ja Orchester. Stände, im juristischen Sinn Bezeichnung für die verschiedenen Klassen von Personen, welchen entweder vermöge ihrer Geburt (Geburtsstände) oder infolge ihrer Berufsthätigkeit (Berufsstände, erworbene S.) gewisse besondere Befugnisse zustehen oder besondere Verpflichtungen auferlegt sind. Auf dem erstern Einteilungsgrund beruht der Unterschied zwischen Adligen und Nichtadligen (s. Adel), auf dem letztern derjenige zwischen Bürger- und Bauernstand, beide in rechtlicher Hinsicht jetzt nahezu bedeutungslos. Im gewöhnlichen Leben werden aber auch als S. gewisse Klassen von Personen bezeichnet, welche wegen Gleichartigkeit ihrer Interessen und ihrer Beschäftigung als zusammengehörig zu betrachten sind, wie man denn z. B. von dem Gelehrten-, Beamten-, Handwerkerstand etc. zu sprechen pflegt. Auch wird der Ausdruck S. zur Bezeichnung der Landstände (s. Volksvertretung) Ständer, in der Heraldik eine gewöhnlich aus dem rechten Obereck des Schildes hervorkommende halbe Schräglinie, gegen welche eine halbe Teilungslinie von der Mitte des Schildrandes gezogen ist. Einen "geständerten" Schild s. Heroldsfiguren, Fig. 14. In der Jägersprache bezeichnet der Ausdruck S. die Füße des eßbaren Federwildes sowie der nicht zu den Schwimmvögeln gehörigen Wasservögel; ständern, die S. durch einen Schuß verletzen. Standesamt, s. Personenstand. Standesbeamter (Zivilstandsbeamter), der zur Beurkundung der Geburten, Heiraten und Sterbefälle bestellte staatliche Beamte (s. Personenstand). Standeserhöhung, die Versetzung aus dem bürgerlichen Stand in den Adelstand oder die Erhebung von einer niedrigern Adelstufe zu einer höhern. S. Adel, S. Standesgehalt, in manchen Staaten, namentlich in Bayern, der feststehende und unwiderrufliche Gehalt des Staatsdieners, neben welchem ein mit den Jahren steigender Dienstgehalt Standesherren (Mediatisierte), die Mitglieder derjenigen fürstlichen und gräflichen Häuser, welche vormals reichsunmittelbar waren und Reichsstandschaft besaßen, deren Territorien aber bei der Auflösung des frühern Deutschen Reichs andern deutschen Staaten einverleibt wurden (s. Mediatisieren); im engern Sinn die Häupter dieser Familien. Die zu dem vormaligen Deutschen Bund vereinigten Regierungen gaben den S. in der Bundesakte (Art. 14) die Zusicherung, daß diese fürstlichen und gräflichen Häuser zu dem hohen Adel Deutschlands gerechnet werden sollten, und daß ihnen das Recht der Ebenbürtigkeit (s. d.) verbleiben solle. Spätere Bundesbeschlüsse sicherten den Fürsten das Prädikat "Durchlaucht" und den Häuptern der vormals reichsständischen gräflichen Familien das Prädikat "Erlaucht" zu. Außerdem wurden den Mediatisierten folgende Rechte garantiert: Die unbeschränkte Freiheit, ihren Aufenthalt in jedem zu dem Bund gehörenden oder mit demselben in Frieden lebenden Staat zu nehmen; ein Vorrecht, welches mit der nunmehrigen allgemeinen Freizügigkeit gegenstandslos geworden ist. Ferner sollten die Familienverträge der S. aufrecht erhalten werden, indem den letztern zugleich die Befugnis zugesichert ward, über ihre Güter- und Familienverhältnisse, vorbehaltlich der Genehmigung des Souveräns, gültige Bestimmungen zu treffen. Hierüber sind jetzt die Landesgesetze der einzelnen deutschen Staaten maßgebend. Die den S. weiter für sich und ihre Familien garantierte Befreiung von der Wehrpflicht ist auch in dem Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 9. Nov. 1867, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst, anerkannt. Wenn aber den S. außerdem noch ein privilegierter Gerichtsstand sowie die Ausübung der bürgerlichen Rechtspflege und der Strafgerichtsbarkeit in erster und, wo die Besitzung groß genug, auch in zweiter Instanz sowie die Ausübung der Forstgerichtsbarkeit zugesichert ward, so sind die Überbleibsel dieser Gerechtsame durch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 beseitigt. Endlich sind auch die Zusicherungen, welche den S. in Ansehung der Ausübung der Ortspolizei und der Aufsicht in Kirchen- und Schulsachen erteilt worden waren, nach der modernen Gesetzgebung als hinfällig anzusehen. Überhaupt bedarf das Verhältnis der S. der anderweiten Regelung durch die Gesetzgebung derjenigen Staaten, welchen die S. im einzelnen angehören. Dies ist wenigstens die Auffassung des Bundesrats, und in diesem Sinn ist bereits Preußen z. B. mit der gesetzlichen Regelung Standesregister - Stang. der Rechtsverhältnisse des vormaligen Herzogtums Arenberg-Meppen vorgegangen. Übrigens hatte die deutsche Bundesversammlung nachmals auch verschiedenen Familien, welche nicht zu den Mediatisierten im Sinn der Bundesakte gehörten, die Befugnisse der S. verliehen. Dies bezog sich jedoch nicht auf die Grundbesitzungen der Betreffenden, die damit nicht zu einer sogen. Standesherrschaft wurden, sondern nur auf die persönliche Stellung, weshalb man in solchen Fällen von standesherrlichen Personallisten sprach. Hervorzuheben ist endlich noch, daß den S. regelmäßig in den Staatsverfassungen der deutschen Länder die erbliche Mitgliedschaft in der Ersten Kammer eingeräumt ist. Vgl. Vollgraf, Die deutschen S. (Gieß. 1823); Vahlkampf, Die deutschen S. (Jena 1844); "Die Stellung der deutschen S. seit 1866" (2. Aufl., Berl. 1870); Heffter, Sonderrechte der souveränen und vormals reichsständischen Häuser Deutschlands (das. Standesregister, s. Personenstand. Ständeversammlung, s. v. w. Landtag. Standfähigkeit (Stabilität) nennt man das Vermögen eines Körpers, seine Stellung der Schwerkraft gegenüber zu behaupten. Auf einer wagerechten Ebene bleibt ein Körper stehen, wenn die durch seinen Schwerpunkt, in welchem das Gewicht des Körpers vereinigt zu denken ist, gezogene lotrechte Linie die Unterstützungsfläche des Körpers trifft. Stützt sich ein Körper nur in einzelnen Punkten auf die Unterlage, so ist als Unterstützungsfläche die Fläche anzusehen, welche man erhält, wenn man die äußersten Stützpunkte durch gerade Linien verbindet. Bei einem stehenden Menschen bilden nicht bloß die Fußsohlen, sondern auch der zwischen ihnen liegende Raum, welcher beiderseits von den Sohlen, vorn durch eine die Fußspitzen, hinten durch eine die Fersen verbindende gerade Linie begrenzt wird, die Stützfläche. Trägt ein Mensch eine Last, so muß er, um nicht zu fallen, seinen Körper derart neigen, daß die durch den gemeinsamen Schwerpunkt des Körpers und der Last gezogene Lotrechte den Boden innerhalb jener Stehfläche trifft. Um einen Körper umzuwerfen, muß man ihn um eine Kante oder einen Punkt (a der Figur) des Umfanges seiner Unterstützungsfläche so lange drehen, bis sein Schwerpunkt lotrecht über jener Kante oder jenem Punkt liegt; läßt man ihn los, ehe diese Lage erreicht ist, so fällt er in seine frühere Stellung zurück; dreht man ihn aber nur ein wenig über jene Lage hinaus, so stürzt er um und bleibt in einer neuen Stellung liegen. Soll das Umkanten durch eine wagerecht am Schwerpunkt (S) des Körpers angreifende Kraft (K) bewirkt werden, so muß das Drehungsbestreben dieser Kraft dem entgegengesetzten der Schwere (G) mindestens gleich sein, oder die Kraft K, multipliziert mit ihrer Entfernung (ab) vom Drehpunkt (d. h. mit der Höhe des Schwerpunktes über der Grundfläche), muß gleich sein der Kraft G oder dem Gewicht des Körpers, multipliziert mit ihrer Entfernung (ac) vom Drehpunkt (d. h. mit der halben Breite der Stützfläche). Die Standfestigkeit des Körpers, für welche die Kraft K das Maß darstellt, steht demnach im geraden Verhältnis zu dem Gewicht des Körpers und zur Breite seiner Stützfläche und im umgekehrten Verhältnis der Höhe des Schwerpunktes über der Grundfläche, oder ein Körper steht um so fester, je größer sein Gewicht und je breiter seine Stützfläche ist, und je tiefer sein Schwerpunkt liegt. Ein Körper, welcher um eine wagerechte feste Achse drehbar ist, befindet sich der Schwerkraft gegenüber in jeder beliebigen Lage im Gleichgewicht, wenn sein Schwerpunkt genau in der Drehungsachse liegt: man sagt alsdann, er befinde sich im "gleichgültigen" oder indifferenten Gleichgewicht. Liegt sein Schwerpunkt lotrecht über der Achse, so wird der Körper, sobald man ihn aus dieser Gleichgewichtslage nur ein wenig herausdreht, von der Schwere nach der Seite weiter gedreht, nach welcher er sich neigt; man nennt daher in diesem Fall sein Gleichgewicht unsicher, unbeständig oder labil. Er "schlägt um" und dreht sich so lange, bis sein Schwerpunkt lotrecht unter der Achse liegt; in dieser Lage ist sein Gleichgewicht sicher, beständig oder stabil, denn wird er aus dieser Lage herausgebracht, so wird er durch die Schwerkraft immer wieder dahin zurückgeführt. Standgeld (Stättegeld), Vergütung für den dem Verkäufer für Aufstellung seiner Waren etc. überlassenen Raum auf Märkten, öffentlichen Plätzen etc. Standgericht, früher Ausnahmegericht bei Unterdrückung von Empörungen und innern Unruhen, dessen Urteile der in einem Ort oder Lager anwesende oberste Befehlshaber sofort bestätigen und vollziehen lassen konnte. Das Standrecht proklamieren hieß der Einwohnerschaft und den Soldaten kundgeben, daß solche Ausnahmegerichte eingesetzt sind. Jetzt ist das S. in Deutschland im Gegensatz zu dem mit der höhern Gerichtsbarkeit betrauten Kriegsgericht das Organ der niedern Militärgerichtsbarkeit, zuständig über Unteroffiziere und Gemeine für Vergehen, auf die keine strengere Strafe gesetzt ist als Arrest und Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes. Sündhaftigkeit heißt das geduldige Ertragen vermeidlicher Übel dann, wenn das Vermeiden derselben den Duldenden einem sittlichen Tadel aussehen würde. Standia, Insel, s. Dia. Standish (spr. stänndisch), Stadt in Lancashire (England), 5 km nordwestlich von Wigan, mit Kohlengruben und (1881) 4261 Einw. Hier Lancashire-Verschwörung zur Restauration der Standrecht, s. Standgericht. Standrede, kurze Rede aus dem Stegreif. Standrohre, s. Handfeuerwaffen, S. 102. Standtreiben, s. Treibjagd. Standwild, das Wild, welches sich an gewissen Örtlichkeiten zu halten und von diesen nicht weit zu entfernen pflegt, im Gegensatz zu Wechselwild. Stang, 1) F., norweg. Staatsmann, geb. 1810, trat 1845 als Chef des Departements des Innern in die norwegische Regierung ein, legte aber nach zehn Jahren 21. April 1856 sein Amt einer Nervenkrankheit wegen nieder. Nachdem er sich von derselben in der Schweiz erholt hatte, ward er 1857 während der Krankheit des Königs Mitglied der interimistischen Regierung und vertrat 1859-60 Christiania im Storthing. 1861 bildete er ein neues Ministerium, das er 1873 erneuerte, und war seitdem Staatsminister des Königreichs. Durch Beförderung der Eisenbahn- und Wegebauten sowie durch seine ausgezeichneten persönlichen Eigenschaften erwarb er sich große Sympathien und Anhänglichkeit, so daß er sich auch während des langjährigen Streits mit der radikalen Majorität des Storthings im Amt behauptenkonnte. Anfang Oktober 1880 erhielt er unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste vom König Stange - Stanhope. erbetene Entlassung. Das Storthing bewies ihm aber seine Feindseligkeit dadurch, daß es 1881 die für ihn beantragte Pension von 12,000 Kronen auf die Hälfte herabsetzte, obwohl S. 1856-60 eine höhere (10,000 Kronen) bezogen hatte. Eine bedeutende Geldsumme, welche die konservative Partei zur Entschädigung aufbrachte, verwandte S. zu wohlthätigen Zwecken. Er starb 8. Juni 1884. 2) Rudolf, Kupferstecher, geb. 26. Nov. 1831 zu Düsseldorf, bildete sich unter I. Keller auf der dortigen Akademie von 1845 bis 1856. Sein erstes größeres Werk war eine Madonna mit dem Kind nach Deger in ausgeführter Linienmanier. Die Verkündigung Mariä, nach Degers Freskobild auf Stolzenfels, trug ihm 1861 in Metz eine Medaille ein. Zu Goethes Frauengestalten, nach Kaulbach, stach er drei Blätter: die Muse, Mignon und Eugenie. 1865 ging er nach Italien, wo er eine Zeichnung nach Raffaels Sposalizio fertigte. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, vollendete er deren Stich 1873 und wurde in Anerkennung dieses vortrefflichen Blattes von den Akademien zu Berlin, München und Brüssel zum Mitglied ernannt; auch erhielt er vom König von Preußen den Professortitel. Von 1874 bis 1875 war er wieder in Italien, wo er Zeichnungen zu einem großen Stich des Abendmahls nach Leonardo da Vinci und einem kleinern Blatt, Fornarina, nach Raffael ausführte. 1876 fertigte er einen Stich nach Landelles Fellahmädchen, und 1881 wurde er als Professor der Kupferstecherkunst an die Akademie zu Amsterdam berufen, wo er den Stich nach Leonardos Abendmahl, sein Hauptwerk, 1888 vollendete. Stange, schwed. Längenmaß, = 2,969 m; 10 Stangen = 1 Schnur. Stangengehörn, s. Geweih, S. 285. Stangenkohle, s. Braunkohle und Steinkohle. Stangenkugeln, zwei durch eine eiserne Stange mit Gelenk verbundene Voll- oder Halbkugeln, die aus einem Geschütz großen Kalibers gegen breite Ziele, namentlich gegen die Takelage von Schiffen, ähnlich den Kettenkugeln, früher gebraucht wurden. Stangenkunst, s. v. w. Kunstgestänge, s. Bergbau, S. Stangenpferde, die an der Deichsel gehenden Pferde eines Wagens; der auf dem Stangensattelpferd reitende Fahrer bei der Artillerie heißt Stangenreiter. Stangenschörl, s. Turmalin. Stangenspat, s. Schwerspat. Stangenspringen (Stabspringen), das Springen mit Unterstützung durch eine 21/2 - 4 m lange, bis 4 cm starke Stange. Während seine Pflege in der hellenischen Gymnastik zweifelhaft ist, ist es in manchen Gegenden volkstümlich im Gebrauch, in Deutschland z. B. in Marschgegenden an der Nordsee zum Überspringen der das Land durchziehenden Gräben mit den sogen. Klot- od. Pad- (Pfad-) Stöcken, die meist am untern Ende mit einer Vorrichtung gegen zu tiefes Einsinken in weichen Boden versehen sind. Die Turnkunst hat das S. seit Guts Muths und Jahn in den Bereich ihrer Übungen genommen und macht es neuerdings oft zum Gegenstand von Wettturnen. Vgl. I. K. Lion, Die Turnübungen des gemischten Sprunges (2. Aufl., Leipz. 1876); Kluge, Anleitung zum S., in den "Zeitfragen aus dem Gebiete der Turnkunst" (Berl. Stangenstein, s. Topas. Stanhope (spr. stannop). 1) James, erster Graf von, engl. Staatsmann, aus der Familie der Grafen von Chesterfield stammend, geb. 1673, diente unter Wilhelm III. in Flandern mit Auszeichnung und erwarb sich den Rang eines Obersten. Unter der Königin Anna ward er Mitglied des Parlaments und später Gesandter bei den Generalstaaten. Im spanischen Erbfolgekrieg diente er unter General Peterborough in Spanien, eroberte 1708 als Generalmajor Port Mahon und die Insel Menorca, siegte, zum Oberbefehlshaber der englischen Truppen in Spanien befördert, im Sommer 1710 bei Almenara und Saragossa und führte den Erzherzog Karl nach Madrid, verzögerte dann aber durch seinen Eigensinn den notwendigen Rückzug und wurde mit 6000 Mann bei Brihuega im Dezember d. J. gefangen und erst 1712 ausgewechselt. König Georg I. ernannte S. 1714 zum Staatssekretär und Mitglied des Geheimen Rats. 1716 begleitete S. den König von Hannover und entwarf mit dem Abbe Dubois, Abgesandten Frankreichs, die Präliminarien zu der Tripelallianz, welche 4. Jan. 1717 im Haag zwischen England, Frankreich und den Generalstaaten abgeschlossen wurde; er wurde dafür 1717 zum ersten Lord des Schatzes, Kanzler der Schatzkammer und Peer von Großbritannien unter dem Titel Baron S. von Elvaston und Viscount S. von Mahon ernannt. 1718 vermittelte er als erster Staatssekretär mit Dubois die berühmte Quadrupelallianz und wurde hierauf zum Grafen von S. erhoben. Er starb 4. Febr. 1721 2) Charles, dritter Graf von, Enkel des vorigen, geb. 3. Aug. 1753 zu Genf, löste im Alter von 18 Jahren eine Preisaufgabe der Akademie zu Stockholm über die Pendelschwingungen, trat 1780 ins Parlament, wo er der Opposition angehörte, und nach seines Vaters Tod 1786 ins Oberhaus. Die Ideen der französischen Revolution hatten in ihm einen begeisterten Vertreter. Als die Habeaskorpusakte suspendiert ward, blieb er aus dem Parlament weg und erschien erst 1800 wieder. Er starb 15. Dez. 1816. S. erfand eine seinen Namen tragende eiserne Druckerpresse (s. Presse, S. 332), verbesserte die Stereotypie und schrieb mehrere Abhandlungen über Mathematik und Mechanik, die sich in den "Philosophical Transactions" finden. 3) Lady Esther, durch ihre Sonderbarkeiten bekannt gewordene Tochter des vorigen, geb. 12. März 1776 zu London. Von der Natur mit imposantem Äußern, scharfem Verstand und geistiger Energie ausgerüstet, erhielt sie keine geregelte Erziehung. Später leitete sie das Hauswesen ihres unverheirateten Oheims Pitt und führte dessen Briefwechsel. Nach Pitts Tod (1806) zog sie sich mit einem geringen mütterlichen Erbteil und einer Staatspension von 1200 Pfd. Sterl. nach Wales zurück. Nach mehrjährigen Reisen durch Griechenland und die Türkei beschloß sie, sich in Syrien eine neue Heimat zu gründen, litt aber bei der Überfahrt Schiffbruch, kehrte nach England zurück, verkaufte den Rest ihrer Güter und ging dann wirklich nach Syrien. Der Glanz, den sie um sich verbreitete, und ihr mysteriöses Wesen machten dort großen Eindruck. Anfangs wohnte sie in einem griechischen Kloster, später errichtete sie sich zu Dschihun unweit Sidon, mitten im Libanon, eine Wohnung. Die Syrer pflegten sie Königin von Tadmor, Zauberin von Dschihun und Sibylle des Libanon zu nennen und glaubten sie durch Verbindung mit der Geisterwelt im Besitz großer Schätze. Bei Ibrahim Paschas Einfall in Syrien spornte sie die Drusen zum Widerstand an und wußte jenem solchen Respekt einzuflößen, daß derselbe sie um Neutralität bat. Ein Haupthebel ihres Einflusses war ihre großartige Stanhopepresse - Stanislaus. Wohlthätigkeit, bis sie später völlig verarmte, namentlich seit ihre Staatspension, um ihre Gläubiger zu befriedigen, innebehalten wurde. Von allen englischen Dienern verlassen, nur von einigen treuen Arabern umgeben, starb sie 22. Juni 1839 in Dschihun. Man setzte sie in der Gruft zu Mar Elias bei. Ihr Arzt veröffentlichte: "Memoirs of the Lady Esther S." (Lond. 1845, 3 Bde.; deutsch, Stuttg.1846). 4) Philip Henry, Viscount Mahon, fünfter Graf von, engl. Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 30. Jan. 1805 auf Walmer Castle, Enkel von S. 2), trat 1830 für den Flecken Wootton-Basset in das Parlament, wo er als strenger Tory die Reformbill heftig bekämpfte. Nach deren Annahme verlor er seinen Sitz im Unterhaus, wurde aber für Hertford wieder gewählt, bekleidete unter dem Ministerium Peel-Wellington vom Dezember 1834 bis April 1835 das Amt eines Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Departement, ward im Juli 1845 Sekretär des indischen Amtes, mußte aber beim Sturz des Ministeriums Peel im Juli 1846 zurücktreten und gehörte nun im Unterhaus zur Partei der Peeliten. 1855 trat er nach seines Vaters Tod ins Oberhaus, wirkte aber hauptsächlich in verschiedenen Kommissionen und gelehrten Gesellschaften, unter anderm als Präsident der Society of Antiquaries, als Lord Rektor der Universität Aberdeen, als Vorstandsmitglied des Britischen Museums etc., in höchst verdienstlicher Weise. Er starb 24. Dez. 1875 in Bornemouth. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Life of Belisarius" (Lond. 1829, 2. Aufl. 1848); "History of the war of the succession in Spain" (1834, neue Ausg. 1850); "History of England from the treaty of Utrecht to the peace of Aix-la-Chapelle" (1836, 2 Bde.; später fortgesetzt bis zum Frieden von Versailles, 5. Aust. 1858, 7 Bde.; deutsch von Steger, Braunschw. 1855, 8 Bde.); "Life of the Great Conde" (1840); "Life of William Pitt" (des jüngern, 4. Aufl. 1879, 3 Bde.); "History of England comprising the reign of Queen Anne" (1867; 4. Aufl. 1873, 2 Bde.); "Miscellanies" (1863, neue Folge 1872); "French retreat from Moscow and historical essays" (1876). Eine Auswahl seiner für die "Quarterly Review" gelieferten Artikel erschien unter dem Titel: "Historical essays" (Lond. 1848, neue Ausg. 1861). Er gab auch die "Letters of Philip Dormer S., Earl of Chestertield" (neue Ausg., Lond. 1853, 5 Bde.) und "Memoirs by Sir Robert Peel" (das. 1856-57, 2 Bde.) heraus. Als sechster Graf von S. folgte ihm sein Sohn Arthur Philip, geb. 13. Sept. 1838, 1868 bis 1875 Mitglied des Unterhauses, 1874-76 Lord des Schatzamtes im Ministerium Disraeli. 5) Edward, zweiter Sohn des vorigen, geb. 1840 zu London, erzogen in Harrow und Oxford, wurde 1865 Rechtsanwalt in London und 1874 für Lincolnshire als konservativer Abgeordneter ins Unterhaus gewählt. Er war Sekretär im Handelsamt vom November 1875 bis April 1878, Unterstaatssekretär für Indien vom April 1878 bis April 1880, Vizepräsident des Erziehungsrats vom Juni bis August 1885, Präsident des Handelsamtes von da an bis zum Februar 1886. Im August 1886 wurde er in Lord Salisburys zweitem Ministerium zum Staatssekretär für die Kolonien und 1887 zum Kriegsminister ernannt. 1888 legte er dem Parlament eine neue Landesverteidigungsbill vor. Stanhopepresse, s. Stanhope 2). Stanislau (Stanislawow), Stadt in Galizien, an der Bistritza, Knotenpunkt der Lemberg-Czernowitzer Bahn und der Staatsbahnlinie Stryi-Husiatyn, ist Sitz eines griechisch-katholischen Bistums, einer Bezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts und einer Finanzbezirksdirektion, hat ein Standbild Kaiser Franz I., ein Obergymnasium, Oberrealschule, Lehrerbildungsanstalt, große Eisenbahnwerkstätte, Ziegelfabrikation, Dampfmühle, Bierbrauerei, Gerberei, lebhaften Handel und (1880) 18,626 Einw. (darunter 10,023 Stanislaus (Stanislaw), 1) Heiliger, geb. 1030 in Galizien, studierte zu Gnesen und Paris, wurde 1071 Bischof von Krakau, aber 1079 in der dortigen Michaeliskirche während der Messe zusammengehauen, weil er die Ausschweifungen des Königs Boleslaw des Kühnen gerügt und über denselben den Bann verhängt hatte. Von Papst Innocenz IV. 1253 heilig gesprochen, wird S. als Schutzpatron Polens verehrt. Sein Gedächtnistag ist der 7. Mai. [Könige von Polen.] 2) S. L Leszczynski, geb. 20. Okt. 1677 zu Lemberg, Sohn Raphael Leszczynskis, Woiwoden von Posen, ward zum Starosten und Landboten und nach seines Vaters Tod vom König August II. zum Woiwoden von Posen und General von Großpolen ernannt. 1704 beteiligte er sich an der Konföderation, die auf Betrieb Karls II. von Schweden August II. absetzte, und ward hierauf durch des erstern Einfluß 12. Juni 1704 zum König von Polen erhoben und 7. Okt. 1705 nebst seiner Gemahlin Katharina Opalinska gekrönt. Er vermochte sich jedoch nur bis zur Schlacht von Poltawa (1709) in Polen zu halten, floh darauf nach Stettin und setzte 1711 nach Schweden über. 1712 kam er mit einem Heer zurück und stieß zur Armee des Generals Steenbock. Bereit, auf die Krone zu verzichten, unternahm er 1713, um Karls Zustimmung zu erhalten, eine Reise nach Jassy, ward aber vom Hospodar der Moldau nach Bender geschickt und erst 1714 gegen das Versprechen, das türkische Gebiet meiden zu wollen, freigegeben. Karl XII. trat ihm, bis er ihm den polnischen Thron wiedererkämpft hätte, das Fürstentum Zweibrücken ab. Nach dem Tod Karls XII. (1718) mußte S. hier dem Pfalzgrafen Gustav Samuel weichen und ging 1720 nach Frankreich, wo er seinen Aufenthalt erst in Weißenburg, dann in Bergzabern und, nachdem sich König Ludwig XV. mit seiner Tochter Maria Leszczynska vermählt hatte, in Chambord bei Blois nahm. Nach Augusts II. Tod (1733) machte S. seine Ansprüche auf die polnische Krone von neuem geltend, worin ihn Frankreich und Schweden unterstützen wollten, reiste heimlich nach Warschau und ward dort 11. Sept. zum zweitenmal zum König gewählt. Allein Rußland und Österreich zwangen den Polen den Kurfürsten von Sachsen, August III., zum König auf, und S. floh vor einem russischen und sächsischen Heer nach Danzig und, als er die Übergabe der Festung an die Russen nahe sah, nach Marienwerder. Durch den Wiener Frieden (3. Okt. 1735, ratifiziert 1738) ward endlich festgesetzt, daß S. auf die polnische Krone Verzicht leisten, aber den Titel eines Königs beibehalten und die Herzogtümer Lothringen und Bar vom Herzog Franz von Lothringen abgetreten erhalten sollte, die nach dem einstigen Absterben S. an Frankreich fallen sollten. Nachdem er die Revenuen seiner Herzogtümer gegen eine Pension von 2 Mill. Frank an Frankreich abgetreten hatte, residierte er teils zu Nancy, das er sehr verschönerte, teils zu Luneville und erwarb sich durch Wohlthätigkeit und Förderung der Wissenschaften und Künste die Liebe seiner Unterthanen. Er starb an den Folgen einiger am Kaminfeuer erhaltenen Brandwunden 23. Febr. 1766. Seine Schriften erschienen gesammelt Stanislausorden - Stanley. unter den Titeln: "Oeuvres du philosophe bienfaisant" (Par. 1765, 4 Bde.; neue Ausg. von Migne, 1850); "Oeuvres choisies" (das. 3) S. II. August, der letzte König von Polen, Sohn des Grafen Stanislaus Poniatowski und der Fürstin Konstantia Czartoryiska, geb. 17. Jan. 1732 zu Wolczyn, trat zuerst 1752 auf dem Reichstag als Landbote auf. August III. sandte ihn an die Kaiserin Elisabeth nach Petersburg, wo er sich die Gunst der Großfürstin, nachherigen Kaiserin Katharina, erwarb, deren Liebhaber er mehrere Jahre war. Nach Augusts Tod brachte es diese durch ihren Einfluß dahin, daß S. 7. Sept. 1764 zum König von Polen gewählt und 25. Nov. in Warschau gekrönt wurde. Seine Stellung inmitten der Parteiungen des Adels und der Übermacht der Nachbarstaaten war eine schwierige. Der nötigen Energie ermangelnd, um den unabhängigen Adel zu zügeln und sich der schlauen russischen Politik zu entziehen, ward er bald mißliebig. Ja, 3. Nov. 1771 ward er von den Verschwornen aus Warschau entführt, doch auf seine beredten Vorstellungen wieder dahin zurückgeführt. Die erste Teilung Polens 1772 mußte er genehmigen. Er schloß sich dann den Bestrebungen, den zerrütteten Staat zu reformieren, an, vereitelte dieselben aber dadurch, daß er sich der Konföderation von Targowitz gegen die Konstitution vom 3. Mai 1791 anschloß und die abermalige Einmischung der Russen veranlaßte. Sein Widerspruch gegen die zweite Teilung Polens hatte zur Folge, daß Katharina ihn nach der Einnahme Warschaus durch Suworow nach Grodno bringen ließ, wo er den dritten Teilungsvertrag unterzeichnen und 25. Nov. 1795 dem Thron entsagen mußte. Er erhielt von Österreich, Rußland und Preußen 200,000 Dukaten Pension, die er anfangs in Grodno verzehrte. Paul I. berief ihn gleich nach dem Tod Katharinas nach Petersburg, wo er 12. Febr. 1798 unvermählt starb. Der von ihm gestiftete Stanislausorden ward 1816 vom Zaren Alexander erneuert. Vgl. "Mémoires secrets inédits de Stanislas II Auguste" (Leipz. 1862); "Correspondance inédite du roi S. Auguste Poniatowski et Mad. Geoffrin 1764-77" (1887). Stanislausorden, russischer, ursprünglich poln. Verdienstorden, gestiftet von König Stanislaus II. 7. Mai 1765 für 100 Ritter, wurde nach der Teilung Polens nicht mehr verliehen; erst König Friedrich August von Sachsen, Herzog von Warschau, verlieh ihn wieder. Kaiser Alexander, als König von Polen, erneuerte ihn 1815 und teilte ihn in vier Klassen; Kaiser Nikolaus I. verleibte ihn 1831 den russischen Orden ein und beschränkte ihn 1839 auf drei Klassen (die zweite mit zwei Unterabteilungen mit und ohne Krone). Er kommt im Rang nach dem St. Annenorden. Die Dekoration ist ein rot emailliertes achtspitziges Kreuz mit goldenen Kugeln und goldenen Halbkreisen zwischen den Spitzen sowie goldenen Adlern zwischen den Armen. Der weiß emaillierte Mittelschild, von grünem Lorbeer eingefaßt, trägt in Rot die Chiffer S. S. (Sanctus Stanislaus). Der Revers trägt dieselbe Inschrift auf Gold mit weißem Rande. Der achtstrahlige Silberstern trägt die Devise: "Praemiando incitat". Der Orden wird in der üblichen Weise an dunkelrotem Band mit doppelter weißer Einfassung getragen. Für eine bestimmte Anzahl von Rittern ist eine Pension mit dem Orden verbunden, dessen Fest 23. April gefeiert wird. Staniza (russ.), s. v. w. Kosakenansiedelung. Stankkugeln, Leinwandsäckchen, mit einem Brandsatz gefüllt, dem Federn, Hornspäne und ähnliche, beim Verbrennen stinkende Gegenstände beigemengt werden; früher angewendet, um den Feind aus Minengängen, Kasematten etc. hinauszuräuchern. Stanley (spr. stännli), 1) Arthur Penrhyn, engl. Gelehrter, Sohn des Bischofs S. von Norwich und Vetter des Lords S. of Alderley, geb. 13. Dez. 1815, studierte Theologie in Oxford, wo er für sein Gedicht "The gipsies" einen Preis errang, wirkte dann von 1840 ab als Fellow am University College daselbst und wurde 1851 zum Kanonikus von Canterbury, 1858 zum Professor der Kirchengeschichte in Oxford erwählt. Daneben war er Kaplan des Bischofs von London und seit 1863 Dechant von Westminster. Vertreter einer milden Aufklärung innerhalb des Christentums, beteiligte er sich 1872 mit Lebhaftigkeit am Altkatholikenkongreß in Köln und wurde 1875 zum Lord-Rektor der Universität St. Andrews erhoben. Seine litterarische Thätigkeit hatte er mit der Biographie seines Jugendlehrers Th. Arnold (1844, 13. Aufl. 1882; deutsch, Potsd. 1846) begonnen. Es folgten: "Sermons and essays on the apostolical age" (1846, 3. Aufl. 1874); "Historical memorials of Canterbury" (1854, 10. Aufl. 1883); "Sinai and Palestine", die Frucht einer Reise nach dem Orient (1856, 4. Aufl. 1883); "Lectures on the history of the Eastern Church" (1861, 5. Aufl. 1883) u. a. Nachdem er 1862 als Begleiter des Prinzen von Wales eine zweite Reise nach dem Orient gemacht, veröffentlichte er: "Scenes of the East" (1863); "Lectures on history of the Jewish Church" (1862; 8. Aufl. 1884, 3 Bde.); "Historical memorials of Westminster Abbey" (5. Aufl. 1882); "Essays chiefly on questions of church and state from 1850-70" (1870, neue Aufl. 1884); "The Athanasian creed" (1871); "Lectures on the history of the Church of Scotland" (1872); "Christian institutions" (4. Aufl. 1883) u. a. Vielfach Unwillen erregte S. 1880 durch seinen hartnäckig festgehaltenen Plan, dem Sohne Napoleons III. ein Denkmal in der Westminsterabtei setzen zu lassen, bis ihn endlich der Wille des Parlaments zum Nachgeben nötigte. Er starb 18. Juli 1881 in London. Vgl. Grace Oliver, A. P. S. (3. Aufl., Lond. 1885). 2) Henry Morton (eigentlich James Rowland), berühmter Afrikareisender, geb. 28. Jan. 1841 bei Denbigh in Wales als Sohn des Farmers John Rowland, kam im Alter von drei Jahren ins Armenhaus von St. Asaph, woselbst er bis zum 13. Jahr blieb und eine gute Erziehung erhielt. Er wollte sich anfangs dem Lehrfach widmen, wurde dann aber Schiffsjunge und kam als solcher nach New Orleans. Hier fand er bei einem Kaufmann, Namens S., Beschäftigung, ward von demselben adoptiert und nahm dessen Namen an. Nach dem Tod seines Wohlthäters trat er 1861 beim Ausbruch des Kriegs in die Armee der Konföderierten, wurde aber gefangen genommen und der Marine der Vereinigten Staaten zugeteilt, in welcher er es bis zum Fähnrich brachte. Nach dem Frieden bereiste er 1865 die Türkei und Kleinasien und begleitete 1867-68 als Korrespondent des "New Vork Herald" die englische Armee nach Abessinien. Seinen Weltruf verdankte S. seinem kühnen Zug zur Auffindung Livingstones, während die Feststellung des Lualaba und Congostroms ihn zum ersten Afrikareisenden aller Nationen der Jetztzeit stempelte. Im Auftrag von J. G. Bennett (s. d.), dem Besitzer des "New York Herald", war S. nämlich im Okt. 1869 ausgeschickt worden, um den ganz verschollenen Livingstone aufzusuchen und ihm Hilfe zu bringen. Nachdem er zuvor als Berichterstatter des "Herald" der Stanley (Afrikareisender). Einweihung des Suezkanals beigewohnt, dann einen Abstecher nach Persien und Indien gemacht hatte, langte er im Januar 1871 in Sansibar an, von wo er mit etwa 200 Mann (darunter 3 Weiße), vorzüglich ausgerüstet und aufs beste bewaffnet, einige Wochen später seinen Marsch ins Innere von Afrika antrat. Nach vielen zu überwindenden Schwierigkeiten war er endlich am Ziel: 10. Nov. hielt er seinen feierlichen Einzug in Udschidschi am Tanganjikasee, wo er in der That den tot geglaubten Livingstone fand. Daß S. in Großbritannien eine starke Anfeindung erfuhr, daß man seinen ganzen Bericht für eine Unwahrheit erklärte, daß später aber sich alles dies als bloße Verleumdung herausstellte, trug nur dazu bei, dem verdienten Manne noch größere Berühmtheit zu verschaffen. Nachdem er mit Livingstone sich noch der Erforschung des Tanganjika gewidmet, trat er im März 1872 seine Rückreise nach Sansibar und Europa an. Über seine Erlebnisse und die Resultate seiner Expedition, die dem Besitzer des "New York Herald" gegen 10,000 Pfd. Sterl. gekostet hatte, berichtete er in dem Werk "How I found Livingstone" (Lond. 1872; deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1885), worin er außer seinen eignen auch Livingstones Beobachtungen in dem See- und Flußsystem im SW. und W. des Tanganjikasees brachte. Darauf wohnte er 1873 bis 1874 dem Feldzug der Engländer gegen den König der Aschanti bei und berichtete darüber wie über den abessinischen Feldzug in "Coomassie and Magdala" (Lond. 1874). In noch großartigerer Weise nahm S. sodann seine Forschungen 1874 wieder auf und zwar zuerst auf Kosten des "New York Herald" und des Londoner "Daily Telegraph". Mit mehr als 300 Soldaten und Trägern verließ er im November 1874 Bagamoyo, erreichte 27. Febr. 1875 das südliche Ufer des Ukerewe oder Victoria Nyanza und umfuhr den ganzen See. Da S. nicht wußte, daß der Schwestersee des Ukerewe, der 1864 von Baker entdeckte Mwutan oder Albert Nyanza, bereits von dem Italiener Gessi bis zu seinem Südende befahren war, so versuchte er, diesen See zu erreichen. Vom Ukerewe sich westlich wendend, entdeckte er im Januar 1876 zunächst das 5000 m hohe, schneebedeckte Gambaragaragebirge. Unter 30° 20' östl. L. v. Gr. und dem Äquator stieß er alsdann auf einen großen Golf, den er Beatricegolf nannte und für einen Teil des Mwutan ansah. Nach spätern Aufnahmen des ägyptischen Obersten Mason Bei muß jedoch angenommen werden, daß S. hier einen neuen großen, noch unbenannten See entdeckt hat. Nun sich südlich wendend, erforschte er den Hauptzufluß des Ukerewe, den Kagera oder Kitangule, welchen er als einen bedeutenden, 20-40 m tiefen Strom schildert, und der aus einem gleichfalls von S. entdeckten See, dem Akanjaru oder Alexandrasee (zwischen 2-3° südl. Br. und 31° östl. L. v. Gr.), entspringt. S. wandte sich nun der Lösung des größten noch vorhandenen afrikanischen Problems zu. Er wollte zu ergründen suchen, wohin die ungeheuern Wassermassen der Seen und Ströme, die westlich vom Tanganjikasee liegen, sich ergössen, und ob dieselben, wie theoretisch bereits Behm nachgewiesen, den obern Lauf des Congo darstellten, von dem man nur die Mündung kannte. Am 27. Mai 1876 war S. wieder in Udschidschi am Ostufer des Tanganjikasees, machte auf demselben sein tragbares Boot flott und umfuhr in 51 Tagen zum erstenmal vollständig dieses große Wasserbecken. Auch den nach W. führenden "Abfluß" des Tanganjika, den von Cameron entdeckten Lukuga, fand S. wieder auf und fuhr denselben eine Strecke weit abwärts. Nach seinen Schilderungen ist der Lukuga jedoch nur ein sumpfiger Arm des Tanganjika, welcher bloß bei Hochwasser einen gelegentlichen Abfluß nach W. ausmacht. Nach Vollbringung dieser Aufgabe drang S. nach W. vor und erreichte unter großen Gefahren Nyangwe, den äußersten von Livingstone und Cameron erreichten Ort am obern Lualaba-Congo. Nachdem er seine zusammengeschmolzene Expedition wieder auf 200 Bewaffnete gebracht hatte, verließ er 15. Nov. 1876 mit 18 Kanoes Nyangwe, um eine der gefahrvollsten und merkwürdigsten Reisen anzutreten, von welcher die Geschichte aller Zeiten berichtet. Sowohl in seinem obern Lauf bis zum Äquator als in seinem untern zeigt der Lualaba-Congo zahlreiche bedeutende Wasserfälle, die zum großen Teil umgangen werden mußten, was meist unter Kämpfen mit den Eingebornen geschah. Einzelne Katarakte wurden durchschifft, doch verlor S. hierbei seinen treuen Diener Kalulu und seinen letzten weißen Gefährten, Francis Pocock. Drei Vierteljahre hatte diese gefahrvolle, abenteuerliche Reise gedauert, als S. mit seiner zusammengeschmolzenen Schar, dem Hungertod nahe, 8. Aug. 1877 in Boma an der Congomündung in den Bereich portugiesischer Herrschaft gelangte. Aber die Anstrengungen waren des Resultats wert. Der bisher unbekannte Riesenlauf des Congo konnte in die Karte eingetragen werden (s. Congo). S. stellte die ganze Länge des Stroms, für welchen er den nicht acceptierten Namen "Livingstone" vorschlug, auf 630 Meilen fest, von denen der 225 Meilen lange, oft seeartig erweiterte mittlere Teil für die größten Schiffe fahrbar ist, so daß hier dem Handel ein neues, ungeheuer großes Gebiet durch den kühnen Reisenden eröffnet wurde. Die Identität des Congo mit dem Lualaba war somit festgestellt und damit eine Wasserstraße ins Innere von Afrika von mehr als 4000 km Länge eröffnet, die nur an 2-3 Stellen von Katarakten unterbrochen wird. Bereits vier Monate nach seiner Rückkehr veröffentlichte er seinen Reisebericht "Through the dark continent" (Lond. 1878), der mehrmals aufgelegt wurde, ebenso wie die zu gleicher Zeit erschienene deutsche Übersetzung "Durch den dunkeln Weltteil" (2. Aufl., Leipz. 1881, 2 Bde.). Der großartige Erfolg Stanleys führte nach der Begegnung König Leopolds II. von Belgien mit dem Entdecker in Brüssel zur Gründung des Comité d'études du Haut-Congo, das es sich zur Aufgabe stellte, Zentralafrika dem Handel zu eröffnen. S. wurde mit der Leitung des Unternehmens betraut, er legte nicht allein längs des Congo, auch in dem später an Frankreich abgetretenen Gebiet des Kuilu eine Reihe von Stationen an bis zu den Stanleyfällen am obern Congo, entdeckte, den Kwa aufwärts fahrend, den großen See, welchem er den Namen Leopolds II. gab, und war mit kurzer Unterbrechung, als ihn seine geschwächte Gesundheit zur Reise nach Europa nötigte, bis 1884 unermüdlich im Congogebiet thätig. In diesem Jahr kehrte er endgültig nach Europa zurück, nahm als technischer Kommissar des Bevollmächtigten der amerikanischen Union an der Congokonferenz in Berlin teil und veranlaßte in England die Bildung einer Gesellschaft zur Erbauung einer Eisenbahn von der Congomündung bis zum Stanley Pool. Zu gleicher Zeit publizierte er "The Congo and the foundation of its free state", deutsch unter dem Titel: "Der Congo und die Gründung des Congostaats" (Leipz. 1885, 2 Bde.). Als Ende 1886 die ägyptische Regierung in Gemeinschaft mit einigen englischen Kapitalisten eine Expedition zum Entsatz Emin Beis auszusenden Stanley Pool - Stans. übernahm S. bereitwilligst die Führung dieses schwierigen und gefahrvollen Unternehmens, traf 24. Dez. 1886 von New York in London ein, das er 21. Jan. 1887 verließ, um sich nach Sansibar zu begeben, von wo er mit den dort von ihm angeworbenen Leuten um das Kap zum Congo fuhr. Dort traf er 18. März ein. Seine Begleitung bestand aus 9 Europäern, 13 Somal, 61 Sudanesen und 620 Sansibariten. Außerdem schloß sich der arabische Sklavenhändler Tippu Tip, welchen S. durch dessen Ernennung zum Gouverneur vom obern Congo mit einem Jahresgehalt gewonnen hatte, mit 40 Mann an; weitere Mannschaften vom Tanganjika und von Kassongo bei Nyangwe sollten bei den Stanleyfällen zu Tippu Tip stoßen. Da am Congo großer Mangel an Nahrungsmitteln herrschte, war die Verproviantierung der großen Kolonne sehr schwierig, doch konnte sich S. 29. April von Stanley Pool auf vier Dampfern und mehreren großen Booten endlich einschiffen. Am 28. Mai erreichte er die Mündung des Aruwimi, wo er ein festes Lager errichtete, und bereits 2. Juni brach er mit 5 Europäern und 580 Mann nach O. auf. Am 20. Juni befand er sich an den Jambujafällen des Aruwimi, wo er ein festes Lager zum Schutz der unter Major Barttelot zurückbleibenden 100 Mann starken Besatzung errichtete. Von hier brach er 28. Juni mit 389 Mann auf, am linken Ufer des Flusses aufwärts ziehend. Der Name des Aruwimi ändert sich wiederholt, 140 km von Jambuja heißt er Lubali, dann Nevoa, nach seinem Zusammenfluß mit dem Nepoko heißt er No-Welle, 350 km vom Congo aber Ituri. Trotz der Feindseligkeiten der Eingebornen ging der Marsch ohne Schwierigkeit vor sich, bis man Anfang August ein Urwaldgebiet erreichte, wo der Expedition furchtbare Leiden harrten. Die Eingebornen widersetzten sich dem Vordringen Stanleys und erschossen 5 Mann mit vergifteten Pfeilen, auch Leutnant Stairs wurde schwer verwundet. Um den arabischen Sklavenjägern auszuweichen, hielt sich S. auf der Congostraße, stieß 31. Aug. aber doch auf eine Abteilung des Sklavenhändlers Ugarrowa, zu dem 26 Leute desertierten. Auch mußte S. 56 Invalide im Lager Ugarrowas zurücklassen. Mit 273 zog er weiter, schreckliche Leiden ausstehend in dem durch Sklavenjäger verwüsteten Land, so daß ein mitgebrachtes Boot mit 70 Warenladungen unter dem Wundarzt Parke und dem Kapitän Nelson, beide marschunfähig und verwundet, bei dem Sklavenhändler Kilonga-Longa zurückgelassen werden mußte. Endlich wurde Ibwiri erreicht, wo an Stelle des bisherigen dichten, dumpfen Waldes weite fruchtbare Ebenen traten und Lebensmittel im Überfluß waren. Zwar widersetzte sich der mächtige Häuptling Mogamboni Stanleys Vordringen, doch wurden alle Angriffe zurückgeschlagen. Am 14. Nov. erreichte S. den Albert Nyanza bei Kawalli, wo er ein verschanztes Lager errichtete, und da keine Nachricht von Emin Pascha eingelaufen war, marschierte S. die 200 km zu Kilonga-Longa zurück, um das Boot zu holen. Am 28. April 1888 traf S. endlich mit Emin und Casati zusammen, die ihn in dem Dampfer Khediv aufgesucht hatten. Emin blieb 26 Tage bei S., ohne sich bewegen zu lassen, nach Europa zurückzukehren. Darauf trat S. 16. Juni mit 111 Sansibariten und 101 ihm von Emin überlassenen Trägern seinen Rückmarsch an, fand indes von den zurückgelassenen 257 Mann nur noch 71 bei Bunalaya vor und schlug darauf einen kürzern Weg ein, um nach Fort Bodo bei Ibwiri, wo er seine Europäer gelassen zurückzukehren. Vgl. Rowlands, Henry M. S., record of his life (Lond. 1872); Volz, Stanleys Reise durch den dunkeln Weltteil, für weitere Kreise bearbeitet (3. Aufl., Leipz. 1885). 3) Frederik Arthur, Lord, engl. Staatsmann, jüngerer Bruder des Lords Derby, geb. 15. Jan. 1841, widmete sich der militärischen Laufbahn und avancierte zum Kapitän bei den Gardegrenadieren, trat aber dann zur Reserve über und wurde erst zum Major, dann zum Obersten eines Milizregiments ernannt. Seit 1865 gehörte er für Preston dem Unterhaus an, wo er sich, den Traditionen seiner Familie gemäß, der konservativen Partei anschloß. 1868 war er auf kurze Zeit jüngerer Lord der Admiralität, mußte aber im Dezember d. J. mit Disraeli zurücktreten. 1878-80 war S. Kriegsminister und leitete die Vollendung der Rüstungen gegen Rußland und die Okkupation Cyperns. Unter Salisbury war er im Juni 1885 bis Januar 1886 Staatssekretär für die Kolonien und seit August 1886 Handelsminister. Unter dem Titel Lord S. of Preston wurde er 1887 in den Peersstand erhoben. Stanley Pool (spr. stännli puhl), das von H. M. Stanley entdeckte, ca. 40 km lange und 26 km breite, 348 m ü. M. gelegene Becken, welches der Congo unter 16° östl. L. und 4° südl. Br. oberhalb der Kallulufälle bildet. Am Nordufer liegt Brazzaville, im SW. des Sees die Station Leopoldville. Stannate, s. Zinnsäure. Stannin, s. Zinnkies. Stanniol (Zinnfolie), sehr dünnes Zinnblech aus reinem Zinn oder einer Zinnlegierung mit 1-2 Proz. Kupfer (wodurch die Folie an Festigkeit gewinnt) durch Gießen, Walzen und Schlagen hergestellt. Man gießt das Metall in Platteneingüssen zu Platten von 10 mm Dicke aus und walzt diese Platten in einem Blechwalzwerk anfangs einzeln, dann mehrere aufeinander gelegt, zu Blechen bis zu einer Dicke von 0,1 mm. Noch dünneres S. wird aus diesen Platten durch Schlagen unter Hämmern auf die gleiche Weise wie das Blattgold (s. Goldschlägerei) hergestellt. Nach einem neuen Verfahren wird Zinn in einer flachen, 2,5 m langen eisernen Schale flüssig gehalten; über dieser Schale befindet sich eine 2,5 m lange Walze von 2 m Durchmesser, mit Leinwand überzogen. Diese Walze wird in das Zinn gesenkt und einmal umgedreht, wodurch sie sich mit einer dünnen Lage Zinn bedeckt, welche während einer Rückdrehung der gehobenen Walzen abgewickelt und auf einen polierten ebenen Stein gelegt wird. Auf diese Lage kommen noch 299 solche Blätter, die nun gemeinschaftlich von zehn Arbeitern bis zur gewünschten Dicke geschlagen werden. S. dient hauptsächlich zum Belegen der Spiegel und erhält für diesen Zweck eine Dicke von 0,038-0,5 mm. S. zum Einwickeln von Seife, Schokolade etc. ist 0,15-0,0077 mm dick. Auch bleihaltige Zinnfolie wird vielfach dargestellt und zwar entweder aus Legierungen oder aus Bleiplatten, die mit Zinn übergossen wurden. Um farbige, glänzende Zinnfolie zu bereiten, wird S. mit Baumwolle und Kreidepulver gereinigt, mit Gelatinelösung überzogen, mit Berberis-, Lackmus-, Orseille- oder Safranabkochung oder Anilinlösung gefärbt und nach dem Trocknen mit Weingeistfirnis überzogen. Stannum (lat.), Zinn, Stanowoi, Gebirge, s. Sibirien, S. 927. Stans (auch Stanz), Flecken im schweizer. Kantor Unterwalden, Hauptort von Nidwalden, am Fuß des 1900 m hohen Stanser Horns, mit (1880) 2210 Einw. und einem Denkmal Arnolds von Stansfield - Stapelia. Hier 9. Sept. 1798 Gefecht zwischen den Nidwaldnern und den Franzosen unter Schauenburg. Der Hafen des Orts, am Vierwaldstätter See, ist Stansstad (s. Alpnach), mit 763 Stansfield (spr. stännsfild), James, engl. Staatsmann, geb. 1820 zu Halifax, studierte in London, wurde 1849 Barrister und trat 1859 für seine Geburtsstadt ins Unterhaus, wo er sich dem linken Flügel der liberalen Partei anschloß. 1863 wurde er zum Lord der Admiralität ernannt, schied aber schon 1864 wieder aus der Regierung, bei der sein intimes Verhältnis zu Mazzini Anstoß erregte. Trotzdem konnten die folgenden liberalen Regierungen bei dem Einfluß, den er im Unterhaus hatte, nicht umhin, ihn wieder in ihre Mitte aufzunehmen: er war Unterstaatssekretär unter Russell vom Februar bis Juni 1866 und Lord der Admiralität unter Gladstone vom Dezember 1868 bis Oktober 1869 sowie Sekretär des Schatzamtes unter demselben bis März 1871. Darauf erhielt er das Präsidium des Armenamtes und im August d. J. das Präsidium des neugegründeten Local-government-board. 1874 trat er mit Gladstone zurück; bei der Neubildung des liberalen Ministeriums im Frühjahr 1880 wurde S. übergangen. Stante pede (lat.), stehenden Fußes, auf der Stelle, flugs, stracks. Stanton, Edwin M., nordamerikan. Staatsmann, geb. 1815 zu Steubenville (Ohio), studierte die Rechte, wirkte als Advokat, seit 1857 in Washington, ward 1860 Generalstaatsanwalt, 1861 unter Lincoln Kriegsminister, weil er als einer der Führer der republikanischen Partei belohnt werden mußte, erwarb sich zwar durch rastlose Thätigkeit um die Organisation und Verpflegung des Heers während des Bürgerkriegs Verdienste, stiftete aber durch Nepotismus und Einmischung in die Kriegsoperationen auch Schaden, trat gegen Johnsons vermittelnde Politik auf, ward deshalb abgesetzt, was den Staatsprozeß gegen den Präsidenten zur Folge hatte, legte im Mai 1868 sein Amt nieder, war Richter am obersten Gerichtshof und starb 23. Dez. Stanze (ital.), eigentlich Wohnung, Zimmer; dann s. v. w. Reimgebäude, Strophe; insbesondere das auch Oktave (ital. Ottava rima) genannte epische Versmaß der Italiener, eine aus acht fünffüßigen Jamben bestehende Strophe, in welcher die Verse so verschlungen sind, daß der 1., 3. und 5., dann der 2., 4. und 6., endlich der 7. und 8. aufeinander reimen und zwar ursprünglich nur mit weiblichem Reim, während in neuerer Zeit männlicher mit weiblichem Reim wechselt. Die Strophe findet sich bei den Italienern in allen größern epischen Gedichten (Ariosts "Rasender Roland", Tassos "Befreites Jerusalem") angewendet; auch Camoens hat seine "Lusiaden", Byron seinen "Don Juan" in dieser Form gedichtet sowie von neuern deutschen Dichtern E. Schulze seine "Bezauberte Rose", Lingg seine "Völkerwanderung". Indessen eignet sich die S. im Deutschen mehr zu Widmungsgedichten (z. B. in Goethes "Faust"), zu Prologen, gedankenreichen Apostrophen u. dgl. als zu größern epischen Gedichten, wo sie leicht monoton wird und ermüdend wirkt. Diese Erkenntnis regte Wieland (im "Oberon") zu einer freiern Behandlung derselben an, indem er die Zahl der Versfüße beliebig zwischen vier, fünf und sechs schwanken, die Reime aber ein- oder zweimal wiederkehren ließ und dabei willkürlich verband. Außer Wieland hat diese freiere Form, welche einen großen malerischen Reichtum zu entfalten gestattet, auch Schiller bei seiner Übersetzung des Vergil angewendet. Eine andre Abart der S. ist die Spenserstanze, die Spenser in seiner "Feenkönigin" und nach ihm Lord Byron in seinem "Childe Harold" zur Anwendung brachte. Sie ist neunzeilig, die Reimpaarung derartig, daß zuerst zwei Zeilen: die 1. und 3., dann vier: die 2., 4., 5. und 7., und zuletzt drei: die 6., 8. und 9., aufeinander reimen, und um dem Ganzen einen wuchtigen Abschluß zu geben, hat der letzte Vers stets einen Fuß mehr. - In der Kunstgeschichte heißen Stanzen ("Zimmer") vorzugsweise die von Raffael und seinen Schülern ausgemalten Räume des Vatikans in Stanzen, in der Technik Stempel aus Stahl oder Bronze zur Verfertigung vertiefter Gegenstände aus Blech (Eßlöffel, Dosendeckel, Ornamente etc.). Man stellt sie durch Gravieren oder Gießen her und benutzt sie im Verein mit Gegenstempeln, indem man das Blech durch Fall- oder Prägwerke in die liegenden S. eintreibt. Die Gegenstempel werden aus weicherm Metall (Kupfer, Hartblei etc.) in die S. gegossen oder in dieselben Stanzer Thal, linksseitiges Nebenthal des Inn in Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Landeck, von der Rosanna durchströmt, heißt im obersten Teil Verwallthal und wird von der Straße und Eisenbahn über den Arlberg durchzogen. Den Namen trägt es vom Dorf Stanz bei Landeck (301 Stanzmaschine, s. Hobelmaschinen, S. 588. Stapel, ein Haufe, eine Menge Dinge, besonders wenn sie in einer gewissen Ordnung aufgesetzt sind; vorzüglich eine Quantität gewisser trockner Waren, welche aufeinander geschichtet ist, z. B. Holz, Tücher etc., besonders Häute; Jahrmarkt, Messe, daher Stapelplatz, Ort oder Hafen mit Warenniederlagen (vgl. Stapelgerechtigkeit). Im Schiffbau nennt man S. in einer gewissen Ordnung aufeinander gelegte hölzerne Balken, die entweder bei Luftzutritt aufbewahrt werden sollen, oder mit deren Hilfe man eine ebene Plattform in einer gewissen Höhe und Neigung über dem Terrain gewinnen will, auf welcher ein neues Schiff erbaut wird. Wird ein fertiges Schiff ins Wasser gelassen, so verläßt es den S., daher Stapellauf (s. Ablauf). Stapelartikel, solche Artikel, welche vornehmlich Handelsgegenstand eines Platzes und infolgedessen hier in größerer Menge aufgestapelt sind. Stapelgerechtigkeit (Stapelrecht, Staffelrecht, Stapelfreiheit), ein in ältern Zeiten gewissen Städten bewilligtes Recht, wonach gewisse oder auch alle Waren, welche auf Straßen versandt wurden, an denen ein Stapelplatz gelegen war, in diesem abgeladen und daselbst eine gewisse Zeit (Stapelzeit) über zum Verkauf ausgestellt werden mußten, ehe man sie weiterbringen durfte. Stapelholm, Landschaft in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Schleswig, östlich von Friedrichstadt, bildet einen Geestrücken zwischen Flußmarschen an der Eider, mit den Pfarrdörfern Süderstapel und Erfde mit (1885) 869 u. 1391 Einw. Stapelia L. (Aaspflanze), Gattung aus der Familie der Asklepiadaceen, kaktusartige, blattlose Gewächse mit fleischigen, oft kantigen und an den Kanten gezähnelten Stengeln und Ästen, großen, radförmigen Blumenkronen, welche meist auf gelbem oder gelbgrünem Grund schwarzpurpurn oder violett gefleckt oder marmoriert sind, und fast cylindrischen Balgkapseln mit geschwänzten Samen. Die etwa 60 besonders in Südafrika heimischen Arten werden der Blüten halber als Zierpflanzen in Gewächshäusern kultiviert; die Blüten riechen indes höchst widerwärtig nach Aas. S. Tafel "Kakteen". Stapellauf - Star. Stapellauf, s. Stapel Stapelplatz, s. Stapel Stapelrecht, s. v. w. Stapelgerechtigkeit. Stapelstädte, in Schweden die Städte, welchen das Recht verliehen ist, auf eignen Schiffen Waren ein- und auszuführen. Stapes (lat.), Steigbügel; in der Anatomie eins der Gehörknöchelchen. Staphylea L. (Pimpernuß), Gattung aus der Familie der Sapindaceen, Sträucher mit gegenständigen, unpaarig gefiederten Blättern, gipfelständigen, meist überhängenden, weißlichen Blütentrauben und häutiger, ein- oder wenigsamiger, aufgeblasener Kapsel. S. pinnata L. (Klappernuß, Blasennuß, Paternosterbaum), 3-5 m hoch, mit fünf- bis siebenzählig gefiederten Blättern, länglich elliptischen Blättchen, rötlichweißen Blüten und hellbraunen, ölreichen Samen mit großem Nabelfleck (Ölnüßchen), in Gebirgswäldern Mitteleuropas und Vorderasiens, wird als Zierstrauch angepflanzt. Das weiße, feste Holz dient zu Drechslerarbeiten; die Samen sind eßbar und geben ein gutes Öl. Auch S. colchica Stev. (Hoibreghia formosa hort.), aus Transkaukasien, mit drei- bis fünfzählig gefiederten Blättern und weißen Blüten, und S. trifolia L., mit dreizähligen Blättern, aus Nordamerika, sind Ziersträucher. Staphyleaceen, dikotyle Pflanzengruppe, eine Unterfamilie der Celastrineen (s. d.) bildend, von denen sie sich hauptsächlich durch die Lage des Blütendiskus, die blasig aufgetriebene Frucht und das Fehlen des Samenmantels unterscheiden. Staphylhämatom (griech.), Blutgeschwulst am Zäpfchen, welche wahrscheinlich durch kleine Verletzungen beim Essen, Räuspern etc. entsteht und ohne schlimme Bedeutung Staphylinus, Staphylinidae, s. Kurzflügler. Staphyloma (griech.), in der Augenheilkunde zwei wesentlich verschiedene Zustände: 1) Das S. der Hornhaut ist ein Auswuchs, der aus jungem Bindegewebe oder Narbenmasse besteht und seinen Ursprung einer geschwürigen Hornhautentzündung mit Vorfall der Iris verdankt. Dies S. wird mit dem Messer abgetragen und ist auf diesem Weg heilbar. 2) Das S. der Sklera, der harten weißen Haut, bedeutet eine Ausbuchtung derselben, oft verbunden mit Verdünnung und zunehmender Transparenz, welche entweder mehr allgemein ist, wie beim grünen Star (s. Glaukom), oder auf den hintern Umfang beschränkt, wie bei der Verlängerung des sagittalen Augendurchmessers kurzsichtiger Augen (S. posticum), oder an mehrfachen Stellen unregelmäßige Hervorwölbungen bedingen kann, die ihren Ursprung Entzündungen der Aderhaut oder Iris verdanken. Ist eine solche Ausstülpung einmal eingetreten, so können korrigierende Brillen oder die Operation beim Glaukom die Sehstörungen und die Vergrößerung das S. wohl beseitigen, aber nicht das Übel selbst heilen. Staphyloplastik (griech.), künstliche Gaumenbildung. Staphylorrhaphie, s. Gaumenspalte. Stapß, Friedrich, bekannt durch seinen Mordversuch gegen Napoleon I., geb. 14. März 1792 zu Naumburg, erlernte die Kaufmannschaft und kam dann nach Leipzig in Stellung. Ein erbitterter Gegner Napoleons, beschloß er, denselben zu ermorden, und reiste zu diesem Zweck nach Wien und von da 13. Okt. 1809 nach Schönbrunn, wo jener Heerschau hielt. Der General Rapp, dem das Benehmen S.', der den Kaiser zu sprechen verlangte, verdächtig vorkam, ließ ihn festnehmen, und man fand bei ihm ein großes Küchenmesser. S. gestand unerschrocken seine Absicht und antwortete auf die Frage des Kaisers: "Wenn ich Sie nun begnadige, wie werden Sie mir es danken?" mit den Worten: "Ich werde darum nicht minder Sie töten". Er ward hierauf 17. Okt. erschossen. Star, die Herabsetzung oder gänzliche Aufhebung des Sehvermögens eines oder beider Augen, sofern dieselbe auf Anomalien der lichtempfindenden Elemente (schwarzer S.) oder auf Trübung der Kristalllinse (grauer S.) beruht. Über den sogen. grünen S. oder das Glaukom s. d. Bei dem schwarzen S. unterscheidet man herkömmlich: Amblyopie, Stumpf- oder Schwachsichtigkeit, und Amaurose (besser Anopsie), völlige Blindheit. Beide kommen zu stande zum Teil in der Form von Hemiopie durch Erkrankung der Netzhaut oder des Sehnervs an irgend einer Stelle seines Verlaufs oder des Gehirns selbst. Liegt die erkrankte Stelle hinter dem Eintritt des Sehnervs in die Netzhaut, so läßt sich die Ursache des schwarzen Stars durch den Augenspiegel nicht erkennen. In den meisten Fällen hat der schwarze S. einen langsamen Verlauf, entsteht unmerklich, nimmt ganz allmählich zu und geht schließlich in vollständige Erblindung über; doch kommt es auch vor, daß er auf einer gewissen Stufe der Entwickelung stehen bleibt oder selbst rückgängig wird. Selten bildet er sich in sehr kurzer Zeit aus oder tritt selbst plötzlich nach Art eines Schlaganfalls auf, namentlich dann, wenn sich die Netzhaut durch einen Bluterguß oder durch ein Entzündungsprodukt von der Gefäßhaut des Auges abgelöst hat, oder wenn Blutergüsse, schnell wachsende Geschwülste u. dgl. den Ursprung des Sehnervs im Gehirn zerstört haben. Der schwarze S. kommt bei beiden Geschlechtern und in jedem Alter, selbst angeboren vor; doch ist er bei Männern häufiger als bei Weibern und in dem Alter von 20-40 Jahren häufiger als im Greisenalter, hier aber häufiger als im Kindesalter. Vielfach ist erbliche Disposition vorhanden. Die Pupille pflegt erweitert oder wenig beweglich oder auch ganz starr zu sein, selbst wenn starkes Licht in das Auge fällt. Der Kranke hat einen stieren, nichtssagenden Blick; er büßt überhaupt mehr oder weniger die Herrschaft des Willens über die Bewegungen des Auges ein. Die Augenlider sind in der Regel weit geöffnet, der Augenlidschlag ist träge. Die Bewegungen eines an schwarzem S. Leidenden sind unsicher, seine Haltung ist ängstlich. Das wichtigste Symptom ist Schwachsichtigkeit. Jeder Versuch, kleinere Objekte deutlich zu sehen und anhaltend zu fixieren, kostet Anstrengung; das Auge ermüdet sehr schnell. Später geht auch der letzte Lichtschein, das Vermögen, Hell und Dunkel zu unterscheiden, verloren. Die meisten Fälle von schwarzem S. sind unheilbar oder sehr schwer zu heilen. Ein frisch entstandener Fall gibt eine bessere Prognose als ein solcher, der schon lange Zeit bestanden hat. Der schwarze S., welcher infolge von Sehnervenschwund, Netzhautablösung und von Zerstörungen des Gehirns auftritt, gibt die geringste Aussicht auf Heilung. Am ehesten lassen diejenigen Fälle eine Heilung zu, welche durch konstitutionelle und dyskrasische Leiden, durch Gicht, Syphilis, Nierenerkrankungen, Hysterie etc., sowie diejenigen, welche durch übermäßigen Gebrauch narkotischer Mittel (z. B. übermäßigen Genuß starker Zigarren, von Alkohol) entstanden sind. Oft wird nur das eine Auge geheilt, das andre nicht, oder der schwarze S. heilt nur auf einer Stelle der Netzhaut; völlige Heilung beider Augen ist selten. Die Behandlung ist je nach der Form des schwarzen Stars sehr verschieden. Die Star (Augenkrankheit) - Star (Vogel). Funktionen des Körpers müssen durch eine angemessene Lebensordnung geregelt, die Verrichtungen des Auges sorgfältig überwacht, Anstrengungen desselben durchaus vermieden werden. Oft wird ein längerer Aufenthalt im Dunkeln, das Tragen dunkler Brillen etc. notwendig. Die spezielle Behandlung ist von einem Augenarzt zu leiten. Der graue S. (Cataracta, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 10 u. 11) besteht in einer Trübung im Bereich des Linsensystems, d. h. der Linse selbst oder ihrer Kapsel, bez. beider, wodurch den Lichtstrahlen der Durchgang zu der lichtempfindenden Netzhaut verwehrt wird. Zuerst zeigt sich hinter der Pupille eine unbedeutende Trübung, welche allmählich zunimmt; der Kranke sieht wie durch ein trübes Glas, durch Nebel oder Rauch. Nach und nach wird der vor dem Auge schwebende Nebel dichter, und die Gegenstände erscheinen wie dunkle Schatten. Die Pupille bewegt sich meist frei, nur bei sehr großem S. verliert die Iris an Beweglichkeit und wird nach vorn gedrängt. Nur nach Verletzungen des Auges entwickelt sich der graue S. in wenig Tagen (Cataracta traumatica, s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 12), meist bedarf er zu seiner Ausbildung Monate und Jahre. Nur Stare nach äußerer Verwundung beschränken sich auf Ein Auge. Selten bleibt der S. auf einer niedern Entwicklungsstufe stehen. Nach dem Sitz der Trübung unterscheidet man den Kapselstar und den Linsenstar. Der Kapselstar kommt viel seltener vor und erscheint als eine unsymmetrische, grauweiße, undurchscheinende Trübung nahe hinter der Iris. Der Linsenstar befällt am häufigsten alte Leute (Altersstar, Cataracta senilis) infolge des Sinkens der Ernährungsthätigkeit. Der Linsenstar ist bald ein Kernstar, bald ein Rindenstar; bald ist sowohl Kern als Rinde getrübt (totaler S.). Nach der Konsistenz der getrübten Linsenmasse teilt man die Linsenstare ein in harte und weiche Stare. Der harte S. ist von dunkler, bräunlicher Farbe, betrifft meist den Kern der Linse; dieselbe ist oft knorpelartig fest oder selbst in eine kalkartige oder steinige Masse (Cataracta gypsea) umgewandelt. Beim weichen S., welcher unter allen Starformen am häufigsten vorkommt, zeigt die Linse eine verminderte Konsistenz. Hinsichtlich der Entwicklungsstufe nennt man den S. reif, wenn die Trübung die ganze Linse einnimmt, dagegen unreif, wenn die Entartung noch im Fortschreiten begriffen ist und besonders die Linsenperipherie noch durchsichtige Stellen besitzt, überreif, wenn die schon lange getrübten Linsenmassen stellenweise oder ganz verhärtet und geschrumpft sind. Die Disposition zum grauen S. ist bei dem männlichen Geschlecht größer als bei dem weiblichen; Leute mit blauer oder grauer Iris werden viel häufiger davon betroffen als solche mit brauner Iris. Mitunter ist der graue S. angeboren (Cataracta congenita), sehr selten entwickelt er sich vor dem 7. Lebensjahr; von dieser Zeit an bis zum 60.-70. Lebensjahr wird er allmählich immer häufiger. Der graue S. tritt oft nach entzündlichen Augenkrankheiten auf und ist mit solchen kompliziert. Bei einfachen, nicht komplizierten Staren bleibt stets, auch wenn das Erkennen von Gegenständen längst unmöglich geworden ist, die Fähigkeit, Hell und Dunkel zu unterscheiden, z. B. eine vor dem Auge hin und her bewegte Lampenflamme zu erkennen, erhalten. Das einzige Mittel, das Sehvermögen wiederherzustellen, ist die Staroperation, deren Zweck darin besteht, durch Beseitigung der kranken Linse den Lichtstrahlen den Eintritt in das Innere des Auges wieder zu eröffnen. Dies kann auf dreifachem Weg erreicht werden: entweder indem man die getrübte Linse gänzlich und mit einemmal aus dem Auge entfernt (Extraktion des Stars); oder durch Lagenveränderung der Linse, indem man sie aus der Sehachse entfernt und an einen solchen Ort schiebt, wo sie dem Einfallen der Lichtstrahlen kein Hindernis in den Weg legt, ohne sie aus dem Auge zu schaffen (Depression oder Reklination des Stars); oder durch Zerstückeln und Zerschneiden, wodurch man den S. in einen solchen Zustand versetzt, daß er aufgesaugt werden und also von selbst verschwinden kann (Discision des Stars). Die Operation gelingt bei der Vervollkommnung der modernen Technik unter 100 Fällen 94-96mal. Aber auch im günstigsten Fall ist dieselbe nicht im stande, das Gesicht so vollkommen wiederherzustellen, wie es vor der Erkrankung war; denn es fehlt ja im Auge die Linse, ohne welche sich keine scharfen Bilder auf der Netzhaut bilden können, und mit der Linse fehlt auch das Akkommodationsvermögen für verschiedene Entfernungen. Die verloren gegangene Kristalllinse ersetzt man daher durch starke (1/2-1/4) Konvexlinsen, durch eine sogen. Starbrille, mit deren Hilfe der Kranke dann meist wieder kleinste Schrift zu lesen und die meisten Arbeiten zu verrichten im stande ist. Da aber der Operierte auch das Akkommodationsvermögen verloren hat, so muß er Brillen von verschiedener Brechungskraft gebrauchen, je nachdem er nahe oder ferne Gegenstände sehen will. Nach der Staroperation tritt oft von neuem wieder eine Trübung in der hintern Augenkammer ein, welche man sekundärer Kapselstar, Nachstar (s. Tafel "Augenkrankheiten", Fig. 13), nennt, und wodurch das Sehvermögen wieder beschränkt oder ganz aufgehoben wird. Der Nachstar entsteht dadurch, daß die bei der Operation zurückgelassene hintere Linsenkapsel sich aufs neue trübt; dieselbe wird dann entweder durch eine Nachoperation ganz entfernt, oder auf ungefährliche Weise durch Zerreißung (Discision des Nachstars) beseitigt. Eine abermalige Trübung ist dann nicht mehr möglich. Vgl. Magnus, Geschichte des grauen Stars (Leipz. 1876) Star (Sturnus L.), Vogelgattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel und der Familie der Stare (Sturnidae), mittelgroße, gedrungen gebaute Vögel mit kurzem Schwanz, ziemlich langen Flügeln, in welchen die erste Schwinge verkümmert, die zweite am längsten ist, mittelmäßig langem, geradem, breit kegelförmigem Schnabel, mittelhohen, ziemlich starken Füßen und langen Zehen. Der gemeine S. (Strahl, Sprehe, Spreu, S. vulgaris L.), 22 cm lang, 37 cm breit, ist im Frühling schwarz, auf Schwingen und Schwanz wegen der breiten, grauen Federränder lichter, nach der Mauser und im Herbst weiß gepunktet, mit braunen Augen, schwarzem Schnabel und rotbraunen Füßen, bewohnt den größten Teil Europas, erscheint aber in den Mittelmeerländern nur im Winter und geht höchstens bis Nordafrika; bei uns weilt er von Februar oder März bis Oktober und November. Er bevorzugt die Ebenen mit Auenwaldungen, läßt sich aber auch in Gegenden, die er sonst nur auf dem Zug berührt, durch Anbringung von Brutkasten etc. fesseln. Dadurch hat ihn z. B. Lenz seit 1856 in Thüringen heimisch gemacht. Durch sein munteres, heiteres Wesen ist er allgemein beliebt; seine Stimme ist ein angenehmes Geschwätz, er besitzt aber auch ein großes Nachahmungsvermögen und mischt die verschiedensten Töne ein. Er nistet in Baumhöhlungen, Mauerlöchern, am liebsten in Brutkästchen auf Bäumen, Stangen, Hausgie- Staraja-Russa - Starhemberg. beln etc., und legt im April 5-6 lichtblaue Eier (s. Tafel "Eier I", Fig. 57), welche vom Weibchen allein ausgebrütet werden. Die ausgeschlüpften Jungen sind bald selbständig und schweifen mit andern Nestlingen umher. Ist auch die zweite Brut flügge, so vereinigen sich alle Stare und sammeln sich zu großen Scharen in Wäldern sowie später (etwa Ende August) im Röhricht der Gewässer. Die Alten kehren zuletzt gegen Ende September noch einmal zu den Nistkasten zurück, singen morgens und abends, ziehen aber nach den ersten starken Frösten mit den Jungen in die Winterherberge. Der S. nährt sich von Kerbtieren, Würmern und Schnecken und wird durch massenhafte Vertilgung derselben sehr nützlich; weidenden Rindern liest er Mücken und andre Insekten vom Rücken ab. In Kirschpflanzungen und Gemüsegärten, namentlich in Weinbergen richtet er zwar oft erheblichen Schaden an, doch überwiegt sein Nutzen bei weitem. In der Gefangenschaft wird er leicht zahm, lernt Lieder pfeifen und Worte nachsprechen und dauert fast ein Menschenalter aus. Staraja-Russa, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod, südlich vom Ilmensee, an der Polista und der Eisenbahn S.-Nowgorod, mit Mönchskloster, 16 Kirchen, weiblichem Progymnasium, Theater, Stadtbank, Findelhaus, mehreren Kasernen und (1885) 13,537 Einw. S. besitzt bedeutende Salinen und ist in neuerer Zeit als Solbad in Ruf gekommen. Stara Planina, s. Balkan. Starbuck, zum Manihikiarchipel der Südssee gehörige, unbewohnte Insel, 3 qkm groß, wurde 1866 für englisches Eigentum erklärt. Staremiasto (Alt-Sambor), Stadt in Galizien, am Dnjestr, südwestlich von Sambor, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit (1880) 3482 Einw. Stargard, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Stettin, Kreis Saatzig, an der Ihna, Knotenpunkt der Linien Berlin-S., Posen-S. und S.-Zoppot der Preußischen Staatsbahn wie der Eisenbahn S.-Küstrin, 36 m ü. M., hat 3 evangelische und eine kath. Kirche, ein Bethaus der Irvingianer, eine Synagoge und (1885) mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 9) 22,112 meist evang. Einwohner, welche Maschinen-, Schuhwaren-, Lack-, Filzwaren-, Dachpappen-, Seifen-, Bürsten-, Spiritus- und Zigarrenfabrikation, Bildhauerei, Gerberei, Bierbrauerei, Feilenhauerei und Dampfschleiferei betreiben. S. hat außerdem eine Wasser- und Dampfmahlmühle, eine Dampfmolkerei, eine Provinzialobstbaumschule und bedeutende Landwirtschaft. Der Handel, unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, ist besonders lebhaft in Getreide, Vieh und Produkten, auch finden alljährlich in S. ein Leinwandmarkt und zwölf besuchte Vieh- und Pferdemärkte statt. S. hat ein Landgericht, ein Landratsamt (für den Kreis Saatzig), ein Hauptsteueramt, eine Landschaftsdepartements-Direktion, ein Gymnasium, ein Realprogymnasium, ein Zentralgefängnis, ein Waisenhaus, 8 Hospitäler etc. S. erhielt 1253 Stadtrecht und ward dann die Hauptstadt von Hinterpommern. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Dramburg, Falkenburg, Gollnow, Greifenberg i. P., Jakobshagen, Kallies, Labes, Massow, Naugard, Nörenberg, Pyritz, Regenwalde, S. und Treptow a. R. Vgl. Petrich, Stargarder Skizzenbuch (Starg. 1876). - 2) (Stargardt, Preußisch-S.) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig, an der Ferse und der Linie Schneidemühl-Dirschau der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Gymnasium, eine Präparandenanstalt, ein Amtsgericht, ein Hauptsteueramt, Eisengießerei, Kupferschmiederei, Schnupftabaks-, Möbel-, Spiritus- und Essigfabrikation, eine Holzbearbeitungsanstalt, große Mühlen, Bierbrauerei und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 1) 6634 meist kath. Einwohner. Vgl. Stadie, Geschichte der Stadt S. (Starg. 3) (S. an der Linde) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, an der Linie Berlin-Stralsund der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, ein Domanialamt, Furniertischlerei, Wollspinnerei, Tuchmacherei, 2 Dampfschneidemühlen und (1885) 2200 evang. Einwohner. Dabei auf steiler Höhe die alte Burg S. mit Wartturm. Vgl. v. Örtzen, Geschichte der Burg S. (Neubrandenb. 1887). Nach S. wurde ehemals auch der Hauptteil des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz benannt (s. Strelitz, Starhemberg (Starchimberg, Storchenberg), österreich., teils fürstliches, teils gräfliches Geschlecht, stammt aus Oberösterreich, erhielt 1643 die reichsgräfliche, 1765 die reichsfürstliche Würde und blüht noch in einer fürstlichen Hauptlinie und einer gräflichen Nebenlinie, erstere vertreten durch Camillo, Fürsten von S., Mitglied des österreichischen Herrenhauses, geb. 31. Juli 1835, letztere durch Stephan, Grafen von S., geb. 25. Juni 1817. Vgl. Schwerdling, Geschichte des uralten, teils fürstlichen, teils gräflichen Hauses S. (Linz 1839). Die namhaftesten Sprößlinge des Geschlechts 1) Ernst Rüdiger, Graf von, geb. 12. Jan. 1638 zu Graz in Steiermark, diente unter Montecuccoli gegen Türken und Franzosen und machte sich besonders als Kommandant von Wien durch die erfolgreiche Verteidigung der Stadt gegen die Türken vom 9. Juli bis 12. Sept. 1683 berühmt. Kaiser Leopold verlieh ihm hierfür den Feldmarschallsstab, die Würde eines Staats- und Konferenzministers und das Recht, den Stephansturm in seinem Wappen zu führen. S. folgte dann dem König Johann Sobieski als Kommandierender der Infanterie nach Ungarn, ward aber 1686 bei Ofen so schwer verwundet, daß er sein Kommando niederlegen mußte, und lebte fortan als Präsident des Hofkriegsrats (seit 1691) zu Wien, vorzugsweise mit der Organisation des österreichischen Heers beschäftigt. Er starb 4. Juni 1701. Sein Leben beschrieb Graf Thürheim (Wien 2) Guido, Graf von, geb. 1657, kämpfte während der Belagerung Wiens 1683 mit Auszeichnung als Adjutant des vorigen, seines Vetters, folgte nach dem Entsatz Wiens dem Heer nach Ungarn und that sich auch dort vielfach, unter anderm 1686 dei der Belagerung von Ofen, 1687 bei Mohács und bei der Erstürmung Belgrads (6. Sept. 1688) sowie in den Schlachten bei Slankamen (19. Aug. 1691) und Zenta (11. Sept. 1697), hervor. Nach dem Ausbruch Staring - Stärke. des spanischen Erbfolgekriegs ging er mit dem Prinzen Eugen nach Italien, führte hier 1703 an dessen Stelle den Oberbefehl und wußte die versuchte Vereinigung der Franzosen und Bayern in Tirol zu verhindern. 1708 übernahm er als Feldmarschall das Kommando der in Spanien kämpfenden österreichischen Armee und führte trotz der geringen ihm zu Gebote stehenden Streitkräfte den kleinen Krieg glücklich. 1710 zog er nach den Siegen bei Almenara und Saragossa in Madrid ein, ward aber durch Mangel und die Teilnahmlosigkeit des spanischen Volkes an der Sache Karls bald zum Rückzug nach Barcelona genötigt. Als Karl nach Josephs Tod in die österreichischen Erblande zurückgekehrt war, blieb S. als Vizekönig in Barcelona zurück, konnte sich aber trotz seiner genialen Taktik und seines Mutes, der ihm den spanischen Beinamen el gran capitan verschaffte, aus Mangel an Unterstützung daselbst nicht halten und ließ sich infolge des Neutralitätstraktats vom 14. Mai 1713 mit den Resten seiner Truppen auf englischen Schiffen nach Genua übersetzen. Er lebte seitdem in Wien. Während des Türkenkriegs von 1716 bis 1718 übernahm er in Abwesenheit des Prinzen Eugen das Präsidium des Hofkriegsrats. Er starb 7. März 1737 als Gouverneur von Slawonien. Sein Leben beschrieb Arneth (Wien 1853). Staring, Antony Winand Christiaan, holländ. Dichter, geb. 24. Jan. 1767 zu Gendringen, studierte die Rechte in Harderwyk und Göttingen und wohnte seitdem auf seinem Landgut Wildenborch bei Zütphen, wo er 18. Aug. 1840 starb. S. hat nur einen Band Novellen und vier kleine Bände Gedichte geschrieben (hrsg. von Nik. Beets, 4. Aufl. 1883), welche erst nach seinem Tod nach Verdienst geschätzt wurden und sich durch Ursprünglichkeit, Kernhaftigkeit und einen gesunden Humor auszeichnen. Stariza, Kreisstadt im russ. Gouvernement Twer, an der Wolga, die hier den Fluß S. aufnimmt, und an der Eisenbahn Ostaschkow-Rshew, mit (1885) 4709 Einw., welche starken Getreidehandel auf der Wolga und den Kanälen nach Petersburg Stark (Starck), 1) Johann Friedrich, luther. asketischer Schriftsteller, geb. 10. Okt. 1680 zu Hildesheim, wirkte als Prediger nacheinander in Sachsenhausen und Frankfurt a. M., wo er 17. Juli 1756 als Konsistorialrat starb. Außer vielen geistlichen Liedern schrieb er einige bis auf den heutigen Tag vielgebrauchte Gebetbücher, so namentlich: "Tägliches Handbuch" (Frankf. 1727). 2) Johann August, Freiherr von, bekannt als Kryptokatholik, geb. 29. Okt. 1741 zu Schwerin, war zuerst Lehrer in Petersburg, besuchte 1763 England und ward 1765 in Paris Interpret der morgenländischen Handschriften an der königlichen Bibliothek und, heimgekehrt, Konrektor in Wismar. Nach einer zweiten Reise nach Petersburg übernahm er 1769 eine Professur der morgenländischen Sprachen zu Königsberg und wurde hier 1770 Hofprediger, 1772 ordentlicher Professor der Theologie und 1776 Oberhofprediger, ging 1777 als Professor an das Gymnasium nach Mitau und 1781 als Oberhofprediger und Konsistorialrat nach Darmstadt. 1786 beschuldigten ihn Biester und Nicolai öffentlich, daß er Kryptokatholik, Priester und Jesuit sei. S. vermochte sich in der Schrift "Über Kryptokatholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime Gesellschaften etc." (Frankf. 1787, 2 Bde.; Nachtrag 1788) nicht vollständig zu rechtfertigen, und sein anonymes Buch "Theoduls Gastmahl, oder über die Vereinigung der verschiedenen christlichen Religionssocietäten" (das. 1809, 7. Aufl. 1828) gab jenem Verdacht nur neue Nahrung. Gleichwohl ward er vom Großherzog von Hessen 1811 in den Freiherrenstand erhoben; er starb 3. März 1816. Nach seinem Tod soll man in seinem Haus ein zum Messehalten eingerichtetes Zimmer gefunden haben, und es wird behauptet, daß er schon 1766 in Paris förmlich zur katholischen Kirche übergetreten sei. 3) Karl Bernhard, Archäolog, geb. 2. Okt. 1824 zu Jena, Sohn des als Professor der Pathologie bekannten Geheimen Hofrats S. (gest. 1845), studierte in seiner Vaterstadt und in Leipzig Philologie, wandte sich dann vorzugsweise der Archäologie zu und unternahm 1847 eine Reise nach Italien. Seit 1848 in Jena erst als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor thätig, folgte er 1855 einem Ruf als Professor der Archäologie nach Heidelberg, wo er 12. Okt. 1878 starb. Er schrieb: "Kunst und Schule" (Jena 1848); "Forschungen zur Geschichte des hellenistischen Orients: Gaza und die philistäische Küste" (das. 1852); "Archäologische Studien" (Wetzl. 1852) und als Ergebnis einer Reise durch Frankreich und Belgien "Städteleben, Kunst und Altertum in Frankreich" (Jena 1855); "Niobe und die Niobiden" (Leipz.1863); "Gigantomachie auf antiken Reliefs und der Tempel des Jupiter tonans in Rom" (Heidelb. 1869); "Handbuch der Archäologie der Kunst" (Leipz. 1878, Bd. 1, die Systematik der Archäologie und eine Geschichte der archäologischen Studien enthaltend); kleinere Schriften über Creuzer, Winckelmann, das Heidelberger Schloß u. a. Auch bearbeitete er die zweite Auflage des dritten Teils von Hermanns "Lehrbuch der griechischen Antiquitäten" (Privataltertümer, Leipz. 1870). Eine neue Reise nach dem griechischen Orient gab Stoff zu einer Reihe von Berichten, die er später in dem Werk "Nach dem griechischen Orient" (Heidelb. 1874) verarbeitete. Vgl. W. Frommel, Karl Bernh. Stark (Berl. 1880). 4) Ludwig, Musikpädagog, geb. 19. Juni 1831 zu München, studierte daselbst Philologie, widmete sich jedoch dann unter Ignaz Lachners Beistand der Musik und konnte bald mit Erfolg als Komponist von Ouvertüren, Zwischenaktsmusiken etc. am Hoftheater debütieren. Die Bekanntschaft mit Siegm. Lebert (s. d.) führte S. an die von jenem gegründete Stuttgarter Musikschule als Lehrer der Theorie und Geschichte der Musik; als solcher erhielt er 1868 den Professortitel, 1873 den Doktorgrad von der Universität Tübingen sowie andre Auszeichnungen. Er starb 22. März 1884 in Stuttgart. Von Starks mit Lebert gemeinschaftlich herausgegebenen Unterrichtswerken ist außer der berühmt gewordenen "Klavierschule" (s. Lebert) noch die "Deutsche Liederschule" zu erwähnen. Ferner erschienen von ihm ein "instruktives" u. "Solfeggien-Album", eine weitverbreitete Chorsammlung: "Stimmen der Heimat", eine große, mit A. und C. Kißner gemeinschaftlich bearbeitete Sammlung keltischer Volksweisen in verschiedenen Serien ("Burns-Album" etc.), eine "Elementar- und Chorgesangschule" (mit Faißt, Stuttg. 1880-83, 2 Tle.), Klaviertransskriptionen etc. und eine Bearbeitung der Klavierwerke Händels, Bachs, Mozarts; endlich auch zahlreiche Originalkompositionen für Gesang, Klavier und andre Instrumente und eine Auswahl seiner Tagebuchblätter unter dem Titel: "Kunst und Welt" (Stuttg. 1884). Stärke (Stärkemehl, Satzmehl, Kraftmehl, Amylum), neben Protoplasma (s. d.) u. Chlorophyll (s. d.) der wichtigste Inhaltsbestandteil der Pflanzenzelle, in welcher sie in Form organisierter Körner (Fig. 1 u. 2) auftritt. Dieselben besitzen eine sehr wech- Stärke (natürliches Vorkommen, Chemisches; selnde Größe und erscheinen kugelig, oval, linsen- oder spindelförmig, mitunter, wie im Milchsaft der Euphorbien, auch stabartig mit angeschwollenen Enden, in andern Fällen durch gegenseitigen Druck polyedrisch. Nicht selten treten mehrere Körner zu einem abgerundeten Ganzen zusammen (zusammengesetzte Stärkekörner). Im Wasser liegende Stärkekörner lassen eine deutliche Schichtung (Fig. 1a) erkennen, welche dadurch hervorgerufen wird, daß um eine innere, weniger dichte Partie, den sogen. Kern, Schichten von ungleicher Lichtbrechung schalenartig gelagert sind; der Kern liegt nur bei kugeligen Körnern genau im Mittelpunkt, meist ist er exzentrisch, und die ihn umgebenden Schichten haben dem entsprechend ungleiche Dicke. Die Schichtung wird durch verschiedenen Wassergehalt und entsprechend verschiedene Lichtbrechung der Schichten verursacht, weshalb auch trockne oder in absolutem Alkohol liegende Körner ungeschichtet erscheinen. In polarisiertem Licht zeigen alle Stärkekörner ein helles, vierarmiges Kreuz, dessen Mittelpunkt mit dem Schichtungszentrum zusammenfällt, und verhalten sich demnach so, als wenn sie aus einachsigen Kristallnadeln zusammengesetzt wären. Mit Jodlösung färben sich je nach Konzentration derselben die Stärkekörner mit wenigen Ausnahmen indigoblau bis schwarz, eine Reaktion, durch welche sich auch sehr geringe Stärkemengen in Gewebeteilen nachweisen lassen. In kaltem Wasser sind die Körner unlöslich, quellen aber in warmem Wasser auf und lösen sich zuletzt beim Kochen auf. Nach Einwirkung von Speichel oder von verdünnten Säuren bleibt ein substanzärmeres Stärkeskelett zurück, das sich mit Jod nicht mehr blau, sondern violett oder gelb färbt, so daß die Annahme zweier verschiedener Substanzen (von Nägeli als Granulose und Cellulose bezeichnet) naheliegt; jedoch scheint die Annahme einer unter diesen Umständen eintretenden Umwandlung der S. in Amylodextrin wahrscheinlicher. Die S. tritt in den verschiedenartigsten Geweben aller Pflanzen mit Ausnahme der Pilze und einiger Algen (Diatomeen und Florideen) auf; bei letztern wird sie jedoch durch eine ähnliche Substanz (Florideenstärke) vertreten, welche sich mit Jod gelb oder braun färbt und direkt aus dem Zellplasma hervorgeht. Auch im Zellinhalt von Euglena kommen stärkeähnliche, mit Jod jedoch sich nicht färbende Körner (Paramylon) vor. Endlich tritt in den Epidermiszellen einiger höherer Pflanzen eine mit Jod sich blau oder rötlich färbende Substanz in gelöster Form (lösliche S.) auf. In allen übrigen Fällen ist das Auftreten der S. in der beschriebenen Körnerform die Regel. Sehr reich an S. sind die als Stoffmagazine dienenden Gewebe der Samen, Knollen, Zwiebeln und Rhizome sowie die Markstrahlen und das Holzparenchym im Holzkörper der Bäume. Diese Reservestärke unterscheidet sich durch ihre Großkörnigkeit von der feinkörnigen, im assimilierenden Gewebe auftretenden S. (s. Ernährung der Pflanzen). Die Bildung der S. erfolgt entweder innerhalb der Chlorophyllkörner und andrer Farbstoffkörper, oder sie entsteht aus farblosen Plasmakörnern, den Leukoplasten oder Stärkebildnern. Die letztern treten besonders in solchen chlorophyllfreien Geweben auf, in welchen die Assimilationsprodukte in Reservestärke übergeführt werden, wie in vielen stärkemehlhaltigen Knollen; in diesen werden die kleinen Stärkekörner von den Leukoplasten fast ganz eingehüllt, während letztere den großen, exzentrisch gebauten Stärkekörnern nur einseitig aufsitzen. Bei vielen Chlorophyllalgen, z. B. bei Spirogyra, treten die Stärkemehlkörner an besondern Bildungsherden im Umkreis von plasmatischen Kernen (Pyrenoiden) auf. Das Wachstum der anfangs ganz winzigen Stärkekörner erfolgt durch Einlagerung neuer Stärkemoleküle zwischen die schon vorhandenen (Intussuszeption), während die zusammengesetzten Stärkekörner sich durch nachträgliche Verschmelzung und Umlagerung mit neuen Schichten bilden. Die Auflösung der S. im Innern der Pflanzenzelle kommt vorzugsweise durch Einwirkung von Fermenten zu stande, welche der Diastase des keimenden Getreidekorns ähnlich sind. Im Leben der Pflanze liefert die S. das Material für den Aufbau der Zellwand. - Auch in chemischer Beziehung steht das Stärkemehl (C6H10O5) in naher Verwandtschaft zu andern Kohlehydraten, wie der Cellulose, den Zuckerarten, dem Dextrin u. a. Die Umwandlung in Dextrin und Zucker erfolgt besonders leicht durch Behandlung der S. mit verdünnten Säuren, Diastase, Speichel, Hefe und andern Fermenten. Bei 160° geht die S. in Dextrin über, mit konzentrierter Salpetersäure bildet sie explosives Nitroamylum (Xyloidin), mit verdünnter Salpetersäure gekocht, Oxalsäure. Beim Erhitzen mit Wasser quillt die S. je nach der Abstammung bei 47-57°, die Schichten platzen, und bei 55-87° (Kartoffelstärke bei 62,5°, Weizenstärke bei 67,5°) entsteht Kleister, welcher je nach der Stärkesorte verschiedenes Steifungsvermögen besitzt (Maisstärkekleister größeres als Weizenstärkekleister, dieser größeres als Kartoffelstärkekleister) und sich mehr oder weniger leicht unter Säuerung zersetzt. Man gewinnt S. aus zahlreichen, sehr verschiedenen Pflanzen, von denen Weizen, Kartoffeln, Reis (Bruchreis aus den Reisschälfabriken) und Mais befonders wichtig sind. Wichtige Objekte des Handels sind außerdem: Sago, Marantastärke (Arrowroot), brasilische Maniokstärke, ostindische Kurkumastärke und Kannastärke, letztere beiden ebenfalls als Arrowroot im Handel. Zur Darstellung der Kartoffelstärke werden die Kartoffeln, welche etwa 75 Proz. Wasser, 21 Proz. S. und 4 Proz. andre Substanzen enthalten, auf schnell rotierenden Cylindern, die mit Sägezähnen besetzt sind, unter Zufluß von Wasser möglichst fein zerrieben, worauf man den Brei, in welchem die Zellen möglichst vollständig zerrissen, die Stärkekörner also bloßgelegt sein sollen, aus einem Metallsieb, auf welchem ein Paar Bürsten langsam rotieren, unter Zufluß von Wasser auswäscht. Bei größerm Betrieb benutzt man kontinuierlich wirkende Apparate, bei denen der Brei durch eine Kette allmählich über ein langes, geneigt liegendes Sieb transportiert und dabei ausgewaschen und das Stärke (Gewinnung aus Kartoffeln, Weizen, Reis, Mais). auf den schon fast erschöpften Brei fließende Wasser, welches also nur sehr wenig Stärkemehl aufnimmt, auch noch auf frischen Brei geleitet wird. Der ausgewaschene Brei (Pülpe) enthält 80-95 Proz. Wasser, in der Trockensubstanz aber noch etwa 60 Proz. S. und dient als Viehfutter, auch zur Stärkezucker-, Branntwein- und Papierbereitung; das Waschwasser hat man zum Berieseln der Wiesen benutzt, doch gelang es auch, die stickstoffhaltigen Bestandteile des Kartoffelfruchtwassers für die Zwecke der Verfütterung zu verwerten. Da die Pülpe noch sehr viel S. enthält, so zerreibt man sie wohl zwischen Walzen, um alle Zellen zu öffnen, und wäscht sie noch einmal aus. Nach einer andern Methode schneidet man die Kartoffeln in Scheiben, befreit sie durch Maceration in Wasser von ihrem Saft und schichtet sie mit Reisigholz oder Horden zu Haufen, in welchen sie bei einer Temperatur von 30-40° in etwa acht Tagen vollständig verrotten und in eine lockere, breiartige Masse verwandelt werden, aus welcher die S. leicht ausgewaschen werden kann. Das von den Sieben abfließende Wasser enthält die Saftbestandteile der Kartoffeln gelöst und S. und feine Fasern, die durch das Sieb gegangen sind, suspendiert. Man rührt es in Bottichen auf, läßt es kurze Zeit stehen, damit Sand und kleine Steinchen zu Boden fallen können, zieht es von diesen ab, läßt es durch ein feines Sieb fließen, um gröbere Fasern zurückzuhalten, und bringt es dann in einen Bottich, in welchem sich die S. und auf derselben die Faser ablagert. Die obere Schicht des Bodensatzes wird deshalb nach dem Ablassen des Wassers entfernt und als Schlammstärke direkt verwertet oder weiter gereinigt, indem man sie auf einem Schüttelsieb aus feiner Seidengaze, durch deren Maschen die S., aber nicht die Fasern hindurchgehen, mit viel Wasser auswäscht. Die Hauptmasse der S. wird im Bottich wiederholt mit reinem Wasser angerührt und nach jedesmaligem Absetzen von der obern unreinen S. befreit. Man kann auch die rohe S. mit Wasser durch eine sehr schwach geneigte Rinne fließen lassen, in deren oberm Teil sich die schwere reine S. ablagert, während die leichtern Fasern von dem Wasser weiter fortgeführt werden. Sehr häufig benutzt man auch innen mit Barchent ausgekleidete Zentrifugalmaschinen, in welchen sich die schwere S. zunächst an der senkrechten Wand der schnell rotierenden Siebtrommel ablagert, während die leichte Faser noch im Wasser suspendiert bleibt. Das Wasser aber entweicht durch die Siebwand, und man kann schließlich die S. aus der Zentrifugalmaschine in festen Blöcken herausheben, deren innere Schicht die Faser bildet. Die feuchte (grüne) S., welche etwa 33-45 Proz. Wasser enthält, wird ohne weiteres auf Dextrin und Traubenzucker verarbeitet, für alle andern Zwecke aber auf Filterpressen oder auf Platten aus gebranntem Gips, die begierig Wasser einsaugen, auch unter Anwendung der Luftpumpe entwässert und bei einer Temperatur unter 60° getrocknet. Man bringt sie in Brocken oder, zwischen Walzen zerdrückt und gesiebt, als Mehl in den Handel. Bisweilen wird die feuchte S. mit etwas Kleister angeknetet und durch eine durchlöcherte eiserne Platte getrieben, worauf man die erhaltenen Stengel auf Horden trocknet. Um einen gelblichen Ton der S. zu verdecken, setzt man ihr vor dem letzten Waschen etwas Ultramarin zu. Weizenstärke wird aus weißem, dünnhülsigem, mehligem Weizen dargestellt. Derselbe enthält etwa 58-64 Proz. S., außerdem namentlich etwa 10 Proz. Kleber und 3-4 Proz. Zellstoff, welcher hauptsächlich die Hülsen des Korns bildet. Die Eigenschaften des Klebers bedingen die Abweichungen der Weizenstärkefabrikation von der Gewinnung der S. aus Kartoffeln. Nach dem Halleschen oder Sauerverfahren weicht man den Weizen in Wasser, zerquetscht ihn zwischen Walzen und überläßt ihn, mit Wasser übergossen, der Gärung, die durch Sauerwasser von einer frühern Operation eingeleitet wird und namentlich Essig- und Milchsäure liefert, in welcher sich der Kleber löst oder wenigstens seine zähe Beschaffenheit so weit verliert, daß man nach 10-20 Tagen in einer siebartig durchlöcherten Waschtrommel die S. abscheiden kann. Das aus der Trommel abfließende Wasser setzt in einem Bottich zunächst S., dann eine innige Mischung von S. mit Kleber und Hülsenteilchen (Schlichte, Schlammstärke), zuletzt eine schlammige, vorwiegend aus Kleber bestehende Masse ab. Diese Rohstärke wird ähnlich wie die Kartoffelstärke gereinigt und dann getrocknet, wobei sie zu Pulver zerfällt oder, wenn sie noch geringe Mengen Kleber enthält, die sogen. Strahlenstärke liefert, die vom Publikum irrtümlich für besonders rein gehalten wird. - Nach dem Elsässer Verfahren wird der gequellte Weizen durch aufrechte Mühlsteine unter starkem Wasserzufluß zerquetscht und sofort ausgewaschen. Das abfließende Wasser enthält neben S. viel Kleber und Hülsenteilchen und wird entweder der Gärung überlassen und dann wie beim vorigen Verfahren weiter verarbeitet, oder direkt in Zentrifugalmaschinen gebracht, wo viel Kleber abgeschieden und eine Rohstärke erhalten wird, die man durch Gärung etc. weiter reinigt. Die bei diesem Verfahren erhaltenen Rückstände besitzen beträchtlich höhern landwirtschaftlichen Wert als die bei dem Halleschen Verfahren entstehenden; will man aber den Kleber noch vorteilhafter verwerten, so macht man aus Weizenmehl einen festen, zähen Teig und bearbeitet diesen nach etwa einer Stunde in Stücken von 1kg in einem rinnenförmigen Trog unter Zufluß von Wasser mit einer leicht kannelierten Walze. Hierbei wird die S. aus dem Kleber ausgewaschen und fließt mit dem Wasser ab, während der Kleber als zähe, fadenziehende Masse zurückbleibt (vgl. Kleber). Reis enthält 70-75 Proz. S. neben 7-9 Proz. unlöslichen, eiweißartigen Stoffen, welche aber durch Einweichen des Reises in ganz schwacher Natronlauge großenteils gelöst werden. Man zerreibt den Reis alsdann auf einer Mühle unter beständigem Zufluß schwacher Lauge, behandelt den Brei in einem Bottich anhaltend mit Lauge und Wasser, läßt kurze Zeit absetzen, damit sich gröbere Teile zu Boden senken, und zieht das Wasser, in welchem reine S. suspendiert ist, ab. Aus dem Bodensatz wird die S. in einem rotierenden Siebcylinder durch Wasser ausgewaschen, worauf man sie durch Behandeln mit Lauge und Abschlämmen vom Kleber befreit. Die zuerst erhaltene reinere S. läßt man absetzen, entfernt die obere unreine Schicht, behandelt das übrige auf der Zentrifugalmaschine und trocknet die reine Mais weicht man vier- bis fünfmal je 24 Stunden in Wasser von 35°, wäscht ihn und läßt ihn dann durch zwei Mahlgänge gehen. Das Mehl fällt in eine mit Wasser gefüllte Kufe mit Flügelrührer und gelangt aus dieser auf Seidengewebe, welches nur die grobe Kleie zurückhält. Die mit der S. beladenen, durch das Gewebe hindurchgegangenen Wasser gelangen in Tröge, dann durch zwei feine Gewebe und endlich auf wenig geneigte, 80-100 m lange Schiefertafeln, auf welchen sich die S. ablagert. Das abfließende, nur noch Spuren von S. enthaltende Wasser Stärkeglanz - Starnberg. läßt man der Ruhe und preßt den Absatz zu Kuchen, um ihn als Viehfutter zu verwenden. Die Behandlung mit schwacher Natronlauge von 2-3° B. ist im nördlichen Frankreich und in England gebräuchlich. Stärkere Laugen würden einen Verlust an Eiweißstoffen verursachen. Da zudem bei Anwendung von Natron sich ein übler Geruch bei der Gärung entwickelt und dieses Verfahren auch fast keine Vorzüge bietet, so ist die Behandlung mit reinem Wasser vorzuziehen. Die S. des Maises ist unter dem Namen Maizena im Handel. Auch aus Roßkastanien wird S. gewonnen, doch ist dieselbe nur für technische Zwecke verwendbar, da ein derselben anhaftender Bitterstoff durch Behandeln mit kohlensaurem Natron kaum vollständig entfernt werden kann. Die Ausbeute beträgt 19-20 Proz. Die S. des Handels enthält etwa 80-84 Proz. reine S., 14-18 Proz. Wasser und in den geringern Sorten bis 5 Proz. Kleber, 2,5 Faser und 1,3 Proz. Asche, während der Aschengehalt in den besten Sorten nur 0,01 Proz. beträgt. S. dient allgemein zur Appretur, zur Darstellung von Schlichte, zum Steifen der Wäsche, zum Beizen von Baumwolle, zur Färbung mit Anilinfarben, zum Leimen des Papiers, zum Verdicken der Farben in der Zeugdruckerei, zu Kleister, zur Darstellung von Dextrin (Stärkegummi) und Traubenzucker (Stärkezucker, Stärkesirup), Nudeln, künstlichem Sago, überhaupt als Nahrungsmittel (Kartoffelmehl, Kraftmehl etc.). Die S. ist auch der wesentliche Bestandteil im Getreide und in den Kartoffeln, aus welcher sich bei der Bierbrauerei und Branntweinbrennerei, nachdem sie in Zucker und Dextrin übergeführt worden, der Alkohol bildet. S. war bereits den Alten bekannt, nach Dioskorides wurde sie amylon genannt, weil sie nicht wie andre mehlartige Stoffe auf Mühlen gewonnen wird. Nach Plinius wurde sie zuerst auf Chios aus Weizenmehl dargestellt. Über die Fortschritte der Fabrikation im Mittelalter weiß man wenig, nur so viel ist sicher, daß die Holländer im 16. Jahrh. S. im großen Maßstab darstellten und bedeutende Mengen exportierten. Die Stärkeindustrie entwickelte sich vorwiegend als landwirtschaftliches Gewerbe; mit einfachsten Vorrichtungen gewann man zwar nur eine mäßige Ausbeute, doch genügte dieselbe bei der Möglichkeit vorteilhafter Verwertung der Abfälle, bis die Fortschritte in den eigentlichen Stärkefabriken auch die Landwirtschaft zwangen, auf höhere Ausbeute bedacht zu sein. Diese wurde namentlich durch Vervollkommnung der Maschinen und Apparate erreicht, um welche sich Fesca durch Einführung eigentümlich konstruierter Zentrifugalmaschinen wesentliche Verdienste erwarb. In neuerer Zeit hat die Reisstärke der Kartoffel- und Weizenstärke namentlich für Zwecke der Appretur erfolgreich Konkurrenz gemacht. Vgl. Nägeli, Die Stärkekörner (Zürich 1858); Derselbe, Beiträge zur nähern Kenntnis der Stärkegruppe (Leipz. 1874); Schneider, Rationelle Fabrikation der Kartoffelstärke (Berl. 1870); Wagner, Handbuch der Stärkefabrikation (2. Aufl., Weim. 1884); Derselbe, Die Stärkefabrikation (2. Ausg., Braunschw. 1886); Rehwald, Stärkefabrikation (2. Aufl., Wien 1885). Stärkeglanz, s. Glanzstärke. Stärkegummi, s. Dextrin. Starke Mann, der, s. Eckenberg. Stärkemehl, s. Stärke. Stärkemesser, s. Fäkulometer. Stärken, s. Appretur. Starkenbach (tschech. Jilemnice), Stadt im nördlichen Böhmen, Station der Österreichischen Nordwestbahn, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit gräflich Harrachschem Schloß, Webschule, bedeutender Leinwand- und Batistmanufaktur, Bierbrauerei und (1880) 3418 Einw. Starkenburg, Provinz des Großherzogtums Hessen, umfaßt 3019 qkm (54,83 QM.) mit (1885) 402,378 Einw. (darunter 116,974 Katholiken und 9516 Juden), hat Darmstadt zur Hauptstadt und sieben Kreise: Kreise QKilom. QMeilen Einwohner Einw. auf 1 qkm Bensheim 391 7,10 48756 125 Darmstadt 298 5,41 84020 282 Dieburg 504 9,15 53002 105 Erbach 593 10,77 47540 80 Groß-Gerau 450 8,17 39805 88 Heppenheim 406 7,38 43916 108 Offenbach 377 6,85 85339 225 Stärkende Mittel (tonische Mittel, Tonica, Roborantia), diejenigen Mittel, welche bei Schwächezuständen die Thätigkeit und Ausdauer des ganzen Körpers und der einzelnen Organe steigern; entweder diätetisch-psychische: einfache, nicht erschlaffende Lebensweise, Abhärtung, namentlich der Haut, frühes Aufstehen, Waschungen und Bäder, frische Luft, Turnen, Fechten, Schwimmen, Sorge für Gemütsruhe etc., oder arzneiliche, die namentlich bei allgemeiner und örtlicher Erschlaffung, Blutmangel, Blutzersetzung, schlechter Ernährung am Platze sind (hier stehen obenan die Eisenmittel, denen sich die Mineralsäuren, China, Ergotin und die bittern Mittel anreihen), oder dynamische, wie die Anwendung der Elektrizität bei Schwäche und Erkrankungen des Muskel- und Nervensystems. Stärkescheide (Stärkering, Stärkeschicht), in der Pflanzenanatomie eine stärkeführende Zellschicht, welche den Gefäßbündelkreis oder die einzelnen Gefäßbündel im Stengel und im Blatt umgibt. Stärkesirup, s. Traubenzucker. Stärkerer, s. v. w. Traubenzucker. Stärkmehl, s. Stärke. Stärlinge (Icteridae), Familie aus der Ordnung der Sperlingsvögel (s. d.). Starnberg (Starenberg), Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern, Bezirksamt München II, am Nordende des danach benannten Sees und an der Linie München-Peißenberg der Bayrischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, ein königliches Schloß, ein Amtsgericht, ein Forstamt und (1885) 1745 Einw. Der Starnberger See (auch Würmsee genannt) liegt 584 m ü. M., ist 21 km lang, bis 5 km breit und 245 m tief. Sein Abfluß ist die Würm, welche den See unweit S. verläßt und in die Ammer mündet. Der See ist reich an trefflichen Fischen (Lachse, Welse, Karpfen, Hechte etc.). Seine amphitheatralisch aufsteigenden Ufer sind mit Dörfern, Landhäusern, Schlössern, Kirchen und Gasthäusern besetzt; im Süden bilden die Alpen (Zugspitze, Benediktenwand, Karwändelgebirge) einen großartigen Hintergrund. Bemerkenswert sind außer dem 1541-85 erbauten Bergschloß S.: das königliche Jagdschloß Berg (s. d.), das Schloß Possenhofen (s. d.), in dessen Nähe die liebliche Insel Wörth liegt, das Schlößchen Leoni, Bad Unterschäftlarn im NO., Bad Petersbrunn am Ausfluß der Würm, endlich Schloß Leutstetten am Beginn des romantischen Mühlthals. Der See wird von Dampfschiffen befahren. Vgl. Horst, Der Starnberger See, eine Wanderung (Münch. 1877); Schab, Die Pfahlbauten im Würmsee (das. 1877); Lidl, Wanderungen (Landsb. 1878). Starobielsk - Starrsucht. Starobielsk, Kreisstadt im russ. Gouvernement Charkow, am Aidar, mit 4 Kirchen, Progymnasium, Talgsiedereien, Getreidehandel und (1885) 8270 Einw. Starobradzen, Sekte, s. Raskolniken. Starodub, Kreisstadt im russ. Gouvernement Tschernigow, mit 15 Kirchen, einer hebräischen Kronschule, vielen Gärten, Überresten alter Befestigungen, Handel mit Getreide und Hanf und (1885) 24,388 Einw.; gehört seit 1686 zu Staro-Konstantinow, Kreisstadt im russ. Gouvernement Wolhynien, hat 4 griechisch-russische, 2 kath. Kirchen, 2 Synagogen, bedeutenden Getreidehandel nach Odessa und Österreich, Ausfuhr von Schweinen nach Polen und Preußen, von Rindern, Pferden und Schafen nach Österreich und (1885) 19,025 Einw. Das frühere Dominikanerkloster (jetzt Gefängnis und Krankenhaus) diente ehedem als Festung. Starosten (slaw., "Älteste", Capitanei), in Polen früher Edelleute, die eins der königlichen Güter (Starosteien) zum Lehen und damit zumeist auch die Gerichtsbarkeit in einem gewissen Umfang erhalten hatten (Starosteigerichte). Beim Ableben des derzeitigen Inhabers durften diese Starosteien nicht wieder eingezogen, sondern mußten an einen andern verliehen werden. In Sibirien werden die Vorsteher eines Dorfs S. genannt. In Böhmen ist Starosta der Titel der Bürgermeister, auch Bezeichnung von Vereinsvorständen. Starowertzi, Sekte, s. Raskolniken. Starrkrampf (Tetanus und Trismus), eine Krankheit, welche darin sich äußert, daß auf geringe Erregungen entweder nur gewisse Muskelgruppen, z. B. die Kaumuskeln beim Trismus (Mundsperre), die Nackenmuskeln beim Opisthotonus (Genickkrampf), oder daß die gesamte Muskulatur des Körpers in den Zustand stärkster Zusammenziehung gerät. Später reicht der geringste Anlaß, eine Erschütterung, das Klappen einer Thür hin, um einen S. auszulösen. Fast immer wird zuerst der Kopf durch starre Kontraktionen der Rückenmuskeln fixiert und rückwärts gezogen. Vom Nacken aus verbreitet sich der Krampf über die Rückenmuskeln, der ganze Körper wird dadurch bogenförmig rückwärts gekrümmt. Aber auch die Bauch- und Brustmuskeln beteiligen sich an dem S., deshalb ist der Unterleib eingezogen und bretthart. Die kontrahierten Muskeln bleiben während des ganzen Verlaufs der Krankheit gespannt; sie sind dabei hart wie Stein und der Sitz furchtbarer Schmerzen, welche denjenigen beim Wadenkrampf ähnlich sind. Die Krankheit ist um so entsetzlicher, als der Kranke meist bis zum Tode das volle Bewußtsein seiner furchtbaren Leiden behält. Er leidet Hunger und Durst, weil er nicht schlingen kann; der Schlaf fehlt, die Atmung ist erschwert, und die gestörte Respiration und die Erstickungszufälle sind es auch, welche den Kranken meist schon nach wenigen Tagen hinwegraffen. Der S. entsteht durch Vergiftungen, von welchen diejenige mit Strychnin am besten erforscht ist. Neuere Untersuchungen machen es wahrscheinlich, daß die alte Einteilung in rheumatischen und traumatischen S. hinfällig sei, daß vielmehr alle Fälle von kleinen Wunden ausgehen, in welchen eine Giftbildung (Briegers Tetanin und Tetanotoxin) durch Bakterien vor sich geht. Da die Wunden meistens klein und unbedeutend sind, so hat man sie früher nicht beachtet und den S. als eine Erkältungskrankheit gedeutet; für zahlreiche Fälle von S. nach Fußverletzungen, nach dem Einreißen von Splittern unter einen Fingernagel, für den S. der Neugebornen, welcher von der Nabelwunde ausgeht, sind indessen Bakterien (Tetanusbacillen) nachgewiesen worden, welche auch in Nährflüssigkeiten ein Gift hervorbringen, welches Tetanus bei Tieren erzeugt. Diese Bacillen kommen im Erdboden vor, woraus sich die Gefährlichkeit kleiner Fußwunden namentlich bei barfuß gehenden Personen erklärt. Die Behandlung gewährt nur Aussicht, wenn frühzeitig die Wunde ausgeschnitten oder das Glied amputiert wird; gegen den S. selbst wendet man Morphium an, um das Leiden zu S. kommt auch bei den Haustieren und besonders häufig bei Pferden vor. Gewöhnlich entwickelt sich das Leiden schnell, aber ohne Temperaturerhöhung. Die Pferde gehen steif, mit gestrecktem Kopf; die Muskeln sind gespannt, und oft bekunden die Tiere eine krankhafte Reizbarkeit. Die Schneidezähne sind mehr oder weniger fest aufeinander geklemmt, so daß die Tiere wohl noch Wasser trinken, aber keine festen Nahrungsmittel verzehren können. Nach diesem Symptom wird der S. auch Maulsperre (Trismus) genannt. Mehr als die Hälfte der am S. erkrankten Tiere geht zu Grunde. Bei günstigem Verlauf lassen die Symptome am 10.-15. Krankheitstag allmählich nach; aber die Rekonvaleszenz erstreckt sich auf 4-6 Wochen. Mit Arzneimitteln kann beim S. nicht viel geholfen werden. Mehr empfiehlt sich zweckmäßige Pflege und Vermeidung jeder Aufregung der kranken Tiere. Starrsucht (Katalepsie), eine eigentümliche Krankheit der Bewegungsnerven, bez. des Rückenmarks, welche in einzelnen Anfällen auftritt. Während eines kataleptischen Anfalls verharren die Glieder in der Stellung, in welche sie der Kranke vor dem Anfall durch seinen Willen gebracht hat, oder in der Stellung, in welche sie während des Anfalls durch fremde Hand gebracht werden. Sie sinken weder durch ihre eigne Schwere herab, noch können sie durch den Willen des Kranken in eine andre Stellung gebracht werden. Es ist wahrscheinlich, daß bei der S. alle Bewegungsnerven sich in einem Zustand mittlerer Erregung befinden, und daß infolgedessen alle Muskeln bis zu dem Grad kontrahiert sind, daß sie der Schwere der Glieder Widerstand zu leisten vermögen. Kataleptische Erscheinungen treten bei gewissen Geisteskranken, bei Hysterischen und neben manchen Krampfformen, sehr selten dagegen selbständig bei sonst gesunden Individuen auf. Gelegenheitsursachen zum Ausbruch der S. sind namentlich starke Gemütsbewegungen oder auch diejenigen Nervenreizungen, welche den magnetischen Schlaf (s. Hypnotismus) hervorbringen. Als Vorboten der Anfälle von S. sind Kopfschmerz, Schwindel, Ohrenklingen, unruhiger Schlaf, große Reizbarkeit etc. zu nennen. Der Anfall selbst tritt plötzlich ein; die Kranken bleiben unbeweglich wie eine Statue in der Stellung oder Lage, in welcher sie sich gerade befinden, wenn sie der Anfall überrascht. Entweder ist während des Anfalls das Bewußtsein und damit die Empfindlichkeit gegen äußere Reize vollständig aufgehoben, oder das Bewußtsein ist vorhanden, äußere Reize werden empfunden, aber die Kranken sind nicht im stande, durch Worte oder Bewegungen Zeichen ihres Bewußtseins zu geben. Die Atmungsbewegungen, der Herz- und Pulsschlag sind zuweilen so schwach, daß man sie kaum wahrnimmt. Ein solcher Anfall dauert meist nur wenige Minuten, selten mehrere Stunden oder Tage. Die Kranken gähnen und seufzen, wenn der Anfall vorübergeht, und machen ganz den Eindruck eines Menschen, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Geht der Anfall schnell vorüber, und ist während des- Stars and stripes - Staßfurt. selben das Bewußtsein erloschen gewesen, so wissen die Kranken oft gar nicht, daß etwas Ungewöhnliches mit ihnen vorgegangen ist. In andern Fällen bleiben die Kranken nach dem Anfall für kurze Zeit angegriffen, schwindlig und klagen über Eingenommenheit des Kopfes. Oft tritt nur ein Anfall ein, selten folgen sich in kurzen oder langen Zwischenräumen mehrere Anfälle. Die S. geht fast immer nach längerm oder kürzerm Bestand in Genesung über. Dauert der Anfall länger an, so kann es nötig werden, dem Kranken künstlich (durch die Schlundsonde) Nahrung einzuführen. Vgl. Kataplexie. Stars and stripes (engl., spr. stars änd streips), in Nordamerika beliebte Bezeichnung für das "Sternenbanner" der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Starstein, s. Holz, fossiles. Start (engl.), der Anfang des Wettrennens, geschieht aus dem Schritt, wenn er gut oder glatt ist. Geschieht er aus dem Galopp, so nennt man ihn fliegend. Der Starter gibt durch Senken einer Fahne das Zeichen zum Ablaufen. Stary (slaw.), in zusammengesetzten Ortsnamen oft vorkommend, bedeutet "alt". Staryj-Bychow (Bychow), Kreisstadt im russ. Gouvernement Mohilew, am Dnjepr, zur Zeit der Polenherrschaft eine der stärksten Festungen Weißrußlands, seit 1772 zu Rußland gehörig, jetzt ein armer Ort mit (1885) 6074 Staryj-Oskol, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kursk, hat 6 griechisch-russ. Kirchen, ein weibliches Progymnasium, Fabriken für Seife, Leder, Lichte und Tabak, Getreidehandel und (1885) 10,960 Einw. Stas, Jean Servais, Chemiker, geb. 20. Sept. 1813 zu Löwen, war längere Zeit Professor an der Militärschule in Brüssel und wurde 1841 Mitglied der belgischen Akademie. Er lieferte anfänglich Untersuchungen über organische Verbindungen, wie das Phloridzin, das Acetal, aber schon 1841 mit Dumas eine Arbeit über das Atomgewicht des Kohlenstoffs und hat sich seitdem große Verdienste durch überaus exakte Atomgewichtsbestimmungen erworben. Staschow (Stasczow), Stadt im polnisch-russ. Gouvernement Radom, Kreis Sandomir, am Czarna, hat Fabrikation von Gewehren, Thonpfeifen und Papier, Strumpfweberei, Wollweberei, Eisen- und Kupferhämmer und (1885) 7748 Einw. Stasimon (griech.), Name der Standlieder des Chors im griechischen Drama, bei deren Vortrag der Chor meist unbeweglich stehen blieb. Sie traten nur ein, wo die Handlung einen Ruhepunkt forderte, und teilten mit dem dem Prolog folgenden Einzugslied (Parodos) das Stück in verschiedene Abschnitte. Stasis (griech.), Stellung, Stand; auch s. v. w. Blutstockung (s. d.), Vorläufer bei der Entzündung. Stassart (spr. -ssar), Goswin Joseph Augustin, Baron von, belg. Staatsmann, geb. 2. Sept. 1780 zu Mecheln, studierte die Rechte in Paris, wurde daselbst 1804 Auditeur im französischen Staatsrat, erhielt 1805 eine Intendantur in Tirol und 1807 bei der französischen Armee in Preußen. 1810 ward er Präfekt des Vauclusedepartements und 1811 des der Maasmündungen. Nach der zweiten Restauration lebte er auf seinem Landgut bei Namur, bis ihn die Stadt Namur 1822 in die niederländische Zweite Kammer sandte, wo er zur Opposition gehörte. Nach dem Ausbruch der Revolution in Brüssel im September 1830 war er unter den Abgeordneten der südlichen Provinzen, welche der Einberufung der Kammer nach dem Haag Folge leisteten. 1831 begab er sich nach Belgien zurück, wo er in den Kongreß gewählt und Mitglied der provisorischen Regierung sowie dann des Senats wurde. In dieser Stellung bekleidete er sieben Sessionen hindurch das Amt eines Präsidenten, während er von der Regierung 1834 auch zum Gouverneur von Brabant ernannt wurde, verlor aber 1838 diese beiden Würden, da er als Großmeister der belgischen Freimaurerei mit dem dieselbe besehdenden Episkopat offen gebrochen hatte. 1840 ward er für kurze Zeit Gesandter zu Turin. 1841 legte er seine Würde als Großmeister der belgischen Freimaurerei nieder. Er starb 16. Okt. 1854 in Brüssel. Seine Schriften (Denkschriften, Reden, Kritiken etc., namentlich aber treffliche Fabeln) erschienen gesammelt Brüssel 1854. Staßfurt, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, Kreis Kalbe, an der Bode, Knotenpunkt der Linien S.-Schönebeck, S.-Blumenberg und S.-Löderburg der Preußischen Staatsbahn, 65 m ü. M., hat 2 evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, ein bedeutendes Steinsalzbergwerk, große chemische Fabriken, eine Zuckerfabrik, Eisengießerei und Dampfkesselfabrikation und (1885) 16,459 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 806 als Ort erwähnt, und die dortigen Solbrunnen existierten bereits 1227. Im 16. und 17. Jahrh. befand sich der blühende Salzbetrieb hauptsächlich in den Händen des dort seßhaften Adels, 1796 aber ging der gesamte Besitz an den König von Preußen über. Unter der Konkurrenz von Dürrenberg mußte der Betrieb nach wenigen Jahren eingestellt werden, und als er 1815 wieder aufgenommen wurde, konnte er doch nur bis 1839 erhalten werden. Damals begann man ein Bohrloch, welches 1843 bei 256 m Tiefe ein Salzlager antraf, dessen Liegendes bei 325 m noch nicht erreicht wurde. Die Bohrlochsole erwies sich aber wegen hohen Gehalts an Kali- und Magnesiasalzen unbrauchbar, und als man 1851 mit dem Abteufen zweier Schächte begann, erreichte man in fünf Jahren das Salzlager, welches sich in einer Mächtigkeit von 160 m mit Kali- und Magnesiasalzen bedeckt erwies, die man damals als lästige Zugabe betrachtete und als Abraumsalze (s. d.) bezeichnete. Spätere Bohrungen ergaben, daß stellenweise über den Abraumsalzen noch ein jüngeres Steinsalzlager liegt, welches keine Anhydritschnüre enthält und sehr reines Steinsalz liefert. Die ersten Vorschläge zur Verwertung der Kalisalze veranlaßte die anhaltische Regierung zum Abteufen zweier Schächte zu Leopoldshall, in unmittelbarer Nähe von S., und diese kamen 1861 in Betrieb. Ähnliche Unternehmungen, wie Douglashall, Neustaßfurt, entstandenen der Umgebung von S., und auch Schmidtmannshall bei Aschersleben ist hierher zu rechnen. Die Kalisalzindustrie entwickelte sich seit 1857 und hat eine so große Bedeutung gewonnen, daß von S. aus der Weltmarkt für Kalisalze beherrscht wird. Man stellt schwefelsaures Kali, schwefelsaure Kalimagnesia, Chlorkalium, Pottasche, außerdem Glaubersalz, Bittersalz, Kieseritsteine, Chlormagnesium, Brom, Soda etc. dar. 1887 gab es im Staßfurter Becken 7 Kalisalzbergwerke, darunter 2 fiskalische (ein preußisches und ein anhaltisches). Diese förderten 12,940,808 metr. Ztr. Kalisalze (8,402,068 Carnallit 2,375,177 Kainit, 141,850 Kieserit etc.) und 2,019,625 metr. Ztr. Steinsalz. Davon kamen auf die königlichen Salzwerke in S. an Carnallit 1,979,816, an Kainit 727,093, an Steinsalz 609,851, auf Leopoldshall an Carnallit 2,152,723, an Kainit 644,881, an Kieserit 29,303, an Steinsalz 480,390 metr. Ztr. Vgl. die Litteratur bei Art. Abraumsalze; außerdem Precht, Die Salzindustrie von S. (3. Aufl., Staßfurtit - Statistik. 1889); Pfeiffer, Die Staßfurter Kaliindustrie (Braunschw. Staßfurtit, s. Boracit. Stassjulewitsch, Michael Matwejewitsch, russ. Publizist, geb. 9. Sept. 1826, studierte auf der Petersburger Universität, bekleidete an derselben 1851 bis 1861 den Lehrstuhl der Geschichte und war 1860 bis 1862 Lehrer des verstorbenen Thronfolgers Nikolaus. Er verfaßte einige Monographien zur altgriechischen und mittelalterlichen Geschichte und eine Geschichte des Mittelalters (russ., Petersb. 1863-65, 3 Bde.). Später widmete er sich ganz dem Journalismus, indem er 1865 den "Europäischen Boten" ("Westnik Jewropy") begründete, eine Monatsschrift, welche bis jetzt unter den Veröffentlichungen dieser Art in Rußland die erste Stelle einnimmt. Statarisch (lat.), stehend, verweilend; daher statarische Lektüre, Lektüre, bei der das Einzelne genau erklärt wird (Gegensatz: kursorische Lektüre). Staten Island (spr. steht'n-eiländ), Insel an der Küste des nordamerikan. Staats New Jersey, an der Einfahrt in die Bai von New York, wird durch einen schmalen Meeresarm (Staten Island-Sound) vom festen Land getrennt, ist 160 qkm groß und hat (1880) 38,991 Einw. Hauptstadt ist Richmond. Stater, Name verschiedener Geldstücke des Altertums. Der athenische Goldstater, meist im 5. Jahrh. geprägt, wiegt etwa 8,6 g; der Kyzikener S., etwa 16 g schwer, war ein aus sogen. Elektron (Gold- und Silbermischung) geprägtes Stück; der äginetische S. ist das silberne Didrachmon von 12,3 g. Die verbreitetsten S. genannten Münzen sind die nach attischem Fuß ausgeprägten Goldstücke Philipps und Alexanders von Makedonien (s. Tafel "Münzen I", Fig. 6). Stathmograph (griech.), ein von Dato konstruierter Apparat zur Kontrolle der Fahrzeiten, Aufenthaltszeiten und Fahrgeschwindigkeiten von Eisenbahnzügen, verbunden mit einem Kilometerzeiger. Letzterer schlägt bei jedem Kilometerstein in einen durch ein Uhrwerk fortgezogenen Papierstreifen ein Loch. Auf diesem über eine Walze gehenden Papierstreifen verzeichnet ein Bleistift die Fahrgeschwindigkeitskurve, welche auf den Stationen so lange in die Nulllinie fällt, als der Zug steht. Da der Streifen eine gewisse Bewegungsgeschwindigkeit besitzt, so ist aus der Fahrtenkurve ersichtlich, mit welcher Geschwindigkeit der Zug jeden Punkt der Strecke durchfuhr. Vgl. Perambulator. Statice Tourn. (Limoniennelke, Strandnelke), Gattung aus der Familie der Plumbagineen, Kräuter oder Halbsträucher mit ährigen oder traubigen Blütenständen und häutigen, einsamigen Schließfrüchten. S. Limonium L., mit fast lederartigen, verkehrt-eiförmigen, länglichen Wurzelblättern, 30-45 cm hohem Blütenstiel und blauen Blüten, wächst in Mitteleuropa an Meeresküsten. Die Wurzel dient in Rußland als Kermek zum Gerben, doch stammt die genannte Drogue hauptsächlich von S. coriaria Pall. in Rußland. Auch die Wurzel von S. tatarica L. in Sibirien und der Tatarei dient zum Gerben und Färben. Andre Arten aus Süd- und Osteuropa, von den Kanarischen Inseln und aus Mittelasien werden als Zierpflanzen kultiviert. Statik (griech.), die Lehre vom Gleichgewicht der Körper, bildet einen Teil der Mechanik (s. d.); man unterscheidet die S. der festen, flüssigen und gasförmigen Körper oder Geostatik, Hydrostatik und Aerostatik. Vgl. Poinsot, Elemente der S. (deutsch, Berl. 1887). S. des Landbaues, die Lehre vom Gleichgewicht der Entnahme und Zufuhr an Nährstoffen des Bodens. Durch die Agrikulturchemie ist die Lehre von der S. eine außerordentlich durchsichtige geworden und hat die bisher vagen Begriffe "Reichtum des Bodens", "Kraft", "Thätigkeit" in feste Gestalt gebracht, so daß man immer umfassender wiegt und mißt, was dem Grund und Boden durch die Ernten entnommen wird, was ihm der Dünger zurückgibt. Nicht nur im chemischen Laboratorium, auch im großen praktischen Betrieb der intelligenten Wirtschaften macht man sich täglich die Errungenschaften der Agrikulturchemie mehr zu nutze, wendet die Lehre der S. thätig an. Durch die umfassenden Düngungsversuche, welche durch die agrikulturchemischen Versuchsstationen in ganz eminent hervorragender Weise unter Leitung der Halleschen und neuerdings Breslauer Station veranlaßt wurden, wird alljährlich diese Lehre mehr und mehr ausgebaut. Durch die Wolffschen Nährstofftabellen, die sich in jedes tüchtigen Landwirts Händen befinden (Kalender von Mentzel u. Lengerke und der von Graf Lippe), ist es ein Leichtes, sich über Aus- und Zufuhr der Nährstoffe sichere Rechnung aufzustellen. Würde noch das Bedürfnis der Pflanzen nach Stickstoffzufuhr festgestellt, so wäre die Lehre von der S. eine vollkommene; auch diesen Schleier wird die Agrikulturchemie und -Physiologie über kurz oder lang zu heben im stande sein. - In gleichem Sinn spricht man auch von forstlicher S. (vgl. Forstwissenschaft, S. 455). Station (lat.), Aufenthalts-, Standort; auf Reisen, im Post- und Eisenbahnwesen Ort, wo angehalten wird; daher auch bei Wallfahrtsorten Bezeichnung für die durch Kreuze, Bildstöcke, Kapellen etc. bezeichneten Stellen, wo die Prozessionen Halt machen, um zu beten (vgl. Kreuzweg); allgemeiner s. v. w. Amt, Stellung. Stationär (lat.), stillstehend, seinen Standort oder Standpunkt behauptend; auch s. v. w. Stationsbeamter. Stationers' Hall (engl., spr. stehscheners hahl), in London Bezeichnung des Hauses der alten Buchhändlergilde, die vom Staat mit dem Einschreiben (registration) der litterarischen Urheberrechte betraut ist. Stationsvorsteher, s. Eisenbahnbeamte. Statiös (lat.), staatmachend, prunkend. Statisch (griech.), stillstehend; auf Statik Statisches Moment, s. Hebel, S. 254. Statist (lat.), jemand, der auf der Bühne eine nur "dastehende", nicht mitspielende Person vorstellt; gewöhnlich gleichbedeutend mit Komparse (s. d.). Statistik (v. lat. status oder ital. stato, Staat), ursprünglich die beschreibende Darstellung von Staat (Verfassung, Verwaltung) und Bevölkerung nach ihren bemerkenswerten Seiten. Solche Darstellungen, einem praktischen Bedürfnis für militärische und finanzielle Zwecke entsprungen, kamen bereits im Altertum vor. In China, Ägypten und bei den Juden wurden schon frühzeitig regelmäßige Volkszählungen vorgenommen. Dann hatte Rom einen entwickelten Zensus aufzuweisen, während das Mittelalter für eine S. und deren Ausbildung keine Gelegenheit bot. Erst nach dem 15. Jahrh. macht sich wieder das Bedürfnis geltend, die eigne und die fremde Lage kennen zu lernen, welchem in Frankreich unter Sully durch Schaffung einer Art statistischen Büreaus genügt wurde. Die wissenschaftliche Behandlung der S. nahm ihren Anfang in der Mitte des 17. Jahrh. In Deutschland entwickelte sich zuerst die beschreibende Schule der S., welche dieselbe in dem oben genannten Sinn auffaßte. Als Schöpfer derselben gilt H. Conring (1606-81, s. d.,) Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd. Statistik (geschichtliche Entwickelung, heutige Richtung). 1660 den üblichen Universitätsvorlesungen eine neue, aus Geographie, Geschichte und Politik abgesonderte Disziplin als Notitia rerum publicarum hinzufügte, in welcher er die Staatszustände zusammenhängend darstellte. Achenwall (1719-72), ein fleißiger Sammler, stellt den Begriff genauer fest und führt auch die Bezeichnung S. als Kenntnis der Staatsmerkwürdigkeiten ein. Auf gleichem Boden steht sein Schüler Schlözer (1735-1809), welcher der damaligen Heimlichkeit in Staatssachen gegenüber mit einem gewissen Freimut die politischen Ereignisse zum Gegenstand der Besprechung in Vorlesungen machte. Von ihm stammt die bekannte Definition: "S. ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende S." Gegenüber der ethnographischen Methode der S., welche jedes Volk für sich behandelte, führte Büsching (1724-93) die vergleichende Methode ein, indem er bei sachlicher Gliederung des Stoffes zwischen den entsprechenden Zuständen verschiedener Länder eine Parallele zog. Bald machte sich das Bedürfnis geltend, die gesammelten Zahlen der S. übersichtlich in Tabellenform zu ordnen und dieselben auch durch graphische Darstellung zu veranschaulichen (Crome, 1782). Dies führte zu einem lebhaften Streit zwischen der Göttinger Schule (Anhänger Schlözers) auf der einen und den von denselben so betitelten Linear- oder Tabellarstatistikern auf der andern Seite. Der Kampf war insofern ein verfehlter, als für statistische Darstellungen weder die Größenangabe (Zahl) noch der Wortausdruck entbehrt werden kann. Von jeher waren die Ansichten über das Gebiet der S. geteilt gewesen. Die einen beschränkten es auf den Staat und staatliche Verhältnisse (Staatsverfassung, Darstellung der Staatskräfte), andre dehnten es auf alle gesellschaftliche Thatsachen (faits sociaux) aus, wieder andre überhaupt auf alle Erscheinungen, an denen ein Dasein, Entstehen und Vergehen wahrnehmbar sei (also auch Naturerscheinungen). Verlangten die einen, daß die S. sich nur auf Schilderung der Erscheinungen der Gegenwart beschränken solle, daß jedes statistische Datum neu sein müsse, da sich die Vergangenheit nicht beobachten lasse, so gingen sie zum Teil selbst wieder von dieser Forderung ab, indem sie auch Einsicht in die Zustände bieten, den jetzigen Zustand aus dem frühern begreiflich machen wollten (pragmatische S. nach Achenwall). Man verwechselte hierbei die einfache Beobachtung, Erhebung und Aufzeichnung des statistischen Materials mit der wissenschaftlichen Verarbeitung desselben. Die Beobachtung kann nur die Gegenwart erfassen, die Zusammenstellung der durch eigne oder (meist) fremde Beobachtung gewonnenen Ergebnisse erstreckt sich bereits auf die Vergangenheit, und für die wissenschaftliche Verwertung kann es ganz gleichgültig sein, welcher Zeit das Material angehört. Eine weitere Streitfrage war früher die, ob die S. sich auf solche Thatsachen zu beschränken habe, welche sich durch Zahlen wiedergeben lassen (nach M. de Jonnés: faits sociaux, exprimés par des termes numériques). Die moderne S. befaßt sich allerdings vorzüglich mit Größen und deren Vergleichung, auch erblickt das gewöhnliche Leben allgemein in der S. eine Wissenschaft, welche es mit Zahlen und zwar mit Massen von Zahlen zu thun hat, wobei freilich nicht zu übersehen, daß Größenangaben in allen Gebieten der Natur und des gesellschaftlichen Lebens möglich Die heutige Richtung der S. hat ihren Ausgangspunkt in England, und zwar entwickelte sie sich aus der politischen Arithmetik, d.h. derjenigen Wissenschaft, welche mathematische Rechnungen auf das Finanzwesen anwandte. Anlaß zur Förderung derselben gaben vorzüglich das Versicherungswesen und die im 17. Jahrh. in Aufnahme gekommenen Glücksspiele. Letztere gaben ihrerseits Anstoß zur Entstehung und Ausbildung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Huygens, Fermat, Pascal, Bernoulli), welche eine unentbehrliche Grundlage für wichtige Zweige der politischen Arithmetik und der S. wurde. Letztere begann sich bald von der erstern abzuzweigen, ohne daß jedoch, sofern nicht unter der politischen Arithmetik lediglich die Zins- und Arbitragerechnung verstanden wird, eine scharfe Scheidung überhaupt möglich ist. Nachdem Graunt (1660), dann Pettey, Halley, Kerseboom, Deparcieux sich mit Berechnung der Sterblichkeit und mit Aufstellung von Sterblichkeitstafeln befaßt hatten, gab Süßmilch (1707-67) in seiner "Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" (1742) überhaupt dem Gedanken Ausdruck, daß im gesellschaftlichen Leben gewisse Regelmäßigkeiten beobachtet werden könnten, welche freilich nicht in einzelnen, sondern in einer großen Zahl von Fällen hervortreten. Diesen Gedanken verfolgte Quételet weiter, und es wird jetzt an Stelle der frühern einfachen Beschreibung die S. zu einer Wissenschaft der umfassenden Durchzählung verwandter Fälle und Vorgänge, um aus derselben Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Dieselbe erstreckt sich auf alle diejenigen Gebiete, auf welchen im einzelnen eine bunte individuelle Mannigfaltigkeit in Erscheinung tritt, während durchschlagende Ursachen und Beweggründe erst aus einer großen Zahl von Fällen erkennbar sind. So kann in wenigen Familien eine verhältnismäßig große Zahl von Totgeburten eintreten, während in andern gar keine vorkommt. Faßt man aber eine große Zahl zusammen, so nähert man sich einer Mittelzahl (Prozent), von welcher die zu einer andern Zeit oder in einem andern Gebiet für große Zahlen gewonnenen Ergebnisse nur wenig abweichen werden. Voraussetzung hierfür ist, daß die verglichenen Zustände nicht wesentlich voneinander verschieden sind. Solche durchschlagende Einflüsse, mögen sie nun das Bestreben haben, einen Zustand der Beharrung zu bewirken oder Veränderungen zu veranlassen, können nicht allein da festgestellt werden, wo der menschliche Wille keine Rolle spielt, sondern auch in der Welt der sittlichen Thatsachen, in welcher ebenfalls nachgewiesen werden kann, daß bei aller Freiheit des Willens die menschlichen Handlungen doch wesentlich durch Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse, Erziehung etc. beeinflußt werden, indem je nach gegebenen äußern Verhältnissen solche Handlungen eben als die vernünftigen erscheinen. Eine richtige Ermittelung der Wirkung jener durchschlagenden Ursachen und damit dieser selbst ist ohne mathematische Behandlung nicht möglich und darum die mathematische S. unentbehrlich. Letztere ist insbesondere in der neuern Zeit in ihrer Anwendung auf Versicherungs- und Bevölkerungswesen durch Wittstein, Zeuner, Knapp, Lexis gefördert worden. Je nach den Gebieten, welche einer statistischen Betrachtung unterworfen werden, unterscheidet man Ackerbau-, Forst-, Gewerbe-, Handels-, Post-, Eisenbahn-, Medizinal-, Kriminal-, Moral-, Bevölkerungsstatistik etc. Im engern Sinn wird heute auch oft die S. als eine auf die gesellschaftlichen Erscheinungen (Volk und Staat) beschränkte Disziplin aufgefaßt (vgl. Demographie), während die Methode der S. in allen Gebieten, auch in denen der Naturwissenschaften (Meteorologie), anwendbar sei. Die Sammlung des statistischen Materials ist nun Einzelnen selten in Statistik des Warenverkehrs - Statistische Darstellungsmethoden. genügendem Umfang möglich (Privatstatistik), sie bildet vorzüglich eine Aufgabe von Staat und Gemeinden und in zweiter Linie als Ergänzung von Vereinen. Infolgedessen ist denn die S. vorwiegend amtliche S. Die erste Organisation derselben erfolgte 1756 in Schweden, wo eine "Tabellenkommission" jährlich Nachweisungen über die Bewegung der Bevölkerung lieferte. Ferner wurden eigne mit der Ansammlung, Ordnung und Veröffentlichung des statistischen Materials betraute Stellen (statistische Büreaus) errichtet in: Frankreich (1796 vorübergehend, dann 1800), Bayern (1801, Hermann, Mayr), Italien (1803, Bodio), Preußen (1805 von Stein gegründet, Krug, I. G. Hoffmann, Dieterici, Engel, Blenck), Österreich (1810, Czörnig, Ficker), Belgien (1831), Griechenland (1834), Hannover, Holland (1848), Sachsen (1849, von Engel gegründet, Petermann, Böhmert), Kurhessen, Mecklenburg (1851), Braunschweig (1853), Oldenburg (1855), Rumänien (1859), in der Schweiz (1860), im Großherzogtum Hessen (1861), in Serbien (1862), den vereinigten thüringischen Landen (in Jena, 1864, jetzt Weimar) etc. Das 1872 ins Leben gerufene "Statistische Amt des Deutschen Reichs" verarbeitet die Erhebungen der einzelnen Landesbüreaus und der Reichs- und Zollvereinsbehörden. Meist sind die Büreaus Zentralstellen, welchen in mehreren Ländern für Beratungen über die Art der auszuführenden Arbeiten noch eigne aus Mitgliedern verschiedener Verwaltungszweige, Volksvertretern und Theoretikern bestehende statistische Zentralkommissionen beigegeben sind. Seit neuerer Zeit haben auch die meisten Großstädte eigne statistische Büreaus errichtet. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurden die Arbeiten der statistischen Büreaus ziemlich geheim gehalten; seitdem hat man überall mit regelmäßigen amtlichen statistischen Veröffentlichungen in Form von Zeitschriften, Jahrbüchern etc. begonnen, neben welchen als private Unternehmungen das "Journal of the Statistical Society" (London) und das "Journal de la Société de statistique" (Paris) zu nennen sind. Eine internationale S. ist schwer durchführbar, insbesondere deswegen, weil die Begriffe, welche den Gegenstand statistischer Ermittelung bilden, nicht überall die gleichen sind. Volle Gleichheit läßt sich auf vielen Gebieten wegen der Verschiedenartigkeit in den Verwaltungseinrichtungen, Volksleben, Gebräuchen etc. nicht erzielen. Die besonders auf Quételets Anregung geschaffenen internationalen statistischen Kongresse, welche stattgefunden haben in Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857), London (1860), Berlin (1863), Florenz (1867), Haag (1869), St. Petersburg (1872), Pest (1876), hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Einheit in die amtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen und gleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeiten zu erlangen. 1885 wurde in London ein "internationanales Institut der S." mit dem Sitz in Rom gegründet, welches das "Bulletin de l' Institut international de statistique" herausgibt. Weiteres s. in den Artikeln: Bevölkerung, Gewerbe-, Handels-, Kriminal-, Moralstatistik und Statistische Darstellungsmethoden. Vgl. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S. (Tübing. 1843); A. Quételet, Sur l' homme (Par. 1835; deutsch, Stuttg. 1838); Derselbe, Physique sociale (Brüssel 1869, 2 Bde.); Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft (Kassel 1850); Jonak, Theorie der S. (Wien 1856); Rümelin, Reden und Aufsätze (Tübing. 1875); Ad. Wagner (in Bluntschlis "Staatswörterbuch"); M. Haushofer, Lehr- und Handbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882); Block Traité théorique et pratique de statistique (Par. 1878; deutsch von v. Scheel, Leipz. 1879); Wappäus, Einleitung in das Studium der S. (das. 1881); Meitzen Geschichte, Theorie und Technik der S. (Berl. 1886); Gabaglio, Teoria generale della statistica (2. Aufl., Mail. 1888); John, Geschichte der S. (Stuttg. 1884 ff.); R. Böckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen S. des preußischen Staats (Berl. 1863); Puslowski, Das königlich preußische Statistische Büreau (das. 1872); Klinckmüller, Die amtliche S. Preußens im vorigen Jahrhundert (Jena 1880); Mayr, Die Organisation der amtlichen S. (Münch. 1876). Als Sammlungen wichtiger statistischer Thatsachen sind zu erwähnen: der "Gothaische Genealogische Hofkalender" und O. Hübners "Statistische Tafel" (Frankf. a. M., jährlich erscheinend); Kolb, Handbuch der vergleichenden S. (8. Aufl., Leipz. 1879); Brachelli, Die Staaten Europas (4. Aufl., Brünn 1884). Statistik des Warenverkehrs, s. v. w. Handelsstatistik Statistische Darstellungsmethoden. Statistische Thatsachen können zunächst durch einfache Beschreibung oder Schilderung vorgeführt werden. Doch gestattet der Wortausdruck (groß, steigend, abnehmend, kleiner etc.) keine übersichtliche Darstellung, sobald eine große Menge nebeneinander gelagerter oder gereihter Thatsachen in Betracht kommen. In diesem Fall bietet die ohnedies unvermeidliche Zahl eine Hilfe, welche, in Tabellenform angeordnet, über Größen und deren Änderungen Auskunft gibt. Doch gestattet die Tabelle, zumal wenn eine Masse mehrstelliger Zahlen vorgeführt wird, keine rasche Orientierung und Vergleichung. Dieser Zweck soll durch die graphische Darstellung erfüllt werden, welche zur einfachen Veranschaulichung dient, die Aufsuchung von Gleichmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten und Gegensätzen sowie die Beurteilung wechselseitiger Zusammenhänge erleichtert, aber an und für sich nicht als ein besonderes Beweismittel zu betrachten ist. Die graphische Darstellung gibt Größen in der linearen oder der Flächenausdehnung oder räumlich in Körpern für verschiedene Begriffe an. Letztere werden unterscheidbar gemacht durch verschiedenartige Punktierung, Anwendung der Schraffur, der Farbe oder andrer Zeichen. Man unterscheidet das Diagramm und das Kartogramm. Das Diagramm gibt die Größen einfach als solche wieder. Ist für dieselben eine feste Reihenfolge gegeben (z. B. nach der Zeit), so können sie in einem Koordinatensystem in der Art zur Darstellung kommen, daß je auf den Abschnitten der Abscissenachse die zugehörigen Größen aufgetragen werden. Hierfür können aneinander gereihte Flächen für jede Einheit gewählt werden, wenn die Änderungen der Größen keine stetigen sind. Statt dessen trägt man aber auch wohl Linien auf die betreffenden Punkte der Abscissen auf und verbindet deren Endpunkte miteinander durch eine besondere Linie, welche eine Leitung für das Auge bilden soll. Alsdann kann auch die Ordinatenlinie selbst gespart werden. Die Leitungslinie wird zur regelmäßig verlaufenden Kurve, sobald die Änderungen stetige sind. Auf einem und demselben Blatt können mehrere derartige Kurven aufgetragen werden, voneinander durch Farbe, Punkte, Striche, Kreuze etc. unterschieden, was eine Vergleichung verschiedener Reihen erleichtert. Das einfache Flächendiagramm gibt eine statistische Größe in einer Fläche (Rechteck, Dreieck) wieder, indem Unterabteilungen (z. B. männliches Statistische Gebühr - Statuten. weibliches Geschlecht, Altersklassen) in der oben erwähnten Weise kenntlich gemacht werden. Auch der Körper (Würfel, Pyramide, Raumkoordinaten mit krummer Oberfläche) kann statistische Größen zur Anschauung bringen. Das Kartogramm dient dazu, die örtliche Lagerung statistischer Thatsachen (auf der Landkarte) anzugeben. Hierfür kann nun, wie dies schon von jeher üblich, Punkt, Schraffur und Farbe, dann die Fläche benutzt werden (z. B. für die Städte auf der Landkarte), welch letztere bei der Darstellung des längs einer Linie (Fluß, Eisenbahn) sich bewegenden Verkehrs dem Auge als Bänder erscheinen. Statistische Gebühr nennt man in Deutschland eine auch in England, Italien und Frankreich erhobene Gebühr, welche von über die Grenze des Zollgebiets ein-, aus- oder durchgeführten Waren im Interesse und zur Deckung der Kosten der für Zollgesetzgebung und Handel wichtigen Statistik des Warenverkehrs auf Grund von bei den bestimmten amtlichen Anmeldestellen erfolgenden Anmeldungen (nach Gattung, Menge, Herkunft, Bestimmungsland) seit 1. Jan. 1880 (Reichsgesetz vom 20. Juli 1879) erhoben wird. Statius, Publius Papinius, röm. Dichter, geboren um 45 n. Chr. zu Neapel, ward in Rom von seinem Vater, der selbst Lehrer und Dichter war, gebildet und erwarb sich schon früh durch sein poetisches Talent, namentlich im Improvisieren, Beifall und mehrfach den Sieg in dichterischen Wettkämpfen. Doch sah er sich sein lebenlang in Abhängigkeit von der Gunst des Domitian und der römischen Großen, denen er oft in der unleidlichsten Weise schmeichelte. Später zog er sich nach Neapel zurück, wo er um 96 starb. Von seinen Schriften, die sich durch Gewandtheit und Phantasie auszeichnen, aber vielfach an rhethorischem Schwulst und dunkler Gelehrsamkeit leiden, besitzen wir noch: "Silvae", Gelegenheitsgedichte in fünf Büchern und in verschiedenen Versmaßen (hrsg. von Markland, Lond. 1728, Dresd. 1827, von Bährens, Leipz. 1876); "Thebais", ein Epos in 12 Büchern (Buch 1-6 hrsg. von Müller, das. 1870, das ganze Werk von Kohlmann, das. 1844; deutsch von Imhof, Ilmenau 1886), und von dem unvollendeten Epos "Achilleïs" die beiden ersten Bücher (hrsg. von Kohlmann, Leipz. 1879). Gesamtausgaben besorgten Gronov (Amsterd. 1653), Dübner (Par. 1835-1836, 2 Bde.) und Queck (Leipz. 1854, 2 Bde.); eine Übersetzung Bindewald (Stuttg. 1868 ff.). Stativ (lat.), Gestell für mathematische, astronomische und andre Apparate. Stator (lat.), Beiname des Jupiter, angeblich weil ihm Romulus einen Tempel gelobte, wenn er die vor den Sabinern fliehenden Römer zum Stehen brächte. Stättegeld, s. v. w. Standgeld (s. d.). Statthalter, derjenige, welcher die Stelle des Landesherrn oder der höchsten Obrigkeit in einem Land oder einer Provinz vertritt, so in Elsaß-Lothringen (s. d., S. 577) der an der Spitze der Staatsverwaltung stehende höchste Beamte; (stadhouder) ehemals in den Vereinigten Niederlanden Titel der Prinzen von Oranien, welchen nach der Losreißung von Spanien ein Teil der königlichen Rechte, namentlich der Oberbefehl über die Kriegsmacht zu Lande und zur See, übertragen wurde; in Österreich Amtstitel von politischen Landesbehörden (Statthaltereien), s. Landesbehörden. Statue (lat. statua, Standbild), die durch die Thätigkeit des bildenden Künstlers in irgend einer, meist harten Masse dargestellte volle Gestalt, besonders des Menschen. Im Altertum und in der neuern Zeit bis zur Zeit der Renaissance pflegte man statuarische Bildwerke zur Belebung und Verdeutlichung der Formen mehr oder weniger reich zu bemalen (s. Polychromie). Man unterschied schon im griechischen Altertum Ideal- und Porträtstatuen, je nachdem der Künstler aus der Phantasie schöpfte oder sich an die Wirklichkeit hielt. Zu den Idealstatuen gehörten die der Götter und Heroen. Die Porträtstatuen kamen erst verhältnismäßig spät durch die Sitte auf, in Olympia Statuen der Sieger in den Wettkämpfen aufzustellen. Doch waren auch diese anfangs ideal, d. h. nicht porträtähnlich, gehalten. Noch später kam dazu das Genrebild, welches Personen und Vorgänge aus dem Alltagsleben als Einzelstatuen oder Gruppen darstellte. In der römischen, besonders kaiserlichen, Zeit wurden in großer Menge Porträtstatuen gefertigt. Kolossale Dimensionen wurden durch den Zweck der Aufstellung bedingt. Den Begriff der Erhabenheit durch räumliche Ausdehnung anzudeuten, war aber dem griechischen Geschmack fern, und erst die verfallende Kunst, die sich ägyptisch-asiatischen Begriffen anbequemte, suchte auf diese Weise durch Zusammenstellungen eine größere Wirkung hervorzubringen. In Hinsicht ihrer äußern Stellung unterschieden schon die Alten stehende, sitzende, Reiterstatuen und fahrende Statuen, und die Statuen waren teils einzeln, teils in Gruppen zusammengefaßt. Die moderne Bildhauerkunst versteht unter S. im weitesten Sinn jede plastische Einzelfigur, im engern Sinn ein stehendes Bild. Statuette, Standbildchen. Vgl. Bildhauerkunst. Statuieren (lat.), aufstellen, festsetzen, bestimmen; etwas statthaben lassen; ein Exempel s., ein Beispiel zur Warnung Statur (lat.), Leibesgröße und Gestalt, Status (lat.), Stand (z. B. des Vermögens, die Bilanz der Aktiva und Passiva, wie sie von Aktien-Gesellschaften als Monatsstatus allmonatlich veröffentlicht wird), Zustand; daher S. quo, der Zustand, die Lage, in welcher sich etwas befand oder befindet, namentlich S. quo ante (bellum), die Lage, insbesondere die Gebiets- und Machtverhältnisse, wie sie vor einem Krieg waren. S. nascendi, Entstehungszustand; S. praesens, der gegenwärtige Gesundheitszustand eines Kranken und der ärztliche Bericht über denselben. Die Römer bezeichneten mit S. auch die drei Hauptstufen der Persönlichkeit, nämlich Freiheit, römisches Bürgerrecht und Familienstand. Der Verlust eines solchen S. involvierte eine Capitis deminutio (s. d.). Status duplex (lat., "doppelter Stand"), ein Kapitel in der Christologie (s. d., S. 100). Status nascendi, s. Entstehungszustand. Statutarisch (lat.), was Statuten (Satzungen) zufolge gesetzmäßig ist; daher statutarische Portion, der festgesetzte Erbteil, den eine Witwe von der Verlassenschaft des Mannes erhält (s. Güterrecht der Ehegatten, S. 948). Statuten (lat.), Satzungen, Gesetze; namentlich Bezeichnung für die mittelalterlichen Stadtrechte, auch für die Hausgesetze des hohen Adels (s. Autonomie). S. heißen ferner die Satzungen über die Verfassung und Verwaltung von Vereinen, juristischen Personen und Korporationen, und zwar bestehen über Inhalt und Gültigkeit, namentlich aber auch über die staatliche Anerkennung und Bestätigung solcher S. vielfach besondere Vorschriften, so z. B. in Ansehung der Aktiengesellschaften, der Genossenschaften und der Innungen. Den Gemeinden und Kommunalverbänden ist jetzt in den meisten Staaten das Recht ein- Statz - Staubeinatmungskrankheiten. geräumt, zur Durchführung gemeinnütziger Maßregeln, zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit innerhalb des Gemeindebezirks und sonst zur Erreichung der Gemeindezwecke innerhalb der durch die Gesetzgebung gezogenen Schranken Ortsstatuten, geeigneten Falls mit Strafbestimmungen, zu errichten. Nach preußischem Recht bedürfen derartige S. der Stadtgemeinden der Genehmigung des Bezirksausschusses, in Berlin des Oberpräsidenten. In andern Staaten ist die Genehmigung der Zentralverwaltungsbehörde oder sogar diejenige des Souveräns erforderlich. In England versteht man unter S. (Statutes) die eigentlichen Gesetze, welche mit Zustimmung des Parlaments von der Krone erlassen werden, im Gegensatz zur königlichen Verordnung (Ordinance), für welche die Zustimmung der beiden Häuser des Parlaments nicht erforderlich ist. Die Lokalverordnungen der Gemeinden, welche bei uns S. heißen, werden in England als Bylaws (s. d.) bezeichnet. Statz, Vinzenz, Architekt, geb. 1819 zu Köln, war anfangs Maurermeister am dortigen Dombau, wurde 1845 Dombauwerkmeister, legte 1854 diese Stelle nieder und wurde 1863 Diözesanbaumeister. In dieser Stellung war er eifrig beflissen, der strengen Gotik neue Bahnen zu brechen. Die Zahl der unter seiner Leitung hergestellten kirchlichen Bauten beläuft sich auf einige hundert, von denen als die größten zu nennen sind: die Mauritiuskirche in Köln, die Marienkirche in Aachen, die katholischen Kirchen in Kevelaer, Dessau, Eberswalde, Bernshausen in Hannover, wobei er es trefflich verstand, moderne Einrichtungen mit mittelalterlichen Formen zu verbinden. Hervorzuheben sind noch: das große Krankenhaus zu St. Hedwig in Berlin und sein Wohnhaus in Köln. Auch leistete er Bedeutendes in der innern Ausstattung der Kirchen, in der Holz- wie in der Steinarchitektur, namentlich in der Liebfrauenkirche zu Trier, wo er einen prächtigen Altar ausführte. Sein größtes Werk ist der Dom in Linz an der Donau, den er 1862 begann, ein Bau von gewaltigen Dimensionen. S. gab heraus: "Gotische Entwürfe" (Bonn 1861); "Gotische Einzelnheiten" (180 Tafeln, 2. Aufl., Berl. 1886); "Gotisches Musterbuch" (mit Ungewitter und Reichensperger, Leipz. 1856-60) u. a. Er erhielt 1864 den Titel Baurat, ist Ehrenmitglied der Londoner Royal Society, der k. k. Akademie in Wien etc. Staub, in der atmosphärischen Luft enthaltene Körperchen verschiedener Art, welche bei gewisser Größe oder massenhafter Anhäufung dem bloßen Auge sichtbar, aber auch in vollkommen rein erscheinender Luft immer noch nachweisbar sind. Man unterscheidet gröbere Stäubchen, die, von Winden oder vom Kehrbesen aufgewirbelt, bei einigermaßen ruhiger Luft bald niederfallen; Sonnenstäubchen, die nur im Sonnenstrahl sichtbar sind und auch in scheinbar ruhiger Zimmerluft meist nicht zu Boden sinken; endlich unsichtbare Stäubchen, die nur künstlich nachweisbar sind und auch in ruhigster Luft sich schwebend erhalten. Der S. entsteht hauptsächlich durch die Verwitterung der Gesteine, wodurch diese in feinste Teilchen zerfallen, auch die Vulkane werfen Staubmassen aus, die in weite Entfernungen getragen werden; er entsteht ferner durch zahlreiche Verbrennungsprozesse, die Ruß und Asche liefern; in jedem S. finden sich auch Pollenkörner, Sporen der Kryptogamen und Keime der niedersten Organismen. Endlich erzeugt der Mensch durch seine Thätigkeit beständig S. Aus Flüssigkeiten und von feuchten Oberflächen gelangen niemals Teilchen als S. in die Luft, solange sich jene Substrate in Ruhe befinden; wohl aber kann durch Verspritzen heftig bewegter Flüssigkeiten oder durch Schaumbildung ein solcher Übergang bewirkt werden. In der Regel wird jedoch Austrocknung und nachfolgende Zerkleinerung die Veranlagung zum Zerstäuben von Pilzvegetationen in Flüssigkeiten und von gelösten nicht flüchtigen Substanzen sein. Die Zerkleinerung aber braucht nicht immer durch mechanische Wirkungen zu erfolgen, sie kann vielmehr auch eine Folge der geringen Bewegungen sein, welche durch Temperaturänderungen bedingt sind und leicht Zusammenhangstrennungen, Ablösungen von Partikelchen herbeiführen. Landluft enthält weniger S. als Stadtluft, im Winter und Frühjahr und nach Regen ist die Luft ärmer an S. als im Sommer und Herbst und nach langer Dürre. 1 cbm Landluft enthält bei trocknem Wetter 3-4,5, bei feuchtem 0,15 mg S., in Fabriken fand man bis 175 mg S. Aller S. besteht, seiner Bildung entsprechend, aus mineralischen und organischen Substanzen; unter letztern interessieren hauptsächlich die Keime niederster Organismen, welche unter den feinsten Staubteilen zu suchen sind. Stets enthält die Luft Sporen von Schimmelpilzen, im März am wenigsten (5480 in 1 cbm), im Juni bis 54,460, nach Regen mehr als nach Trockenheit. An Bakterien ist die Luft im Winter arm (53), im Herbst am reichsten (121), nach Regen weniger reich als bei Dürre. Stadtluft enthält ungleich mehr Bakterien als Landluft. Die angegebenen Zahlen müssen bei der Unvollkommenheit der Methode, nach welcher sie gewonnen wurden, im allgemeinen als zu niedrig betrachtet werden. Der in der Luft vorkommende S. gelangt vorzüglich durch die Respirationsorgane zur Einwirkung auf den Menschen, wenn auch nur ein Teil des Staubes in den Respirationsorganen zurückbleibt; die feinsten Staubpartikelchen werden fast vollständig wieder ausgeatmet. Der S., welcher an den Wänden der Luftwege hängen bleibt, wird durch das Flimmerepithel, welches diese bedeckt, wieder aus dem Körper entfernt. Vermag das Epithel die Staubmassen nicht zu bewältigen, so entstehen krampfhafte Bewegungen, wie Räuspern, Husten etc., zur Herausbeförderung der staubhaltigen Schleimmassen. Reichen auch diese Hilfsmittel nicht mehr aus, so entstehen Störungen, welche je nach der Art des eingeatmeten Staubes verschieden charakterisiert sind. Nur mechanisch reizender S. erzeugt die Staubeinatmungskrankheiten (s. d.); S., welcher aus Partikelchen giftiger Substanzen besteht, erzeugt namentlich durch den in den Mund und in den Magen gelangenden Anteil eigentümliche Krankheitserscheinungen, am wichtigsten aber sind die Keime solcher Organismen, welche als Krankheitserreger zu betrachten sind. Man muß annehmen, daß jene Keime ebensogut wie alle übrigen in Staubform auftreten können, und in der That sind mehrere derselben im S. nachgewiesen worden. Die Übertragung von Krankheiten durch den S. der Luft ist mithin sehr wohl möglich, sofern nur nicht jene Keime durch das Austrocknen ihre Entwickelungsfähigkeit einbüßen. Vgl. Renk, Die Luft ("Handbuch der Hygieine", von Pettenkofer und Ziemssen, Tl. 1, Abt. 2, Leipz. 1886); Tissandier, Les poussieres de l'air (Par. 1877). Staubbach, s. Lütschine. Staubbeutel, s. Staubgefäß. Staubbilder, elektrische, s. Lichtenbergsche Figuren. Staubbrand, s. Brandpilze I. Staubeinatmungskrankheiten. Der Staub, welcher bei der Atmung in die Luftwege eingesogen wird, Stäuben - Staubgefäße. wird größtenteils von dem Schleim aufgenommen, durch die Flimmerbewegung der Lungenepithelien zurück nach der Luftröhre geführt und von hier durch Räuspern und Husten ausgeworfen. Ist die eingeatmete Menge zu groß, so wird ein Teil der feinsten Körnchen von der Lunge aufgenommen und bleibt entweder in ihrem Gewebe selbst oder in den Lymphgefäßen und Drüsen dauernd haften. Am auffallendsten bemerkbar ist der Kohlenstaub, welcher beim Lampenbrennen, Kohlen-, Holz- und Torffeuern, kurz überall entsteht, wo unvollkommene Verbrennung irgend welcher Art vor sich geht, also auch beim Tabaksrauchen, wenngleich in weit geringerm Maß, als von den Gegnern des Rauchens angegeben wird. Während die Lungen der Wilden und der im Freien lebenden Tiere (nicht der Haustiere) ganz frei davon sind, findet sich bei den Kulturmenschen und den unter gleichen Verhältnissen lebenden Haustieren ein gewisser Grad von Schwarzfärbung (Pigmentierung) der Lunge. Zu einer wirklichen Krankheit, der Staubeinatmungskrankheit, gibt die Verunreinigung der Luft Anlaß, wenn infolge gewisser Umstände die Luft mit Staub geradezu überladen ist und die Einatmenden infolge ihrer gewerblichen Thätigkeit gezwungen sind, derselben sich fortwährend oder einen großen Teil des Tags auszusetzen. So sind dem Kohlenstaub exponiert die Stein- und Braunkohlenarbeiter, auch manche mit der Holzkohlenfabrikation beschäftigte Arbeiter, dem Sandstaub oder den Kieselpartikeln die Steinhauer und Schleifer, dem Eisenstaub die Schmiede, Feilenhauer, Stahlschleifer, Spiegelglaspolierer, dem Tabaksstaub die Tabaksarbeiter, dem Farbenstaub die Farbenarbeiter, der kieselsauren Thonerde die Ultramarinarbeiter etc. Den Nachweis, daß diese Substanzen wirklich in die Lunge eindringen, liefert die anatomische, mikroskopische und chemische Untersuchung der Lungen. Die Folgen der Staubinhalation bestehen in diesen Fällen zunächst in Hyperämie und Katarrh der Luftröhrenverzweigungen mit fortwährendem Räuspern, Husten und Auswurf; weiterhin gesellt sich eine wirkliche chronische Entzündung des Lungengewebes hinzu, welches seine Elastizität mehr oder weniger verliert und sich bis zu einem Grade, daß es unter dem Messer knirscht, verhärtet; schließlich geht der Zustand in eine Verödung des Lungengewebes über. Die Überladung des Lungengewebes mit Kohlenpigment nennt man Anthrakosis, die mit Eisenpartikelchen Pneumonosiderosis. Vgl. Hirt, Die Staubinhalationskrankheiten (Leipz. 1871); Eulenberg, Handbuch der Gewerbehygieine (Berl. 1876); Merkel, Staubinhalationskrankheiten (in Ziemssens Handbuch, Leipz. 1882). Stäuben, das Fallenlassen des Kotes bei Feldhühnern. Staubbewässerung, s. Bewässerung, S. 859. Staubfaden, s. Staubgefäße. Staubfiguren, elektrische, s. Lichtenbergsche Staubgefäße (Stamina, Staubblätter), die den Blütenstaub erzeugenden Teile der Blüte bei allen phanerogamen Pflanzen, bilden zusammen in einer Blüte den männlichen Geschlechtsapparat (Andröceum) derselben und entstehen wie die übrigen Blattgebilde der Blüte als seitliche Höcker unterhalb des im Wachstum befindlichen Scheitels der jungen Blütenanlage. Von besonderer Wichtigkeit ist außer der Zahl die Verzweigung und die Verwachsung der S. Verzweigte S. entstehen dadurch, daß an der jungen Staubblattanlage neue Höcker auftreten, die zu einem Büschel von Staubgefäßen auswachsen, während das gemeinsame Fußstück sehr kurz bleibt; es tritt dies z. B. bei den Staubblättern von Hypericum ein, die in Gruppen von drei oder fünf in jeder Blüte zusammenstehen, aber durch Verzweigung aus drei oder fünf ursprünglich einfachen Staubblattanlagen hervorgegangen sind. Die Spaltung (Chorise, dédoublement) der Staubblätter ist eine sehr früh eintretende Teilung einer Staubblattanlage in zwei später völlig getrennte Staubblätter, wie bei den Staubgefäßen der Kruciferen. Verwachsene Staubblätter entstehen durch seitliche Verschmelzung von Staubblattanlagen, wie z. B. beim Kürbis. Die S. bestehen in der Regel aus einem stielförmigen Träger, dem Staubfaden (Filament), und einem durch eine Furche in zwei Längshälften geteilten angeschwollenen Teil, dem Staubbeutel (Anthere). Wenn sämtliche Staubfäden der Blüte in ein einziges Bündel vereinigt sind, so nennt man die S. einbrüderig (stamina monadelpha). So sind z. B. in der männlichen Blüte des Kürbisses die S. in eine im Mittelpunkt stehende Säule vereinigt. In den Zwitterblüten dagegen bilden die einbrüderigen S. eine Röhre um den in der Mitte stehenden Stempel (Fig. 1). Sind sie in zwei oder mehrere Partien vereinigt, so werden sie zweibrüderig (s. diadelpha) und vielbrüderig (s. polyadelpha) genannt. Ersteres ist z. B. bei den Fumariaceen, letzteres bei den Hypericineen Regel, wo die S. in drei Bündel vereinigt sind (Fig. 2). Einen besondern Fall von Zweibrüderigkeit bieten viele Schmetterlingsblütler, indem hier von den zehn vorhandenen Staubgefäßen neun zu einer gespaltenen Röhre verbunden sind, während das 10. Staubgefäß vor der Spalte der Röhre frei steht (Fig. 3). Bei manchen Pflanzen haben die Staubfäden verschiedene Länge; wo zwei Kreise von Staubgefäßen vorkommen, sind häufig die des einen kürzer als die des andern. Bei den Kreuzblütlern finden sich sechs S.; von diesen sind vier die längern, zwei andre, welche einem äußern Kreis angehören und links und rechts stehen, sind kürzer (viermächtige S., s. tetradynama). Bei vielen Lippenblütlern und Skrofularineen gibt es zwei lange und zwei kurze, sogen. zweimächtige S. (s. didynama). - Der Staubbeutel ist ein meist aus zwei Fächern (thecae) bestehendes Gebilde, in dessen Innenraum der Blütenstaub (Pollen) enthalten ist. Fig. 4 versinnlicht den Durchschnitt durch einen jungen Staubbeutel; der Teil, welcher die beiden Fächer verknüpft, heißt Zwi- Fig. 1. Einfache Staubgefäßröhre der Malve. Fig. 2. Vielbrüderige Staubgefäße. Fig. 3. Zweibrüderige Staubgefäße einer Schmetterlingsblüte. Fig. 4. Durchschnitt eines Staubbeutels Stäubling - Staubregen. schenband oder Konnektiv (connectivum). Jedes Fach besteht aus zwei durch eine Scheidewand getrennten, nebeneinander liegenden Pollensäcken. Später wird diese Scheidewand aufgelöst, und jedes Fach stellt dann eine einfache Höhlung dar. Über den Blütenstaub s. Pollen und Geschlechtsorgane der Pflanzen. Der Staubfaden ist entweder an das untere Ende des Konnektivs angesetzt (basifix), oder er geht an einem höhern Punkt in dasselbe über (dorsifix). Das Konnektiv ist entweder gleichmäßig schmal, so daß die beiden Fächer der Länge nach parallel nebeneinander stehen, wobei es sich in irgend einer Form als sogen. Konnektivfortsatz über die Antheren fortsetzen kann, z. B. bei der Gattung Paris (Fig. 5), oder das Konnektiv ist zwischen den Fächern in der Breite ausgedehnt, so daß die letztern voneinander entfernt werden, bald nur mäßig, und dann unten oft weit stärker als oben, so daß die Fächer mehr und mehr in eine Linie zu liegen kommen, bald sehr beträchtlich, so daß es einen Querbalken bildet, an dessen Enden die Fächer sitzen (z. B. bei Salvia, Fig. 6), oder auch wie eine Spaltung des Staubfadens erscheint, deren beide Äste je ein Staubbeutelfach tragen, wie z. B. bei der Hainbuche, bei der Haselnuß, bei den Malven. Eine Eigentümlichkeit zeigen die Staubbeutel der Kürbisgewächse, insofern hier die beiden Fächer unregelmäßig gewunden sind (Fig. 7). Auch die Staubbeutel können untereinander in eine Röhre vereinigt sein, während ihre Staubfäden frei sind, wie bei den Kompositen, die aus diesem Grund auch Synantheren, d. h. Verwachsenbeutelige, genannt werden (Fig. 8a und b). Behufs Ausstreuung des Blütenstaubes öffnen sich die beiden Antherenfächer zur Blütezeit in bestimmter Weise, gewöhnlich so, daß die Wand jedes Faches eine Längsspalte bekommt; selten treten Querspalten auf, wie z. B. bei der Tanne. Danach unterscheidet man die Staubbeutel als antherae longitudinaliter und transverse dehiscentes. Diese Spalten liegen meist an der dem Mittelpunkt der Blüte zugekehrten Seite des Staubbeutels (antherae introrsae), bisweilen aber auch dem Umfang der Blüte zugewendet (a. extrorsae), wie bei den Schwertlilien, oder auch an der Seite, z. B. bei Ranunculus. Eine andre Art des Öffnens ist die mittels Klappen (a. valvatim dehiscentes), indem eine gewisse Stelle der Antherenwand als Deckel sich von untenher abhebt, wie z. B. bei Berberis. Oder endlich jedes Fach öffnet sich mittels eines meist an der Spitze liegenden Loches (a. porose dehiscentes), wie bei der Kartoffel. Das Öffnen der mit Spalten aufspringenden Staubbeutel wird ermöglicht durch den Bau der Antherenwand. Diese besteht nämlich aus zwei Zellenschichten: einer kleinzelligen Epidermis und einer unter derselben liegenden Schicht weiterer Zellen. Letztere sind an ihrer nach innen gekehrten Wand mit ring- oder netzförmigen Verdickungsschichten ausgestattet, welche wegen ihrer relativen Starrheit dieser Zellwand keine erhebliche Zusammenziehung beim Austrocknen gestatten. Dagegen ist die an die Epidermis stoßende Zellwand nicht verdickt; sie zieht sich wie die Epidermis bei Wasserverlust stark zusammen. Da somit also beide Seiten der Antherenwand beim Austrocknen verschiedene Dimensionen annehmen, so muß dieselbe sich krumm werfen dergestalt, daß die stärker sich zusammenziehende Seite, d. h. die äußere, konkav wird, und somit gehen die Wände auseinander. Die Spalte ist schon vorher angelegt, indem in der Ausdehnung, in welcher sie entstehen soll, eine Partie von Zellen zu Grunde geht, so daß dort das Durchreißen der Wand den geringsten Widerstand findet. Die Ursache des Öffnens der Antheren ist also das Austrocknen ihrer Wand; daher öffnen sie sich beim Befeuchtetsein nicht und können durch Benetzen mit Wasser wieder zum Schließen gebracht werden. Trocknes Wetter ist daher der Befruchtung der Blüten und somit der Samenbildung entschieden günstiger als nasses. - Bisweilen werden gewisse Staubblätter regelmäßig unvollständig ausgebildet, indem sie keinen Blütenstaub enthalten. Derartige Staminodien können in verschiedenen Formen auftreten, bei den Skrofularineen ist von fünf Staubgefäßen eins bisweilen als bloßer Faden oder als Schüppchen ausgebildet. Bei den Laurineen nimmt oft ein ganzer Kreis von Staubblättern die Form von Staminodien in Gestalt drüsenartiger Gebilde an. Bei der Parnassia palustris folgt auf den einfachen Kreis der S. ein andrer von Staminodien, welche hier als Nektarien (s. d.) ausgebildet sind, indem sie schuppenförmige Blätter mit langen Wimpern darstellen, deren jede mit einer kopfförmigen, honigtropfenähnlichen Drüse endigt. Vgl. auch den Art. Blüte. Stäubling, s. v. w. Lycoperdon. Staubregen, die meist trocknen Niederschläge der Atmosphäre, deren Substanz teils von der Erde aus mit den aufsteigenden Luftströmungen in die höhern Gegenden der Atmosphäre gelangt, sich mit dem Wind bis auf große Strecken von dem Ort ihres Aussteigens entfernt und entweder zugleich mit dem Regen und Schnee niederfällt, oder sich als Staub (s. Passatstaub) oder trockner Nebel (s. Nebel und Herauch) und Trübung der Atmosphäre niedersenkt, teils einen kosmischen Ursprung hat, indem sie aus zu feinem Staub zerfallenen oder zerriebenen Teilchen von Sternschnuppen und Feuerkugeln bestehen kann, welche tief in die Erdatmosphäre hineingetaucht sind, teils endlich Teile von kosmischen Staubmassen bildet, welche im Weltenraum sich bewegen, und denen die Erde zuweilen in ihrer Bahn begegnet. Zu den S. irdischen Ursprungs gehören folgende: 1) Die sogen. Blutregen (Blutquellen), die schon von den alten Schriftstellern, wie unter andern von Livius und Plinius, häufig erwähnt werden und im Mittelalter zu vielen abergläubischen Ansichten Anlaß gaben. Die Nachrichten über diese Blutregen beziehen sich aber meist nicht auf trockne, sondern auf flüssige oder schleimige Massen, welche als rote Flecke auftreten, den Boden, die Pflanzen und das Wasser Staubspritze - Staudt. und ihren Ursprung in den Exkrementen von gewissen Insekten, wie Bienen, Schmetterlingen etc., auch in dem Auftreten der Blutregenalge (Protococcus pluvialis) haben. 2) Die roten S., d. h. wirklicher Regen, welcher durch aufgewirbelten Staub rot gefärbt ist, ereignen sich am häufigsten im Frühling und Herbst, zur Zeit der Äquinoktialstürme. Auch der Schnee kann durch solchen roten Staub rot gefärbt werden und als erdiger roter Schnee niederfallen. Diese Färbung des Schnees durch roten Staub muß aber nicht mit der oft wahrgenommenen Färbung verwechselt werden, welche sich öfters über größere Schneeflächen der Polargegenden verbreitet, auch auf den Alpen und Pyrenäen vorkommt und unter dem Namen Blutschnee (s. d.) bekannt ist. 3) Bei den vulkanischen S. (meist grau) wird die Asche der Vulkane vom Wind bis auf sehr weite Entfernungen fortgetrieben (Hekla, westindische Vulkane). Ein auffallendes Beispiel dafür bot die neueste Zeit, indem die in den letzten Monaten 1883 und 1884 in Europa vielfach beobachteten eigentümlichen Dämmerungs-Erscheinungen sowie das häufige Auftreten von ungewöhnlich starkem Abend- und Morgenrot und das Bilden eines braunroten Ringes um die Sonne als Folge des vulkanischen Ausbruchs nachgewiesen sind, welcher 27. Aug. 1883 auf dem Krakatoa in der Sundastraße erfolgte. 4) Schwefelregen (gelb), d. h. das Herabfallen eines gelben oder gelblichroten Pulvers, meistens in Begleitung von wirklichem Regen. Göppert hat nachgewiesen, daß das gelbe Pulver aus vom Wind fortgeführtem und vom Regen niedergeschlagenem Blütenstaub besteht, und zwar im März und April aus Blütenstaub von Erlen und Haselnuß, im Mai und Juni von Fichtenarten, Wacholder und Birke, im Juli, August und September von Bärlappsamen, Rohr-, Liesch- oder Teichkolben. 5) Getreideregen entstehen dadurch, daß der Regen die kleinen Wurzelknollen gewisser Pflanzen, wie des kleinen Schöllkrauts (Chelidonium minus), der Butterblume (Ranunculus Ficaria), des epheublätterigen Ehrenpreis (Veronica hederaefolia) u.a., aus dem Boden ausspült und diese dann durch den Wind von ihrem Ursprungsort weit fortgeführt werden und später zu Boden fallen. - Von den kosmischen S. hat man erst in neuerer Zeit einige Kenntnis erlangt. Am 1. Jan. 1869 war in Heßle bei Upsala ein Meteorit, der aus zahlreichen weithin zerstreuten Stücken bestand, niedergefallen und mit ihm zugleich ein schwarzer, Kohle und metallisches Eisen enthaltender Staub (Meteorstaub). Ganz dieselbe Zusammensetzung zeigte der Staub, welcher während eines sechstägigen ununterbrochenen Schneefalls in Stockholm im Dezember 1871 im Schnee gefunden wurde, und ebenso der gleichzeitig im Innern Finnlands auf dem Schnee gesammelte Staub. Es kann aber auch wohl vorkommen, daß Schnee und Regen kosmischen Staub mit sich in kleinen Mengen zur Erde herunterführen. Die wenigen kohlehaltigen Meteorsteine (s. d., S. 541), die wir kennen, zerfallen nämlich in unmerklichen Staub, sobald sie mit Wasser oder Feuchtigkeit (Regen, Schnee, Wolken) in Berührung kommen, wobei ihre Kittsubstanz aufgelöst wird. Staubspritze, s. v. w. Drosophor, s. Zerstäubungsapparate. Staubstrommethode, metallurgisches Verfahren, welches darin besteht, daß zwei Ströme derjenigen Körper, welche chemisch aufeinander einwirken sollen, sich in feinster Verteilung entgegenkommen und durchdringen. Dies Prinzip ist zuerst im Gerstenhöferschen Röstofen zur Anwendung gekommen, bei welchem gepulverte Erze, durch Bänke aufgehalten, langsam durch einen vorher stark geheizten Schachtofen fallen, während von unten Luft in den Ofen strömt. Die Reaktion ist hierbei sehr energisch, die durch Verbrennung entstandene schweflige Säure passiert Flugstaubkammern und gelangt dann in die Bleikammern zur Schwefelsäureerzeugung. Man benutzt den Ofen zum Rösten von schwefelkiesreichen Erzen, Kupferrohstein, Zinkblende etc. Ähnliche Versuche sind in Amerika bei der Silbergewinnung gemacht worden, indem Stetefeldt mit seinem hohen Schachtofen den Erzstaub frei, ohne daß er durch Bänke aufgehalten wird, dem Luftstrom entgegenfallen läßt. Auch hat man in ähnlicher Weise staubförmige Brennmaterialien verwertet. Gemahlene und gebeutelte Holzkohle wird durch einen Ventilator in einem Luftstrom angesogen und in einer passenden Vorrichtung oder im Ofen selbst verpufft. Nach diesem Prinzip sind der Eisenstreckofen von Resch, der Doppelzinkofen von Dähn und der rotierende Puddelofen von Crampton eingerichtet, wobei indessen Staub- und Luftstrom meist dieselbe Richtung Staude, s. v. w. perennierende Pflanze, s. Staudenmaier, Franz Anton, kath. Theolog, geb. 11. Sept. 1800 zu Donsdorf in Württemberg, studierte im Wilhelmsstift zu Tübingen, trat 1826 in das Priesterseminar zu Rottenburg, folgte 1830 einem Ruf als Professor der katholischen Theologie nach Gießen und 1837 nach Freiburg i. Br., wo er 1843 auch zum Domkapitular ernannt wurde. Seit 1855 zurückgetreten, starb er 19. Jan. 1856. Unter seinen zahlreichen Schriften, in denen er eine spekulative Konstruktion des Katholizismus anstrebte, sind hervorzuheben: "Johann Scotus Erigena" (Frankf. 1834, Bd. 1); "Der Geist des Christentums" (Mainz 1835; 8. Aufl. 1880, 2 Bde.); "Darstellung und Kritik des Hegelschen Systems" (das. 1844); "Die christliche Dogmatik" (Freiburg 1844-52, 4 Bde.); "Zum religiösen Frieden der Zukunft" (das. 1846-51, 3 Tle.). Staudenpappel, s. Lavatera. Staudensalat, s. Lattich. Staudigl, Joseph, Opernsänger (Baß), geb. 14. April 1804 zu Wöllersdorf in Niederösterreich, wollte sich im ersten Jünglingsalter dem geistlichen Stand widmen, wandte sich dann nach Wien, um Chirurgie zu studieren, und beschloß endlich, zunächst um seine materielle Lage zu verbessern, seine herrliche Baßstimme auf der Bühne zu verwerten. Anfangs als Chorist am Kärntnerthor-Theater wirksam, gelang es ihm, in der Rolle des Pietro ("Stumme von Portici") die er an Stelle des erkrankten Inhabers übernommen, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, und infolge des Beifalls, den er bei dieser Gelegenheit errang, wurden ihm nach und nach immer größere Partien übertragen, bis er endlich im Besitz aller ersten Rollen war. Von Wien aus, wo er bis 1856 dem Hofoperntheater angehörte, verbreitete sich sein Ruf über ganz Deutschland, und nicht minder wurden seine Leistungen in London anerkannt, dies um so mehr, da S. auch als Oratorien- und Liedersänger glänzte und überdies die englische Sprache vollkommen beherrschte. Er starb nach fünfjähriger Krankheit 28. März 1861 in der Irrenanstalt von Michelbeuerngrund. Staudt, Karl Georg Christian von, Mathematiker, geb. 24. Jan. 1798 zu Rothenburg a. Tauber, war 1822-27 Professor am Gymnasium und Privatdozent an der Universität zu Würzburg, 1827-33 Professor am Gymnasium und der polytechnischen Stauen - Staupitz. Schule zu Nürnberg, von 1833 bis zu seinem Tod 1. Juli 1867 Professor an der Universität Erlangen. Staudts Verdienst beruht namentlich in der Ausbildung der synthetischen Methoden in der Geometrie, die er in seinem Hauptwerk: "Geometrie der Lage" (Nürnb. 1847), und in den dazu gehörigen "Beiträgen" (das. 1856, 1857, 1860) niedergelegt hat. Stauen, das Unterbringen der Ladung im Schiffsraum, um diesen möglichst auszunutzen und den Schwerpunkt von Schiff und Ladung zusammen in eine solche Lage zu bringen, daß ersteres hinreichende Stabilität hat. Gerät der Schwerpunkt von Schiff und Ladung durch unsachgemäßes S. in eine zu hohe Lage, so wird das Schiff zu "oberlastig" und verliert an der für seine Sicherheit gegen Kentern notwendigen Stabilität. Auch muß die Ladung so gestaut werden, daß sie bei den heftigen Bewegungen des Schiffs im Seegang ihre Lage nicht ändern kann. S. heißt auch das Zurückhalten fließender Gewässer durch Schleusen, Dämme und sogen. Stauwerke. Staufen, Stadt im bad. Kreis Freiburg (Breisgau), am Fuß des Schwarzwaldes, 290 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein altertümliches Rathaus, ein Amtsgericht, Tuch-, Filz- und Gummibandweberei, Weinbau und (1885) 1820 Einw. In der Nähe die Ruinen der Staufenburg. Staufen (Staufer), deutsches Kaisergeschlecht, s. Hohenstaufen. Staufenberg (Ritter von S.), altdeutsches Gedicht von einem unbekannten elsässischen Dichter, wahrscheinlich aus dem Anfang des 14. Jahrh., wurde im 16. Jahrh. von Fischart überarbeitet und von Engelhardt (Straßb. 1823) und Jänicke (in "Altdeutsche Studien", Berl. 1871) neu herausgegeben. Staufenburg, Ruine; Name mehrerer Ruinen, z. B. bei Staufen und Gittelde (s. d.). Stauffacher, Werner, nach der Sage von der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft ein wohlhabender Landmann aus Schwyz, der sich auf das Zureden seiner Gemahlin Margareta Herlobig an die Spitze der Erhebung der Waldstätte gegen die Vögte Albrechts I. stellte und 1307 die Verschwörung im Rütli stiftete. Ein Werner S. erscheint urkundlich als Landammann von Schwyz 1313 und 1314. Stauffenberg, Franz August, Freiherr Schenk von, deutscher Politiker, geb. 4. Aug. 1834 zu Würzburg, studierte in Heidelberg und Würzburg die Rechte, war bis 1860 als Staatsanwalt in bayrischem Staatsdienst und lebte seitdem auf seinem Gut Geißlingen bei Balingen in Württemberg. Seit 1866 Mitglied des bayrischen Abgeordnetenhauses, 1873-75 Präsident desselben, Führer der bayrischen Fortschrittspartei, ward er 1868 in das Zollparlament, 1871 für München in den deutschen Reichstag gewählt, schloß sich der nationalliberalen Partei an und war 1876-1879 erster Vizepräsident des Reichstags. 1880 schied er aus der nationalliberalen Partei aus, ward Mitglied der liberalen Vereinigung (Sezessionisten) und 1884 der deutschen freisinnigen Staunton (spr. stahnt'n), Stadt im nordamerikan. Staat Virginia, Grafschaft Augusta, an einem Nebenfluß des Shenandoah, mit großem Irrenhaus, Staatsanstalt für Taubstumme und Blinde und (1880) 6664 Einw.; wird von Touristen viel besucht. Staunton (spr. stahnt'n), 1) Sir George Leonhard, Reisender, geb. 1740 zu Galway in Irland, ging 1762 als Arzt nach Westindien, dann nach Ostindien und begleitete 1792-94 Macartney auf seiner Gesandtschaftsreise nach China, die er im "Account of an embassy from the king of Great Britain to the emperor of China" (Lond. 1791; deutsch, Zürich 1798) beschrieb. Er starb 14. Jan. 1801 in London. 2) Sir George Thomas, Reisender, Sohn des vorigen, geb. 26. Mai 1781 zu London, begleitete seinen Vater 1792 nach China, studierte dann in Cambridge, wurde 1799 bei der Faktorei der Ostindischen Gesellschaft in Kanton angestellt und leistete bei den von 1814 bis 1817 zwischen England und China gepflogenen Verhandlungen wichtige Dienste. Nach London zurückgekehrt, widmete er sich litterarischen Arbeiten und übersetzte namentlich vieles aus dem Chinesischen, z. B. den Kriminalkodex des chinesischen Reichs (Lond. 1810; franz., Par. 1812, 2 Bde.). Er war bis 1852 Mitglied des Unterhauses und starb 10. Aug. 1859 in London. 3) Howard, engl. Schriftsteller und berühmter Schachspieler, geb. 1810, studierte zu Oxford, widmete sich dann in London der journalistischen Thätigkeit und trug 1843 in einem großen Schachspielwettkampf zu Paris über den Franzosen Saint-Amant den Sieg davon, was ihm mit Einem Schlag den Ruf des ersten Schachspielers in Europa verschaffte. Er erfreute sich desselben bis zu dem großen Londoner Turnier 1851, aus welchem der Deutsche Anderssen (s. d.) als erster Sieger hervorging, und vermied es seitdem, an öffentlichen Wettkämpfen teilzunehmen. S. starb 22. Juni 1874. Von seinen Schriften über das Schachspiel wurde das Handbuch ("Laws and practice of chess") mehrfach aufgelegt (neue Ausg. von Wormald, 1881). Auch leitete er lange Jahre die Schachrubrik in den "Illustrated London News". Im übrigen beschäftigte er sich mit dem Studium der ältern englischen Dramatiker und war als Kommentator bei der Herausgabe einer der besten Shakespeare-Ausgaben (Edition Routledge) beteiligt. Noch veröffentlichte er "Great schools of England" (2. Aufl. 1869) Staupe, s. Hundsseuche und Pferdestaupe; böse S., s. v. w. Epilepsie. Staupenschlag (Staupbesen, lat. Fustigatio), die früher gewöhnlich mit der Landesverweisung und mit Ausstellung am Pranger verbundene Strafe des Auspeitschens bei welcher der Delinquent vom Henker durch die Straßen geführt und auf den entblößten Rücken gepeitscht wurde. Staupitz, Johann von, Gönner und Freund Luthers, geboren im Meißenschen, studierte in Tübingen Theologie, ward Prior im Augustinerkloster daselbst, 1502 Professor und der eigentliche Organisator der neugegründeten Universität zu Wittenberg, auch 1503 Generalvikar der (kleinen) sächsischen Kongregation des Augustinerordens. In dieser Eigenschaft ward er 1505 in Erfurt Luthers geistlicher Vater und veranlaßte 1508 seine Berufung nach Wittenberg. 1512 legte er seine Professur nieder und hielt sich in München, Nürnberg und Salzburg auf; 1520 gab er auch das Amt des Generalvikars auf, zog sich aus Scheu vor den Kämpfen, die er nahen sah, nach Salzburg zurück, ward dort Hofprediger des Erzbischofs und 1522 Abt des dortigen Benediktinerklosters. Hier mußte er, vom Erzbischof von Salzburg zur Zustimmung zu der Bannbulle gegen Luther aufgefordert, sich wenigstens zu der Erklärung verstehen, daß er im Papst seinen Richter anerkenne, was Luther ihm als eine Verdammung der Lehre auslegte, zu der S. ihn selbst gewiesen. Er starb 1524. Seine hinterlassenen deutschen Schriften gab Knaake heraus (Potsd. 1867). Vgl. Kolde, Die deutsche Augustinerkongregation und J. v. S. (Gotha 1879); Keller, Joh. v. S. (Leipz. 1888). Staurodulie - Stearin. Staurodulie (griech.), Anbetung des Kreuzes. Staurolith, Mineral aus der Ordnung der Silikate (Andalusitgruppe), kristallisiert in rhombischen, meist säulenförmigen Kristallen und tritt häufig in Zwillingsverwachsungen auf, von welchen die einer beinahe rechtwinkeligen Durchkreuzung zweier Individuen den Namen Kreuzstein sowie gelegentlich eine abergläubische Benutzung zu Amuletten veranlaßt hat. S. ist rötlich- bis schwärzlichbraun, selten etwas durchscheinend, gewöhnlich undurchsichtig, glasglänzend, Härte 7-7,5, spez. Gew. 3,34-3,77. Er enthält zahlreiche mikroskopische Einschlüsse (Quarz, Granat, Glimmer etc.); seine Zusammensetzung entspricht am wahrscheinlichsten der Formel H2R3(Al2)6Si6O34, worin R vorwaltend Eisen in der Form des Öxyduls neben Magnesium ist. S. findet sich eingewachsen in Thon- und Glimmerschiefer (namentlich in Paragonitschiefer) am St. Gotthard, häufig mit Disthen gesetzmäßig verwachsen, in Tirol, Mähren, Steiermark, im Departement Finistere, bei Santiago de Compostela und in Nordamerika. Staurophör (griech.), Kreuzträger. Stauroskop (griech.), ein von Kobell angegebener einfacher Polarisationsapparat zur Beobachtung der Farbenringe und dunkeln Büschel in Kristallplatten. Stauung, s. Stauen. Stauungspapille, ein durch v. Gräfe in die Augenheilkunde eingeführter Begriff, welcher besagt, daß die Eintrittsstelle des Sehnervs in die Netzhaut von sehr zahlreichen, strotzend gefüllten Venenästchen durchzogen wird. Ob diese Stauung eine rein mechanische oder zugleich der Ausdruck einer Entzündung des Sehnervs (Neuroretinitis) ist, scheint noch zweifelhaft; dagegen ist die S. ein sehr wertvolles Symptom, welches auf eine Steigerung des Druckes in der Schädelkapsel, namentlich auf Geschwulstbildungen im Gehirn, schließen läßt. Stavanger, Hauptstadt des gleichnamigen Amtes, welches 9279 qkm (168,5QM.) mit (1876) 110,965 Einw. umfaßt, im südwestlichen Norwegen, am Buknfjord, durch Eisenbahn mit Egersund verbunden, ist auf felsigem Boden nach wiederholten Feuersbrünsten ganz modern aus Holz erbaut, hat eine Domkirche (im 12. und 13. Jahrh. im alten normännischen Stil erbaut, 1866 im Innern restauriert), eine Lateinschule, ein kleines Museum, 2 Häfen und (1885) 22,634 Einw., welche vornehmlich Schiffahrt und Handel mit den Produkten der Fischerei betreiben. Die Stadt besaß 1885: 285 Segelschiffe von 91,851 Ton. und 40 Dampfschiffe von 12,792 T. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls. S., eine alte, aber erst im 18. Jahrh. wieder emporgekommene Stadt, war bis 1685 Bischoffitz. Stavelot (Stablo), Stadt in der belg. Provinz Lüttich, Arrondissement Verviers, an der Ambleve und der Staatsbahnlinie Gouvy-Pepinster, hat eine höhere Knabenschule, Gerberei, Wollmanufakturen und (1887) 4452 Einw. - S. war bis 1801 die Hauptstadt des deutschen Reichsfürstentums S., dessen Oberhaupt der jeweilige gefürstete Abt des 648 vom austrafischen König Sigebert gegründeten Benediktinerstifts S. war. Ein Leben des Abts Poppo (1020-48) von Everhelm ist erhalten. Wichtig ist der Streit des Klosters gegen den Erzbischof Anno von Köln um das Kloster Malmedy, in welchem Anno 1071 unterlag. Von der Abteikirche ist nur noch ein Teil des Turms vorhanden. In der Stadtkirche befindet sich der kostbare Schrein des heil. Remaclus. Stavenhagen, Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Linie Lübeck-Mecklenburgisch-Preußische Grenze der Mecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß mit Park, ein Progymnasinm, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, eine Zuckerfabrik, eine Dampfmolkerei, Dampfmahl- und Sägemühlen, eine Spiegelrahmenfabrik, 2 Selterwasserfabriken, Bierbrauerei und (1885) 3023 Einw. S. ist Geburtsort des Dichters Fritz Reuter, dem am Rathaus eine Gedenktafel gewidmet ist. Stavoren (Staveren), Stadt in der niederländ. Provinz Friesland, an der Zuidersee, Endpunkt der Eisenbahn Leeuwarden-Sneek-S., mit (1887) 877 Einw.; die älteste Stadt Frieslands, ehemals groß und mächtig durch Handel und Schiffahrt, jetzt infolge der Versandung des Hafens ganz unbedeutend. Stawell, Stadt in der britisch-austral. Kolonie Victoria, durch Eisenbahn mit Melbourne verbunden, mit 5 Bankfilialen, Theater und (1881) 7348 Einw. In der Nähe die Pleasant Creek-Goldfelder mit 1150 Goldgräbern. Stawropol, 1) Gouvernement der russ. Statthalterschaft Kaukasien, an der Nordgrenze gegen Astrachan und das donische Gebiet, 68,631 qkm (1246 QM.) groß mit (1885) 657,554 Einw. (Russen, nomadisierenden Kalmücken, Truchmenen, Nogaiern, Armeniern). Das Gouvernement enthält zum Teil reiches Ackerland, so daß in jedem Jahr über 16,000 Arbeiter zum Einheimsen der Ernte aus Rußland kommen müssen, teils weite, an Salzseen reiche, aber an Trinkwasser arme Steppen, auf denen Viehzucht getrieben wird. Waldmangel ist nicht nur in der Steppe, sondern auch in den Berggegenden fühlbar. Die beiden Hauptflüsse Manytsch und Kuma sind wasserarm und verlieren sich in den Sand. Getreide, Leinsaat, Sonnenblumenkerne, Wolle, Häute und Talg werden nach Rostow am Don ausgeführt. Der südlichste Zipfel des Gouvernements wird von der Eisenbahn Rostow Wladikawkas durchzogen. Die gleichnamige Hauptstadt, am Flüßchen Taschla, in dürrer, baumloser Ebene, 611 m ü. M. gelegen, mit (1885) 36,561 Einw. (Russen, Tataren, Armeniern, Persern, Nogaiern, Grusiern u. a.), ist Sitz eines Zivil- und Militärgouverneurs und des kaukasischen und tschernomorskischen Bischofs, hat 13 griechisch-russ. Kirchen, eine armenische und eine kath. Kirche, eine Moschee, Nonnenkloster, geistliches Seminar, vorzügliche Mädchenschule, öffentliche Bibliothek, Theater und zahlreiche Fabriken, deren Thätigkeit ebenso wie der Handel beständig im Zunehmen sind. Die Stadt hat durch ihre Lage an der aus Persien nach Rußland führenden Karawanenstraße große kommerzielle Bedeutung, auch für die asiatische Post ist S. 2) Kreisstadt im russ. Gouvernement Samara, an der Wolga, 1738 gegründet, mit (1885) 4883 Einw., welche sich vorwiegend mit Anbau von Getreide, Zwiebeln und Kartoffeln beschäftigen. Stazione (ital.), Bahnhof. Steamer (Steamboat, engl., spr. stihmer, stihmboht), Dampfschiff. Stearin (C18H35O2)C3H5 findet sich in den meisten Fetten neben Palmitin und Olein, besonders reichlich im Hammeltalg. Um es aus diesem zu gewinnen, schmelzt man denselben und mischt ihn mit so viel Äther, daß er nach dem Erstarren Breikonsistenz besitzt, preßt wiederholt und kristallisiert den Rückstand aus Äther häufig um. Das S. bildet farb-, geruch- und geschmacklose, perlmutterglänzende Schuppen, ist löslich in siedendem Alkohol und Äther, sehr schwer in kaltem Alkohol, nicht in Wasser, reagiert neutral, schmilzt bei 62-64°, erstarrt wachsartig und wird Stearinsäure - Stechapfel. durch Alkalien leicht verseift. Es besteht aus Stearinsäuretriglycerid und kann direkt durch Erhitzen von Stearinsäure mit Glycerin erhalten werden. Das S. des Handels ist kein neutrales Fett, sondern ein aus solchem dargestelltes Gemisch von Stearinsäure und Palmitinsäure. Stearinsäure C18H36O2 findet sich, an Glycerin gebunden, als Stearin (s. d.) in den meisten Fetten, namentlich in den festen, aber fast immer neben Palmitin und Olein. Aus diesen Fetten, besonders aus Talg und Palmöl, wird im großen ein Gemisch von S. und Palmitinsäure dargestellt, welches unter dem Namen Stearin in den Handel kommt. Stearin liefert 95,7 Proz. S., Palmitin 94,8 Proz. Palmitinsäure, Olein 90,3 Proz. Olein- oder Ölsäure. Zur Gewinnung des Fettsäuregemisches erhitzte man das Fett ursprünglich mit Kalkmilch (aus 14 Proz. gebranntem Kalk), trennte die Kalkseife von dem glycerinhaltigen Wasser und schied aus derselben durch Schwefelsäure die fetten Säuren ab. Gegenwärtig arbeitet man in verschlossenen Kesseln (Autoclaves) unter einem Druck von 8-10 Atmosphären (bei 170°) und erreicht eine ziemlich vollständige Verseifung durch Anwendung von nur 2-4 Proz. Kalk, so daß bei der weitern Verarbeitung an Schwefelsäure bedeutend erspart wird. Unter einem Druck von 10-15 Atmosphären und bei einer Temperatur vom Schmelzpunkt des Bleies werden die Fette auch durch reines Wasser ohne Anwendung von Alkalien zersetzt, und wenn man sie bei 315° mit überhitztem Wasserdampf in geeigneten Apparaten behandelt, so destillieren die Fettsäuren und das Glycerin über, während in dem Apparat ein brauner, pechartiger Rückstand bleibt, den man auf Photogen und Anilin verarbeitet. Diese beiden Methoden sind im großen Maßstab ausgeführt, gegenwärtig aber durch die Verseifung mit Schwefelsäure verdrängt worden. Letztere wendet man besonders auf solche Fette an, welche wegen ihrer Beschaffenheit oder ihrer Verunreinigungen nicht mit Kalk verseift werden können, wie Palmöl, Kokosöl, Knochenfett, Abfälle aus Schlächtereien, Küchen etc. Man erhitzt die möglichst gereinigten Fette unter Umrühren mit 6-12 Proz. konzentrierter Schwefelsäure durch Dampf auf 110-177°, kocht noch 15-20 Stunden das Produkt mit Wasser, reinigt es durch wiederholtes Waschen, entwässert es durch Erhitzen in flachen Pfannen und unterwirft es, da es sehr dunkel gefärbt ist, auch unzersetztes Fett enthält, der Destillation durch überhitzten Wasserdampf. Die Produkte, welche nach dieser Methode erhalten werden, weichen in mancher Hinsicht von den durch Kalkverseifung gewonnenen ab. Die Ausbeute beträgt bei letzterer 45-48, bei der Schwefelsäureverseifung mit Destillation 55-60 Proz. Kerzenmaterial. Das gewonnene Gemisch von Fettsäuren läßt man in flachen Gefäßen möglichst langsam grobkristallinisch bei 20-32° erstarren, preßt unter starkem Druck zuerst kalt, dann bei 35-40° die Ölsäure ab, aus welcher sich bei hinreichender Abkühlung noch S. ausscheidet, die man auf Zentrifugalmaschinen von der Ölsäure trennt, schmelzt und kocht sämtliche S. mit stark verdünnter Schwefelsäure und Wasser, klärt sie mit Eiweiß, bleicht sie auch wohl durch Kochen mit schwacher Oxalsäurelösung und gießt sie in Formen. Nach einer neuern Methode erhitzt man das Fett mit 4-6 Proz. Schwefelsäure etwa 2 Minuten auf 120° und kocht es dann mit Wasser. Es findet vollständige Zersetzung statt, und von der erhaltenen S. kann man 80 Proz. nach zweimaliger Pressung direkt auf Kerzen verarbeiten, während nur der Rest von 20 Proz. zu destillieren ist. Nebenprodukte bei der Stearinsäurefabrikation sind Glycerin und Ölsäure. Letztere durch geeignete Prozesse in feste Fettsäuren umzuwandeln (Ölsäure gibt mit schmelzenden Alkalien Palmitinsäure und Essigsäure, mit salpetriger Säure starre Elaidinsäure), ist bis jetzt in lohnender Weise noch nicht gelungen. Reine S. erhält man aus Seife, wenn man diese in 6 Teilen Wasser löst, 40-50 Teile kaltes Wasser zusetzt, das ausgeschiedene Gemenge von saurem stearinsaurem und palmitinsaurem Natron durch Umkristallisieren aus heißem Alkohol trennt, das schwer lösliche Stearinsäuresalz mit Salzsäure zersetzt und die S. aus Alkohol umkristallisiert. Sie bildet farb- und geruchlose, silberglänzende Kristallblättchen, ist leicht löslich in Alkohol und Äther, nicht in Wasser, reagiert sauer, schmilzt unter starker Volumvergrößerung bei 69° und erstarrt schuppig-kristallinisch, ist in kleinen Quantitäten bei vorsichtigem Erhitzen destillierbar, leichter im Vakuum und mit überhitztem Wasserdampf. Von ihren Salzen sind die der Alkalien in Wasser löslich, werden aber durch viel Wasser zersetzt, indem sich unlösliche saure Salze ausscheiden und basische gelöst bleiben. In Kochsalzlösung sind auch die Alkalisalze der S. unlöslich. Die übrigen Salze sind unlöslich; erstere finden sich in der Seife, stearinsaures Bleioxyd im Bleipflaster. Beim Zusammenschmelzen von S. mit Palmitinsäure wird der Schmelzpunkt des Gemisches selbst unter den der Palmitinsäure herabgedrückt. Das fabrikmäßig dargestellte Gemisch von S. und Palmitinsäure wird auf Kerzen verarbeitet und zum Enkaustieren von Gipsabgüssen benutzt. Ein Patent auf Darstellung von Kerzen aus S. und Palmitinsäure nahmen zuerst Gay-Lussac, Ehevreul und Cambacères 1825, doch wurde erst de Milly Begründer der Stearinindustrie, indem er 1831 die Kalkverseifung einführte und 1834 auch die Verseifung mit wenig Kalk andeutete und 1855 vervollkommte. 1854 gelangten Tilghman und Melsens unabhängig voneinander zu der Zersetzung der Fette durch überhitztes Wasser, und Wright und Fouché konstruierten Apparate für diese Methode, welche indes, wie auch die mit einer Destillation verbundene Behandlung der Fette mit überhitztem Wasserdampf, nur vorübergehende Bedeutung errang. Anfang der 40er Jahre begründeten Jones, Wilson, Gwynne die Methode, welche auf der schon 1777 von Achard beobachteten Zersetzung der Fette durch Schwefelsäure beruht und in neuerer Zeit allgemeine Verbreitung gefunden hat. Stearoptene, s. Ätherische Ole. Steatit, s. Speckstein. Steatom (griech.), veralteter Name krankhafter Geschwülste von festerer Konsistenz. Steatopygie (griech.), übermäßige Fettanhäufung am Gesäß der Hottentotinnen, s. Hottentoten. Steatórnis, s. Guacharo. Steatose (griech.), krankhafte Fettbildung. Steben (Untersteben), Dorf und Badeort im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Naila, im Frankenwald und an der Linie Hof-S. der Bayrischen Staatsbahn, 580 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Forstamt, 5 Stahlquellen und ein Moorbad, die bei Blutarmut, Bleichsucht, Skrofulose, Rheumatismus, Gicht etc. angewendet werden, und (1885) 772 meist evang. Einwohner. Vgl. Klinger, Bad S. (2. Aufl., Hof Stecchetti (spr. stecketti), Lorenzo, Pseudonym des ital. Dichters Olindo Guerrini (s. d.). Stechapfel, Pflanzengattung, s. Datura. Stechbeeren - Stecknitz. Stechbeeren, s. Daphne und Rhamnus. Stechbeitel, s. Beitel. Stechbüttel, s. v. w. Stichling. Stechdorn, s. v. w. Schlehendorn (s. Pflaumenbaum, S. 970); s. v. w. Ilexaquifolium; s. v. w. Rhamnus cathartica. Stecheiche, s. v. w. Stechpalme, Hex aquifolium. Stechen, in der Jägerei das Auswerfen kleiner Vertiefungen im Boden durch den Dachs und den Fuchs beim Aufsuchen von Insektenlarven, auch das Einbohren des Schnabels (Stechers) der Schnepfen in den Boden zum Fang von Regenwürmern sowie das Aufeinanderstoßen der Männchen und Weibchen zur Paarzeit in der Luft, besonders der Schnepfen zur Strichzeit; endlich das Spannen des Stechschlosses an einer Büchse durch den Druck am Stechente, s. Lumme. Stecher, in der Orgel dünne, aber feste Stäbe, die unter den Tasten der Klaviatur angebracht sind und, durch diese herabgedrückt, den weitern Mechanismus in Bewegung setzen. Vgl. Abstrakten. Stechginster, s. v. w. Ulex europaeus. Stechheber, eine weite, bisweilen an einer Stelle zu einer Kugel oder in andrer Form erweiterte, auch konisch zulaufende Glas- oder Metallröhre, deren obere Öffnung bequem durch den aufgedrückten Finger geschlossen werden kann (s. Figur), dient zum Herausheben von Flüssigkeit aus einem Faß od. dgl. Der S. füllt sich beim Eintauchen in die Flüssigkeit u. bleibt gefüllt, wenn man ihn mit verschlossener oberer Öffnung herauszieht. Durch vorsichtiges Heben des verschließenden Fingers kann man beliebige Quantitäten der Flüssigkeit abfließen lassen. Vgl. Pipette. Stechhelm, s. Helm, S. 364. Stechpalme, s. v. w. Ilex aquifolium. Stechwinde, Pflanzengattung, s. v. w. Smilax. Steckbrief, öffentliches Ersuchen um Festnahme einer zu verhaftenden Person, welche flüchtig ist oder sich verborgen hält. Nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 131) können Steckbriefe von dem Richter sowie von der Staatsanwaltschaft erlassen werden. Ohne vorgängigen Haftbefehl ist eine steckbriefliche Verfolgung nur statthaft, wenn ein Festgenommener aus dem Gefängnis entweicht oder sonst sich der Bewachung entzieht. In diesem Fall sind auch die Polizeibehörden zum Erlaß des Steckbriefs befugt. Der S. muß eine Beschreibung der Person des Verfolgten (Signalement), soweit dies möglich, enthalten sowie die demselben zur Last gelegte strafbare Handlung und das Gefängnis bezeichnen, in welches die Ablieferung zu erfolgen hat, wofern nicht wegen der Abholung des Festgenommenen eine Nachricht erbeten wird. Ist ein S. unnötig geworden, so erfolgt dessen Widerruf (Steckbriefserledigung) auf demselben Weg, auf dem er erlassen ist. Steckenknechte, bei den Landsknechten dem Profoß beigegebene, zur Ausführung von Prügelstrafen "Stecken" tragende Gehilfen. Steckenkraut, s. Ferula. Stecker, Anton, Afrikareisender, geb. 17. Jan. 1855 zu Josephsthal bei Jungbunzlau in Böhmen, studierte zu Heidelberg Naturwissenschaften und begleitete 1878 G. Rohlfs auf seiner Expedition nach Kufra. 1879 nach Bengasi zurückgekehrt, ging er im Auftrag der Afrikanischen Gesellschaft 1880 nach Tripolis und von da mit Rohlfs nach Abessinien. Während Rohlfs nach Europa zurückkehrte, nahm S. den Tsanasee kartographisch auf, kam 1881 nach Godscham, drang von da bis in die Gallaländer, geriet aber in die Gefangenschaft des Königs Menelik von Schoa. Auf Verwendung Antinoris freigegeben, nahm S. noch einige Seen in Abessinien auf und kehrte 1883 nach Europa zurück. Er starb 15. April 1888 in seinem Geburtsort an der Lungenschwindsucht. Steckling (Stopfer), ein beblätterter, halbreifer oder junger Zweig einer Pflanze, den man in die Erde steckt, damit er sich bewurzele und dann zu einer neuen, selbständigen Pflanze sich entwickle. Man schneidet ihn dicht unter einem Auge (bei Verbenen mit Beibehaltung eines Stückchens vom Stiel), schneidet einige der untern Blätter ab und steckt ihn in Sand oder Torfmull. Für die schwierigen Pflanzen oder für eine Vermehrung in großartigem Maßstab hat man kalte, halbwarme und warme Vermehrungshäuser und benutzt doppeltes Glas, d. h. im Vermehrungshaus (auch Wohnzimmer) noch Glasscheiben oder Glasglocken auf den Stecklingstöpfen oder Schalen; gleichmäßige Feuchtigkeit und Beschattung gegen brennende Sonnenstrahlen verhindern das Verwelken und Abtrocknen, zeitweises Lüften des innern Glases das Faulen. Stecklinge von Pflanzen mit starkem Saft oder Milchsaft steckt man in Sand mit stehendem Wasser. Steckkmuschel (Pinna L.), Gattung aus der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), mit schiefdreieckigen, vorn spitzen, hinten klaffenden, dünnen Schalen. Die Steckmuscheln stecken mit dem spitzen Ende im Schlamm oder Sand und sind durch feine Byssusfäden an der Umgebung befestigt. Die größte Art ist die 70 cm lange schuppige S. (Pinna squamosa Gm.), im Südlichen Ozean und im Mittelländischen Meer. Diese und die nur 30 cm lange edle S. (P. nobilis L.), im Mittelländischen und Atlantischen Meer, werden namentlich im Busen von Tarent gefischt. Den 10-25 cm langen, goldbraunen Bart verspinnt man mit Seide und fertigt feine und haltbare Handschuhe, Geldbeutel etc. daraus (s. Byssus). Hin und wieder findet man wertlose Perlen von brauner Farbe in ihr. Im Altertum fabelte man von dem sogen. Muschelwächter (Pinnotheres), einem Krebs, welcher seinen Wirt, die Pinna, vor Gefahren warnen, dafür aber in ihr wohnen sollte. Die letztere Angabe ist richtig, die erstere grundlos. Stecknadeln, s. Nadeln. Stecknetz (Doppelgarn), Netz zum Fang von Rebhühnern, Fasanen und Wachteln, gewöhnlich 15 bis 16 m lang und 35 cm hoch, welches aus zwei spiegelig gestrickten Außengarnen und einem in der Mitte liegenden Innengarn mit engern Maschen besteht. Wenn Hühner gesprengt sind und man dieselben sich zusammenlocken hört, so stellt man zwischen ihnen die Stecknetze mittels Stellstäbchen auf und lockt sie dann mittels einer Hühnerlocke (s. d.) zusammen. Wenn sie durch die Maschen des Außengarns durchkriechen, so bleiben sie in dem faltigen (busigen) Innengarn hängen. In gleicher Weise kann man auch die Steckgarne an das Ende nicht zu breiter Kartoffelstücke und an Hecken stellen und die Hühner hineintreiben. Der Fang mit diesen Garnen ist leicht, die Hühner werden jedoch dabei gewöhnlich so beschädigt, daß man sie nicht lebend aufbewahren kann. Über den Fang der Wachteln im S. s. Wachtel. Steckknitz, Fluß im Kreis Herzogtum Lauenburg der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, entspringt aus dem Möllnsee und fließt in die Trave, ist kanalisiert und mit der in die Elbe mündenden Delvenau in Verbindung gesetzt, so daß nun die ganze (56 km lange) Schiffahrtsstrecke zwischen der Elbe und Trave Stecknitzkanal heißt. Steckrübe - Steen. Steckrübe, s.Raps. Stedingerland, fruchtbarer Landstrich in der oldenburg. Wesermarsch, begreift im wesentlichen das heutige Amt Berne und ist berühmt durch seine freiheitliebenden und tapfern Bewohner, die Stedinger (Stettländer). In alten Zeiten umfaßte der Stedinggau außer dem jetzigen S. die vormaligen vier Marschvogteien Moorrieh, Oldenbrook, Strückhausen und Hammelwarden, die Vogtei Wüstenlande (die Stedingerwüste oder Wösting genannt), das jenseit der Weser gelegene Osterstade und wahrscheinlich auch den damals schon vorhandenen Teil des nachmaligen Vogteidistrikts Schwey. Das jetzige S. liegt zwischen der Ochte, Weser und Hunte, wird von mehreren kleinen Flüssen, der Berne, Hörspe und Ollen, durchströmt und ist an zwei Seiten von der Geest umgeben. Der Boden, dessen obere Lage von dem fetten Wasserschlamm gebildet worden, ist fruchtbar und der Landstrich unter allen Marschdistrikten Oldenburgs der gesündeste; wegen seiner niedrigen Lage bedarf er aber der Eindeichung. - Als König Heinrich IV. 1062 das linke Weserufer von der Mündung der Ochte bis zum Butjadingerland dem Erzbischof von Bremen schenkte, siedelte dieser Rüstringer und Holländer in dem durch Deiche dem Fluß abgerungenen Gebiet an. Sie nannten sich Stedinger, d.h. Uferbewohner. Ursprünglich zu Zehnten verpflichtet, wußten sie sich bei der Schwäche mehrerer Erzbischöfe allmählich jeder Zahlung zu entziehen und wahrten ihre Grenzen ebenso energisch gegen die Grafen von Oldenburg, deren Burgen Lichtenberg und Line sie 1187 zerstörten. Auch Erzbischof Hartwig II., dem der Papst schon gestattete, einen Kreuzzug gegen die Stedinger zu predigen, konnte sie nicht unterwerfen (1207). Einer seiner Nachfolger, Gerhard II., verklagte sie 1232 beim Papst Gregor IX. als Ketzer; die Folge waren Bann und Interdikt und ein neuer Kreuzzug, für dessen Zustandekommen besonders Konrad von Marburg thätig war. Kaiser Friedrich lI. ließ sich außerdem zur Achtserklärung herbei. Bald ward unter Anführung des Herzogs Heinrich von Brabant, der Grafen von Holland, von der Mark, von Kleve und von Oldenburg ein Heer von 40,000 Mann gesammelt, welches teils zu Land, teils auf der Weser 1234 gegen die bei Oldenesch (Altenesch) 11,000 Mann stark in Schlachtordnung stehenden Stedinger anrückte. Letztere wurden 27. Mai nach tapferm Widerstand in die Flucht geschlagen. Tausende kamen um, und gegen die Gefangenen ward schrecklich gewütet und das Land verwüstet. Die Sieger teilten sich darauf in dasselbe, der größte Teil fiel dem Erzbischof von Bremen und den Grafen von Oldenburg zu; doch überließen diese das Erworbene meist den Besiegten oder neuen Kolonisten wieder zu Meierrecht. Erzbischof Nikolaus von Bremen (1422-35) sicherte die Stellung der Stedinger durch ein besonderes Landrecht. Auf dem Schlachtfeld von Altenesch wurde an der Stelle einer verfallenen Kapelle 27. Mai 1834 ein Denkmal ("Stedingsehre") errichtet. Vgl. Schumacher, Die Stedinger (Brem. 1865). Steeden (Steeten), Dorf im preuß. Regierungsbezirk Wiesbaden, Oberlahnkreis, an der Lahn, hat eine Dolomithöhle mit zahlreichen Knochen vorweltlicher Tiere, Kalkbrennerei und (1885) 645 Einw. Steele, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Landkreis Essen, an der Ruhr, Knotenpunkt der Linien Ruhrort-Holzwickede, Vohwinkel-S., S.-Witten und Heissen-S. der Preußischen Staatsbahn, 69 m ü. M., hat ein Amtsgericht, wichtigen Steinkohlenbergbau und (1885) 8237 meist kath. Einwohner. Steele (spr. stihl), Sir Richard, engl. Schriftsteller, geb. 1671 zu Dublin, studierte in Oxford (Genosse Addisons), trat dann als gemeiner Soldat in die Armee (was seine Enterbung zur Folge hatte) und versuchte sich nebenbei als Schriftsteller. Mitten in einem extravaganten Leben überraschte er die Welt durch den moralischen Traktat "The christian hero"; ihm folgten einige ebenfalls moralische Lustspiele. Als Herausgeber der "Gazette", des offiziellen Regierungsorgans, hatte er den Vorteil, wichtige Nachrichten aus sicherster Quelle verbreiten zu können, sah sich aber bei ihrer Beurteilung durch manche Rücksichten gehemmt. Er gab daher seit 1709 eine eigne, dreimal wöchentlich erscheinende Zeitschrift: "The Tatler", heraus, in der er "eine belehrende und zum Denken anregende Unterhaltung" versprach. Der Inhalt war sehr vielseitig, der Beifall allgemein. Die bedeutendsten Schriftsteller boten ihre Hilfe an, Addison wurde der hervorragendste Mitarbeiter. Bald vergrößerte sich das Unternehmen: seit 1711 erschien täglich "The Spectator", der in einem novellistischen Rahmen Unterhaltungen über litterarische, ästhetische, selten politische Dinge, Erzählungen, moralische Betrachtungen brachte. Im J. 1713 löste "The Guardian" den "Spectator" ab, lenkte aber zu tief in das politische Fahrwasser, um dauernd Erfolg zu haben, zumal S. im whiggistischen Sinn wirkte, was sogar 1714 seinen Ausschluß aus dem Parlament herbeiführte. Als bald darauf mit der Thronbesteigung Georgs I. die Whigs ans Ruder traten, kam S. wieder zu Ehren und erhielt die Stelle eines Oberstallmeisters zu Hamptoncourt. Er starb 1. Sept. 1729. Seine Lustspiele erschienen 1761, seine Briefe 1787. Vgl. Montgomery, Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1865, 2 Bde.); Dobson, R. S. (das. Steen, Jan, holländ. Maler, geboren um 1626 zu Leiden, war Schüler N. Knupfers zu Utrecht und soll sich dann in Haarlem bei A. van Ostade, vielleicht auch nach Dirk Hals, gebildet haben. 1648 ließ er sich in die Malergilde zu Leiden aufnehmen, und 1649 verheiratete er sich im Haag, wo er bis 1653 thätig war. Von 1654 bis 1658 wohnte er wieder in Leiden, dann bis 1669 in Haarlem, und 1672 erhielt er in Leiden die Erlaubnis, eine Schenke zu halten. Er wurde daselbst 3. Febr. 1679 begraben. S. ist der geistreichste und humorvollste der holländischen Genremaler, der auch eine scharfe gesellschaftliche Satire nicht scheut. Er malte biblische Darstellungen in sittenbildlicher, bisweilen humoristischer Auffassung (Hauptwerke: Simson unter den Philistern, in Antwerpen; Verstoßung der Hagar und Hochzeit zu Kana, in Dresden), zumeist aber Szenen aus dem mittlern und niedern Bürgerstand, in welchen er die größte Feinheit und Mannigfaltigkeit der Charakteristik mit derbem, ausgelassenem, oft groteskem Humor zu verbinden weiß. Er liebt es, seinen figurenreichen Darstellungen oft eine moralische Tendenz unterzulegen oder durch sie ein Sprichwort oder eine allgemeine Wahrheit zu versinnlichen. Am besten ist er im Reichsmuseum zu Amsterdam vertreten, wo sich ein St. Niklasfest, der berühmte Papageienkäfig, die kranke Dame mit dem Arzt, eine Tanzstunde und eine Darstellung des Sprichworts "Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen" befinden. Von seinen übrigen Werken sind die hervorragendsten: die Menagerie und die Lebensalter (im Haag), die Unterzeichnung des Ehekontrakts (Braunschweig), das Bohnenfest (Kassel), der Streit beim Spiel und der Wirtshausgarten (Berlin) und die Hochzeit (St. Petersburg). In der koloristischen Durchführung seiner Bilder ist S. Steenbergen - Steffeck. Doch übertrifft er in seinen besten und sorgfältigsten Arbeiten alle Zeitgenossen an geistreicher, fein zusammengestimmter Färbung und meisterhafter Behandlung des Helldunkels. Vgl. T. van Westrheene, J. S. (Haag 1856). - Sein Sohn Dirk soll sich als Bildhauer bekannt gemacht haben. Steenbergen, Stadt in der niederländ. Provinz Nordbrabant, Bezirk Breda hat eine katholische und eine reform. Kirche, einen Hafen, starke Krapp-, auch Garancinfabrikation und (1887) 6790 Einw. S. war früher Festung. Steendysser, s. Gräber, prähistorische. Steenkerke (Steenkerque), Dorf in der belg. Provinz Hennegau, Arrondissement Soignies, an der Naasee (zur Senne), mit 860 Einw., historisch denkwürdig durch den Sieg der Franzosen unter dem Marschall von Luxemburg über Wilhelm III. von England 3. Aug. 1692. Steenstrup, Johann Japetus Smith, Zoolog und Prähistoriker, geb. 8. März 1813 zu Vang in Norwegen, war bis 1845 Lektor für Mineralogie in Sorö, dann Professor der Zoologie und Direktor des zoologischen Museums in Kopenhagen, privatisiert seit 1885. Von Bedeutung für die Tierkunde im allgemeinen sind seine Arbeiten über das Vorkommen des Hermaphroditismus in der Natur (Kopenh. 1846) und über den Generationswechsel (das. 1842). Außerdem arbeitete er über die Cephalopoden, über niedere Schmarotzerkrebse (mit Lütken, Kopenh. 1861) und über die Wanderung der Augen bei den Flundern (das. 1864). Lange Jahre widmete er sich auch der Untersuchung der Torfmoore und der Kjökkenmöddinger Dänemarks, bei denen er nicht nur die damalige Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch die Erzeugnisse früherer Kultur berücksichtigte. - Sein Sohn Johannes, geb. 5. Dez. 1844 in Sorö, seit 1877 Professor der nordischen Altertumskunde in Kopenhagen, machte sich als Historiker bekannt durch "Studien über Waldemars Erdebuch "(1873) und ein größeres Werk über die Normannen (1876-86, 4 Steenwijck (spr. -weik). 1) Hendrik der ältere, niederländ. Maler, geboren um 1550 zu Steenwijk im Kreis Overyssel, kam früh nach Antwerpen, wo er Schüler von Hans Fredeman de Vries wurde und 1577 in die Lukasgilde eintrat. Er siedelte aber bald nach Frankfurt a. M. über, wo er um 1603 starb. S. war Architekturmaler und hat vorzugsweise das Innere gotischer Kirchen und großer Säle in genauer, strenger Zeichnung, aber mit harter Farbe dargestellt. Bilder von ihm befinden sich in den Galerien von Wien, Petersburg, Stockholm, Kassel u. a. D. 2) Hendrik der jüngere, Sohn des vorigen, ebenfalls Architekturmaler, geboren um 1580 zu Frankfurt a. M., war später in Antwerpen und London thätig und starb nach 1649. Er hat Kircheninterieurs, große Hallen und Palasträume mit Staffage, aber auch die architektonischen Hintergründe zu Bildnissen andrer Künstler gemalt. Seine Bilder sind häufig (z. B. in Berlin, in der kaiserlichen Galerie zu Wien, im Louvre zu Paris, in der Eremitage zu St. Petersburg und in den Galerien zu Dresden und Kassel). Seine malerische Behandlung ist freier und breiter als die des Steenwijk (spr. -weik), Stadt in der niederländ. Provinz Overyssel, Bezirk Zwolle, an der Steenwijker Aa und der Bahnlinie Zwolle-Leeuwarden, Sitz eines Kantonalgerichts, mit mehreren Kirchen, Ackerbau, lebhafter Industrie und Handel und (1887) 5065 Einw. S. war früher Festung und ist namentlich bekannt durch die Belagerung von 1580 und die Einnahme durch die Spanier 1582. Nordwestlich davon der Flecken Steenwijkerwold, mit Ackerbau, Viehzucht, Torfstich, starker Besenbinderei und (1887) Steeple-chase (engl., spr. stihpl tsches', "Kirchturmrennen"), ein Wettrennen, bei welchem man früher einen Kirchturm oder einen ähnlichen hervorragenden Gegenstand zum Ziel setzte und dann querfeldein über Hecken und Zäune, durch Bäche und Flüsse hindurch auf denselben zujagte. Gegenwärtig versteht man in Deutschland unter S. ein Rennen mit Hindernissen, bei welchem die Reiter auf einer mit Flaggen abgesteckten Bahn in unebenem Terrain verschiedene feste, natürliche oder künstlich angelegte Hindernisse "nehmen" müssen, um das Ziel zu erreichen. Stefan, Joseph, Physiker, geb. 24. März 1835 zu St. Peter bei Klagenfurt in Kärnten, studierte seit 1853 zu Wien, habilitierte sich 1858 daselbst für mathematische Physik, wurde 1863 Professor der Physik an der Universität und 1866 Direktor des physikalischen Instituts. 1875-85 war er Sekretär der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1883 Präsident der internationalen wissenschaftlichen Kommission der elektrischen Ausstellung und 1885 Präsident der internationalen Stimmtonkonferenz. Er arbeitete über die Fortpflanzung des Schalles, über Polarisation, Interferenz und Doppelbrechung des Lichts, über Diffusion und Wärmeleitung der Gase, über die Abhängigkeit der Wärmestrahlung von der Temperatur, über die elektrodynamischen Erscheinungen und die Induktion. Steffani, Agostino, Abbate, ital. Komponist, geb. 1655 zu Castelfranco in Venetien, erhielt seine musikalische Ausbildung in Venedig und München (bei Ercole Bernabei), wurde 1675 in letzterer Stadt Organist, um 1681 Direktor der kurfürstlichen Kammermusik und erhielt 1688 infolge seiner Oper "Servio Tullio" die Kapellmeisterstelle am Hof zu Hannover, wo er die Musik zu hoher Blüte brachte. Seine italienischen Opern, welche dort im Garten zu Herrenhausen mit großem Glanz zur Aufführung kamen, wurden auch ins Deutsche übersetzt und in den Jahren 1690-1700 auf dem Operntheater zu Hamburg gegeben. Bedeutender aber als diese und seine kunstvollen Kirchenwerke sind seine zahlreichen Kammerduette zu italienischen Texten, welche die größte Kunst des Tonsatzes mit einer gesangreichen und ausdrucksvollen Melodie vereinigen und als Muster ihrer Gattung gelten. Später nahm mehr und mehr die Diplomatie sein Interesse in Anspruch. Nachdem er seine Kapellmeisterstelle 1710 an Händel, mit dem er befreundet war, abgetreten, wurde er vom Kurfürsten von der Pfalz zum Geheimrat, vom Papst zum Protonotar und Bischof von Spiza (in partibus) ernannt und widmete sich öffentlich nur noch staatswissenschaftlichen und geistlichen Geschäften, die ihn 1729 auch noch einmal nach Italien führten. Er starb auf der Reise 1730 in Frankfurt a. M. Von seinen wenigen im Druck erschienenen Kompositionen nennen wir: "Psalmodia vespertina" (für 8 Stimmen, 1674); "Sonate da camera a due violini, alto e continuo" (1679); "Duetti da camera a soprano e contralto" (1683) und "Janus quadrifons" (Motetten mit Basso continuo für 3 Stimmen, von denen jede beliebige weggelassen werden kann. Steffeck, Karl, Maler, geb. 4. April 1818 zu Berlin, kam 1837 in das Atelier von Franz Krüger, später in das von Karl Begas und ging 1839 nach Paris, wo er eine Zeitlang im Atelier von Delaroche arbeitete, besonders aber nach Horace Vernet Steffenhagen - Steg Von 1840 bis 1842 hielt er sich in Italien auf und malte nach seiner Rückkehr meist Jagd- und Tierstücke, schwang sich aber auch zu einem großen Geschichtsbild: Albrecht Achilles im Kampf mit den Nürnbergern um eine Standarte, auf (1848, in der Berliner Nationalgalerie), welches sowohl durch den Glanz des Kolorits als durch die meisterhafte Darstellung der Pferde ausgezeichnet war. In der Darstellung von Pferden in ruhiger Stellung oder dramatischer Bewegung, aber auch andrer Tiere bewegte sich fortan seine Hauptthätigkeit. Insbesondere bildete er das Sportsbild und das Pferdeporträt zu großer Virtuosität aus. Seine Hauptbilder dieser Gattung sind: Pferdeschwemme, zwei Wachtelhunde um einen Sonnenschirm streitend (1850, in der Berliner Nationalgalerie), der lauernde Fuchs, Arbeitspferde (1860), Halali (1862), Pferdekoppel (1870), Wochenvisite (1872), Wettrennen (1874), Zigeunerknabe durch einen Wald reitend, die Stute mit dem toten Füllen. Daneben hat S. auch zahlreiche Porträte, insbesondere Reiterbildnisse (Kaiser Wilhelm I., Kronprinz Friedrich Wilhelm und v. Manteussel), und einige Geschichtsbilder (König Wilhelm auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, im königlichen Schloß zu Berlin; Übergabe des Briefs Napoleons III. an König Wilhelm bei Sedan, im Zeughaus zu Berlin) gemalt. Seit dem Anfang der 50er Jahre entfaltete S. eine umfangreiche Lehrthätigkeit. 1880 wurde er als Direktor der Kunstakademie nach Königsberg berufen. Er hat auch lithographiert und radiert. Steffenhagen, Emil Julius Hugo, Rechts- und Literarhistoriker, geb. 23. Aug. 1838 zu Goldap in Ostpreußen, studierte zu Königsberg die Rechte, wandte sich aber bald vorzugsweise litterarwissenschaftlichen Studien zu und habilitierte sich 1865 in der juristischen Fakultät als Privatdozent. 1867 ging er nach Athen, um die dortige Nationalbibliothek im Auftrag der Athener Universität neu zu ordnen, folgte 1870 einem Ruf als Stadtbibliothekar nach Danzig, erhielt 1871 eine Kustodenstelle an der Königsberger Bibliothek, wurde 1872 als Bibliotheksekretär nach Göttingen versetzt und übernahm 1875 die Leitung der Universitätsbibliothek in Kiel. 1884 wurde er zum Oberbibliothekar ernannt. Schon als Student veröffentlichte er aus Königsberger Handschriften "Beiträge zu v. Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter" (Königsb. 1859, 2. Ausg. 1861) und den von ihm entdeckten Originaltext von Johannes Faxiolus "De summaria cognitione" im "Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts" (Bd. 3, 1859), welchen Arbeiten er 1861 den Katalog der juristischen, 1867 und 1872 den der historischen sowie in Haupts "Zeitschrift für deutsches Altertum" (Bd. 13, 1867) die Beschreibung der altdeutschen Handschriften der Königsberger Bibliotheken folgen ließ. Außer Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften schrieb er noch: "De inedito juris germanici monumento" (Königsb. 1863); "Die neun Bücher Magdeburger Rechts" (das. 1865); "Deutsche Rechtsquellen in Preußen" (Leipz. 1875). 1877 übertrug ihm die Wiener Akademie der Wissenschaften die kritische Bearbeitung der Sachsenspiegelglosse. Als Vorarbeit dazu erschien von ihm in den Sitzungsberichten der Akademie "Die Entwickelung der Landrechtsglosse des Sachsenspiegels" (Wien 1881-87, 9 Hefte). An bibliothekwissenschaftlichen Schriften gab er heraus: "Die neue Aufstellung der Universitätsbibliothek zu Kiel" (Kiel 1883); "Die Klosterbibliothek zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek" (mit A. Wetzel, das. 1884); "Über Normalhöhen für Büchergeschosse" (das. 1885); "Verzeichnis der laufenden periodischen Schriften der Universitätsbibliothek Kiel" (das. 1887); "Die Ordnungsprinzipien der Universitätsbibliothek Kiel" (Burg 1888). Steffens, Henrich, Philosoph, Naturforscher und Dichter, geb. 2. Mai 1773 zu Stavanger in Norwegen, widmete sich seit 1790 zu Kopenhagen naturwissenschaftlichen Studien, bereiste dann Norwegen, eröffnete 1796 zu Kiel naturwissenschaftliche Vorlesungen, wandte sich aber schon im folgenden Jahr nach Jena, wo er ein Anhänger von Schillings Naturphilosophie wurde. 1800 ging er nach Freiberg, wo er Werners Gunst gewann und "Geognostische geologische Aufsätze" (Hamb. 1810) ausarbeitete, die er später in seinem "Handbuch der Oryktognosie" (Berl. 1811-24, 4 Bde.) weiter ausführte. Nach seiner Rückkehr nach Dänemark 1802 hielt er Vorlesungen an der Kopenhagener Universität, ging aber 1804 als Professor nach Halle, wo er die "Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft" (Berl. 1806) herausgab, und 1811 nach Breslau. 1813 trat er in die Reihen der Freiwilligen ein und machte die Freiheitskriege bis zur ersten Einnahme von Paris mit. Nach dem Frieden kehrte er zu seinem akademischen Lehrerberuf nach Breslau zurück, folgte 1831 einem Ruf an die Universität zu Berlin und starb hier 13. Febr. 1845. S. war einer der Hauptvertreter der spekulativen Richtung der Naturforschung, beteiligte sich aber auch lebhaft an andern Fragen der Zeit, wie er z. B. in Breslau in der sogen. "Turnfehde" mit seinen "Karikaturen" (s. unten) und dem "Turnziel" (Bresl. 1818) entschieden gegen die Turnsache Partei nahm und später eifrig die Sache der Altlutheraner verfocht (vgl. seine Schrift "Wie ich wieder Lutheraner wurde", das. 1831). Von seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten ist noch die "Anthropologie" (Bresl. 1824, 2 Bde.) hervorzuheben, Zeitfragen hat er in religiös und politisch mehr als konservativem Geist unter anderm in den Schriften: "Karikaturen des Heiligsten" (Leipz. 1819-21, 2 Bde.), "Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben" (Bresl. 1824, neue Aufl. 1831) behandelt, neben welchen die "Christliche Religionsphilosophie" (das. 1839, 2 Bde.) zu erwähnen ist. Von seinen dichterischen Arbeiten (gesammelt als "Novellen", Bresl. 1837-38, 16 Bde.) sind besonders "Die Familien Walseth und Leith" (1827, 5 Bde.), "Die vier Norweger" (1828, 6 Bde.) und "Malkolm" (1831, 2 Bde.), Werke, die sich namentlich durch meisterhafte Naturschilderungen aus seiner nordischen Heimat auszeichnen, hervorzuheben. Eine Selbstbiographie schrieb er unter dem Titel: "Was ich erlebte" (Bresl. 1840-45, 10 Bde.). Nach seinem Tod erschienen "Nachgelassene Schriften" (Berl. 1846). Vgl. Tietzen, Zur Erinnerung an S. (Leipz. 1871); Petersen, Henrik S. (deutsch von Michelsen, Gotha 1884). Steg, bei den Streichinstrumenten das zierlich ausgeschnittene, aus festerm Holz gefertigte Holztäfelchen, das zwischen den beiden Schalllöchern auf der Oberplatte aufgestellt ist, und über das die Saiten gespannt sind. Der S. steht mit seinen beiden Füßen fest auf der Oberplatte auf; genau unter dem einen Fuß ist zwischen Ober- und Unterplatte der Stimmstock (die Seele) eingeschoben, welcher ein Nachgeben der Oberplatte verhindert und dem S. eine einseitige feste Stütze gibt, die dem andern Fuß, sobald eine Saite schwingt, eine kräftige stoßweise Übertragung der Schwingungen auf die Oberplatte ermöglicht. Beim Klavier heißt S. die parallel mit dem Anhängestock laufende lange Leiste, die auf dem Re- Steganographie - Steiermark. sonanzboden aufliegt, und über welche die Saiten gespannt sind. - An der ionischen Säule heißt S. der schmale Streifen zwischen den Kannelüren. Steganographie (griech.), Geheimschrift. Steganopodes, s. v. w. Ruderfüßer, s. Schwimmvögel. Stege, Hauptstadt der dän. Insel Möen (s. Steglitz, Dors im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Teltow, an der Linie Berlin-Magdeburg der Preußischen Staatsbahn und an der Dampfstraßenbahn S.-Schöneberg, hat eine schöne gotische evang. Kirche, ein Progymnasium, eine Blindenanstalt, ein Feierabendhaus für Lehrerinnen, ein Denkmal des Prinzen Friedrich Karl (auf der Maihöhe), bedeutende Gärtnerei, Seidenraupenzucht, Musterlandwirtschaft und (1885) 8501 meist evang. Einwohner. Stegreif, s. v. w. Steigbügel; Stegreifritter, Raubritter. Aus dem S., eigentlich: ohne abzusteigen, dann s. v. w. ohne Vorbereitung; daher Stegreifdichtung, s. v. w. Improvisation Stegreifkomödie, s. Commedia dell' arte. Stehbolzen, Bolzen, gegen deren Ansätze plattenförmige Körper gepreßt werden können, so daß letztere durch die Bolzen in bestimmter Entfernung voneinander festgehalten werden. Stehendes Gut, s. Takelung. Stehkolben (Kochflaschen), s. Kolben. Stehlsucht (Kleptomanie), s. Geisteskrankheiten, S. Steichele, Anton, Erzbischof von München-Freising, geb. 22. Jan. 1816 zu Wertingen in Schwaben, studierte in München katholische Theologie, ward 1838 Kaplan, 1841 Domvikar in Augsburg, 1844 geistlicher Rat u. Sekretär des Bischofs von Augsburg, Peter v. Richarz, 1847 Domkapitular und 1873 Dompropst. In fast klösterlicher Zurückgezogenheit lebend, widmete sich S. ganz der Wissenschaft, namentlich der Kirchengeschichte; für seine Verdienste um diese verlieh ihm die theologische Fakultät in München 1870 die Doktorwürde. Seine hauptsächlichsten Werke sind: "Friedrich, Graf von Zollern, Bischof von Augsburg, und Johann Geiler von Kaisersberg. Mit Briefen" (Augsb.1854); "Bischof Peter v. Richarz" (das. 1856); "Das Bistum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben" (das. 1861-87, Bd. 1-5). Durch seine Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und Milde für eine hohe kirchliche Würde besonders geeignet, ward er 1878 vom König nach dem Tod Scherrs zum Erzbischof von München-Freising ernannt. Steier, Stadt, s. Steyr. Steierdorf (ungar. Steierlak), Markt im ungar. Komitat Krasso Szöreny, an der Flügelbahn Jassenova-S., mit berühmtem Kohlen- und Eisensteinbergbau der Österreich.-Ungarischen Staatsbahn und (1881) 9239 deutschen Einwohnern. In der Nähe das Eisenwerk Anina und der Bergwerksort Oravicza (s. d.). Steiermark (hierzu Karte "Steiermark"), österreich. Herzogtum, grenzt nördlich an Ober- und Niederösterreich, östlich an Ungarn, westlich an Salzburg und Kärnten, südlich an Krain und Kroatien und umfaßt 22,355 qkm (405,99 QM.). Die Bodenbeschaffenheit veranlaßt eine natürliche Einteilung des Landes in das Hochgebirgsland von Obersteiermark, das fruchtbare Hügelland von Mittelsteiermark und das von Slowenen bewohnte Bergland von Untersteiermark. Das Land nimmt an allen Ketten der Ostalpen Anteil: am nördlichen Gebirgszug durch die zu den Salzkammergutalpen gehörigen Massivs des Dachsteins (2996 m), des Kammergebirges, des Totengebirges, des Grimming (2346 m), des Pyrgas (2244 m) und des Buchsteins (2224 m), alle nördlich von der Enns gelegen. Südlich von dieser erheben sich zwischen Enns und Mur die eigentlichen Steirischen Alpen, im westlichen Teil auch Niedere Tauern genannt, mit dem Hochgolling (2863 m), im östlichen Teil als Seckauer Alpen, welche noch weiter östlich in die Steirisch-Österreichischen Alpen übergehen, mit den Gruppen des Hochthor (2372 m), Hochschwab (2278 m) und Hochveitsch (1982 m), woran sich endlich der Semmeringberg und -Paß anschließen. Das Gebiet der S. zwischen der Mur und Drau wird von den Kärntnerisch-Steirischen Alpen erfüllt mit dem Eisenhut (2441 m) im äußersten Südwesten und dem Zirbitzkogel (2397 m), südlich von Judenburg. Zwischen Lavant und Mur befinden sich die Stainzer Alpen mit der Koralpe (2141 m), deren östliche Fortsetzung, der Posruck und die weinreichen Windischen Bühel, sich zwischen Mur und Drau herabsenkt. Östlich von der Mur erheben sich die Fischbacher Alpen, welche nördlich mit dem Wechsel (1738 m) dem Semmering gegenübertreten, den Schöckel bei Graz (1446 m) einschließen und nach O. gegen die Raab hin in das Steirische Hügelland übergehen. Das Land in S. zwischen Drau und Save endlich gehört den Karawanken und Steiner Alpen (Grintouz 2559 m, Oistriza 2350 m) mit deren östlichen Fortsetzungen, dem Bachergebirge (1542 m), dem Bergland von Cilli und dem Matzelgebirge an der kroatischen Grenze, an. Größere Ebenen sind: das Grazer, Leibnitzer und Pettauer Feld. Die wichtigsten Flüsse sind: die Drau, welcher die Mur (mit der Mürz) zufließt, und die Save (mit dem Sann und der Sotla). Minder wichtig, weil nicht schiffbar, sind: die Enns (mit der Salza), die Raab (mit der Feistritz und Lasnitz) und die Traun, die aus den Abflüssen der Seen des steirischen Salzkammerguts, des Grundelsees, Altausseer Sees und Ödensees, entsteht. Außer diesen gibt es in S. nur kleine Gebirgsseen, z. B. den Leopoldsteiner See bei Eisenerz, den Erlassee an der österreichischen Grenze. Das Klima ist nach der Bodenbeschaffenheit verschieden, rauher im Hochgebirge (Aussee +6° C.), günstiger im fruchtreichen Flachland (Cilli fast +10° C.). Unter den zahlreich vorkommenden Mineralquellen sind die Säuerlinge von Rohitsch und Gleichenberg, die Saline zu Aussee, die indifferenten Thermen von Tüffer, Römerbad, Neuhaus und Tobelbad sowie die Eisenquelle zu Einöd hervorzuheben. Andre Kurorte sind: St. Radegund und Frohnleiten mit Kaltwasserheilanstalten. S. zählte Ende 1869: 1,137,990, Ende 1880: 1,213,597 Einw., so daß sich die Bevölkerung im Durchschnitt jährlich um 0,58 Proz. vermehrte und auf 1 qkm 54 Einw. kommen. Ende 1887 wurde sie auf 1,261,006 Seelen berechnet. Der Nationalität nach sind 67 Proz. Deutsche und 33 Proz. Slowenen (die Sprachgrenze läuft südlich von Eibiswald nach Spielfeld an der Mur, dann längs derselben; außerdem finden sich deutsche Sprachinseln im slowenischen Gebiet), der Religion nach größtenteils Katholiken (nur 9221 Protestanten und 1782 Israeliten). Die produktive Bodenfläche beträgt im ganzen 93 Proz.; von derselben kommen auf Ackerland 20,26 Proz., auf Weinland 1,63, auf Wiesen 12,78, auf Weiden und Alpen 12,62, auf Wald 51,48 Proz., so daß unter allen Kronländern Österreichs S. verhältnismäßig das waldreichste ist. Die fruchtbarsten Teile des Herzogtums sind die Thäler, besonders das Mur- und das Mürzthal, und mit geringen Ausnahmen die Ebenen. Hauptprodukte sind: Hafer (durchschnittlich 1,450,000 hl), Mais (1,220,000 hl), Roggen Steiermark (geographisch - statistisch). (1,000,000 hl) und Weizen (815,000 hl); ferner Buchweizen (600,000 hl), Hirse, Kartoffeln (1,640,000 hl), Futterrüben (3,150,000 metr. Ztr.), Kraut, Kürbisse, Klee, Heu; endlich von Handelspflanzen Flachs (30,000 metr. Ztr.), Hanf, Hopfen und Weberkarden. Die Obstkultur ist noch sehr vernachlässigt, gutes Obst (Äpfel und Pfirsiche) kommt hauptsächlich nur in der Gegend von Marburg vor. Die Weinkultur erstreckt sich von Mittelsteiermark über das ganze Unterland (Zentralpunkte: Luttenberg, Radkersburg, Gonobitz) und liefert gute Sorten (durchschnittlich 375,000 hl). Von großer Bedeutung ist die Viehzucht. In ausgedehnterm Maß wird die Pferdezucht nur in einzelnen Hauptthälern, so im Ennsthal, betrieben, wo das schwere norische Pferd zu Hause ist. Von Rinderrassen sind das Pusterwalder und Mürzthaler Vieh in Obersteiermark, die Mariahofer Rasse im mittlern und südlichen S. vertreten. Auf niedriger Stufe steht die Schafzucht, wogegen Schweine sehr stark gezüchtet werden. Geflügel kommt namentlich in den slowenischen Teilen sehr häufig vor. Auch mit Seidenraupen werden seit längerer Zeit Versuche gemacht. Nach der Zählung von Ende 1880 betrug der Viehstand in S.: 61,338 Pferde, 663,173 Stück Rindvieh, 188,273 Schafe, 43,821 Ziegen und 532,721 Schweine. Die Flüsse und Seen sind reich an trefflichen Fischarten (Forellen, Saiblingen). Auf den Hochgebirgen trifft man noch Gemsen; außerdem ist die Jagd von geringem Den größten Reichtum besitzt S. in seinen nutzbaren Mineralien. 1887 waren 84 Bergbau- und 19 Hüttenunternehmungen mit zusammen 12,719 Arbeitern im Betrieb; die Produktion ergab einen Wert von 11,24 Mill. Gulden. Am wichtigsten ist die Produktion von Roheisen, welche durch die ausgezeichnete Qualität des Produkts Weltruf erlangt hat, quantitativ aber in den letzten Jahren (wegen der durch die Konkurrenz andrer Produktionsländer gedrückten Preise) erheblich eingeschränkt worden ist. Es waren 1887 nur 8 Eisenerzbergbaue im Betrieb, vor allen an dem berühmten Erzberg bei Eisenerz (Produktion 3,7 Mill. metr. Ztr. Erz). Roheisen wurde von 16 Werken mit 22 Hochöfen in einer Menge von 1,104,600 metr. Ztr. produziert. Die größten Hüttenwerke sind zu Hieflau und Eisenerz, Vordernberg, Trofaiach, Neuberg und Zeltweg. Zunächst an Bedeutung steht der Braunkohlenbergbau im Köflacher, Leoben-Fohnsdorfer und Trifailer Becken (55 Unternehmungen, 19 Mill. metr. Ztr. Kohlenförderung). Andre Bergbau-, resp. Hüttenprodukte sind: Graphit (25,500 metr. Ztr.), Zink (12,900 metr. Ztr.), in geringer Menge Silber, Blei und Glätte, Manganerz und Schwefelkies; ferner Salz zu Aussee (181,832 metr. Ztr.). Die industrielle Thätigkeit des Landes besteht hauptsächlich in der Verarbeitung des Roheisens. Es bestehen in Ober- und Mittelsteiermark zahlreiche, zum Teil ausgedehnte Eisenguß- und Raffinierwerke, welche Schienen, Wagenachsen, Ackergerät, Sägen, Bleche, Draht, Guß- und Zementstahl etc. verfertigen. Sehr bedeutend sind ferner: die Sensenindustrie (jährlich 3,7 Mill. Stück Sensen, Sicheln etc.), die Erzeugung von Schmiedewaren, dann die Maschinenindustrie (zu Graz). Außerdem bestehen Fabriken für Zement, Glas (18), Papier, chemische Produkte (zu Hrastnigg), Kerzen und Seifen, Tuch und Filz, Zündwaren, Schieß- und Sprengpulver, Zuckerraffinerien, Kaffeesurrogatfabriken, Bierbrauereien (600,000 hl), Branntweinbrennereien, Schaumweinfabriken, Tabaksfabriken, Baumwollspinnereien, Dampfsägen etc. Als Förderungsmittel des Handels dienen vor allen die Eisenbahnen, die Ende 1887 in einer Länge von 1046 km im Betrieb waren. Die Hauptverkehrsader ist die Linie Wien-Triest der Südbahn, an welche sich deren Seitenlinien, ferner die Staatsbahnlinie Kleinreifling-St. Michael-Villach, die Graz-Köflacher Eisenbahn und die Ungarische Westbahn anschließen. Andre Kommunikationsmittel sind neben den Landstraßen die Schiffahrtslinien der Drau, Mur und Save (zusammen 579 km). Für die geistige Kultur sorgen: die Universität und die technische Hochschule zu Graz, die Bergakademie zu Leoben, 2 theologische Lehranstalten; an Mittelschulen 5 Obergymnasien, ein Untergymnasium, 2 Oberrealschulen, eine Unterrealschule, 2 Lehrerbildungsanstalten, eine solche Anstalt für Lehrerinnen, ein Mädchenlyceum, 7 Handelslehranstalten, eine Staatsgewerbeschule, 2 gewerbliche Fach- und 31 Fortbildungsschulen, eine Zeichenakademie, eine Ackerbauschule, 4 andre Schulen für Land- und Forstwirtschaft, eine Berg- und Hüttenschule, 768 öffentliche Bürger- und Volksschulen (mit 2883 Lehrpersonen und 150,435 schulbesuchenden Kindern). In kirchlicher Beziehung hat das Land 2 katholische Bistümer (Seckau und Lavant, mit dem Sitz in Graz und Marburg). An der Spitze der Landesverwaltung steht die Statthalterei zu Graz, der Hauptstadt von S. Andre Behörden für S. sind: das 3. Korpskommando, ein Landwehrkommando, eine Postdirektion, ein Oberlandesgericht (für S., Kärnten und Krain), eine Finanzlandesdirektion etc. Der Landtag besteht aus 63 Mitgliedern und zwar den beiden Fürstbischöfen, dem Universitätsrektor, 12 Abgeordneten des Großgrundbesitzes, 19 Abgeordneten der Städte, Märkte und Industrieorte, 6 Abgeordneten der beiden Handels- und Gewerbekammern (Graz und Leoben) und 23 Vertretern der Landgemeinden. Außerdem sind in den politischen Bezirken eigne Bezirksvertretungen thätig. In den Reichsrat entsendet S. 23 Abgeordnete. Das Wappen von S. s. auf Tafel "Österreichisch-Ungarische Länderwappen". Die politische Einteilung des Landes ist aus folgender Tabelle zu ersehen: Bezirke Areal in QKilom. in Qmeilen Bevölkerung 1880 Bruck 2209 40,12 60101 Cilli 2002 36,36 124133 Cilli (Stadt) 2 0,04 5393 Feldbach 984 17,87 81770 Graz 1779 32,31 113328 Graz (Stadt) 22 0,40 97791 Gröbming 1914 34,76 28250 Hartberg 976 17,73 52542 Judenburg 1636 29,71 49544 Deutsch -Landsberg 794 14,42 49487 Leibnitz 730 13,26 64089 Leoben 1086 19,72 41492 Lietzen 1398 25,39 23738 Luttenberg 316 5,74 25615 Marburg 1176 21,35 85057 Marburg (Stadt) 9 0,16 17628 Murau 1388 25,21 27185 Pettau 992 18,01 81328 Radkersburg 457 8,30 38082 Rann 592 10,75 46695 Weiz 1076 19,54 59223 Windischgraz 817 14,84 41126 Zusammen: 22355 405,96 1213597 Vgl. Göth, Das Herzogtum S. (Wien 1840-43, 2 Bde.); Hlubek, Ein treues Bild des Herzogtums S. (das. 1860); Stur, Geologie der S. (das. 1871, mit Karte); Janisch, Topographisch-statistisches Steiermark - Steifensand. Lexikon von S. (das. 1875-85, 3 Bde.); Frischauf, Gebirgsführer durch S. (das. 1874); Rosegger, Das Volksleben in S. (6. Aufl., Wien 1888); Jauker, Das Herzogtum S. (das. 1880); "Spezial-Ortsrepertorium von S.", herausgegeben von der statistischen Zentralkommission (das. 1883); Schlossar, Kultur- und Sittenbilder aus S. (Graz 1885); Derselbe, Die Litteratur der S. (das. 1886); Krauß, Die nordöstliche S. (das. 1888). Unter der Herrschaft der Römer, während welcher die Kelten, darunter als Hauptstamm die Taurisker, das Land bewohnten, gehörte der östliche Teil Steiermarks zu Pannonien, der westliche zu Noricum. Während der Völkerwanderung besetzten oder durchzogen Westgoten, Hunnen, Ostgoten, Rugier, Langobarden, Franken und Avaren nacheinander das Land. Seit 595 nahmen Slawen (Winden, weshalb früher die Gegend die windische Mark hieß) erst den untern Teil, nach Besiegung der Avaren auch den obern Teil desselben in Besitz. Als ein Teil dieses karentanischen Slawengebiets kam das Murland unter bayrische Botmäßigkeit, dann unter karolingisch-fränkische Herrschaft. Das Christentum verbreitete sich allmählich in diesen Gegenden von Salzburg aus, das zum Metropolitansitz erhoben wurde und seinen Sprengel auch über das spätere S. ausdehnte. Unter Karls Nachfolgern hatte es durch feindliche Einfälle, namentlich der Magyaren, sehr zu leiden. Den beträchtlichsten Teil, gegen Westen und Norden, hatten die Markgrafen von Karentanien (s. Kärnten), den Landstrich am linken Ennsufer die Herzöge von Bayern inne. Im 11. Jahrh. ward eine besondere Mark "Kärnten" vom Herzogtum Kärnten abgezweigt und 1056 dem Grafen Ottokar von Steyr im Traungau, einem Verwandten des Lambachschen Geschlechts, verliehen. Seitdem ward der Name S. statt des frühern "Kärntner Mark" üblich. Markgraf Ottokar VI. (VIII.), welcher von Kaiser Friedrich I. die herzogliche Würde erhielt, schloß, da er ohne männliche Erben war, 1186 mit dem Herzog Leopold V. von Österreich einen Erbfolgevertrag, zufolge dessen der letztere nach Ottokars Tod 1192 das Herzogtum S. mit seinen Ländern vereinigte. Leopolds V. Söhne Friedrich und Leopold VI. teilten sich 1194 in die Herrschaft von Österreich und S., doch kam schon 1198 mit Friedrichs Tod beides wieder in Leopolds Hand. Diesem folgte 1230 Friedrich der Streitbare. Da er sehr willkürlich regierte, führten die Steiermärker Klage bei dem Kaiser Friedrich II. und erhielten von demselben ihre in Ottokars Testament erhaltenen Freiheiten von neuem bestätigt. Dieser Freiheitsbrief und Ottokars Testament gaben der steirischen Landhandfeste ihr Entstehen. Nach dem Tode des letzten Babenbergers, Friedrichs des Streitbaren (1246), folgte das für S. so verderbliche Zwischenreich, in welchem das Herzogtum, obgleich eine Partei der Stände Heinrich von Bayern 1253 zum Herzog wählte, 1254 unter Vermittelung des Papstes zwischen den Königen Ottokar II. von Böhmen und Bela IV. von Ungarn geteilt wurde. Ottokar II. besiegte die Ungarn 1260 auf dem Marchfeld und ward 1262 vom deutschen König Richard mit Österreich und S. belehnt, aber 1276 vom König Rudolf von Habsburg dieser Lehen verlustig erklärt, worauf letzterer seinen ältesten Sohn, Albrecht I., als Statthalter 1282 gemeinsam mit dem jüngern Bruder, Rudolf, 1283 allein als erblichen Landesherrn mit S. belehnte. Fortan blieb das Herzogtum im Besitz des Hauses Habsburg. Bei der nach Rudolfs IV. Tod 1365 zwischen dessen Brüdern Albrecht III. und Leopold III. vorgenommenen Teilung fiel S. mit Kärnten, Tirol etc. an den letztern. Als dessen Söhne 1406 wiederum teilten, ward S. Ernst dem Eisernen zugesprochen. Sein ältester Sohn und Nachfolger (seit 1424) war der nachmalige Kaiser Friedrich III., der wiederum alle habsburgischen Lande vereinigte. Als 1456 die gefürsteten Grafen von Cilli ausstarben, erwarb Friedrich auf Grund früherer Verträge deren Besitzungen. Die Lehren der deutschen Reformatoren fanden schon seit 1530 in S. Eingang, und 1547 beanspruchte der Landeshauptmann Freiherr Johann Ungnad auf dem Reichstag zu Augsburg freie Religionsübung; doch konnte dieselbe erst auf den Landtagen zu Bruck 1575 und 1578 dem Herzog Karl II., dem jüngsten Sohn Kaiser Ferdinands I., welchem bei der Länderteilung 1564 S., Kärnten und Krain zu teil geworden waren, abgenötigt werden. Um die Verbreitung der neuen Lehre zu hemmen, rief Herzog Karl 1570 die Jesuiten zu Hilfe und stiftete 1586 die hohe Schule zu Graz. Sein Sohn Ferdinand II., der 1596 die Regierung übernahm, erklärte den Freiheitsbrief seines Vaters Karl II. für aufgehoben und wies 1598 die protestantischen Lehrer und Prediger aus dem Land. Eine hierauf eingesetzte katholische Gegenreformationskommission befahl allen protestantischen Bürgern, entweder zur katholischen Religion überzutreten, oder auszuwandern. Viele Protestanten schwuren damals ihr Bekenntnis ab; eine bedeutende Zahl aber, meist den reichsten und angesehensten Familien angehörig, verließ die Heimat, und nur in den unzugänglichen Bergen des obern S. erhielt sich im stillen in einzelnen Bauernfamilien der evangelische Glaube, weshalb sich dort, nachdem Joseph II. 1781 Glaubensfreiheit proklamiert hatte, einige protestantische Gemeinden konstituierten. Ferdinand II. erbte 1619 auch die übrigen österreichischen Lande, und S. blieb seitdem ein Teil derselben. Seit Karl VI. (1728) nahm kein Landesfürst mehr die Huldigung an, und seit 1730 bestätigte keiner die Landhandfeste mehr. Fortan teilte S. die Schicksale der österreichischen Monarchie und blieb auch während der Napoleonischen Kriege den Habsburgern erhalten. Seit dem Wiedererwachen politischen Lebens in Österreich 1860 zeigte sich der Landtag von S. verfassungstreu und freisinnig, erhob 1865 seine Stimme gegen die Sistierung der Verfassung und forderte 20. Okt. 1869 die Aufhebung des Konkordats. Das agitatorische Auftreten der Slawen in S., das seit 1880 von der Regierung begünstigt wurde, bewirkte nun, daß das Deutschtum sich um so kräftiger regte und die deutsch-nationale Partei in S. eine Hauptstütze hatte. Vgl. A. J. Cäsar, Staats- und Kirchengeschichte Steiermarks (Graz 1785-87, 7 Bde.); v. Muchar, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1844-67, 8 Bde., reicht bis 1566); Gebler, Geschichte des Herzogtums S. (das. 1862); Reichel, Abriß der steirischen Landesgeschichte (2. Aufl., das. 1884); "Mitteilungen des Historischen Vereins für S." (das. seit 1850); "Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen" (das. 1864 ff.); Zahn, Urkundenbuch des Herzogtums S. (das. 1875-79, 2 Bde.). Steifensand, Xaver, Kupferstecher, geb. 1809 zu Kaster (Regierungsbezirk Köln), bezog 1832 die Kunstakademie in Düsseldorf und bildete sich, nachdem er den Stich der heil. Katharina nach Raffael von Desnoyers in Linienmanier kopiert hatte, unter Felsing in Darmstadt weiter aus. Nach seiner Rückkehr nach Düsseldorf war sein erstes größeres Werk (1844) der Stahlstich: das Gewitter, nach Jakob Becker für Steigbügel - Stein. Rheinischen Kunstverein, worauf eine Madonna mit dem schlafenden Kind, nach Overbeck (1846), Friedrich II. mit seinem Kanzler Peter de Vineis, nach Jul. Schrader (1847, Stahlstich), die Gefangennehmung des Papstes Paschalis II. durch Heinrich V., nach Lessing, und einige Porträte folgten. In den 50er Jahren entstanden: Mirjam, nach Köhler; der Christusknabe, nach Deger; die Christnacht, nach Mintrop, u. a. m. Nach Vollendung des Stichs der Regina coeli, nach Karl Müller, begann er sein größtes Werk, die Anbetung der Könige, nach Paul Veronese (in Dresden), das, erst 1873 vollendet, ihm mehrere Auszeichnungen eintrug. Er starb 6. Jan. 1876. Steigbügel, metallener Halbring mit Platte (Sohle) unter demselben, der an den Steigriemen, Strippen von starkem Leder, zu beiden Seiten des Sattels herabhängt und zum Einsetzen des Fußes beim Reiten dient. Bei den Türken und mehreren asiatischen Völkern ist die Sohle so groß, daß die ganze Fußsohle darauf ruhen kann, und ersetzt mit ihren scharfen Ecken die Sporen. Die Alten kannten die S. nicht, die erst zur Zeit Ottos I. aufgekommen zu sein scheinen. - Auch heißt S. (stapes) eins der drei Gehörknöchelchen (s. Ohr, S. 349). Steigentesch, August Ernst, Freiherr von, Dichter und Schriftsteller, geb. 12. Jan. 1774 zu Hildesheim als Sohn eines kurmainzischen Kabinettsministers, trat frühzeitig in österreichische Militärdienste und war eifrig als Soldat und Diplomat, auch an der Seite des Generals Fürsten Schwarzenberg, gegen Napoleon I. thätig. Er avancierte bis zum Generalmajor und war bis 1820 österreichischer Militärbevollmächtigter am Bundestag. Er starb 30. Dez. 1826 in Wien. Außer zahlreichen Lustspielen, in denen er die kleinen Schwächen und Thorheiten der Menschen mit großer Wahrheit schilderte, und die sich lange auf der Bühne erhielten, veröffentlichte er auch Gedichte (4. Aufl., Darmst. 1823) und eine Reihe von Erzählungen. Seine "Gesammelten Schriften" erschienen in 6 Bänden (Darmst. 1820). Steiger, s. Bergleute. Steigerschulen, s. Bergschulen. Steigerung, in der Grammatik, s. Komparation. Steigerwald, ein auf der fränk. Terrasse ziemlich isoliert liegendes, nach W. sehr steil, nach O. ganz allmählich abfallendes, mit reichen Nadelholzwaldungen bedecktes Gebirge auf der Grenze zwischen den bayrischen Regierungsbezirken Ober-, Mittel- und Unterfranken, in dem westlich von Bamberg befindlichen Mainwinkel zwischen Eltmann, Kitzingen und Uffenheim gelegen, bedeckt 440 qkm (8 QM.), erhebt sich in seinen höchsten Spitzen, dem Frankenberg und Hohenlandsberg (nördlich von Uffenheim), bis zu 512 und 505 m und gibt den Flüssen Aurach und Ebrach den Ursprung. Auf der Westseite bildet der Schwan- oder Schwabenberg (473 m) einen vorgeschobenen Steigkunst, s. Fahrkunst. Steigrad (Hemmungsrad), eine Art Sperrrad, welches in regelmäßigen, durch die Pendelschwingungen bedingten Zeiträumen arretiert wird. Steigriemenlaufen, s. Spießrutenlaufen. Steigrohr, ein Rohr, in welchem eine Flüssigkeit durch Druck emporgetrieben wird. Stein, im gewöhnlichen Leben jedes feste anorganische Naturprodukt, welches aber ein Mineral oder ein Gestein sein kann; in der Metallurgie s. v. w. Lech. Stein (Konkrement), in der Medizin Ablagerungen, bestehend aus anorganischen Massen, namentlich Kalksalzen der Oxal- und Harnsäure und Cholesterin, welche sich in Hohlräumen oder Flüssigkeit führenden Kanälen unter krankhaften Verhältnissen bilden. Sie kommen vor in der Harnblase, in der Gallenblase, in den Gallengängen, im Darm (Darm- oder Kotsteine), in der Harnröhre, in der Vorsteherdrüse, in den Nieren, den Bronchien, in den Speichelgängen u. a. O. Sie entstehen entweder infolge von Katarrhen der betreffenden Schleimhäute, oder infolge einer Veränderung der Absonderung, oder als Niederschläge um von außen eingedrungene Fremdkörper herum. Sie sind bisweilen sehr klein, in der Harnblase des Menschen kommen aber Steine bis zu 500 g und darüber vor, im Darm von Pferden Kotsteine bis zu 5 kg. Sie finden sich einzeln oder zu mehreren, in der menschlichen Gallenblase bis zu 300; im letztern Fall schleifen sie sich gegenseitig ab und gehen aus der meist rundlichen Form in polygonale, facettierte Körper über. Sie hemmen die Zirkulation der Sekrete und bedingen Katarrhe und Verschwärungen, die meist unter den lebhaftesten Schmerzen in sogen. Koliken verlaufen. Werden sie nicht aufgelöst oder ausgestoßen, so werden sie nicht selten die Quelle lebensgefährlicher Störungen und Veranlassung zu eingreifenden Operationen. Stein, Gewicht für Wolle, Flachs etc. in Preußen, Sachsen, Österreich früher = 0,2 Ztr.; in England (stone) à 14 Pfd. Avoirdupois = 6,350 kg; in den Niederlanden früher = 3 kg; in Schweden = 13,602 kg. Stein, 1) (S. am Rhein) Landstädtchen in einer Parzelle des schweizer. Kantons Schaffhausen, am Ausfluß des Rheins aus dem Untersee (Bodensee) und an der Bahnlinie Singen-Winterthur, mit (1880) 1364 Einw. Das ehemalige Kloster St. Georg mit gotischem Kreuzgang und einem durch Holzschnitzerei reichverzierten Saal ist jetzt im Privatbesitz. Dabei das Schloß Hohen-Klingen. Vgl. Ziegler, Geschichte der Stadt S. (Schaffh. 1862); Vetter, Das St. Georgenkloster zu S. am Rhein (Lindau 1884). - 2) Stadt in der niederösterreich. Bezirkshauptmannschaft Krems, an der Donau, über welche eine Brücke nach dem gegenüberliegenden Mautern führt, mit Krems durch eine Häuserreihe ("Und" genannt) zusammenhängend, hat Schloßruinen, ein Zellengefängnis, eine große Tabaks- und eine Holzwarenfabrik, bildet einen wichtigen Landungsplatz für die Donauschiffahrt und zählt (1880) 4069 Einw., welche hauptsächlich Weinbau betreiben. S. ist Sitz einer Finanzbezirksdirektion. - 3) Stadt in Krain, am Feistritzfluß und an der Lokalbahn Laibach-S., Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat eine Kaltwasserheilanstalt, Franziskanerkloster, Schießpulverfabrik, Thonwaren- und Zementfabrikation und (1880) 1963 Einw. Über der Stadt erhebt sich die Ruine Kleinfeste. Dabei eine sehenswerte dreigeschossige Kirche. S. bildet den Ausgangspunkt für die nördlich gelegenen Steiner Alpen (s.d.). - 4) Dorf im bayr. Regierungsbezirk Mittelfranken, Bezirksamt Nürnberg, an der Regnitz und der Linie Krailsheim-Nürnberg-Furth i. W. der Bayrischen Staatsbahn, 298 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein Schloß, drei Bleistiftfabriken (darunter die weltberühmte Fabersche Fabrik mit 400 Arbeitern), eine Papierfabrik und (1885) 2054 Einw. Stein, 1) Charlotte von, durch ihre Beziehung zu Goethe der deutschen Literaturgeschichte angehörig, geb. 25. Dez. 1742 zu Weimar, Tochter des Hofmarschalls v. Schardt daselbst, vermählte sich als Hofdame der Herzogin Amalia 1764 mit dem herzoglichen Stallmeister Friedrich v. S. Eine schwärmerische Verehrerin von Goethe, lernte sie denselben im Stein (Freiherr vom und zum). November 1775 zuerst persönlich kennen und wurde, wiewohl fast sieben Jahre älter als er und bereits Mutter von sieben Kindern, von ihm bald glühend geliebt. Die Innigkeit des eigentümlichen Verhältnisses, das auf Goethes Leben und Dichten von großem Einfluß war, litt später unter Charlottens wachsenden Ansprüchen und endete nach Goethes Rückkehr aus Italien (1788) mit einem gewaltsamen Bruch, welcher sich in einer 1794 von Charlotte gedichteten Tragödie "Dido" (hrsg. von Otto Volger, Leipz. 1867) in peinlicher Weise kundgibt. Erst nach vielen Jahren gestaltete sich zwischen beiden wieder ein gewisses Freundschaftsverhältnis, das bis zum Tode der Frau v. S., die bereits 1793 Witwe geworden, dauerte. Sie starb 6. Jan. 1827 in Weimar. Charlottens schönstes Ehrendenkmal bleiben "Goethes Briefe an Frau v. S. aus den Jahren 1776-1820" (hrsg. von A. Schöll, Weim. 1848-51, 3 Bde.; 2. vervollständigte Ausg. von Fielitz, Frankf. a. M. 1883-85, in welcher auch "Dido" abgedruckt ist). Eine wertvolle Ergänzung haben dieselben erhalten durch die von Goethe aus Italien an sie gerichteten, aber von ihm für die Ausarbeitung seiner "Italienischen Reise" zurückerbetenen Briefe, die, bisher im Goetheschen Hausarchiv zu Weimar aufbewahrt, neuerdings durch die Goethe-Gesellschaft (Weim. 1886) veröffentlicht wurden. Ihre eignen Briefe an Goethe hatte Frau v. S. sich zurückgeben lassen und kurz vor ihrem Tod verbrannt. Zahlreiche Briefe derselben sind in dem Werk "Charlotte von Schiller und ihre Freunde" (Bd. 2, Stuttg. 1862), enthalten. Gegen mancherlei Anklagen, die neuerlich erhoben worden sind, rechtfertigt sie H. Düntzer in "Charlotte v. S." (Stuttg. 1874). Vgl. auch dessen "Charlotte v. S. und Corona Schröter" (Stuttg. 1876); Höfer, Goethe und Charlotte v. S. (das. 1878). 2) Heinrich Friedrich Karl, Freiherr vom und zum, berühmter deutscher Staatsmann, geb. 26. Okt. 1757 zu Nassau an der Lahn aus einem alten reichsfreiherrlichen Geschlecht, Sohn des kurmainzischen Geheimrats Philipp von S., widmete sich von 1773 bis 1777 in Göttingen dem Studium der Rechte und der Staatswirtschaft, arbeitete ein Jahr beim Reichskammergericht in Wetzlar, unternahm eine Reise durch einen Teil von Europa, trat dann, entgegen den Traditionen seines Hauses, in den preußischen Staatsdienst und erhielt 1780 eine Anstellung als Bergrat zu Wetter in der Grafschaft Mark. Schon 1782 ward er zum Oberbergrat befördert, und im Februar 1784 erhielt er die Oberleitung der westfälischen Bergämter. 1793 erfolgte seine Ernennung zum Kammerdirektor in Hamm, 1795 zum Präsidenten der märkischen Kriegs- und Domänenkammer und 1796 zum Oberpräsidenten aller westfälischen Kammern, in welcher Stellung er sich die größten Verdienste namentlich um den Chausseebau und die Forsten sowie um Hebung der Gewerbthätigkeit und Belebung des Handels erwarb. Im Oktober 1804 als Minister des Accise-, Zoll-, Salz-, Fabrik- und Kommerzialwesens nach Berlin in das Generaldirektorium berufen, bewirkte er die Aufhebung sämtlicher binnenländischer Zölle im Innern von Preußen, errichtete das Statistische Büreau und schuf als Erleichterungsmittel für den Handel und Verkehr Papiergeld. Vergeblich waren freilich seine Anstrengungen, den König zu einer kräftigen, würdigen Politik zu bewegen. Als er im Januar 1807 seinen Eintritt in das neue Ministerium von der Umgestaltung der obersten Verwaltungsstellen und insbesondere von der Beseitigung der Kabinettsregierung abhängig machte, erhielt er vom König in ungnädigster Weise den Abschied. Nach dem Tilsiter Frieden (Juli 1807) berief ihn derselbe jedoch wieder zu sich, um ihm als erstem Minister das große Werk der Neugestaltung des Staats zu übertragen. Steins Plan war: das Volk wieder für die Teilnahme am Staat und seinen Zwecken zu beleben und an der Leitung desselben zu beteiligen, die bisher unterdrückten Stände von den aus dem Mittelalter überkommenen Lasten und Fesseln zu befreien und ein allgemeines freies Staatsbürgertum zu gründen. Die Weise, wie er diese Reform anstrebte, zeugt ebenso von seinem echt deutschen Geist wie von tiefer staatsmännischer Einsicht. Im September 1807 übernahm er sein neues Amt, und 9. Okt. erschien bereits das Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse des Grundeigentümers betreffend. Ein andres Gesetz überließ den Domanialbauern ihr Land zu unumschränktem Grundeigentum. Seine Städteordnung vom 19. Nov. 1808 bildet noch jetzt die Grundlage der Rechtsverhältnisse der preußischen Städte. Damit das so in seinen Verhältnissen und Rechten sittlich und geistig gehobene Volk auch das Bewußtsein seiner Kraft und Mut zur Abwerfung des Fremdenjochs gewinne, unternahm S. darauf mit Scharnhorst die Herstellung einer volkstümlichen Wehrverfassung. Aber kaum ein Jahr hatte S. als Minister gewaltet, als er durch einen Machtbefehl Napoleons I., dem ein aufgefangener Brief Steins an den Fürsten von Wittgenstein seine Hoffnung, bald das französische Joch abzuschütteln, verraten hatte, 24. Nov. 1808 seinen Abschied zu nehmen und 16. Dez. förmlich geächtet aus Preußen zu fliehen gezwungen wurde. Ehe er sein Vaterland verließ, legte er die Grundsätze seiner Staatsverwaltung in einem Sendschreiben an die oberste Verwaltungsbehörde nieder, welches unter der Bezeichnung "Steins politisches Testament" weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Von der westfälischen Regierung gerichtlich verfolgt und seiner Güter beraubt, begab er sich nach Österreich, wo er abwechselnd in Brünn, Troppau und zuletzt dauernd in Prag lebte. Als zu befürchten stand, daß seine Auslieferung gefordert werden möchte, folgte er im Mai 1812 der Einladung des Kaisers Alexander I. nach Petersburg. Auch von dort aus aber wußte er durch seinen Einfluß auf den Kaiser sowie durch seine ausgedehnten Korrespondenzen und die Bildung einer russisch-deutschen Legion die spätere nationale Erhebung gegen Napoleon I. vorzubereiten. Nach der Katastrophe von 1812 kehrte er mit dem Kaiser nach Deutschland zurück und ward zum Vorsitzenden eines russisch-preußischen Verwaltungsrats für die deutschen Angelegenheiten ernannt, doch sah er sich in seiner Thätigkeit in dieser Stellung vielfach beengt. Als nach dem Sieg bei Leipzig 21. Okt. 1813 eine Zentralkommission für die Verwaltung aller durch die Truppen der Verbündeten besetzten Länder angeordnet worden war, übernahm S. den Vorsitz in derselben und erwarb sich trotz der ihm von den einzelnen Regierungen in den Weg gelegten Hindernisse durch tüchtige Verwaltung im Innern und Aufstellung zahlreicher Heerhaufen gegen den äußern Feind hohe Verdienste um das Gesamtvaterland. Die Zentralverwaltung folgte dem Heer der Verbündeten bis nach Paris. Von dort kehrte S. im Juni 1814 nach Berlin zurück und begab sich im September zum Kongreß nach Wien. Hier nahm er besonders an den Verhandlungen über die deutsche Frage teil. Dann zog er sich ins Privatleben zurück. Den Sommer brachte er meist auf seinen Gütern in Nassau, Stein - Steinach. den Winter in Frankfurt a. M. zu, wo sich im Januar 1819 unter seinem Vorsitz die Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichte konstituierte. Ihr Werk ist die Herausgabe der "Monumenta Germaniae historica" (s. d.), für welche S. selbst viel sammelte. Mit der nassauischen Regierung in mancherlei Mißhelligkeiten geraten, siedelte er später auf sein Gut Kappenberg in Westfalen über. Nach der Einführung der Provinzialstände in Preußen 1823 ward er für den westfälischen Landtag zum Deputierten erwählt und vom König zum Landtagsmarschall ernannt. Auch die Verhandlungen der evangelischen Provinzialsynode Westfalens leitete er. 1827 ernannte ihn der König zum Mitglied des Staatsrats. S. starb 29. Juni 1831 in Kappenberg als der letzte seines Geschlechts, da ihn von den Kindern, die ihm seine Gemahlin, Gräfin Wilhelmine von Wallmoden-Gimborn, geboren, nur drei Töchter überlebten. 1872 ward ihm auf der Burg Nassau (von Pfuhl), 1874 in Berlin (von Schievelbein und Hagen) ein Standbild errichtet. Steins Denkschriften über deutsche Verfassungen wurden von Pertz (Berl. 1848) herausgegeben, Steins Briefe an den Freiherrn v. Gagern 1813-31 von diesem (Stuttg. 1833), sein Tagebuch während des Wiener Kongresses von M. Lehmann (in Sybels "Historischer Zeitschrift", Bd. 60). Vgl. Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom S. (Berl. 1849-55, 6 Bde.); Derselbe, Aus Steins Leben (das. 1856, 2 Bde.); Stern, S. und sein Zeitalter (Leipz. 1855); Arndt, Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Freiherrn vom S. (3. Aufl., Berl. 1869); M. Lehmann, S., Scharnhorst und Schön (Leipz. 1877); Seeley, Life and times of S. (Cambr. 1878, 3 Bde.; deutsch, Gotha 1883-87, 3 Bde.) und die kürzern Biographien von Reichenbach (Brem. 1880), Baur (Karlsr. 1885). 3) Christian Gottfried Daniel, Geograph, geb. 14. Okt. 1771 zu Leipzig, wo er studierte, wurde 1795 an das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin berufen, an welchem er bis zu seinem am 14. Juni 1830 erfolgten Tod wirkte. Von seinen zahlreichen Werken sind besonders zu nennen sein mit Hörschelmann begründetes "Handbuch der Geographie und Statistik" (Leipz. 1809, 3 Bde.; neubearbeitet von Wappäus, Delitsch, Meinicke u. a., 7. Aufl., das. 1853-71, 4 Bde.); "Geographie für Schule und Haus" (27. Aufl. von Wagner und Delitsch, das. 1877); "Geographisch-statistisches Zeitungs-, Post- und Komptoirlexikon" (2. Aufl., das. 1818-21, 4 Bde.; nebst zwei "Nachträgen", das. 1822-24); "Über den preußischen Staat nach seinem Länder- und Volksbestand" (Berl. 1818); "Handbuch der Geographie und Statistik des preußischen Staats" (das. 1819); "Reisen nach den vorzüglichsten Hauptstädten von Mitteleuropa" (Leipz. 1827-29, 7 Bde.). Sein "Neuer Atlas der ganzen Erde" (Leipz. 1814) erlebte in der Bearbeitung durch Ziegler, Lange u. a. eine 33. Auflage (28 Karten mit Tabellen etc., 4) Leopold, jüd. Theolog, geb. 5. Nov. 1810 zu Burgpreppach (Bayern), bildete sich auf der Talmudschule in Fürth und den Universitäten zu Erlangen und Würzburg, ward 1834 Rabbiner in Burgkundstadt, 1843 in Frankfurt a. M., wo er nach Niederlegung des Rabbinats 1864-74 einer höhern Töchterschule vorstand und 2. Dez. 1882 starb. Er war der entschiedenste Vertreter der Reform des Judentums. Sein Hauptwerk ist: "Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesamten Judentums in Lehre, Gottesverehrung und Sittengesetz" (Mannh. 1868-77). Außerdem gab er verschiedene Predigtsammlungen und Zeitschriften ("Der israelitische Volkslehrer", 1851-60; "Freitagabend", 1860, etc.), mehrere Dramen ("Die Hasmonäer", Frankf. 1859; "Der Knabenraub von Carpentras", Berl. 1863, u. a.) heraus. Sein "Gebetbuch" (Straßb. u. Mannh. 1880-82, 2 Bde.) zeigt S. als formgewandten synagogalen Dichter. 5) Lorenz von, Staatsrechtslehrer und Nationalökonom, geb. 18. Nov. 1815 zu Eckernförde, studierte in Kiel und Jena Philosophie und Rechtswissenschaft, habilitierte sich dann als Privatdozent in Kiel und wurde 1846 Professor daselbst. Da er das Recht der Herzogtümer gegen die dänische Regierung verfocht und an der Schrift der neun Kieler Professoren über diesen Gegenstand Anteil nahm, wurde er 1852 aus dem Staatsdienst entlassen. Er folgte 1855 einem Ruf als Professor der Staatswissenschaften an die Universität zu Wien, an welcher er bis zu seiner 1885 erfolgten Pensionierung wirkte. Seine Schriften sind sehr zahlreich; wir nennen: "Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich" (Leipz. 1842, 2. Aufl. 1847); "Die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der dritten französischen Revolution" (Stuttg. 1818); "Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage" (Leipz. 1850, 3 Bde.); "Geschichte des französischen Strafrechts" (Bas. 1847); "Französische Staats- und Rechtsgeschichte" (das. 1846-48, 3 Bde.); "System der Staatswissenschaft" (Bd. 1: Statistik etc., das. 1852; Bd. 2: Gesellschaftslehre, das. 1857); "Die neue Gestaltung der Geld- und Kreditverhältnisse in Österreich" (Wien 1855); "Lehrbuch der Volkswirtschaft" (das. 1858; 3. Aufl. als "Lehrbuch der Nationalökonomie", 3. Aufl. 1887); "Lehrbuch der Finanzwissenschaft" (Leipz. 1860; 5. Aufl. 1885-86, 4 Bde.); "Die Lehre vom Heerwesen" (Stuttg. 1872). Sein bedeutendstes Werk ist die "Verwaltungslehre" (Stuttg. 1865-84, 8 Bde.), eine umfassende, nicht zum Abschluß gelangte Behandlung desjenigen Gegenstandes, den man sonst als Polizeiwissenschaft zu behandeln pflegt. Eine kompendiöse Zusammenfassung der ganzen Wissenschaft ist das "Handbuch der Verwaltungslehre" (Stuttg. 1870; 3. Aufl. 1889, 3 Bde.). Außerdem schrieb er: "Zur Eisenbahnrechtsbildung" (Wien 1872); "Die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonomie" (Stuttg. 1875, 6. Aufl. 1886); "Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands" (das. 1876); "Der Wucher und sein Recht" (Wien 1880); "Die drei Fragen des Grundbesitzes und seiner Zukunft" (Stuttg. 1881). Das Eigentümliche der Werke Steins besteht darin, daß er die Hegelsche Dialektik auf das Gebiet der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaft anwandte, um an der Hand derselben die Systematik dieser Wissenschaften zu verbessern. Doch hat er darüber die Hinwendung auf das Geschichtliche nicht vernachlässigt. Steinach, 1) Marktflecken im meining. Kreise Sonneberg, im freundlichen Thal der Steinach, eines Nebenflusses der Rodach, an der Sekundärbahn Sonneberg-Lauscha (Werrabahn), hat ein Amtsgericht, Amtseinnahme, Forstei, ein Schloß, Verfertigung von Kisten, Schachteln, Schiefertafeln, Griffeln, Spielwaren etc., Wetzstein- und Schieferbrüche, Eisensteingruben, eine Glashütte, Schneide- und Märmelmühlen, Bierbrauerei und (1885) 4743 Einw. Aufwärts im Thal das Eisenhüttenwerk Obersteinach. Am Fellberg, 3 km von S., die ersten und lange Zeit einzigen bedeutenden Griffelschieferbrüche in Deutschland. - 2) Marktflecken in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, im Wippthal, an der Mündung des Gschnitzthals und an der Brennerbahn gelegen, Steinalter - Steinberge. beliebte Sommerfrische, hat eine Pfarrkirche mit guten Gemälden, ein Bezirksgericht und (1880) 643 Einw. Steinalter, s. Steinzeit. Steinamanger (ungar. Szombathely), Stadt im ungar. Komitat Eisenburg, Knotenpunkt der Österreichischen Süd- und Ungarischen Westbahn und Sitz des Komitats, eines römisch-katholischen Bischofs und eines Gerichtshofs, mit bischöflichem Palais und Park, Franziskaner- und Dominikanerkloster, schöner zweitürmiger Domkirche, hübschem Komitatshaus und (1881) 10,820 Einw. S. hat eine große Eisenbahnwerkstätte, eine Gasfabrik, ein Obergymnasium, ein Seminar, eine theologische Diözesanlehranstalt, ein Theater und ein archäologisches Museum. S., das an der Stelle des römischen Savaria (s. d.) steht, ist von Rebenhügeln umgeben und Fundort zahlreicher römischer Altertümer. Stein, armenischer, s. Lasurstein. Steinau, 1) (S. an der Straße) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schlüchtern, an der Kinzig und der Linie Frankfurt-Bebra-Göttingen der Preußischen Staatsbahn, 169 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein Schloß, ein Amtsgericht, Zigarren-, Wagen- und Steingutwarenfabrikation, eine Dampfmolkerei, eine Dampfziegelei, Bierbrauerei und (1885) 2189 meist evang. Einwohner. - 2) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, an der Oder und der Linie Breslau-Stettin der Preußischen Staatsbahn, 97 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Schullehrerseminar, 2 Krankenhäuser, ein Amtsgericht, Fabrikation von Öfen, Thonwaren und Möbeln, eine Maschinen- u. eine Schiffbauanstalt und (1885) 3636 meist evang. Einwohner. S. erhielt 1215 deutsches Stadtrecht. Am 11. Okt. 1633 Sieg Wallensteins über die Schweden und Sachsen unter Thurn, welcher sich mit 12,000 Mann ergeben mußte. Vgl. Schubert, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1885). Steinäxte, Steinmesser etc., s. Steinzeit. Steinbach, Stadt im bad. Kreis Baden, an der Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 151 m ü. M., hat eine kath. Kirche, eine Bezirksforstei, Essig- und Mostrichfabrikation, bedeutenden Weinbau (Affenthaler) und (1885) 2055 meist kath. Einwohner. S. ist Geburtsort Erwins von S., dem 1844 auf einem nahen Hügel ein Denkmal errichtet ward. Steinbach, s. Erwin von Steinbach. Steinbach-Hallenberg, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Kassel, Kreis Schmalkalden, an der Schwarza und an der Eisenbahn Zella-Schmalkalden, 438 m ü. M., hat eine imposante Burgruine, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Fabrikation von Eisenkurzwaren, gedrechselten Holzwaren, mehrere Eisenhämmer, Schneidemühlen, Braunsteingruben und (1885) 3116 evang. Einwohner. Steinbearbeitung, s. Steine. Steinbeere (Steinfrucht, Drupa), eine Art der Schließfrüchte, von den Beeren dadurch unterschieden, daß auf den saftigen Teil der Frucht nach innen eine saftlose, meist harte Schicht (das Endokarp) folgt, welche in einer einfachen oder mehrfächerigen Höhlung erst den eigentlichen Samen einschließt und Steinkern oder Steinschale (Putamen) genannt wird. Der Steinkern ist meist von holzartiger, knochen- oder steinartiger Härte, wie beim Walnußbaum und bei den Amygdalaceen, die deshalb auch Steinobstgehölze heißen. Bei den Pomaceen ist dagegen der hier mehrfächerige Steinkern mit wenigen Ausnahmen nur aus einer dünnen, pergamentartigen Schicht gebildet. Das Fleisch der S. ist entweder saftig, wie bei den meisten Amygdalaceen, oder saftlos, wie bei der Mandel und Walnuß, oder trocken und faserig, wie bei der Kokosnuß. Zusammengesetzte Steinbeeren sind die Brombeeren und Himbeeren, indem hier die zahlreichen auf dem Blütenboden sitzenden Steinfrüchtchen zusammenhängen und als Ganzes sich ablösen. Steinbeere, s. Paris und Vaccinium Steinbeis, Ferdinand von, geb. 5. Mai 1807 zu Ölbronn in Württemberg, erlernte seit 1821 zu Wasseralfingen und Abtsgmünd den Berg- und Hüttenbetrieb, studierte in Tübingen Mathematik und Naturwissenschaft und trat 1827 in die Verwaltung des Staatseisenwerks Ludwigsthal ein. 1830 wurde er Betriebsdirektor der Hüttenwerke des Fürsten zu Fürstenberg, folgte dann einem Ruf der Gebrüder Stumm in Neunkirchen bei Saarbrücken zur Betriebsleitung und zum Umbau ihrer Eisenwerke und führte den in den Rheingegenden vergeblich versuchten Kokshochofenbetrieb mit großen Vorteilen in der Materialersparnis und der Qualität der Produkte ein. 1848 wurde er Mitglied der neubegründeten Zentralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart, deren Präsidium ihm 1855 zufiel. Zu besonderm Ruf gelangten das von ihm 1849 begonnene württembergische Gewerbemuseum und der unter seiner Leitung entstandene, über das ganze Land verbreitete Fortbildungsunterricht, welchem auch die Frauenarbeitsschulen angehören. Nach dem im Gewerbemuseum befolgten Plan, der 1851 durch die Ausstellung in London bekannter wurde, legten die Engländer das Kensington-Museum (allerdings mit viel bedeutendern Mitteln) an, welches wiederum das Vorbild für derartige Museen in allen Industrieländern geworden ist. 1848 wurde S. zu dem in Frankfurt a. M. thätigen Ausschuß des Allgemeinen Deutschen Vereins zum Schutz der vaterländischen Arbeit entsandt und unterstützte die schutzzöllnerischen Bestrebungen desselben bis zur Auflösung des Parlaments, während er seit 1862 mehr dem Freihandel zuneigte. Von 185l an war S. als Kommissar und Preisrichter auf fast allen Universalausstellungen thätig. In dem seit 1849 von ihm redigierten "Gewerbeblatt" publizierte er eine große Zahl technischer und volkswirtschaftlicher Aufsätze. Außerdem schrieb er: "Die Elemente der Gewerbebeförderung, nachgewiesen an der belgischen Industrie" (Stuttg. 1853); "Entstehung und Entwickelung der gewerblichen Fortbildungsschule in Württemberg" (das. 1872). Für seine vielfachen Verdienste um die Industrie wurde S. der persönliche Adel verliehen, und nach der Pariser Industrieausstellung begründete eine große Anzahl Industrieller eine S.-Stiftung zur Ausbildung u. Unterstützung der gewerblichen Jugend. Seit 1880 lebt S. in Leipzig. Steinbeißer, s. v. w. Kirschkernbeißer (s. Kernbeißer) und Steinschmätzer. Steinberge (Crannoges, Holzinseln), den schweizerischen Pfahlbauten ähnliche, aus Erde und Steinen in Verbindung mit Pfählen hergestellte vorgeschichtliche Konstruktionen in Irland, besonders auf den durch die Gewässer des Shannon gebildeten Inseln, die im Winter unter Wasser stehen. Lubbock ("Die vorgeschichtliche Zeit", Jena 1874, Bd. 1, S. 174) gibt die Abbildung eines Durchschnitts durch einen solchen Wasserbau. Knochen von Haus- und Jagdtieren, Stein-, Knochen-, Bronze- und Eisengeräte wurden auf den Steinbergen in großen Mengen angetroffen. Die S. sind als Festungen und Zufluchtsorte der kleinen irischen Häuptlinge noch im 16. Jahrh. bewohnt gewesen. Vgl. Martin, The lake dwellings of Ireland (Dublin Steinberger - Steinbrechmaschine. Steinberger, Rheinweinsorte erster Güte, die am Stein bei Hochheim (s. d.) erzeugt wird; s. Rheinweine. Steinbock (Ibex Wagn.), Untergattung der Gattung Ziege (Capra L.), durch die vorn abgeplatteten Hörner ohne Kiel mit knotigen Querwülsten charakterisiert, umfaßt mehrere den höchsten Gebirgen der Alten Welt angehörige Tiere, über deren Artverschiedenheit nichts Sicheres bekannt ist. Man kennt Steinböcke auf den europäischen Alpen, auf den Pyrenäen (Bergbock) und andern spanischen Gebirgen, auf dem Kaukasus, den Hochgebirgen Asiens, im Steinigen Arabien, in Abessinien und auf dem Himalaja. Der Alpensteinbock (Capra Ibex L.), 1,5-1,6 m lang, 80-85 cm hoch, der Bock mit sehr starkem, 80-100 cm langem, bogen- oder halbmondförmig schief nach rückwärts gebogenem Gehörn, welches beim Weibchen bedeutend kleiner und mehr hausziegenartig ist. Der Körper ist gedrungen und stark, der Hals von mittlerer Länge, der Kopf verhältnismäßig klein, aber an der Stirn stark gewölbt; die Beine sind kräftig und von mittlerer Höhe. Die Behaarung ist rauh und dicht, am Hinterkopf, Nacken und Unterkiefer verlängert, im Sommer rötlichgrau, im Winter fahl gelblichgrau. Längs der Mitte des Rückens verläuft ein schwach abgesetzter, hellbrauner Streifen; Stirn, Scheitel, Nase, Rücken und Kehle sind dunkelbraun; die Mitte des Unterleibs ist weiß. Der S. der Alpen ist wie die Steinböcke der andern Hochgebirge und wie die Gemse ein wahres Alpentier; er lebt in Rudeln von verschiedener Stärke und steigt nur dann in die Waldregion herab, wenn die Alpenkräuter, seine Nahrung, vom Schnee bedeckt sind. Alle seine Bewegungen sind rasch und leicht; er klettert mit außerordentlicher Gewandtheit und weiß an den steilsten Felsenwänden Fuß zu fassen, auch springt er mit größter Sicherheit und verfehlt nie sein Ziel. Mit Sonnenaufgang steigen sie weidend bergauf, lagern sich an den wärmsten und höchsten Plätzen und kehren gegen Abend weidend zurück, um die Nacht in den Wäldern weidend zu verbringen. Die Brunstzeit fällt in den Januar, und fünf Monate nach der Paarung wirft das Weibchen ein oder zwei Junge, welche sie in der Gefahr tapfer verteidigt. Jung eingefangene Steinböcke werden leicht zahm, doch bricht die Wildheit im Alter wieder hervor. Während der S. in der Mammut- und Renntierzeit durch die ganze Schweiz, einen Teil Südfrankreichs und (wahrscheinlich) bis Belgien verbreitet war, noch von Plinius kenntlich als Hochgebirgsstier erwähnt wurde, auch im frühen Mittelalter bei den St. Galler Mönchen als Wildbret beliebt war und noch von Albertus Magnus zur Hohenstaufenzeit als häufig in den Deutschen Alpen bezeichnet wurde, ist der Bestand desselben in den letzten Jahrhunderten schnell zusammengeschmolzen; 1550 wurde der letzte in Glarus, 1583 der letzte am Gotthard erlegt; 1574 war er in Graubünden kaum noch aufzutreiben; 1706 verschwand er aus dem Zillerthal, wo er über ein Jahrhundert von den Erzbischöfen von Salzburg beschützt worden war, so daß schon im vorigen Jahrhundert sein natürliches Vorkommen auf die Hochgebirge des südlichen Wallis, Savoyens und Piemonts sich beschränkte. Mehrfache Versuche, ihn an einzelnen Stellen der Schweiz und den Österreichischen Alpen wieder einzubürgern, haben keinen dauernden Erfolg gehabt, nur im Höllensteingebirge am Traunsee soll sich eine Kolonie erhalten und fortgepflanzt haben. Gegenwärtig findet sich nur noch in den Thälern, welche vom Aostathal in südwestlicher Richtung streichen, durch strengste Maßregeln des Königs Viktor Emanuel geschützt, eine Anzahl von 300 bis 500 Stück, die aber doch trotz allen Schutzes an Terrain eher zu verlieren als zu gewinnen scheinen. Nur einzelne alte Böcke finden sich oft weit versprengt bisweilen noch in andern Gebieten. Im Aostathal legte der König auch ein Gehege für Steinbockzucht an und erzielte durch eine ausgewählte Ziegenart, welche in das Gebirge zu den wilden Steinböcken getrieben wurde und von dort trächtig zurückkehrte, eine Kolonie von Steinbockbastarden, welche nur sehr gute Kenner von den echten Steinböcken zu unterscheiden vermögen. Diese Steinbockbastarde haben 1 m lange Hörner und sind zur Fortpflanzung durchaus geeignet. Beim Tode des Königs kam der größte Teil des Bestandes von 52 Stück in das fürstlich Pleßsche Gehege in Salzau, 17 Stück aber wurden in Graubünden in Freiheit gesetzt, um das Rätische Gebirge mit Steinwild zu bevölkern. Vgl. Girtanner, Der Alpensteinbock (Trier 1878). Steinbock, 1) das zehnte Zeichen des Tierkreises 2) Sternbild zwischen 301-3261/2° Rektaszension und 93/4-28 1/3° südl. Deklination, nach Heis 63 dem bloßen Auge sichtbare Sterne zählend, davon drei von dritter Größe. Steinborn, Pfarrdorf im preuß. Regierungsbezirk Trier, Kreis Daun, in geognostisch merkwürdiger Gegend der Eifel, hat (1885) 282 kath. Einwohner. Dabei der Felsberg, Rimmerich, Errensberg und Scharteberg mit deutlich erkennbaren Lavaströmen. Steinbrand, s. Brandpilze II. Steinbrech, Pflanzengattung, s. Saxifraga. Steinbrechartige Pflanzen, s. Saxifragaceen. Steinbrecher, s. Adler, S. 122. Steinbrechmaschine, mechan. Vorrichtung zur Zerkleinerung von Gesteinen, Erzen etc., welche vielfach an Stelle der sonst üblichen Pochwerke und Walzen angewandt wird, besteht im wesentlichen nach der Figur aus zwei im spitzen Winkel gegeneinander gestellten eisernen Platten a c, zwischen welche die zu zerbrechenden Steine geschüttet werden. Die eine Platte a steht fest, die andre ist um Zapfen f beweglich und nähert sich der feststehenden Platte durch die Wirkung eines Kniehebels g h g', welcher sich gegen a' stützt, während die Rückbewegung durch das Gewicht der Platte, unterstützt durch eine Feder i, erfolgt. Bei dieser Rückbewegung findet natürlich eine Erweiterung des Brechmauls r statt, welche dem darin befindlichen Steinmaterial Gelegenheit gibt, tiefer zu sinken, bis es wieder fest anliegt; die hierauf folgende Verengerung wird sodann, wenn der Winkel zwischen beiden Steinbruch - Steindienst. Backen genügend klein gewählt ist, um ein Ausweichen der Steine nach oben auszuschließen, die Zerdrückung zur Folge haben. Bei rasch aufeinander folgender Wiederholung dieser Schwingungen des Backens c, hervorgerufen durch das Exzenter k, welches auf der Welle des Schwungrades l sitzt, werden sonach die oben aufgegebenen großen Steine immer tiefer einsinken und allmählich zu immer feinerm Korn zerdrückt. Die Maschine arbeitet demnach kontinuierlich, indem regelmäßig oben aufgegeben und unten abgezogen werden kann. Um die Maschine selbst vor Abnutzung zu schützen und gleichzeitig die Form des Backenquerschnitts für verschiedenes Material verschieden wählen zu können, sind die Backen noch mit besondern Druckplatten b d aus hart gegossenem Gußeisen von wellenförmigem Querschnitt versehen, welche nach Bedarf ausgewechselt oder erneuert werden können. Der Antrieb der Maschine erfolgt durch Riemenscheibe von einem Dampf- oder Wassermotor aus, und ein Schwungrad l dient zur Regulierung des Widerstandes. Die S. von Blake zerkleinerte in der Stunde 200 Ztr. harten, körnigen Granit zu brauchbarem Chausseematerial, wenn die Betriebsarbeit 5 Pferdekräften entsprach. Steinbruch (ungar. Köbánya), Ort bei Budapest in Ungarn und Station der Österreichisch-Ungarischen sowie der Ungarischen Staatsbahn, hat (1881) 8804 Einw., 2 große Bierbrauereien, Schweinemastanstalten und 2 Hochreservoirs der Budapester Wasserleitung und bildet den 10. Bezirk der ungarischen Hauptstadt (s. Budapest, S. 588). Steinbrüche, s. Steine. Steinbrück, Eduard, Maler, geb. 3 Mai 1802 zu Magdeburg, widmete sich in Berlin unter Wach der Kunst, ging 1829 nach Düsseldorf, dann nach Rom, lebte von 1830 bis 1833 wieder in Berlin, darauf bis 1846 in Düsseldorf, seitdem abermals in Berlin und zog sich im März 1876 nach Landeck in Schlesien zurück, wo er 3. Febr. 1882 starb. Seine Bilder, deren Motive meist der Sage und der Dichtung entnommen sind, tragen in der empfindsamen Auffassung wie in dem zarten, weichen Kolorit das Gepräge der Düsseldorfer Romantik. Die hervorragendsten derselben sind: Genoveva, Rotkäppchen, Nymphe der Düssel, Fischerfrau am Strand, Undine, die Magdeburger Jungfrauen, welche sich während der Plünderung der Stadt 1631 von den Wällen herabstürzen, und Maria bei den Elfen, nach Tiecks Märchen (1840, in der Nationalgalerie zu Berlin). Steinbühler Gelb, s. v. w. chromsaurer Baryt oder chromsaurer Kalikalk, welcher aus Chlorcalciumlösung durch chromsaures Kali gefällt wird und einen schön gelben Farbstoff bildet. Steinburg, Kreis in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, benannt nach einer alten Burg, östlich von Krempe, mit der Hauptstadt Itzehoe. Steinbutt, s. Schollen. Steinbutter, s. Bergbutter. Steindattel (Lithodomus lithophagus Cuv.), Muschel aus der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae), lebt an den Ufern des Mittelmeers in Felslöchern oder in Steinkorallen, in welche sie sich auf noch nicht sicher ermittelte Weise einbohrt. Wahrscheinlich sondert sie einen kalkauflösenden Saft ab, da sie nicht wie die Bohrmuschel (s. d.) sich durch Feilen helfen kann. Die Bohrlöcher sind innen völlig glatt. Besonders interessant ist ihr Vorkommen in den Säulen des sogen. Serapistempels von Pozzuoli bei Neapel. Sie nehmen dort eine scharf begrenzte, etwa 2 m hohe Zone ein und beweisen so, daß der Tempel nach seiner Erbauung eine geraume Zeit im Wasser gestanden haben muß. Da er aber gegenwärtig wieder auf dem Trocknen steht, so hat man darin wahrscheinlich ein Beispiel von Senkung und Hebung des Meeresbodens in vulkanischer Gegend und zu historischer Zeit (weiteres s. Hebung; vgl. indes Brauns, Das Problem des Serapeums zu Pozzuoli, Halle 1888). Stein der Weisen, s. Alchimie. Steindienst (Steinkultus), die dem gesamten Heidentum der Vorzeit und Jetztwelt eigentümliche Verehrung erwählter Steine, sei es roher oder behauener, und zwar als Fetisch, Idol der Gottheit oder als Opferstein. Die roheste und ursprünglichste Form scheint diejenige zu sein, in welcher das Naturkind irgend einen beliebigen Stein erwählt und zu seinem Fetisch macht. Die Dakota Nordamerikas nehmen einen runden Kieselstein und bemalen ihn, dann reden sie ihn Großvater an, bringen ihm Opfer und bitten ihn, sie aus der Gefahr zu erretten. Ähnliches beobachtete man in Südamerika, in der Südsee, an vielen Orten Afrikas, Lapplands, Indiens etc. Bei den Kulturvölkern der Alten Welt finden sich ähnliche Gebräuche, die aber meist nur Meteorsteinen und prähistorischen Steinwaffen oder Werkzeugen, die man für vom Himmel gefallene Waffen der Götter, namentlich für Donnerkeile (Jupiter lapis-Kult), hielt und vielfach als Amulette trug, dargebracht wurden, wobei man bereits eine deutlichere Verknüpfung mit der übersinnlichen Welt gewahrt. Die hochgefeierten Palladien der Trojaner, Griechen und Römer waren meistens solche vom Himmel herabgefallene Göttergeschenke, die namentlich im Kulte der Kybele, Minerva und des Mars eine Rolle spielten. Anderseits scheint bei einer etwas höher gestiegenen religiösen Bildung eine Art von Vermählung der Gottheit mit einem bestimmten ihr errichteten Altarstein, Opfertisch oder Idol angenommen worden zu sein, sei es, daß man, wie im alten Ägypten, meinte, die Gottheit nehme in dem Stein Wohnung, oder auch, indem der Stein als uralte Opferstätte der Väter den Nimbus des nationalen Allerheiligsten eines Volkes oder Stammes erwarb. So wurden einfache Platten, Steinkegel, Opfertische etc. zu dem Ursymbol der Nationalgottheit, dem man sich mit dem höchsten religiösen Schauder näherte. Hierher gehören: der schwarze Stein von Pessinus, das berühmte konische Idol der Venus auf Cypern, der Stein, welcher bei den böotischen Festen als Vertreter des typischen Eros die höchsten Ehren genoß, der rohe Stein zu Hyettos, welcher "nach alter Weise" den Herakles darstellte, die 30 Steine, welche die Pharäaner in althergebrachter Weise an Stelle der Götter verehrten, die rohen Steinaltäre zu Bethel, Garizim und Jerusalem, der Steinkreis von Stonehenge (s. d.) als vornehmstes Beispiel der unzähligen, über die ganze Alte Welt verbreiteten Cromlechs (s.d.) etc. Tacitus sagt, wo er von der Verehrung der paphischen Venus als Steinkegel spricht, die Ursache ruhe im Dunkel (ratio in obscuro); allein wir werden kaum irre gehen, wenn wir in ihnen Überbleibsel aus einer rohern Urreligion suchen, die in dem philosophischer gewordenen Kultus Aufnahme fanden, wie z. B. so vielfach Isisbilder in "schwarze Madonnenbilder" umgewandelt worden sind. Durch die Beibehaltung des alten Idols besiegelte die neue Religion ihren Frieden mit der alten. Wir sehen ganz dasselbe bei dem heiligen Stein in der Kaaba (s. d.) zu Mekka und an der heiligen Steinplatte in der Moschee Omars zu Jerusalem, die eben uralte heilige Steine und Opferstätten der Araber und Juden waren, vielleicht seit Steindrossel - Steine, künstliche. tausenden vor dem Auftreten Mohammeds. Aber gerade der mystische Reiz, welcher in der Verehrung des rohen Naturidols liegt, führte zu den tollsten Übertreibungen in dieser Kultusform. Theophrast schildert im 4. Jahrh. v. Chr. den Typus des abergläubischen Griechen, der immer sein Salbfläschchen bei sich führt, um jedem heiligen Stein, dem er auf der Straße begegnet, Öl aufzuträufeln, dann davor niederzufallen und ihn anzubeten, ehe er seines Wegs weiter schreitet. Die Kirchenväter (Arnobius, Tertullian u. a.) machen sich lustig über diesen Gebrauch der Heiden, Steine zu salben und anzubeten; aber sie vergessen, daß dies eine gut biblische Sitte war, die auch Jakob, der Erzvater, bei jenem Stein übte, der ihm als Kopfkissen gedient hatte. Noch Heliogabal brachte das schwarze Steinidol des syrischen Sonnengottes unter großer Feierlichkeit nach Rom und errichtete ihm einen durch orientalische Pracht ausgezeichneten Dienst. Viele Forscher nehmen an, daß die Menhirs, Bautasteine (s. d.) und megalithischen Bauwerke, die sich in einer weiten Zone vom Westen Europas bis nach Indien ziehen, ähnliche Idole eines besondern Steinvolkes gewesen seien. Mehr an den reinen Fetischdienst erinnert die besonders in Syrien und Phönikien heimisch gewesene Verehrung kleiner Meteorsteine oder Bätylien (s. Bätylus); denn diese Steine wurden speziell als Hausgötter etc. gebraucht, und die Dioskuren, welche als die Nothelfer des Altertums galten, wurden besonders häufig als Steine verehrt. Ähnliches gilt von den Buddhasteinen in Indien. Vgl. v. Dalberg, Über Meteorkultus der Alten (Heidelb. 1811); Tylor, Anfänge der Kultur (deutsch, Leipz. 1873). Steindrossel (Felsschmätzer, Monticola Boie), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der Steinschmätzer (Saxicolinae), große, schlanke Vögel mit starkem, pfriemenförmigem, gestrecktem, seicht gewölbtem Schnabel mit überragender Spitze, langen Flügeln, in denen die dritte Schwinge am längsten ist, kurzem, schwach ausgerandetem Schwanz und mittelhohem, starkem, langzehigem Fuß mit großen, merklich gebogenen Krallen. Der Steinrötel (Steinmerle, Rotschwanz, M. saxatilis Cab.), 23 cm lang, 37 cm breit, ist am Kopfe, Vorderhals, Nacken u. Bürzel blaugrau, am Unterrücken weißblau, an der Unterseite und am Schwanz, mit Ausnahme der beiden mittelsten dunkelgrauen Federn, rot, an den Flügeln schwarzbraun; die Augen sind rotbraun, der Schnabel schwarz, die Füße rötlichgrau. Er findet sich in fast allen Gebirgen Südeuropas, brütet noch in Österreich, am Rhein, ausnahmsweise in Böhmen, in der Lausitz und am Harz, geht im Winter nach Nordafrika, bewohnt weite, steinige Thalmulden, singt trefflich, nährt sich von Beeren und Kerbtieren, nistet in Mauer- und Felsspalten, auch im Gestrüpp und legt 4-6 blaugrüne Eier (s. Tafel "Eier I", Fig. 59). Die Blaumerle (Blauamsel, Blaudrossel, Blauvogel, einsamer Spatz, Einsiedler, M. cyana Cab.) ist 25 cm lang, 37 cm breit, schieferblau, mit mattschwarzen Schwingen und Steuerfedern, braunem Auge, schwarzem Schnabel und Fuß, bewohnt Südeuropa, Nordafrika, Mittelasien, findet sich auch in den südlichen Kronländern Österreichs, als Strichvogel im Bayrischen Hochgebirge, lebt einsam in Einöden, singt sehr angenehm, nistet in Felsspalten, auf Kirchtürmen etc. und legt vier grünlichblaue, violett und rotbraun gefleckte Eier. In Italien, Griechenland und auf Malta ist sie als Stubenvogel sehr Steindruck, s. Lithographie. Steine, linksseitiger Nebenfluß der Glatzer Neiße, im preuß. Regierungsbezirk Breslau, entspringt unfern Görbersdorf im Waldenburger Gebirge, fließt südöstlich und mündet unterhalb Glatz; 55 km Steine (Bausteine), Gesteine (s. d.) der verschiedensten Art, welche zu Bauzwecken benutzt werden. Soweit sich dieselben nicht als lose Trümmer in der Nähe größerer Felsmassen, als Rollsteine, Geschiebe oder erratische Blöcke vorfinden, werden sie an ihren natürlichen Fundorten (Steinbrüchen) abgebaut oder gebrochen. Am häufigsten und leichtesten gewinnt man die S. durch Tagebau; liegt das brauchbare Gestein tief unter der Erdoberfläche, so wird die Gewinnung durch Grubenbau betrieben. Zur Abtrennung der S. von ihren Lagern dienen Brechstangen und Keile, und wo diese nicht ausreichen, sprengt man mit Pulver oder Dynamit, während das früher übliche Feuersetzen jetzt fast ganz aufgegeben ist. Beim Sprengen werden Bohrmaschinen angewandt, und auch bei der Ablösung der S. mittels der Keile benutzt man jetzt Maschinen, wie in einem Steinbruch bei Marcoussis (Paris) einen auf Schienen beweglichen Dampfhammer, der die S. absprengt und spaltet. Die aus den Steinbrüchen gelieferten rohen S. werden zum Teil als solche benutzt, meist aber zu Werkstücken, Schnittsteinen oder Quadern verarbeitet. Seit dem Altertum wird diese Steinmetzarbeit mit Hammer und sehr verschieden gestalteten Meißeln (Eisen) ausgeführt, in neuerer Zeit aber sind immer mehr maschinelle Vorrichtungen in Gebrauch gekommen, welche erfolgreich mit der Handarbeit konkurrieren. Zum Zerschneiden der S. dienen Steinsägen, welche statt der gezahnten in der Regel einfache Stahlblätter oder Drähte enthalten, die scharfkörnigen Sand unter Zufluß von Wasser hin- und herschleifen. Die Bewegung des Gatters wird durch Menschen, Göpel oder andre Motoren hervorgebracht. Bei den Sägen mit Draht benutzt man oft einen sehr langen Draht, der sich abwechselnd von einer Rolle auf eine andre ab- und aufwickelt. Zur Bearbeitung ebener Flächen benutzt man Maschinen, welche nach Art der Metallhobelmaschinen wirken, nur daß die Meißel während der Steinbewegung nicht stillstehen, sondern, unter 45° geneigt, vermittelst schnell drehender Exzenter kurze Stöße gegen den Stein führen und so die Handarbeit nachahmen. Bei Anwendung profilierter Meißel erhält man hierbei Kehlungen etc. Andre Maschinen besitzen als Arbeitsorgan eine sehr schnell rotierende Scheibe mit feststehenden Meißeln oder mit kleinen runden Scheiben aus Hartguß (Kreismeißel), welche bei der schnellen Rotation der Scheibe gegen den Stein stoßen, sich an diesem wälzen und Stücke bis 25 mm Dicke abtrennen. Auch schwarze Diamanten werden statt der Meißel angewandt. Die ebenen Steinflächen werden mit scharfkörnigem Sand und Wasser mittels hin und her bewegter, auch rotierender, belasteter eiserner Schleifschalen geschliffen und zuletzt mit Bimsstein (für Marmor), Kolkothar (Granit, Syenit), Zinnasche (für weicheres Gestein) poliert. Hierbei werden runde Formen (Säulen etc.) durch eine Drehbank gedreht, während die Schleifschalen dagegen gedrückt werden. In neuerer Zeit benutzt man mehr und mehr auch Schmirgelscheiben zum Schleifen der S. Vgl. Gottgetreu, Physischen. chemische Beschaffenheit der Baumaterialien (3. Aufl., Berl. 1880, 2 Bde.); Schwartze, Die Steinbearbeitungsmaschinen (Leipz. 1885). Steine, künstliche, aus verschiedenen Substanzen hergestellte steinartige Massen, welche als Surrogate Steinen - Steingallen. der natürlichen Steine benutzt werden. Hierher gehören außer den Mauersteinen (s. d.) die Kalkziegel (Kalksandziegel), die durch Mischen von Kalkmilch mit Sand zu einer plastischen Masse, Formen der letztern unter starkem Druck und Trocknen an freier Luft dargestellt werden. Vorteilhaft taucht man sie vor völligem Erhärten in schwache Wasserglaslösung. Auch der Zementguß muß zu den künstlichen Steinen gerechnet werden. Sehr gute k. S. erhält man aus einer Mischung von Steinbrocken, Zement und Wasser, welche in Formen gestampft wird. Aus derartigem Beton sind für Hafenbauten Steine von 18 cbm Inhalt dargestellt worden. Cendrinsteine bestehen aus Zement mit Kohlenstaub oder Asche; eine andre Sorte aus gebranntem Kalk und Steinkohlenasche, welche breiförmig zusammengestampft werden, worauf man die Masse in Ziegelform bringt und die Steine nach dem Trocknen in Wasserglaslösung taucht. Die englischen Viktoriasteine werden aus kleinen Granitbruchstücken und Zement geformt und nach 4 Tagen etwa 12 Stunden in Natronwasserglaslösung gelegt. Marmorartige und bei Zusatz von Quarzstückchen und Eisenoxyd auch granitartige Steine stellt Ransome dar, indem er Zement, Kreide, feinen Sand und Infusorienerde mit Natronwasserglas zu einem dicken Brei anmacht, diesen in Formen gießt, die erhärtete Masse wiederholt mit sehr starker Chlorcalciumlösung begießt, 3 Stunden hineinlegt und schließlich in Wasser bringt, um lösliche Salze zu entfernen. Diese Steine werden für solides Mauerwerk, Trottoirplatten und zu Ornamenten sehr viel benutzt und sind polierbar. Die Marmormosaik-Bodenbelegplatten von Oberalm bestehen aus Marmorabfällen, welche durch eine Mischung von Zement und Marmorpulver zu einer Masse verbunden werden, die man in eiserne Formen preßt und nach dem Erhärten schleift und poliert. In Nordamerika finden Steinplatten aus Schieferpulver, mit geringem Zementzusatz gepreßt, ausgedehnte Verwendung. Der Bietigheimer künstliche Sandstein besteht aus Sandkörnern, die durch ein gesintertes alkalisches Silikat (Feldspat, Glaspulver, Thon) verbunden sind. In Dirschau mischt man 1 Teil Thon mit 4 Teilen Mergel (Wiesenkalk) im Thonschneider, zerschneidet den heraustretenden Strang, brennt die Steine im Ringofen, mahlt sie mit 3 Volumen Sand und wenig Wasser in rotierenden Trommeln, setzt Farbstoff zu und formt daraus Steine unter dem Dampfhammer. Die Steine trocknen im Trockenschuppen und sind nach 3 Tagen verwendbar. Auch Magnesiazement, Kieserit, Gips (s. Zement) werden zu künstlichen Steinen verarbeitet, und namentlich Schlacken bilden ein vortreffliches Material, aus welchem sehr allgemein Ziegel gegossen werden. Eine Mischung von Sodarückständen und geröstetem Schwefelkies mit konzentrierter Wasserglaslösung liefert sehr harte Steine, welche dem Wasser Widerstand leisten. Zu den künstlichen Steinen gehören auch Mischungen aus Steintrümmern und harzigen Bindemitteln, wie die braune Metalllava aus Sand, Kalkstein, Teer und wenig Wachs. Aus dieser Masse gegossene Platten lassen sich schön polieren. Steinen, Karl von den, Forschungsreisender, geb. 7. März 1855 zu Mülheim a. d. Ruhr, studierte Medizin in Zürich, Bonn und Straßburg, widmete sich dann in Berlin und Wien der Psychiatrie und war 1878-79 Assistenzarzt an der Irrenklinik der Charitee in Berlin. 1879-81 machte er eine Reise um die Erde, studierte dabei das Irrenwesen in den Kulturstaaten und machte auf mehreren Gruppen der Südsee ethnologische Forschungen. Nachdem er dann wiederum seine frühere Stellung in Berlin eingenommen hatte, ging er als Arzt und Naturforscher mit der von Deutschland ausgesandten Südpolarexpedition 1882 nach Südgeorgien, wo er bis zum nächsten Jahr verweilte, um darauf noch im Februar 1884 nach Asuncion zu gehen, von wo er mit seinem Vetter, dem Maler Wilhelm von den S., und Clauß sowie einem Kommando brasilischer Soldaten den Lauf des Xingu, eines Nebenflusses des Amazonas, erforschte. Nach Europa zurückgekehrt, veröffentlichte er als Ergebnis dieser Reise: "Durch Zentralbrasilien" (Leipz. 1886). Eine zweite Reise in dasselbe Gebiet trat S. im Januar 1887 an; er untersuchte, durch den Ausbruch der Cholera am Paraguay aufgehalten, die merkwürdigen Sambaquis in der Provinz Santa Catharina und traf 16. Juli in Cuyaba ein, von wo er im August aufbrach. Er erforschte im östlichen Quellgebiet des Xingu eine Reihe von Stämmen, die noch in vorkolumbianischer Steinzeit lebten, und kehrte im August 1888 nach Europa zurück. Steiner, 1) Jakob, Mathematiker, geb. 18. März 1796 zu Utzendorf bei Solothurn, besuchte die heimatliche Dorfschule, wo er erst mit 14 Jahren schreiben lernte, und ging im Alter von 17 Jahren nach Yverdon zu Pestalozzi, an dessen Anstalt er später einige Zeit als Hilfslehrer thätig war. Von hier wandte er sich 1818 nach Heidelberg, um Mathematik zu studieren, sah sich aber fast ganz auf Privatstudien angewiesen. Seit 1821 lebte er in Berlin, anfangs als Privatlehrer der Mathematik, dann als Lehrer an der Gewerbeakademie, seit 1834 als außerordentlicher Professor an der Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Die letzten Lebensjahre verbrachte er, von schweren Körperleiden gequält, in der Schweiz, wo er 1. April 1863 in Bern starb. Von seinem Hauptwerk: "Systematische Entwickelung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten", haben wir nur den ersten Teil (Berl. 1832); außerdem schrieb er noch: "Die geometrischen Konstruktionen, ausgeführt mittels der geraden Linie und Eines festen Kreises" (das. 1833). Nach seinem Tod erschienen seine "Vorlesungen über synthetische Geometrie" (hrsg. von Geiser und Schröter, Leipz. 1867, 2 Bde.; 2. Aufl. 1875-76), und seine "Gesammelten Werke" (hrsg. von Weierstraß, Berl. 1881-82, 2 Bde.). Vgl. Geiser, Zur Erinnerung an Jakob S. (Schaffh. 1874). 2) Jakob, Instrumentenmacher, s. Stainer. Steiner Alpen (auch Sannthaler oder Sulzbacher Alpen), südliche Vorlage der Karawanken zwischen Save und Sann, im südlichen Steiermark und dem angrenzenden Krain, erreichen mit der Oistritza 2350 m Höhe. Östlich davon das Cillier Bergland, vom Drann durchschnitten, reich an Mineralquellen. Vgl. Frischauf, Die Sannthaler Alpen (Wien 1877). Steinernes Meer, s. Salzburger Alpen. Steinfrucht, s. Steinbeere. Steinfurt, ehemals (seit 1495) reichsunmittelbare Grafschaft im westfäl. Kreis, jetzt zum preußischen Regierungsbezirk Münster und zum Kreise S. gehörig, standesherrliche Besitzung der Grafen von Bentheim-S., mit dem Hauptort Burgsteinfurt. Steingallen (blaue Mäler), die durch Quetschung und Entzündung der Hufsohle, namentlich in den Eckstrebenwinkeln bei Pferden entstehenden roten, resp. geröteten Flecke. Die Ursachen der S. beruhen in abnormem Druck auf die Sohlenschenkel durch die übergewachsene Horn- und Eckstrebenwand oder durch unzweckmäßigen Beschlag. Am meisten wird das Übel bei sonst gesunden Hufen durch zu kurze Huf- Steingang - Steinhuhn. eisen veranlaßt. Bei länger anhaltendem und starkem Druck auf die Eckstrebenpartie der Hufe entsteht Eiterung (feuchte oder eiternde S. im Gegensatz zu den trocknen S.). Die Behandlung wird durch zweckmäßige Beschneidung und Erweichung der Hufe sowie durch Regelung des Hufbeschlags bewirkt. In letzterer Hinsicht bedient man sich meist eines langen und starken oder eines geschlossenen oder auch eines Dreiviertelhufeisens. Die Entstehung von Eiter in einer Steingalle erfordert eine frühzeitige Öffnung in dem Sohlenschenkel und Erweichung der Hufe durch Umschläge von schleimigen und fetthaltigen Mitteln. Steingang (Allée couverte), s. Dolmen. Steingeier, s. Adler, S. 122. Steingrün, s. Grünerde. Steingut, s. Thonwaren. Steinh., bei botan. Namen Abkürzung für A. Steinheil, geb. 1810 zu Straßburg, Pharmazeut, bereiste Algerien; starb 1839 auf der Überfahrt von Martinique nach Steinhäger, Branntweinsorte, s. Genever. Steinharz, s. Dammaraharz. Steinhausen, Heinrich, Schriftsteller, geb. 27. Juli 1836 zu Sorau in der Niederlausitz, studierte zu Berlin Theologie und Philologie, bekleidete darauf Lehrerstellen an den Kadettenanstalten in Potsdam und Berlin, trat 1868 in den Kirchendienst über und wirkt seit 1883 als Prediger zu Beetz bei Kremmen im Regierungsbezirk Potsdam. Außer kritischen und andern Beiträgen zum "Reichsboten" veröffentlichte er: "Irmela. Eine Geschichte aus alter Zeit" (Leipz. 1881 , 10. Aufl. 1887); "Gevatter Tod. Im Armenhaus. Mr. Bob Jenkins' Abenteuer", Novellen (2. Aufl., Barmen 1884); "Markus Zeisleins großer Tag", Novelle (das. 1883); "Der Korrektor. Szenen aus dem Schattenspiel des Lebens" (1.-4. Aufl., Leipz. 1885) u. a. Aufsehen erregte seine gegen G. Ebers' Romane gerichtete kritische Schrift "Memphis in Leipzig" (Frankf. a. M. 1880). Steinhäuser, Karl, Bildhauer, geb. 3. Juli 1813 zu Bremen, bildete sich an der Berliner Akademie, besonders unter Rauchs Leitung, lebte seit 1836 längere Zeit in Rom und seit 1863 als Lehrer an der Kunstschule zu Karlsruhe, wo er 9. Dez. 1879 starb. Mehrere seiner zahlreichen Statuen zählen zu den vorzüglichsten Schöpfungen der neuern deutschen Plastik, so die von Olbers, Schmidt und dem heil. Ansgar in Bremen, Goethe mit der Psyche in Weimar, die Gruppe von Hermann und Dorothea in Karlsruhe. Er war ein Vertreter der antikisierenden Richtung, wußte aber die Strenge der Behandlung durch Anmut zu mildern, was sich besonders in seinen weiblichen Figuren (Mädchen mit der Muschel, Deborah, Judith) kundgibt. Steinheid, Dorf im sachsen-meining. Kreise Sonneberg, auf der Grenzscheide zwischen Thüringer und Frankenwald, 813 m ü. M., hat eine evang. Kirche, Kaolingruben, Fabrikation von Glasperlen, Porzellan und Holzschachteln und (1885) 1522 Einw. Nördlich dabei das Kieferle, 868 m hoch. Steinheil, Karl August, Physiker, geb. 12. Okt. 1801 zu Rappoltsweiler im Elsaß, studierte seit 1821 zu Erlangen die Rechte, hierauf zu Göttingen und Königsberg Astronomie, lebte seit 1825 auf dem väterlichen Gut zu Perlachseck, mit astronomischen und physikalischen Arbeiten beschäftigt, und ward 1832 Professor der Physik und Mathematik an der Universität München. 1846 ward er von der neapolitanischen Regierung zur Regulierung des Maß- und Gewichtssystems berufen. 1849 trat er als Vorstand des Departements für Telegraphie im Handelsministerium in österreichische Dienste, richtete ein fast vollständiges Telegraphensystem für alle Kronländer ein und beteiligte sich 1850 auch an der Gründung des Deutsch-Österreichischen Telegraphenvereins. 1851 folgte er einem Ruf der Schweizer Regierung zur Einrichtung des Telegraphenwesens in diesem Land, und 1852 kehrte er als Konservator der mathematisch-physikalischen Sammlungen und Ministerialrat im Handelsministerium nach München zurück; auch gründete er daselbst 1854 eine optisch-astronomische Anstalt, aus welcher ausgezeichnete Instrumente hervorgingen. S. gilt als der wissenschaftliche Begründer der elektromagnetischen Telegraphie, entdeckte die Bodenleitung, konstruierte den ersten Drucktelegraphen, der indes keinen Eingang in die Praxis fand, erfand die elektrischen Uhren, konstruierte ein sinnreiches Pyroskop, fertigte das erste Daguerreotypbild in Deutschland, vervollständigte und begründete die Gesetze der Galvanoplastik, konstruierte ein Zentrifugalwurfgeschütz, mehrere optische Instrumente etc. Auch bei der Feststellung der bayrischen Maße und Gewichte und durch Verbesserung der Bier- und Spirituswagen erwarb er sich Verdienste. Er starb 12. Sept. 1870 in München. Die optische Werkstätte wird seit 1862 von den Söhnen Steinheils weitergeführt. Vgl. Marggraff, Karl August S. (Münch. Steinheim, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Minden, Kreis Höxter, an der Emmer und der Linie Hannover-Altenbeken der Preußischen Staatsbahn, 135 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht, Maschinenfabrikation, Holzschleiferei, 3 Mahlmühlen, Steinbrüche und (1885) 2660 meist kath. Einwohner. Steinhirse, s. Lithospermum. Steinhorst, Gutsbezirk in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg, hat ein Amtsgericht und (1885) 295 Einw. Steinhuder Meer, Binnensee in Schaumburg-Lippe und der preuß. Provinz Hannover, ist 8 km lang, 5 km breit, 41 m tief, sehr fischreich und fließt durch die Meerbeke zur Weser ab. Daran der lippesche Flecken Steinhude mit 1400 Einw.; im See selbst auf einer künstlichen Insel das 1761-65, vom Grafen Wilhelm von der Lippe als Musterfestung angelegte kleine Fort Wilhelmsstein (ehemals mit Kriegsschule, in der auch der preußische General v. Scharnhorst seine erste militärische Bildung erhielt), jetzt Gefängnis. Steinhuhn (Caccabis Kp.), Gattung aus der Qrdnung der Scharrvögel, der Familie der Waldhühner (Tetraonidae) und der Unterfamilie der Feldhühner (Perdicinae), kräftig gebaute Vögel mit kurzem Hals, großem Kopf, kurzem, auf der Firste gewölbtem Schnabel, mittelhohem Fuß mit stumpfem Sporn oder mit einer den Sporn andeutenden Hornwarze, mittellangem Flügel und ziemlich langem Schwanz. Das S. (C. saxatilis Briss.), 35 cm lang, 50-55 cm breit, an der Oberseite und Brust blaugrau, Kehle weiß, mit schwarzem Kehl- und Stirnband, die Federn der Weichen gelbrotbraun und schwarz gebändert, an der Unterseite rostgelb, die Schwingen schwärzlichbraun mit gelblichweißen Schäften und rostgelblich gekantet, die äußern Steuerfedern rostrot; das Auge ist rotbraun, der Schnabel rot, der Fuß blaßrot; lebte im 16. Jahrh. am Rhein, gegenwärtig in den Alpen, Italien, der Türkei, Griechenland und Vorderasien, eine Varietät lebt in ganz Nordasien. Es bewohnt sonnige, etwas begraste Schutthalden zwischen Holz- und Schneegrenze, im Süden auch die Ebene aus felsigem Steinhund - Steinkohle. Boden, zeichnet sich durch Behendigkeit, Klugheit und Kampflust aus, läuft und klettert sehr gut, fliegt leicht und schnell, bäumt nur im Notfall, nährt sich von allerlei Pflanzenstoffen und kleinen Tieren und frißt auch die Spitzen von jungem Getreide. Im Winter lebt es in größern Gesellschaften, im Frühjahr isolieren sich die Paare, und das Weibchen legt in den Alpen im Juni oder Juli in einer Mulde unter Gesträuch oder überhängendem Fels 12-15 gelblichweiße, braun gestrichelte Eier, welche es in 26 Tagen ausbrütet. Man jagt das S. des sehr wohlschmeckenden Fleisches halber. Es kann auch leicht gezähmt werden, bleibt aber sehr kampflustig, und schon die Alten ließen Steinhühner miteinander kämpfen. In Indien und China sind Steinhühner halbe Haustiere geworden, werden gezüchtet, auf die Weide getrieben, laufen frei im Haus umher und werden auch hier zu Kampfspielen benutzt. In Griechenland glaubt man, daß sie Schutz gegen Bezauberung gewähren, und hält sie in sehr engen, kegelförmigen Käfigen. Steinhund, s. Nörz. Steinicht, s. Vogtländische Schweiz. Steinigtwolmsdorf, Pfarrdorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Bautzen, an der Wesenitz, hat eine evang. Kirche, Lein- und Damastweberei, Bierbrauerei, Steinbrüche und (1885) 2529 Einw. Steinigung (Lapidatio), Tötung mit Steinwürfen, gesetzliche Strafe bei den Römern, Juden und andern Völkern, besonders aber Akt der Volksjustiz. Steinigwerden, eine Krankheit der saftigen Früchte mancher Pomaceen, besonders der Birnen, Quitten und Mispeln, wobei der größere Teil des saftigen Fruchtfleisches in meist isolierte steinharte Körner sich verwandelt und dabei an Süßigkeit verliert. Die Körner bestehen aus Zellen mit außerordentlich stark verdickten und von Porenkanälen durchzogenen Wänden (Steinzellen). Anfänglich sind diese Zellen gleich den andern dünnwandig und stärkemehlführend; erst beim Reifen bilden sich aus der Stärke die Verdickungsschichten, anstatt daß dieselbe sich in Zucker umwandelt. Die Steinzellen fehlen auch in normalen, guten Früchten nicht ganz; ihre Menge ist in den wilden Birnen am größten, übrigens nach Sorten verschieden. Ihre reichlichere Bildung wird durch magern, trocknen Boden begünstigt, aus welchem oft die saftigsten Sorten steinig werden. Ähnliche Bildungen (Steinkonkretionen) treten auch in fleischigen Wurzelknollen, bei Päonien, Georginen, im Mark von Hoya und besonders in der Rinde vieler Bäume auf. Steiningwer, s. Löß. Steinig, Wilhelm, Schachspieler, geb. 18. Mai 1837 zu Prag, galt schon als Knabe für den besten Schachkämpen seiner Vaterstadt, erhielt aber die eigentliche Ausbildung darin erst bei Hamppe in Wien, wohin er sich 1858 als Student der Mathematik begab. In dem großen internationalen Wettstreit zu London (mit Anderssen, Paulsen u. a.) gewann er 1862 den letzten der sechs Preise, blieb in London und machte das Schach zu seinem Hauptberuf. 1865 gewann er auf dem Kongreß der Dubliner Ausstellung den ersten Preis, 1866 siegte er im Wettkampf (match) mit acht zu sechs Spielen gegen Anderssen. Im Pariser Turnier 1867 erhielt er den zweiten Preis, im Baden-Badener 1870 gleichfalls; im Londoner 1872 wurde er Hauptsieger, ohne eine einzige Partie zu verlieren, und in Wien erstritt er 1873 den großen Kaiserpreis von 2000 Gulden. Nachdem er dann noch den Engländer Blackburne, den Gewinner des zweiten Wiener Preises, im Einzelkampf besiegt, beteiligte er sich längere Zeit nicht mehr an Turnieren. Auf den Schachkongressen zu Paris 1878 und zu Wiesbaden 1880 war er als Berichterstatter für die englische Zeitung "The Field" erschienen, deren Schachrubrik er damals leitete. Der Tod Anderssens und die großen Erfolge Zukertorts (s. d.), den er 1872 in einem Match leicht geschlagen, spornten S. indessen zu neuer Thätigkeit an, doch mußte er sich, obwohl er im Wiener Turnier 1882 die beiden ersten Preise mit Winawer geteilt hatte, 1883 in London, wo Zukertort Erster blieb, mit der zweiten Stelle begnügen. Seitdem betrieb S. höchst eifrig einen neuen Einzelwettkampf mit Zukertort, der nach langen Verhandlungen in den ersten Monaten 1886 in Amerika ausgefochten wurde, und in welchem S. schließlich mit 10 gegen 5 Gewinn- bei 5 Remisspielen siegte. In jüngster Zeit stellte sich S., nunmehr der erste Schachspieler der Gegenwart, dem Russen Tschigorin auf Cuba, der eine Minderheit der Gewinnpartien Steinkauz, s. Eulen, S. 906. Steinkern, in der Botanik s. Steinbeere; in der Petrefaktenkunde s. Abdruck. Steinkind (Steinfrucht, Lithopaedion), eine unreife Leibesfrucht, welche abgestorben in der Bauchhöhle liegt, eingekapselt, verschrumpft und durch Aufnahme von Kalksalzen steinhart geworden ist. Das S. verursacht der Mutter bisweilen allerhand Beschwerden; manchmal aber bleibt sie von solchen ganz verschont, kann sogar schwanger werden und normal gebären. Derartige Bildungen sind bei Menschen äußerst selten, bei Schafen häufiger. Steinkirche, s. Dolmen. Steinklee, s. Melilotus und Medicago. Steinkochen, s. Kochkunst (in prähistorischer Steinkohle (Schwarzkohle), im petrographisch-technischen Sinn die schwarzen, kohlenstoffreichen, an Wasserstoff und Sauerstoff armen Kohlen; im geologischen Sinn die Kohlen der ältern Formationen vom Silur bis einschließlich der Kreideformation, vorzüglich diejenigen der Steinkohlenperiode. Beide Begriffe decken sich meist insofern, als die ältern Kohlen der Regel nach auch die kohlenstoffreichern sind; indes tragen eine Reihe jüngerer (tertiärer) Kohlen den petrographischen Charakter der S. an sich, während umgekehrt Kohlen, welche nachweisbar der Steinkohlenformation angehören, Braunkohlen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die S. im petrographisch-technischen Sinn des Wortes ist eine dunkel gefärbte, undurchsichtige, höchstens in kleinen Splittern durchscheinende amorphe Masse von Glas- und Fettglanz; Härte 2-2,5, spez. Gew. 1,2-1,7; sie färbt heiße Kalilauge im Gegensatz zur Braunkohle nicht oder unbedeutend; an der offenen Flamme verbrennt sie unter brenzligem Geruch (Unterschied von Anthracit). Die Hauptbestandteile sind: Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O) und Wasserstoff(H), daneben etwas Stickstoff (N), Schwefel (S), Bitumen und Asche (in reinen Kohlen unter 0,5 Proz.). Die quantitative Zusammensetzung der S. zeigt bedeutende Schwankungen, und an verschiedenen Stellen desselben Flözes entnommene Proben zeigen kaum je gleiche Zusammensetzung. Von den Aschebestandteilen abgesehen, kann man folgende Grenzwerte annehmen: 55-98 Proz. Kohlenstoff, 1,75-7,85 Proz. Wasserstoff, 0-38 Proz. Sauerstoff, Spuren bis 2,0 Proz. Stickstoff. Bei Abschluß der Luft erhitzt, liefern die Kohlen je nach ihrer chemischen Zusammensetzung und der Temperatur in sehr verschiedenen Mengen: Kohlenwasserstoffgase (namentlich Methan und Äthylen), Wasserstoff, Kohlensäure, Kohlenoxyd, Stickstoff, Schwefelwasserstoff, Teerdämpfe (bestehend aus Kohlenwasserstoffen, Phenolen und Steinkohle (chemische Zusammensetzung, Grubenbrände, Varietäten). Basen), Ammoniak und Wasserdämpfe. Als accessorische Begleiter der Kohle finden sich: Schieferthon, Kalkspat, Gips, Nakrit, Quarz, Eisenspat, Eisenkies, Bleiglanz, Kupferkies. Von diesen Beimengungen verringert der Eisenkies den Wert der Kohle als Brennmaterial, und wo er in größern Mengen auftritt, zwingt er zu einem Abschwefeln der Kohlen; er kann aber auch durch die mit seiner Zersetzung verbundene Temperaturerhöhung zu Selbstentzündungen der Kohle führen. Es wird deshalb in den Kohlengruben auf das möglichst sorgsame Fördern des sogen. Grubenkleins Gewicht gelegt. Kohlenbrände entstehen, da sie die Mitwirkung der Atmosphäre voraussetzen, meist in dem Abbau unterworfenen (verritzten) Flözen, während unverritzte Flöze, namentlich an ihrem Ausgehenden (Kohlenausstrichen), derselben Gefahr ausgesetzt sind. Bei den Kohlenbränden wird die Kohle teils vollkommen verbrannt, teils in Koks umgewandelt; die begleitenden Schieferthone werden gefrittet (Kohlenbrandgesteine, Porzellanjaspis) und eine Reihe von Sublimationsprodukten (Salmiak, Schwefel, Alaun) gebildet. Die Bekämpfung einmal ausgebrochener Kohlenbrände muß sich auf Isolierung der entzündeten Partien durch Abbau der benachbarten Flözteile und Errichtung trennender Mauern beschränken. - Nach äußern mineralogischen Merkmalen unterscheidet man unter den Steinkohlen schieferige Varietäten (Schieferkohle), dünnblätterige (Blätterkohle), zu unregelmäßigen parallelepipedischen Formen zerfallende (Grobkohle), faserige (Faserkohle), erdige, stark abfärbende (Rußkohle), pechschwarze, lebhaft fettglänzende von muscheligem Bruch (Pechkohle). Weitere Abarten sind: die Kannelkohle (Cannel Coal, Candle Coal), eine schwer zersprengbare, gräulichschwarze Kohle; Glanzkohle mit muscheligem Bruch und stark glänzenden, öfters regenbogenartig angelaufenen Absonderungsflächen. In der Technik unterscheidet man nach dem Verhalten der Kohle im Feuer: Backkohlen, Sinterkohlen und Sandkohlen, zu welchen Arten noch die Gaskohlen, bald den einen, bald den andern nahestehend, als reichlich Leuchtgas liefernde hinzukommen. Das Pulver der Backkohlen (fette Kohlen) liefert beim Erhitzen eine gleichmäßig zusammengeschmolzene Masse (Koks), die Sinterkohlen eine weniger gleichmäßige und weniger feste, nicht eigentlich geschmolzene, sondern nur "zusammengesinterte" Masse; die Sandkohlen (magere Kohlen) endlich liefern ein Pulver ohne Zusammenhang. Fleck versuchte dieser rein empirischen Einteilung einen wissenschaftlichen Hintergrund zu geben. Er unterschied den Wasserstoff in der S. als gebundenen und als disponibeln, von welchen der erstere denjenigen Bruchteil des Gesamtgehalts darstellt, der mit dem gleichzeitig vorhandenen Stickstoff und Sauerstoff zu Ammoniak und Wasser verbunden gedacht werden kann, während der Überschuß an Wasserstoff "disponibel" bleibt. Nach Fleck sind alle Kohlen, welche auf 1000 Gewichtsteile Kohlenstoff über 40 Teile disponibel und unter 20 Teile gebundenen Wasserstoff enthalten, verkohlbar und bilden die Backkohlen. 40 Teile disponibler und über 20 Teile gebundener Wasserstoff geben Back- und Gaskohle; weniger als 40 Teile disponibler und mehr als 20 Teile gebundener Wasserstoff sind in Gas- und Sinterkohlen enthalten; Sinterkohlen und Anthracite enthalten weniger als 40 Gewichtsteile disponibeln und weniger als 20 Teile gebundenen Wasserstoff. Da diese Unterschiede nicht hinreichend scharf durchführbar sind, so hat Gruner eine neue Klassifikation gegeben, indem er fünf Typen unterscheidet, deren Zusammensetzung und Verhalten in folgender Tabelle angegeben sind; an den Grenzen gehen dieselben ineinander über. Klassen Zusammensetzung (C,H,O) O:H Spezifisches Gewicht Wärmeeffekt Wärmeeinheiten Wasserverdampfung Kilogr. Flüchtige Bestandteile Verhalten bei der Destillation (Koks, Beschaffenheit der Koks, Gas, Ammoniak Wasser, Teer) 1) Trockne Kohlen mit langer Flamme (Sandkohlen) 75-80 5,5-4,5 19,5-15 4-3 1,25 8000-8500 6,7-7,5 45-40 50-60 pulverförmig od. höchstens gefrittet 20-30 12-5 18-15 2) Fette Kohlen mit langer Flamme (Gaskohlen, Sinterkohlen) 80-85 5,8-5 14,2-10 3-2 1,28-1,30 8500-8800 7,6-8,3 40-32 60-68 geflossen, aber sehr aufgebläht 20-17 5-3 15-12 3) Fette oder Schmiedekohlen (Backkohlen) 84-89 5-5,5 11,5-5,5 2-1 1,30 8800-9300 8,4-9,2 32-26 68-74 geflossen, mitteldicht 16-15 4) Fette Kohlen mit kurzer Flamme (Verkokungs-K.) 88-91 5,5-4,5 6,5-5,5 1 1,30-1,35 9300-9600 9,2-10 26-18 74-82 geflossen, sehr kompakt, wenig blasig 15-12 1-1 10-5 5) Magere Kohlen od.Anthracite mit kurzer Flamme 90-93 4,5-4 5,5-3 1 1,35-1,4 9200-9500 9-9,5 18-10 82-90 gefrittet oder pulverförmig 12-8 l-0 5-2 Diese fünf Typen charakterisieren sich schon durch äußere Kennzeichen, welche aber durch Erhitzen bei Abschluß der Luft (trockne Destillation) kontrolliert werden müssen. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen mit langer Flamme sind verhältnismäßig hart, beim Anschlagen klingend, zäh, von unebenem Bruch, matt schwarz und von mehr braunem als schwarzem Strich. Mit abnehmendem Sauerstoff und damit abnehmender Produktion von Wasser beim Destillieren wird die Kohle zerreiblicher, weniger klingend, schwärzer und dichter. Der Glanz nimmt mit dem Wasserstoffgehalt und damit auch das Agglomerationsvermögen zu. Die den Anthraciten sich nähernden Kohlen sind rein schwarz und im allgemeinen ein wenig mürber als fette Kohlen mit kurzer Flamme. Die Eigenschaften werden indes durch erdige Beimengungen alteriert. Dichtigkeit und Härte wachsen mit dem Aschengehalt, während der Glanz sich vermindert. Die Brennbarkeit und die Länge der Flamme hängen von der Gegenwart flüchtiger Elemente ab. Die den Braunkohlen sich nähernden Steinkohlen entzünden sich leicht und brennen mit langer, rußiger Flamme. Die an flüchtigen Bestandteilen ärmern, namentlich wasserstoffarmen, Kohlen Steinkohle (Vorkommen, Entstehung). entzünden sich, verbrennen weniger leicht und halten lange an. Die Flamme ist kurz und wenig rauchig. Die Steinkohlen finden sich, soweit es sich um größere, technisch wichtige Massen handelt, in Schichten (Flözen), häufig in mehrfachem Wechsel, zwischen andern Gesteinen (Schieferthonen und Sandsteinen). Das ganze Schichtensystem ist ältern Gesteinen gewöhnlich muldenförmig eingelagert (Steinkohlenbecken, Steinkohlenmulden). Ein Kohlenfeld ist die Gesamtheit bauwürdiger Flöze in horizontal ununterbrochenem Zusammenhang oder doch nur durch Verwerfungen getrennt, welche den ursprünglichen Zusammenhang trotz der Trennungen erkennen lassen. Untergeordnete, technisch gewöhnlich wertlose Vorkommnisse sind die in Form kleiner Lager, Nester, Schmitzchen, als einzelne Stämme und Stammfragmente. Die Flöze eines Kohlenfeldes sind nach Lage und Mächtigkeit außerordentlich verschieden. Als unterste Grenze der Bauwürdigkeit wird gewöhnlich 0,6 m Mächtigkeit angegeben, aber auch hier kann das Auftreten mehrerer Flöze übereinander die Verhältnisse ändern. Es sind bis 30 m mächtige Kohlenflöze bekannt, doch treten die bedeutendern Mächtigkeiten mehr bei lager- oder stockförmigen Einlagerungen als bei eigentlichen Flözen auf. Häufig stören Verwerfungen die ursprüngliche Lage und unterbrechen den Zusammenhang der Flöze. Solche Faltungen, Knickungen, Überkippungen und Verschiebungen der Flöze bereiten dem Abbau oft enorme Schwierigkeiten. Erfahrungsmäßig gehören die meisten und wichtigsten Steinkohlen dem Alter nach der Steinkohlenformation (s. d.) an, obgleich sie den andern Formationen nicht fehlen und hier wenigstens lokal ebenfalls Wichtigkeit erhalten können. So führen das Silur und Devon mitunter anthracitische Flöze; im Rotliegenden, namentlich dem untern, tritt bauwürdige Kohle in der Saargegend, in Sachsen etc. auf; ein Teil der ostindischen und chinesischen Kohlenschätze und einige nordamerikanische Flöze sind triasisch, in Deutschland gehört dem untern Keuper die meist unbauwürdige sogen. Lettenkohle an. In Polen sind Keuperkohlen bauwürdig. Der Liasformation gehören die für Ungarn sehr wichtigen Ablagerungen von Steyerdorf und Fünfkirchen an. England, Polen, Rußland und Persien besitzen ebenfalls jurassische Kohlen. Eine für Norddeutschland sehr wichtige Kohle liegt in den Grenzschichten zwischen Jura und Kreide, in der Wealdenformation im Teutoburger Wald, Wesergebirge und links der Weser und im Deister. In der noch jüngern Kreideformation sind bauwürdige Kohlen sehr selten. In Deutschland sind als abbauwürdig nur ein paar dünne Flöze am Altenberg bei Quedlinburg sowie an einigen Orten (besonders bei Ottendorf) im Regierungsbezirk Liegnitz zu nennen. Österreich gewinnt aus der der gleichen Formation angehörigen Mulde der Neuen Welt bei Wiener-Neustadt jährlich gegen 1/2 Mill. Ztr. Noch jüngere Kohlen, welche nach ihren petrographischen Eigenschaften ebenfalls als Steinkohlen (Pechkohlen) bezeichnet werden müssen, während sie im geologischen Sinn Braunkohlen darstellen, finden sich als lokale Abänderungen typischer Braunkohlen in vielen Tertiärbecken, so unter andern Orten in Böhmen und Oberbayern. Die Steinkohlen stammen ohne Zweifel von pflanzlichen (nur selten und untergeordnet von tierischen) Organismen ab, welche einem langsamen Verkohlungsprozeß unterlegen sind. Dieser Prozeß verlief unter Entwickelung von wasserstoff- und sauerstoffreichen Gasen und mußte mithin einen kohlenstoffreichen Rückstand, die S., liefern. Am frühsten ist der Zusammenhang zwischen Kohlen und Pflanzen wohl von Scheuchzer (gest. 1733) betont worden; bestimmter und den heutigen Ansichten sich vollkommen anschmiegend, betonte v. Beroldingen 1778 den Zusammenhang zwischen Torf, Braunkohle und S., Hutton (1785) und Williams (1798) stellten für die englische Kohle gleiche Hypothesen auf. Das meiste Beweismaterial zur Stützung der jetzt herrschenden Ansicht brachte aber Göppert bei. Ein Vergleich der mittlern chemischen Zusammensetzung der Holzfaser, des Torfs, der Braunkohle, der S. und des Anthracits zeigt, daß diese fünf Körper in der genannten Folge eine Reihe bilden, in welcher ein an Kohlenstoff relativ armer, an Wasserstoff und Sauerstoff reicher Körper allmählich andern Substanzen weicht, die immer reicher an Kohlenstoff, ärmer an Sauerstoff und Wasserstoff sind. Es ist nämlich die mittlere prozentige Zusammensetzung der genannten Körper: Holzfaser 50 6,0 43,0 1,0 Torf 59 6,0 33,0 2,0 Braunkohle 69 5,5 25,0 0,8 Steinkohle 82 5,0 13,0 0,8 Anthracit 95 2,5 2,5 Spur Führt man statt Gewichtsprozente Atome ein und berechnet unter Vernachlässigung des Gehalts an Stickstoff den Wasserstoff- und Sauerstoffgehalt auf je 100 Atome Kohlenstoff, so Holzfaser 100 150 65 Torf 100 115 40 Braunkohle 100 96 27 Steinkohle 100 80 12 Anthracit 100 27 2 welche Zahlen die Abnahme des Wasserstoffs und Sauerstoffs noch deutlicher zeigen. Erfahrungsmäßig entwickeln sich in Torfmooren, in Braunkohlen- und Steinkohlengruben Gase und Dämpfe, welche, wie das Grubengas (CH4) Kohlensäure (CO2) und Wasser (H2O), Wasserstoff und Sauerstoff neben Kohlenstoff enthalten. Es sind dies jene Gase, welche als schlagende und stickende Wetter in erster Linie den Steinkohlenbergbau so gefährlich machen, daß im Durchschnitt jährlich 3-4 pro Mille aller Bergleute das Leben einbüßen, und daß für jede 11/2 Mill. Ztr. geförderter S. ein Menschenleben geopfert werden muß. Diese Gase entziehen aber, wie ihre chemische Formel zeigt, bei ihrer Bildung dem Mutterkörper mehr Wasserstoff und Sauerstoff als Kohlenstoff, so daß der letzte Rest eines solchen Verkohlungsprozesses ein nur aus Kohlenstoff bestehender Körper sein muß. Erhitzt man Holz in verschlossenen Röhren, so erhält man bei 200-280° eine der Holzkohle, bei 300° eine der S. ähnliche Masse, die bei 400° anthracitartig wird. Hierher gehören auch die vielfältigen Beobachtungen, nach welchen das Holz der Grubenzimmerung in mitunter überraschend kurzer Zeit in eine der Braunkohle ähnliche Masse umgewandelt wird. Einem gleichen Prozeß unterliegen Stämme, welche in Torfmoore geraten sind, und die tiefsten Schichten der Moore selbst liefern den Speck- oder Pechtorf, eine an Braunkohle oder noch mehr an S. erinnernde Masse. Den vollgültigsten Beweis gibt endlich das Mikroskop, indem es an zahlreichen Präparaten nicht nur die pflanzliche Natur der Kohlen im allgemeinen zeigt, sondern auch die systematische Stellung der kohlebildenden Pflanzen bestimmen läßt. Diese Pflan- Steinkohle (Verbreitung in einzelnen Ländern). zen sind aber in den verschiedenen Formationen sehr verschieden, und nur der Umstand, daß erfahrungsmäßig die Holzfaser systematisch weit voneinander entfernter Pflanzenarten doch annähernd gleiche Zusammensetzung hat, erlaubte in der oben angenommenen Allgemeinheit von einem alle mineralischen Brennstoffe umfassenden Verkohlungsprozeß zu sprechen. Die Kohlen des Silurs sind bei dem Fehlen sonstiger Pflanzenreste in dieser Formation vermutlich auf Algen zurückzuführen, während im Devon schon einige der in der Steinkohlenformation ihre Hauptentwickelung findenden Pflanzen kohlebildend auftreten. In den jüngern Formationen wurden Farne, Cykadeen und Koniferen aufgehäuft, und die letztere Klasse hat neben Dikotyledonen fast ausschließlich das Material der steinkohlenartigen Tertiärkohlen geliefert. Den Konsequenzen aus der Annahme eines langsamen Verkohlungsprozesses entsprechend, sind die Steinkohlen im allgemeinen ältere Kohlen als die Braunkohlen und werden ihrerseits durch Anthracit an Alter übertroffen. Abweichungen von dieser Regel lassen sich auf besondere Umstände zurückführen, welche bald beschleunigend, bald verlangsamend auf den Verlauf des Prozesses einwirken mußten. So verschafften starke Schichtenstörungen den sich entwickelnden Gasen durch Spaltenbildungen einen Ausweg; ein Gehalt an vitriolisierendem Eisenkies bildet neben Eisenvitriol freie Schwefelsäure, welche verkohlend auf die pflanzliche Substanz einwirkt, und in demselben Sinn unterstützt eine Erhöhung der Temperatur, wie sie eruptierendes Gestein hervorbringen kann, den Prozeß. So ist am Meißner in Hessen Braunkohle durch einen bedeckenden Basalt stellenweise in einen stängelig abgesonderten Anthracit (Stangenkohle) umgewandelt, und ähnliche Erscheinungen sind von Salesl bei Aussig in Böhmen, von Mährisch-Ostrau u. a. O. bekannt. Wurden dagegen die Schichten der betreffenden Formation nicht von jüngern bedeckt, so fehlte ein Haupterfordernis der Einleitung des Verkohlungsprozesses, der hohe Druck. So kommen in den Gouvernements Tula und Kaluga Kohlen vor, welche nach ihren organischen Resten (Stigmaria, Lepidodendron) zweifellos der Steinkohlenformation angehören, während sie der Braunkohle durchaus ähnlich geblieben sind. Die die Kohlen begleitenden Gesteine sind in einem ähnlichen unreifen Zustand: statt der Schieferthone sind plastische Thone und Letten entwickelt; die Sandsteine sind locker, fast lose Sande. Verbreitung. Produktion. Verbrauch Die wichtigsten Kohlenfelder (soweit sie der Steinkohlenformation angehören, der übrigen wurde schon oben Erwähnung gethan) sind in Deutschland, von W. nach O. geordnet. 1) das Aachener Becken oder das Doppelbecken an der Worm und Inde, nach Deutschland hereinragende Teile des großen belgischen Beckens; 2) das Saarbecken oder Saarbrückener Becken, an welchem außer Preußen auch Bayern und Lothringen partizipieren; 3) das westfälische oder Ruhrbecken, zu welchem als äußerste Vorposten nach N. die Kohlenfelder von Ibbenbüren und Piesberg bei Osnabrück gehören; 4) und 5) die beiden unbedeutenden Kohlenvorkommnisse von St. Bilt im Elsaß und Berghaupten in Baden; 6)-10) die ebenfalls nur kleinen Becken von Ilfeld bei Nordhausen, Wettin-Löbejün in der Provinz Sachsen, Manebach-Kammerberg in Thüringen, Stockheim bei Koburg und Erbendorf in Oberfranken; 11) und 12) im Königreich Sachsen das größere Zwickau-Chemnitzer und das kleinere Plauensche Becken; 13) und 14) die beiden schlesischen Becken, das von Waldenburg und das oberschlesische, in dessen Zentrum Königshütte gelegen ist. Die relative Wichtigkeit der Kohlenfelder Deutschlands erhellt aus der folgenden, aus die Produktion des Jahrs 1873 bezüglichen Tabelle, welche für die Vergleichszwecke auch gegenwärtig noch ausreicht: Steinkohlenbecken Zahl der Gruben Prozent der Gesamtzahl Produktion in Zentnern Prozent der Gesamtproduktion Wert in Mark Prozent des Gesamtwerts Arbeiter Prozent der Gesamtzahl Westfälisches Becken 230 42,4 328161620 45,9 180227595 45,8 Qberschlesisches Becken 132 24,3 155380208 21,8 62077491 15,8 Saarbecken 38 7,0 96851737 13,6 79696177 20,2 24469 14,1 Zwickau - Plauen 73 13,5 63 321 518 8,938109831 9,7 16429 Waldenbura 35 6,5 45876197 6,4 1042384 5,7 12298 7,5 Aachener Becken 18 3,3 21037039 3,0 10788069 2,7 6078 Stockheim 6 1,1 1311879 0,2 745863 0,2 683 0,4 Wettin und Lödejün 3 0,5 1045137 0,1 681429 0,2 400 Ilfeld 3 0,5 501095 0,1 262086 0,1 215 0,2 Berghaupten 3 0,5 253883 0,0 192024 0,0 142 0,1 Manebach und Kammerberg 2 0,4 19831 0,0 12981 0,0 36 0,0 Zusammen: 543 100,0 713760144 100,0 394035930 100,0 173652 Während unter den außerdeutschen Ländern Belgien reiche Kohlenlager im Zusammenhang mit dem Aachener Becken besitzt, sind die französischen Becken (St.-Etienne, Creusot, Autun, Alais etc.) unbedeutender. Spanien und Portugal scheinen große Vorräte an Steinkohlen zu bergen, wogegen Italien und die Schweiz nur wenige und kleine Partien der produktiven Steinkohlenformation aufzuweisen haben. Im O. Deutschlands sind in Böhmen mehrere Becken (Kladno, Rakonitz, Pilsen) zu verzeichnen, ferner das Ostrauer in Mähren und Österreichisch-Schlesien. Rußland besitzt außer den oben erwähnten Kohlen der Gouvernements Kaluga und Tula solche am Donez im Süden, am Ural und hoch im N. auf den Bäreninseln und Spitzbergen. Das großbritannische Inselreich hat relativ zu seinem Gesamtgebiet das größte Areal Kohlenfelder. Es verteilen sich dieselben auf eine Anzahl isolierter Becken, unter denen die von Northumberland, Yorkshire, Derbyshire, Südwales und Schottland die wichtigsten sind. Unter den übrigen Erdteilen der Alten Welt ist besonders Asien und hier wiederum China, wo die Kohlenlager über ein Areal von 200,000 QM. verbreitet sind (s. China, S. 4), sehr reich an Kohlen, die zum größten Teil der Steinkohlenformation angehören. Als unermeßlich werden die Kohlenschätze Nordamerikas geschildert, die sich über sechs große Territorien verbreiten: 1) das appalachische Kohlenfeld, an welchem die Staaten Pennsylvanien, Ohio, Virginia, Kentucky, Tennessee und Alabama partizipieren; 2) das Illinois-Missouri-Kohlenfeld, von dem außer auf die benennenden Staaten Teile auf Indiana, Kentucky, Iowa, Kansas Steinkohle - Steinkohlensormation. und Arkansas entfallen; 3) das Kohlenfeld in Michigan; 4) das in Texas; 5) Rhode-Island und endlich 6) das Doppelfeld von Neuschottland und Neubraunschweig. Die Ausdehnung der Kohlenfelder in englischen Quadratmeilen wird veranschlagt für China auf mehr als 200,000, Nordamerika auf 193,870, Ostindien 35,500, Neusüdwales 24,000, Großbritannien 9000, Deutschland 3600, Spanien 3500, Frankreich 1800, Belgien 900. Die Kohlenproduktion hat in verhältnismäßig kurzer Zeit einen rapiden Aufschwung genommen. Sie betrug 1860 in England, Deutschland, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Frankreich, Belgien und Österreich 124 Mill. metr. Tonnen. Die Gesamtproduktion (zu 1000 kg) betrug nach Neumann Spallart ("Übersichten der Weltwirtschaft") 1884: 409,381,515 Ton. (à 1000 kg), die sich auf die einzelnen Länder folgendermaßen verteilen: Großbritannien 163,329,904, Deutschlands 121,000, Frankreich 20,023,504, Belgien 18,051,499, Österreich 17,199,518, Rußland 3,500,000, Ungarn 2,525,056, Spanien 979,350, Schweden 196,831, Italien 164,737, Niederlande 49,554, Portugal 17,000, Schweiz 5800, Europa 298,163,753. Vereinigte Staaten 100,268,109, China 3,000,000, Neusüdwales 2,793,086, Britisch-Nordamerika 1,673,000, Ostindien 1,420,183, Japan 755,800, Chile 490,000, Neuseeland 488,524. Die Steinkohlenproduktion im Deutschen Reich betrug 1887 über 60 Mill. Ton. und verteilte sich wie folgt: Westfalen 21528741 Schlesien 16187078 Rheinland 16127350 Hannover 581546 Königr. Preußen 54548283 Königreich Sachsen 4293417 - Bayern 683619 Elsaß-Lothringen 693 679 Deutsches Reich 60333984 Der Kohlenverbrauch gibt einen Maßstab für die materielle Kultur. Er betrug in metr. Tonnen in: Absoluter Verbrauch Auf den Kopf der Bevölkerung 1865 1884 1865 1884 Großbritannien 90404000 140135000 3,092 3,900 Belgien 7 631 000 13483000 1,577 2,331 Vereinigte Staaten 18825000 98109000 0,598 1,766 Deutschland 26680000 69001000 0,730 1,505 Frankreich 8522000 30941000 0.470 0,816 Osterreich 5050000 18132000 0,139 0,464 Rußland 1085000 5200000 0,015 0,066 Die Frage nach der Möglichkeit einer Erschöpfung der S. hat namentlich für England größeres Interesse. Man nimmt an, daß das Land noch einen Vorrat von ca. 146 Milliarden Ton. innerhalb der Tiefe von 4000 Fuß besitze; davon sind 90 Milliarden Ton. aufgeschlossen, während man 56 Milliarden auf voraussichtlich zu erschließende Flöze (?) rechnet. Nimmt man an, daß sich der Kohlenverbrauch in bisheriger Weise weiter steigern werde, so würden diese Schätze noch für 250 Jahre ausreichen. Auch Deutschland kann seinen Bedarf noch für Jahrhunderte decken, dann aber bieten Rußland und andre Länder reichlichen Ersatz, der voraussichtlich durch Herabsetzung der Transportkosten für die europäischen Länder erreichbar werden wird. Nicht vor einer geologischen oder technischen, sondern vor einer ökonomischen Frage werden also die folgenden Generationen hinsichtlich des Kohlenbedarfs stehen. - Die Benutzung der S. ist wesentlich eine doppelte: die als Brennmaterial und die der Gewinnung der Destillate, welch letztere sich in Leuchtgasfabrikation, Gewinnung des Teers und seiner Derivate etc. gliedert. Untergeordnet ist die Verwendung politurfähiger Kohlen zu Schmuckgegenständen (Gagat in England und Württemberg), an Eisenkies und Asche reicher Abarten zur Alaungewinnung, der Steinkohlenasche als Dünger und als Zusatz Die Benutzung der S. reicht bei einigen Völkern weit zurück. So sollen die Chinesen schon frühzeitig ihren Wert erkannt haben, und in einigen englischen Gruben hat man Steinwerkzeuge vorgefunden, so daß die Kenntnis der Kohle älter als die des Eisens sein würde. Die alten Deutschen scheinen neben Holz nur den Torf als Brennmaterial verwendet zu haben; es finden sich auch alte Schlackenhalden an der Ruhr, also in kohlenreicher Gegend, nicht im Thal, sondern offenbar wegen der bequemen Nähe der Wälder auf Bergesrücken. Daß die Römer, als sie als Eroberer England betraten, die Kohlen wenigstens an den Ausstrichen benutzt haben, ist durch Funde auf dem Herd eines römischen Bades bewiesen. In Deutschland scheint das Zwickauer Becken schon von den bergbautreibenden Sorben benutzt worden zu sein, während die Ausbeutung des belgischen und Aachener Beckens sich rückwärts bis ins 11., des Ruhrbeckens bis ins 14. Jahrh. verfolgen läßt. In England werden schon im 9. Jahrh. Kohlen als Brennmaterial urkundlich erwähnt; im 12. Jahrh. sind sie bereits ein wichtiger Handelsartikel, der sich nicht mehr vom Markt verdrängen ließ, obgleich mehrere Edikte ihre Benutzung als luftverpestend verboten. Vgl. Geinitz, Fleck und Hartig, Die Steinkohlen Deutschlands und andrer Länder Europas (Münch. 1865); v. Dechen, Die nutzbaren Mineralien und Gebirgsarten im Deutschen Reich (Berl. 1873); Hull The coalfields of Great Britain (4. Aufl., Lond. 1880); Mac Farlane, The coalregions of the United States (New York 1873), Mietzsch, Geologie der Kohlenlager (Leipz. 1875); Pechar, Kohle und Eisen in allen Ländern der Erde (Stuttg. 1878); Höfer, Die Kohlen- und Eisenerzlagerstätten Nordamerikas (Wien 1878, Ausstellungsbericht); Muck, Grundzüge und Zieleder Steinkohlenchemie (Bonn 1881); Derselbe, Chemisches Steinkohlenbüchlein (das. 1882); Toula, Die Steinkohlen (Wien 1888); Demanet, Betrieb der Steinkohlenbergwerke (deutsch, Braunschw. 1886). Steinkohleformation (Kohlenformation, karbonische Formation; hierzu die Tafeln "Steinkohlenformation I-III"), ein vorwaltend aus Kalksteinen, Konglomeraten, Grauwacken, Sandsteinen und Schieferthonen, untergeordnet aus Steinkohle, Sphärosideriten und Kieselschiefern bestehendes paläozoisches Schichtensystem, das bei vollkommener Entwickelung der Systemreihe der devonischen Formation aufgelagert ist und seinerseits vom Rotliegenden überlagert wird. Die Trennung von den beiden benachbarten Formationen wird häufig durch vollkommene Konkordanz und petrographische Ähnlichkeit der betreffenden Grenzschichten, namentlich gegen das Rotliegende hin, erschwert. Paläontologisch wird die S. charakterisiert durch die in keiner andern Periode erreichte Üppigkeit der Kryptogamenflora und durch das erstmalige Auftretenvon Reptilien und luftatmenden Tieren. Sehr häufig ist die mitunter bis zu 7000 m Mächtigkeit anschwellende Schichtenfolge den ältern Formationen in Form flach tellerartiger Mulden, Becken oder Bassins aufgelagert, deren Zusammenhang und ursprüngliche Lage allerdings oft durch sekundäre Störungen (Verwerfungen) unterbrochen und verändert worden sind. Das beigegebene Profil (s. Tafel III) durch einen Teil des Kohlenfeldes von Zwickau (Sachsen) soll ein Bild der allgemeinen Lagerungsverhältnisse geben. Es ist der südwestliche Flügel einer Mulde mit einer Mehrzahl Steinkohlenformation I. Säulenglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus verus. (Art. Krinoideen.) Palaeocidaris clliptica, ganze Schale. (Art. Echinoideen.) Kinnlade von Cochliodus contortus. (Art. Selachier.) Rückenstachel von Orodus cinctus. (Art. Selachier.) Geöffnet, mit : aufgerollte Armgerüst. Rückenstachel von Tristychius arcuatus. (Art. Selachier.) Spirifer hystericus. (Art. Brachiopoden.) Platycrinus triacanmodactylus. (Art. Krinoideen.) Vorderansicht. Seitenansicht. Conocardium fusiforme. (Art. Einzelner Arm mit den Ranken. ChoilCtes Dalmanni. (Art. Brachiopoden.) Von oben. Von der Seite. [Von unten. Pentremites florßalis. (Art. Krinoideen.) Innere Seiten-Kammern, ansieht. Chaetetes radians. (Art. Koranen.) Nat. Vorder-Gr. ansieht. Fusulina cylindrica. (Art. Rhizopoden.) Oyclophthalmus Bucklandi, daneben -lie Flügeldecken eines (Art. Spinneniere.) Goniatites sphaericus. (Art. Tintenschnecken.) Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut in Leipzig. Goniatites Jossae (Art. Tintenschnecken.) Zum Artikel "Steinkohlenformation" Steinkohlenformation II. 1. Zahnfarn (Odontopteris). - 2. Schuppenbaum (Lepidodendron). 3. Cordaites borassifolia. - 4.Pecopteris cyathea. - 5. Kalamiten. - 6. Sigillaria. - 7. Stigmarienform einer Sigillarie mit Wurzeln Wasser. - 8. Blattstern von Annularien. Steinkohlenformation III. GEOLOGISCHES PROFIL DURCH DAS KOHLENFELD VON ZWICKAU. Von der Cainsdorfer Kirche nach Morgensternschacht II (Nach Steinkohlenformation (Abteilungen, Flora). von Kohlenflözen und zeigt neben dem allgemeinen Einfallen der Schichten nach Nordosten die Störungen dieser Gesetzmäßigkeit durch die Verwerfungen, welche einzelne Abschnitte der Kohlenflöze und der übrige Schichten losgetrennt und, relativ zu ihrer Umgebung, in eine größere Tiefe versetzt haben. Wo immer alle Glieder der S. entwickelt sind, läßt sich eine Zweiteilung der Formation nach petrographischen u. paläontologischen Unterschieden nachweisen, deren unteres Glied zur Bildung von Facies neigt, für welche es aber an Übergängen ineinander nicht mangelt. In Amerika, den meisten Becken Englands, in Frankreich, Belgien, am Niederrhein, in Schlesien und Rußland wird die unterste Abteilung von einem gewöhnlich festen und dichten, mitunter (Rußland) kreideartigen Kalkstein (Bergkalk, Mountain limestone, Kohlenkalk, metallführender Kalk) gebildet, der reich an organischen Resten meerischen Ursprungs ist. Untergeordnet kommen mit dem Bergkalk Dolomit, Anhydrit, Gips, Steinsalz (Westvirginia, Durham, Bristol) vor. In Devonshire, Irland, Nassau, am Harz, in Schlesien, Mähren und den Alpen (Gailthaler Schichten) bilden dagegen Thonschiefer, Sandsteine, Grauwacken und Kieselschiefer ein als Kulm bezeichnetes Äquivalent des Kohlenkalks. Ärmer an Versteinerungen als der Kohlenkalk, führt der Kulm immerhin noch genug Arten (Posidonomya Becheri, Goniatites sphaericus etc.) gemeinsam mit dem Kalk, um ihn als bloße Facies desselben aufzufassen. Während die Thonschiefer oft sehr reich an Posidonomya Becheri sind (Posidonomyenschiefer), stellen sich in den Grauwacken und Sandsteinen Pflanzenreste ein (die im Kohlenkalk nur als äußerste Seltenheiten bekannt sind), mitunter sogar zu kleinen Flözen angehäuft (Calamites transitionis, Sagenaria, Stigmaria). Man betrachtet diese Facies als eine Bildung innerhalb flacher Meeresbuchten, während der Kohlenkalk einen Absatz des hohen Meers darstellen würde. Eine dritte Facies dieser untersten Abteilung ist endlich die von sehr groben Konglomeraten mit untergeordneten Sandsteinen und Schieferthonen, an einigen Punkten Sachsens flözführend, in mehreren Becken durch auskeilende Wechsellagerung mit Kohlenkalk verknüpft. Es würde sich diese Art der Entwickelung als eine Uferbildung deuten lassen. - Über jeder dieser Facies ist als zweites Glied der S. ein Sandstein mit untergeordneten Konglomeraten entwickelt, der nur selten und dann gewöhnlich unbauwürdige Flöze enthält. Dieser flözleere Sandstein (obere Kulmgrauwacke, Millstone grit) wird häufig dem Kohlenkalk und Kulm noch beigezählt und mit diesem zusammen als subkarbonische Formation der obern Abteilung, der produktiven Kohlenformation (Hauptsteinkohlenformation), entgegengestellt. Diese besteht an den meisten Orten aus Sandsteinen und Schieferthonen, aus Steinkohlen, thonigen Sphärosideriten, bald in einzelnen Konkretionen in den Schieferthonen eingeschlossen, bald zusammenhängende Lagen bildend, und Kohleneisenstein (s. Spateisenstein). Die Kohle ebensowohl als die Eisenerze sind lediglich gelegentliche Begleiter der übrigen Gesteine und, selbst wo sie vorhanden sind, in so geringer Mächtigkeit gegenüber den Sandsteinen und Schieferthonen entwickelt, daß sie trotz ihrer großen technischen Wichtigkeit nur als untergeordnete Glieder der produktiven S. bezeichnet werden können. Es ist deshalb die Benennung "produktiv" für die obere Abteilung keine glückliche, um so weniger, als neuere Untersuchungen zu beweisen scheinen, daß die nach dieser Bezeichnung vorausgesetzte ungefähre Gleichalterigkeit für die wichtigsten Kohlenvorkommnisse nicht besteht, daß vielmehr einige englische sowie die von Ostrau und Waldenburg dem Kulm, die westfälischen, belgischen, nordfranzösischen und viele englische einer untern Stufe der obern Abteilung zugerechnet werden müssen, während die Flöze von Pilsen und Zentralfrankreich eine jüngere Periode derselben Abteilung repräsentieren. Aber auch diese Abteilung führt an manchen Orten, z. B. Yorkshire, Kentucky, Öberschlesien und namentlich in Rußland (Fusulinenkalk), Kalksteine mit reichen Resten marinen Charakters. Das Hangende der produktiven S. wird in einigen Gegenden (z. B. im Saargebiet) von einer Schichtenfolge (Ottweiler Schichten) gebildet, deren innige Verwandtschaft mit höher gelegenen (Cuseler Schichten, s. Dyasformation) die oben erwähnte Schwierigkeit der Abgrenzung gegen das Rotliegende bedingt. Die für die Kohle der S. gegebene geographische Verbreitung (s. Steinkohle) stellt natürlich nur einen kleinen Teil derjenigen der S. dar, insofern als namentlich der Bergkalk über große Horizontalstrecken hin als anstehendes Gestein dominiert. So nimmt derselbe einen großen Teil des südlichen und mittlern England ein und bildet im Innern mitunter groteske Bergpartien, an der Küste von Südwales steile Klippen. In Schottland und in einigen Gegenden Englands sind die Facies der Konglomerate und des Kulms die Unterlage der produktiven S., in Irland fehlt die jüngere Abteilung gänzlich. In Deutschland tritt Kohlenkalk als unterstes Glied des Aachener (und belgischen) sowie des westfälischen Beckens auf, weniger und meist durch Kulm vertreten in Schlesien, während in Hessen-Nassau nur die untere Abteilung (Kulm), bei Saarbrücken lediglich die obere Abteilung vorkommt. In Böhmen fehlt ebenfalls die subkarbonische Formation; dagegen sind in Mähren, besonders aber in Rußland, auf Spitzbergen, auf den Bäreninseln und in Nordamerika Kohlenkalke in großer Verbreitung bekannt. Die pflanzlichen und tierischen Reste der S. unterliegen einer ähnlichen Trennung wie das Gesteinsmaterial. Die erstern sind wesentlich auf die Steinkohlenflöze und die sie begleitenden Schieferthone beschränkt, die tierischen Reste an den Kohlenkalk und den Kulm geknüpft. Die Flora der S. war trotz aller Üppigkeit, wie sie sich in der großartigen Aufhäufung zu mächtigen Kohlenflözen ausspricht, eine formenarme: es fehlen die höhern Dikotyledonen vollständig, und auch Koniferen, Palmen und Cykadeen spielen eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt des pflanzlichen Lebens lag in den Kryptogamen, von denen einige Geschlechter in größter Anzahl der Individuen und in später nie wieder erreichten Dimensionen auftreten. Die Kalamiten (s. Tafel "Steinkohlenformation II", Fig. 5) haben unter der Flora der Jetztwelt die Schafthalme (Equiseten) zu nächsten Verwandten, und in die gleiche Klasse dürften auch die zierlichen Rosetten der Annularien (Fig. 8 und Sphenophyllen gehören. Zu den Lykopodiaceen zählen die Siegelbäume (Sigillarien, Fig. 6), die Schuppenbäume (Lepidodendren, Fig. 2) und vielleicht auch die Cordaites-Arten (Fig. 3), die jedoch von andern mit mehr Wahrscheinlichkeit den Cykadeen zugezählt werden. Besonders die erstgenannten Angehörigen einer Familie, welche jetzt fast ausschließlich niedrige, krautartige Pflanzen ausweist, mögen als baumartige Formen mit ihren Stämmen, welche deutliche, im Quincunx gestellte, bald rhombische, bald sechsseitige Blattnarben tragen, den Wäldern der S. Steinkohlenformation (Tierreste). den typischen Charakter aufgeprägt haben. Die Stigmarien (Tafel II, Fig. 7) gehören zu ihnen als die Wurzelstöcke mit weithin verzweigten Wurzeln, während die Lücken zwischen den Stämmen durch zahlreiche krautartige Farne (man kennt über 200 Arten), zum Teil noch jetzt lebenden engverwandt, ausgefüllt waren (z. B. Odontopteris, Fig. I). Außer diesen niedrigen farnformen kamen aber auch Baumfarne vor (z. B. Pecopteris, Fig. 4). Neben den Gefäßkryptogamen treten die Cykadeen (Noeggerathia, Pterophyllum) und die Koniferen (aus der Abteilung der Araukarien) nach Arten- und Individuenzahl weit zurück. Die meisten gut erkennbaren Pflanzenreste sind den die Kohlenflöze begleitenden Schieferthonen eingelagert; es unterliegt aber keinem Zweifel und ist durch viele mikroskopische Untersuchungen dargethan, daß die Kohlenflöze selbst aus dem Detritus derselben Pflanzen bestehen, deren einzelne Fragmente in den benachbarten Thon eingeschlossen wurden. Sigillarien, ihre Wurzelstöcke, die Stigmarien, und Lepidodendren sind nachweisbar die Hauptkohlenpflanzen, schon der Masse nach untergeordnet die Kalamiten (manche Rußkohle) und Araukarien, noch seltener Farne. Das Gesamtbild der Flora der S. ist das einer üppigen tropischen Sumpfflora; aber trotzdem ist die in den Kohlenflözen aufgehäufte Pflanzenmenge eine erstaunliche: hat doch Chevandier berechnet, daß ein 100jähriger Buchenwald beim Verkohlen ein Schichtchen von nur 2 cm Kohle liefern würde. Man hat deshalb geglaubt, lokale Aufhäufungen der Pflanzenleichen durch Anschwemmungen annehmen zu müssen. Aber das Vorkommen aufrecht stehender Stämme, die große Reinheit des kohligen Materials, die ununterbrochene Verbreitung eines und desselben Kohlenflözes über mitunter große Horizontalstrecken widersprechen einer solchen Anschwemmungshypothese und lassen sie höchstens für kleinere Kohlenschmitzchen oder stockartige, in horizontaler Richtung unbedeutend entwickelte Vorkommnisse gelten. Man hat ferner (Mohr) das eigentliche kohlenbildende Material nicht in den oben beschriebenen Pflanzen, sondern vielmehr in Seetangen gesucht, welche, wie die heutigen Sargassomeere (deren Ausdehnung übrigens nach neuern Forschungen auch nicht so bedeutend ist, als man bislang annahm), in großen Bänken aufgetreten und nach dem Absterben in geschlossenen Massen auf den Boden gesunken seien. Aber die mikroskopische Untersuchung der Steinkohlen widerspricht dieser Auffassung vollständig. So bleibt nichts übrig, als Sümpfe und Moräste auf flachen Ufern des Meeresstrandes, den Dschangeln (s. d.) vergleichbar, anzunehmen, in denen unter tropischer Sonne eine die unsrige an Üppigkeit weit übertreffende Pflanzenwelt sich entwickelte. Periodische Einbrüche des Meers vernichteten vorübergehend dieses Leben und führten Schlamm und Sand, das jetzt als Schieferthon und Sandstein die einzelnen Kohlenflöze trennende Material, herbei, welches nach Rückzug des Meers für eine neue Vegetation den Boden darbot. Ob sich von diesen pelagischen oder paralischen Kohlenbecken einige kleinere als limnische abtrennen lassen, die sich an und in Süßwasserseen gebildet haben würden, diese Ansicht steht und fällt mit der Deutung gewisser Molluskenreste (Anthracosia) in der Unterlage der betreffenden Flöze als Süßwasser- oder Seeformen (vgl. Süßwasserformationen). - Der Typus der Kohlenpflanzen weist auf eine mittlere Temperatur von 20-25° hin, und der Umstand, daß selbst hochnordische Kohlenbecken eine tropischen Charakter tragende Flora geliefert haben, scheint die Annahme zu rechtfertigen, es sei diese hohe Mitteltemperatur damals eine allgemein herrschende gewesen. Auf den Zustand der Atmosphäre während der S. lassen die großartigen Kohlenschätze insofern schließen, als die aufgehäuften Pflanzen zum Aufbau ihrer Körper der Atmosphäre den in ihr als Kohlensäure enthaltenen Kohlenstoff entzogen. Vor und während der S. mußte demnach die Luft viel reicher als heute an Kohlensäure sein. Man hat auf Grund einer Schätzung der Menge der Kohlen den damaligen Gehalt auf 0,06 Proz. berechnet, also auf das 150fache des heutigen. Die Tierreste der S. widersprechen der Annahme einer kohlensäurereichen Atmosphäre nicht: fehlen doch alle warmblütigen Tiere, während die Reptilien erfahrungsmäßig in kohlensäurereicher Luft leben können. In der obern Abteilung der S. war das tierische Leben auf ein Minimum beschränkt, ähnlich wie heute in unsern Urwäldern. Interesse erregen einige Landschnecken, Skorpione (z. B. Cyclophthalmus Bucklandi, s. Tafel I), Spinnen, Tausendfüße, Heuschrecken, Schaben und Käfer (s. die Flügeldecke auf derselben Platte). Die Wassertümpel waren von kleinen Schalenkrebsen (Leaia, Leperditia, Estheria) bevölkert, während als höchst organisierte Tiere Amphibien auftreten. Die meisten derselben gehören Mittelformen zwischen den Echsen und Batrachiern an, den großschädeligen Labyrinthodonten. Weit größern Reichtum an tierischen Resten, unzweifelhaften Meeresbewohnern, birgt der Bergkalk. Von Protozoen kommt eine weizenkorngroße Foraminifere, Fusulina cylindrica (s. Tafel I), namentlich in Rußland und Amerika in zahllosen Exemplaren vor, bestimmte Lagen des Kalks (Fusulinenkalk) fast ausschließlich zusammensetzend. Die Korallen (Chaetetes, s. Tafel I), welche ebenfalls mitunter in gesteinsbildender Fülle auftreten, gehören denselben Ordnungen wie die des Silurs und der Devonischen Formation (s. d.) an. Die Krinoideen sind zahlreich nach Formen und Individuen; zu der Krinoideenabteilung der Blastoideen gehört das Genus Pentremites (s. Tafel I), welches zwar schon im Silur und Devon auftritt, in der Steinkohle aber seine zahlreichsten Vertreter besitzt. Aus der Ordnung der Seelilien stellt die Tafel die Stielglieder (Entrochiten) von Rhodocrinus Verus dar, welche sich schichtenweise ebenso aufgehäuft vorfinden wie die Säulenglieder von Encrinus im Muschelkalk oder von Pentacrinus im Lias sowie Platycrinus triacanthodactylus. Seeigel, aus 30-35 Reihen sechsseitiger Platten zusammengesetzt, sind durch mehrere Genera (darunter Palaeocidaris, s. Tafel I) vertreten. Unter den Mollusken sind die Ordnungen der Brachiopoden und Cephalopoden, wenn auch noch artenreich, doch nicht mehr so vorwaltend wie in den noch ältern Formationen (Chonetes Dalmanni, Spirifer hystericus, Goniatites Jossae und G. sphaericus, s. Tafel I). Zu den Pelekypoden zählen die im Kulm häufige Posidonomya Becheri, die Anthracosia und das nach vorn abgestutzte, nach hinten schnabelförmig ausgezogene und klaffende Conocardium fusiforme (s. Tafel I). Die Gastropoden gehören fast ausnahmslos denselben Genera wie die der devonischen Formation an. Die Trilobiten klingen in der S. aus und sind nur noch durch die kleinen und seltenen Arten der Gattung Phillipsia vertreten; daneben sind, wenn auch selten, Molukkenkrebse (Limulus) beobachtet worden. Von Fischen der S. findet man Zähne und Rückenstacheln besonders häufig. Sie gehören Haien an, wenn auch Abteilungen, welche in der Jetztwelt teils ganz erloschen, teils nur durch wenige Formen vertreten sind (Orodus. Tristychius Steinkohlengas - Steinla. und Cochliodus, s. Tafel I). Die Ganoidengeschlechter Palaeoniscus und Amblypterus kommen in sehr zahlreichen vollständigen Exemplaren in Schichten (Lehbach im Saarbecken) vor, welche jetzt dem Rotliegenden beigezählt werden. - Die vulkanische Thätigkeit lieferte während der Steinkohlenperiode Diabase (in Schottland, England, Frankreich, an einzelnen Punkten Deutschlands), Felsitporphyre (Sachsen, Niederschlesien, Frankreich), seltener Diorite, Pechsteine und Melaphyre, während die eigentliche Eruptionszeit der zuletzt genannten erst in die Dyasperiode fällt. Namentlich die Diabase sind durch Decken und Tuffe, welche sich zwischen die karbonischen Gesteine einschalten, besonders häufig als zweifellos gleichzeitige Bildungen charakterisiert. Es mögen diese sowie jüngere Eruptivgesteine zum Teil auch die zahlreichen Schichtenstörungen (s. Verwerfungen), welchen die Gesteine der S. unterworfen sind, verursacht haben. - An technisch wichtigen Materialien liefert die S. in erster Linie Kohlen und Eisenerze, außerdem wichtige Erze besonders auf gangförmigen Lagerstätten. So gehört ein Teil der Oberharzer Gänge von silberhaltigem Bleiglanz dem Kulm an; Englands und Amerikas Kohlenkalk birgt ebenfalls Bleiglanzgänge. Von den Aachener und belgischen Zinkerzlagerstätten bilden einige Gänge, andre Nester und Lager, teils in karbonischen Gesteinen, teils an der Grenze zwischen diesen und devonischen Schichten, teils innerhalb des devonischen Systems. Der Bergkalk selbst endlich dient hin und wieder als Marmor und als Zuschlag beim Hochofenbetrieb, gewisse Varietäten des flözleeren Sandsteins als Mühlstein (woher der englische Name: Millstone grit), andre als feuerfestes Material. Vgl. die bei Art. Steinkohle (S. 272) angeführten Werke, außerdem: Weiß, Das Steinkohlengebirge an der Saar (Berl. 1875); Lottner, Das westfälische Steinkohlengebirge (2. Ausg., Iserl. 1868); Geinitz, Geognostische Darstellung der S. in Sachsen (Leipz. 1856); Römer, Geologie von Oberschlesien (Bresl. 1870); Geinitz, Die Versteinerungen der S. in Sachsen (Leipz. 1855); Andrae, Vorweltliche Pflanzen aus dem Steinkohlengebirge der preußischen Rheinlande und Westfalens (Bonn 1865-69); Stur, Beiträge zur Kenntnis der Flora der Vorwelt (Wien 1875-83). Steinkohlengas, s. Leuchtgas. Steinkohlenkreosot, s. Phenol. Steinkohlenpech, pechartige Masse, welche aus Steinkohlenteer gewonnen wird. Destilliert man aus letzterm die flüchtigern Öle ab, so erhält man als Rückstand Asphalt, etwa 80 Proz. vom Gewicht des Teers; destilliert man etwa 10 Proz. mehr ab, so bildet der Rückstand weiches und bei noch weiter fortgesetzter Destillation mittelhartes und hartes Pech. Seit Begründung der Anthracenindustrie destilliert man allgemein bis zur Bildung von hartem Pech, pumpt dann wieder schweres Teeröl in die Blase und erhält, je nach der Menge des letztern, weiches Pech, Asphalt, präparierten Teer oder künstlichen Stockholmer Teer. Weiches Pech erweicht bei 40° und schmilzt bei 60°, mittelhartes erweicht bei 60° und schmilzt bei 100°, hartes erweicht bei 100° und schmilzt bei 150-200°. Steinkohlenasphalt dient als Surrogat des natürlichen Asphalts und wird zu diesem Zweck mit Sand, Kies, Asche, Ziegelmehl, Kalkstein, Kreide etc. gemischt. Sehr verbessert wird er durch Erhitzen mit Schwefel, und ein derartiges Präparat bildet, vielleicht noch mit Zusatz von indifferenten erdigen Bestandteilen, den Häuslerschen Holzzement. Hartes Pech wird in weiches verwandelt (wiederbelebt), indem man es in Teer, Asphalt oder Schweröl schmelzt und mit Hilfe einer Schraube ohne Ende bis zu völliger Homogenität knetet. Das S. dient besonders zur Brikettfabrikation, eignet sich aber auch vortrefflich zur Darstellung von Ruß, als Reduktionsmittel bei chemischen Prozessen und zur Zementstahlfabrikation. Wird das Pech noch in der Blase mit sehr viel Schweröl verdünnt, so erhält man den präparierten Teer, der viel billiger ist als roher Teer, dabei aber für Anstriche, zur Dachpappenfabrikation, in der Seilerei etc. ungleich wertvoller als letzterer. Er dringt schneller und tiefer in Holz und Stein ein, trocknet schneller und ohne Risse (in 12-24 Stunden) und gibt einen schönen glänzenden Überzug. Als Surrogat des Holzteers (Stockholmer Teer) führt er den Namen künstlicher Stockholmer Teer. Einen feinern, noch schneller (in 4-6 Stunden) trocknenden Firnis für feinere Eisenwaren erhält man auf gleiche Weise aus Pech und Leichtöl, und endlich wird dieser noch mit Naphtha oder Petroleumäther u. dgl. gemischt, in welchem Fall der Lack in einer Stunde, ja in einer Viertelstunde trocknet. Alle drei Firnisse haften ungemein fest am Eisen und geben einen ziemlich harten, stark glänzenden und sehr glatten überzug. Diese Verwendungsarten des Steinkohlenpechs konsumieren nur sehr wenig von der großen produzierten Menge, und man treibt deshalb die Destillation noch weiter, um schließlich nur Koks als Rückstand zu erhalten, für welche stets Absatz gefunden werden kann. Bei der Anwendung gußeiserner Retorten und eines Exhaustors, welcher zur Beförderung der Dampfentwickelung ein teilweises Vakuum in der Retorte erzeugt, erhält man zwischen 260 und 315° meist Naphthalin, dann bis 370° ein anthracenreiches Produkt und bei höherer Temperatur minder flüchtige Körper. Die Destillate geben beim Stehen einen Absatz, aus welchem Rohanthracen gewonnen wird, und das übrigbleibende Öl dient zum Schmieren. Der Ausführung der Pechdestillation im größern Umfang steht bis jetzt noch die Schwierigkeit entgegen, ein passendes Retortenmaterial zu finden. Vgl. Lunge, Die Industrie der Steinkohlenteer-Destillation etc. (2. Aufl., Braunschw. 1888). Steinkohlensystem, s. v. w. Steinkohlenformation. Steinkohlenteerkampfer, s. v. w. Naphthalin. Steinkolik, s. Harnsteine, S. 175. Steinkonkretionen, s. Steinigwerden. Steinkrankheit, die durch Harnsteine (s. d.) hervorgerufenen Beschwerden. Steinkraut, s. Alyssum. Steinkreise, s. Steinsetzungen. Steinkresse, s. Chrysospienium. Steinkultus, s. Steindienst. Steinla, Moritz, eigentlich Müller, Kupferstecher, geb. 1791 zu Steinla bei Hildesheim, bildete sich an der Akademie in Dresden, dann in Florenz unter Morghens und in Mailand unter Longhis Leitung. In Florenz vollendete er 1829 einen ausgezeichneten Stich nach Tizians Zinsgroschen. Nach seiner Rückkehr aus Italien ließ er sich in Dresden nieder, wo er später Professor der Kupferstecherkunst an der Akademie wurde und 1830 die Pietà nach Fra Bartolommeo, 1836 den Kindermord nach Raffael, 1838 die Madonna della Misericordia nach Fra Bartolommeo, 1841 die Madonna des Bürgermeisters Meyer nach Holbein stach, welche ihm von der Pariser Akademie die große goldene Preismedaille erwarb. Seine letzten Hauptwerke waren die Stiche nach der Sixtinischen Madonna (1848) und der Madonna mit dem Fisch von Raffael. Er starb 21. Sept. 1858. Steinle - Steinmine. Steinle, Eduard Jakob von, Maler, geb. 2. Juli 1810 zu Wien, war Schüler der Akademie daselbst und von Kupelwieser und ging 1828 nach Rom, wo er sich eng an Overbeck und Ph. Veit anschloß und bis 1834 blieb. In die Heimat zurückgekehrt, lebte er mit einigen Unterbrechungen, unter andern veranlaßt durch einen Aufenthalt in München zur Erlernung der Freskotechnik bei Cornelius, in Frankfurt a. M. und wurde dort 1850 erster Professor am Städelschen Institut. 1838 führte er in der Kapelle des Bethmann-Hollwegschen Schlosses Rheineck seine ersten Fresken aus. Dann begann er im Domchor zu Köln Freskogemälde, die Engelchöre auf Goldgrund darstellend, Schöpfungen von großartiger Wirkung. 1844 malte er für den Kaisersaal zu Frankfurt das Urteil Salomos. 1857 begann die Ausmalung der Ägidienkirche in Münster. Von 1860 bis 1863 beschäftigten ihn die vier großen, die Kulturentwickelung der Rheinlande schildernden Fresken im Treppenhaus des Museums Wallraf-Richartz in Köln. Dann malte er von 1865 bis 1866 die sieben Chornischen der Marienkirche in Aachen aus. Nach Beendigung der Ausschmückung der fürstlich Löwenstein-Wertheimschen Kapelle zu Heubach mit Fresken und Ornamenten wurde ihm 1875 die Ausmalung des Chors im Münster zu Straßburg übertragen, und 1880 erhielt er vom Frankfurter Dombauverein den Auftrag, das Innere des Doms vollständig auszumalen, wozu er einen umfangreichen Entwurf im Verein mit dem Architekten Linnemann aufstellte. S. hat auch eine große Anzahl von meist religiösen Staffeleibildern geschaffen, aber auch Porträte und romantisch gehaltene Genrebilder von feiner Färbung (der Türmer und der Violinspieler in der Galerie Schack zu München); ferner eine Menge von Zeichnungen und Aquarellen, teils religiösen Inhalts, teils nach Shakespeareschen und andern Dichtungen. Diese Aquarelle haben meist einen romantischen Zug, den er schon frühzeitig durch den Verkehr mit Klemens Brentano angenommen hatte, dessen Dichtungen ihm ebenfalls mehrere Motive geboten haben. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: Rheinmärchen und die mehreren Wehmüller nach Brentano, die Beichte in St. Peter zu Rom, Szene aus "Was ihr wollt" von Shakespeare (in der Berliner Nationalgalerie), Schneeweißchen und Rosenrot und der Parzival-Cyklus, sämtlich Aquarelle. S. starb 19. Sept. 1886. Vgl. v. Wurzbach, Ein Madonnenmaler unsrer Zeit (Wien 1879); Valentin, Ed. Jak. v. S. (Leipz. 1887). Steinlerche, s. Pieper und Flüevogel. Steinlorbeer, s. Viburnum. Steinmannit, s. Bleiglanz. Steinmark, Sammelname für eine Reihe derber, dichter, weißer, gelblicher oder rötlicher, undurchsichtiger, matter, fettig anzufühlender, thonerdehaltiger Silikate, die als Zersetzungsprodukte feldspatiger Mineralien in ihrer Zusammensetzung schwanken und sich zum Teil vom Kaolin, zum Teil vom Nakrit nicht trennen lassen. Als typisches S. wird das aus dem Porphyr von Rochlitz in Sachsen aufgeführt und in Carnat und Myelin getrennt. Beide scheinen sich vom Kaolin nur in Bezug auf den Gehalt an Wasser zu unterscheiden, während die Varietäten aus dem Melaphyr von Kainsdorf bei Zwickau und diejenige, welche den Topas am Schneckenstein in Sachsen begleitet, dem Nakrit zuzuzählen sind. Steinmasse, s. Steine, künstliche. Steinmerle, s. Steindrossel. Steinmetz, Karl Friedrich von, preuß. Generalfeldmarschall, geb. 27. Dez. 1796 zu Eisenach, ward im Kadettenhaus erzogen, trat 1813 als Leutnant in das 1. Regiment, mit dem er fast alle Gefechte und Schlachten des Yorkschen Korps 1813-14 mitmachte, ward mehrere Male verwundet und erwarb sich das Eiserne Kreuz. 1818 wurde er in das 2. Garderegiment versetzt, 1820 zur Kriegsschule, 1824 zum topographischen Büreau kommandiert, 1829 Hauptmann, erhielt 1839 als Major das Düsseldorfer Gardelandwehrbataillon und 1841 ein Bataillon Gardereserve in Spandau. Während des Barrikadenkampfs in Berlin 18. März 1848 befehligte er das 2. Infanterieregiment, mit welchem er auch nach Schleswig ging. Im Oktober ward er Kommandeur des 32. Infanterieregiments, 1849 Oberstleutnant, 1851 Oberst und Kommandeur des Kadettenkorps, 1854 Kommandant von Magdeburg und Generalmajor, 1857 Kommandeur der 3. Gardeinfanteriebrigade, im Oktober der 1. Division in Königsberg, 1858 Generalleutnant, 1862 kommandierender General des 2., 1864 des 5. Korps und General der Infanterie. An der Spitze des 5. Korps, das zur zweiten Armee gehörte, siegte er 27. Juni 1866 bei Nachod, am 28. bei Skalitz und am 29. bei Schweinschädel nacheinander über drei österreichische Korps und nahm denselben 2 Fahnen, 2 Standarten, 11 Geschütze und gegen 6000 Gefangene ab. Für diese großartigen Leistungen, welche wesentlich zu der Durchführung des ganzen Operationsplans beitrugen, erhielt S. den Schwarzen Adlerorden sowie eine Dotation und ward auch 1867 in den norddeutschen Reichstag gewählt. 1870 erhielt er das Oberkommando der ersten Armee, welche den rechten Flügel des deutschen Aufmarsches bildete. In dieser Stellung entsprach er jedoch den Erwartungen nicht. Sein durch seine großen Erfolge von 1866 gesteigerter Eigensinn wirkte höchst nachteilig und störend ein. Mit der zweiten Armee hatte er fortwährend Streitigkeiten über Quartiere und Marschrouten, mit Moltke über die Operationen seiner Armee. In der Schlacht bei Gravelotte griff er bei St.-Hubert mit einem Kavallerieangriff so zur Unzeit ein, daß die Schlacht nahe daran war, verloren zu werden. Infolge hiervon wurde S. nach der Schlacht bei Gravelotte dem Prinzen Friedrich Karl unterstellt und, da er sich diesem nicht fügte, zum Generalgouverneur der Provinzen Posen und Schlesien ernannt, aber 8. April 1871 zum charakterisierten Generalfeldmarschall ernannt und zu den Offizieren von der Armee versetzt. S. lebte darauf zu Görlitz und starb 4. Aug. 1877 im Bad Landeck. S. war ein rauher und herber Vorgesetzter, aber ein diensteifriger Offizier von spartanischer Strenge gegen sich selbst und ein tüchtiger Korpskommandeur. Steinmeyer, Franz Ludwig, protest. Theolog, geb. 15. Nov. 1812 zu Beeskow in der Mittelmark, war Prediger zu Kulm und Berlin, dann ordentlicher Professor der Theologie 1852 in Berlin, 1854 in Bonn, 1858 in Berlin. Von ihm erschienen: "Beiträge zum Schriftverständnis in Predigten" (2. Aufl., Berl. 1859-66, 4 Bde.); "Apologetische Beiträge" (das. 1866-73, 4 Bde.); "Beiträge zur praktischen Theologie" (das. 1874-79, 5 Bde.); "Beiträge zur Christologie" (das. 1880-82, 3 Bde.); "Geschichte der Passion des Herrn" (2. Aufl., das. 1882); "Die Wunderthaten des Herrn" (das. 1884); "Die Parabeln des Herrn" (das. 1884); "Die Rede des Herrn auf dem Berge" (das. 1885); "Das hohepriesterliche Gebet" (das. 1886); "Beiträge zum Verständnis des Johanneischen Evangeliums" (das. 1886-89, 4 Steinmine (Erdwurf, Erdmörser), unter 45° in die Erde gegrabene und an den Seitenwänden Steinmispel - Steinschnitt. mit Brettern bekleidete Gruben, die, mit Pulver und Steinen gefüllt, demnächst mit Erde verdämmt, durch Zündschnur entzündet, zur Sperrung von Engwegen oder in den letzten Stadien des Festungskriegs angewandt worden sind. Bei den Savartinen sind Cylinder aus Eisenblech in die Gruben Steinmispel, s. Cotoneaster. Steinnuß, s. Elfenbein (Surrogat). Steinobstgehölze, s. Amygdaleen. Steinöl, s. Erdöl. Steinoperationen, s. Steinschnitt. Steinpappe, s. v. w. Dachpappe; auch eine Masse aus aufgeweichtem und zerkleinertem Papier, angemacht mit Leimwasser und versetzt mit Thon und Kreide (auch Leinöl), dient zu Reliefornamenten. Steinpfeffer, s. Sedum. Steinpicker, s. Steinschmätzer. Steinpilz, s. Boletus. Steinpitzger, s. Schmerle. Steinpleis, Dorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Zwickau, an der Pleiße, hat eine evang. Kirche, Vigognespinnerei, Kunstwollfabrikation, Färberei, eine Dampfmahlmühle und (1885) 2769 Einwohner. Steinringe, s. Steinsetzungen. Steinröschen, s. Daphne. Steinrötel, s. Steindrossel. Steinsalz, s. Salz, S. 236. Steinsame, s. Lithospermum. Steinsänger, s. v. w. Steinschmätzer. Steinschmätzer (Saxicola Bechst.), Gattung aus der Ordnung der Sperlingsvögel, der Familie der Drosseln (Turdidae) und der Unterfamilie der S. (Saxicolinae), schlanke Vögel mit pfriemenförmigem Schnabel, welcher an der Wurzel breiter als hoch, auf der Firste kantig und an der Spitze etwas abgebogen ist, etwas stumpfen Flügeln, in welchen die dritte und vierte Schwinge am längsten sind, ziemlich kurzem und breitem, gerade abgeschnittenem Schwanz und hohen und dünnen Füßen mit mittellangen Zehen. Der S. (Steinsänger, Steinpicker, Steinbeißer, S. oenanthe Bechst.), 16 cm lang, 29 cm breit, oberseits hellgrau, an der Brust rostgelblich, auf dem Bürzel, an der Unterseite und an der Stirn weiß, mit weißem Augenstreifen, um die Augen, an den Flügeln und den beiden mittlern Schwanzfedern schwarz; die übrigen Schwanzfedern sind am Grund weiß, an der Spitze schwarz; das Auge ist braun, Schnabel und Fuß schwarz. Er bewohnt Mittel- und Nordeuropa, die asiatischen Länder gleicher Breite und den hohen Norden Amerikas. Bei uns weilt er vom März bis September. Er findet sich in steinreichen Gegenden und geht in der Schweiz bis über den Gürtel des Holzwuchses empor. Sehr gewandt, munter, ungesellig, vorsichtig, lebt er einsam, läuft ungemein schnell, fliegt ausgezeichnet, aber nicht hoch und macht, auf einem Felsen sitzend, wiederholt Bücklinge. Sein Gesang ist unbedeutend. Er nährt sich von Insekten, nistet in Felsritzen und Baumlöchern und legt im Mai 5-7 bläuliche oder grünlichweiße Eier (s. Tafel "Eier I"), welche das Weibchen allein ausbrütet. In der Gefangenschaft geht er durch seine Wildheit bald zu Grunde. Steinschneidekunst (Glyptik, Lithoglyptik), die Kunst, Gegenstände aus Edel- und Halbedelsteinen reliefartig erhaben (Kameen, s. d.) oder vertieft (Gemmen, Intaglien) in dieselben eingegraben darzustellen, sowie überhaupt die Kunst, Edelsteine und Halbedelsteine zu bearbeiten, d. h. ihnen durch Schleifen die verlangte Gestalt zu geben und sie zu polieren. Ersteres geschieht auf der Schleifmaschine und vermittelst der Steinzeiger, letzteres auf bleiernen und hölzernen Scheiben, erst mit Schmirgel und Bimsstein, dann mit Tripel und Wasser. Über die Geschichte der S. s. Gemmen nebst Tafel. Steinschneider, Moritz, jüd. Gelehrter, geb. 30. März 1816 zu Proßnitz in Mähren, studierte Philologie und Pädagogik an der Universität Prag, darauf Orientalia in Wien und wandte sich hier der jüdischen Theologie und Litteratur zu. Nachdem er seine Studien seit 1839 noch in Leipzig, später in Berlin und 1842 in Prag fortgesetzt, wurde er hier Lehrer an einer höhern Töchterschule und ging 1845 nach Berlin, wo er seit 1859 an der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt Vorlesungen hält und seit 1869 auch als Direktor der Töchterschule der Berliner jüdischen Gemeinde thätig ist. Unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten stehen obenan seine an Forschungsergebnissen reichen Kataloge, von denen wir den "Catalogus librorum hebraeorum in bibliotheca Bodlejana" (Berl. 1852-60), den dazu gehörigen "Conspectus codicum manuscr. hebraic. in bibl. Bodl." (das. 1857), "Die hebräischen Handschriften der königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München" (Münch. 1875), den "Katalog der hebräischen Handschriften in der Stadtbibliothek zu Hamburg" (Hamb. 1878) und den "Katalog der hebräischen Handschriften der königlichen Bibliothek zu Berlin" (Berl. 1878) hervorheben. Steinschneiders Artikel "Jüdische Litteratur" in Ersch und Grubers "Encyklopädie" (2. Sekt., 27. Bd.; englisch, Lond. 1857) ist die erste vollständige Darstellung des Gegenstandes in größerm Umfang. Seine sonstigen Arbeiten sind meist in der von ihm herausgegebenen "Hebräischen Bibliographie" (Berl. 1859-64, 1869-81) veröffentlicht. Auf dem Gebiet der arabischen Litteratur beleuchten seine Abhandlungen hauptsächlich Philosophie ("Alfarabi", 1869), Medizin ("Donnolo. Pharmakologische Fragmente aus dem 10. Jahrhundert", Berl. 1868; toxikologische Schriften u. a. in Virchows "Archiv" 1871, 1873) und Mathematik ("Baldi, Vite di matematici arabi", Rom 1874; "Abraham ibn Esra", Leipz. 1880, u. a. in Zeitschriften). Steinschnitt, ein Teil der Stereometrie, s. Stereotomie. Steinschnitt (Blasensteinschnitt, Lithotomie), die kunstmäßige Eröffnung der Harnblase oder ihres Halses an irgend einer Stelle und in einem solchen Umfang, daß ein darin befindlicher Harnstein (s. Harnsteine) entfernt werden kann. Es gibt fünf verschiedene Methoden des Steinschnitts beim Mann. Der S. mit der kleinen Gerätschaft, von Celsus zuerst beschrieben, besteht darin, daß man am Damm und am Blasenhals einen Einschnitt nach dem Stein zu macht und denselben mit dem Steinlöffel heraushebt. Beim S. mit der großen Gerätschaft, von Joh. de Romanis im 16. Jahrh. erfunden, wird zuerst eine gefurchte Leitungssonde in die Blase gebracht, an dem Damm die Harnröhre in ihrem schwammigen Teil durch einen Einschnitt geöffnet und der Blasenhals mittels besonderer Instrumente in dem Grad erweitert, daß der Stein herausgenommen werden kann. Diese Methode hat zwar unbestreitbar Vorzüge vor der erstern, doch sind dabei ebenfalls Zerreißung und Quetschung leicht möglich und außerdem die Ausziehung des Steins mit bedeutenden Beschwerden für den Kranken verbunden. Der hohe Apparat oder Bauchblasenschnitt, von Franco 1561 erfunden, besteht in der Eröffnung der Blase zwischen dem obern Rande der Steinschönau - Steinthal. Schambeine und der Falte des die Blase überziehenden Bauchfells. Üble Umstände während dieser Operation und nach derselben sind besonders: Verletzung und heftige Entzündung des Bauchfells, Infiltration des Harns in das Zellgewebe, Abscesse, Brand. Ausgeführt wird derselbe besonders bei Knaben und bei sehr großen Steinen, die sich auf den andern Wegen nicht herausbefördern lassen. Der Seitensteinschnitt, ebenfalls von Franco erfunden und gegenwärtig am meisten üblich, charakterisiert sich im allgemeinen dadurch, daß im Damm ein Einschnitt gemacht wird, welcher sich von der linken Seite der Naht des Hodensackes gegen das Sitzbein herzieht, darauf der häutige Teil der Harnröhre geöffnet und der Blasenhals, die Prostata und selbst ein Teil des Blasenkörpers eingeschnitten werden. Die Methode des Steinschnitts durch den Mastdarm, von L. Hoffmann vorgeschlagen, besteht darin, daß ein Bistouri durch den Mastdarm eingeführt, die vordere Wand des Mastdarms und der äußere Sphinkter des Afters sowie dann auf der eingeführten Steinsonde der Blasenhals und die Prostata eingeschnitten und der Stein durch die Zange entfernt wird. Geringere Lebensgefahr, nicht gefährliche Blutung, Möglichkeit der Entfernung großer Steine gelten als Vorzüge, das Zurückbleiben einer Kot- und Urinfistel und Impotenz als Nachteile dieser Methode. Der S. kommt bei Weibern ungemein viel seltener vor als bei Männern; einmal, weil Steine bei jenen überhaupt viel seltener sind, anderseits, weil nicht zu große Steine bei ihnen durch die kurze, gerade und sehr dehnbare Harnröhre leicht abgehen oder doch ausgezogen oder zerstückelt (s. unten) werden können. Beim Weib wird der Schnitt entweder unterhalb des Schoßbogens mit Einschneidung der Harnröhre und des Blasenhalses oder unterhalb der Schoßfuge ohne Verletzung der Harnröhre geführt, oder es wird die Harnblase von der Scheide aus oder endlich oberhalb des Schoßbodens, wie beim Mann, geöffnet. - Denselben Zweck wie mit dem S. sucht man mit der Steinzermalmung (Steinzertrümmerung, Lithotritie, Lithotripsie) zu erreichen. Hierbei werden mittels in die Harnblase eingebrachter Werkzeuge die Steine zerstückelt, so daß sie mit dem Urin abgehen. Dieses Verfahren, schon früher vorgeschlagen, wurde von Gruithuisen (1813), Amussat (1821), Civiale (1824), Heurteloup (1832) und Charrière durch Erfindung passender Instrumente in Aufnahme gebracht. Hauptmethoden sind: die jetzt obsolete Perforation oder Anbohrung des Steins mittels eines in die Harnröhre einzuführenden, aus drei ineinander passenden Teilen bestehenden Instruments (Lithotritor), die lithoklastische Methode (Lithotripsie), welche bloß zerdrückend und zermalmend wirkt und bei nicht sehr harten Steinen angewendet wird, und die Perkussion, die durch Stoß und Schlag wirkt, indem man mit einem zweiarmigen Instrument, welches geschlossen in die Harnröhre eingeführt, durch Zurückziehen des einen Arms geöffnet und dann wieder vermittelst eines Hammers geschlossen wird, den Stein faßt und zu zerdrücken sucht. Die Lithotritie ist zwar nicht so verletzend wie der S., befreit aber den Kranken meist erst nach mehreren Operationsversuchen von seinem Übel. Sie ist daher zu beschränken auf weichere und namentlich kleinere Blasensteine bei jüngern Individuen mit sonst gesunden Harnorganen, während große und harte Steine bei ältern Personen und sonstigen, die an Blasenkatarrh, Nierenreizung etc. leiden, dem S. anheimfallen. Steinschönau, Marktflecken in der böhm. Bezirkshauptmannschaft Tetschen, an der Flügelbahn Böhmisch-Kamnitz-S. der Böhmischen Nordbahn, ein Hauptsitz der böhmischen Glasindustrie, mit Fachschule, zahlreichen Glasraffinerien, bedeutendem Export, Möbelfabrik und (1880) 4410 Einw. Steinsetzungen, aus einzelnen oder mehreren Steinen bestehende Denkmäler, die in vorgeschichtlicher, zum Teil auch noch in geschichtlicher Zeit zur Erinnerung an gewisse Ereignisse oder zum Gedächtnis der Toten errichtet wurden. Man unterscheidet Menhirs (maen, men, keltisch = Stein, hir = lang) und Cromlechs (crom, keltisch = gekrümmt, lech = Stein) oder Steinkreise, Steinringe. Die Menhirs sind einzelne, senkrecht gestellte, meist sehr große (bis 19 m), nicht oder grob behauene Monolithen. Bisweilen finden sich mehrere Menhirs auf beschränktem Raum und in geordneter Stellung, wie auf dem Heerberg bei Beckum in Westfalen und bei Carnac in der Bretagne, wo sich eine Gruppe aus unbehauenen Steinen, von denen der größte 7,5 m hoch ist, in elf Reihen etwa 3 km weit hinzieht. Die Menhirs bezeichnen oft die Stelle eines Grabes oder einer gemeinsamen Begräbnisstätte der Vorzeit; sie werden in der Ilias und in der Bibel erwähnt, manche aber gehören der historischen Zeit an, wie das Denkmal an die Schlacht bei Largs in Schottland dem 13. Jahrh. Häufig bilden Reihen von Menhirs die Seitenwände von Gängen, welche zur Grabkammer der Dolmen oder in das Innere prähistorischer Grabhügel führen. Über die Steinkreise s. Cromlech. Auf den Menhirs wie auf den Felsblöcken der Cromlechs finden sich hier und da Inschriften (Striche, Kreise, Spiralen etc.), von denen aber nur sehr wenige entziffert werden konnten; auch ist zweifelhaft, ob diese Inschriften mit den S. gleichaltrig sind oder einer spätern Zeit angehören. Ausgrabungen in unmittelbarer Nähe der S. haben Stein-, Bronze-, Eisen-, Knochen- und Horngeräte, Thonscherben, Münzen aus frühgeschichtlicher Zeit zu Tage gefördert. Mit den Menhirs und Cromlechs werden die Dolmen (s. d.) als megalithische Denkmäler zusammengefaßt. S. Tafel "Kultur der Steintanz, s. Gräber, prähistorische. Steinthal, Landstrich im Unterelsaß, Kreis Molsheim, in den Vogesen zu beiden Seiten der Breusch, mit den Orten Rothau, Waldersbach und Fouday, ehedem eine unfruchtbare, öde und arme Gegend, jetzt durch die Bemühungen des Pfarrers Oberlin (s. d.) in einen gewerbthätigen und wohlhabenden Distrikt umgewandelt. Steinthal, Heymann, Sprachphilosoph und Linguist, geb. 16. Mai 1823 zu Gröbzig im Anhaltischen, studierte in Berlin seit 1843 Philologie und Philosophie und habilitierte sich 1850 an der dortigen Universität, wo er über allgemeine Sprachwissenschaft und Mythologie Vorträge hielt. 1852-55 verweilte er zum Behuf chinesischer Sprach- und Litteraturstudien in Paris; seit 1863 ist er außerordentlicher Professor der allgemeinen Sprachwissenschaft zu Berlin, wo er seit 1872 auch an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Religionsphilosophie und Religionsgeschichte lehrt. Von Steinthals sprachwissenschaftlichen Werken, die sich im allgemeinen an die von W. v. Humboldt begründete philosophische Behandlung der Sprache anschließen, sind als die bedeutendsten zu nennen: "Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens" (Berl. 1851, 4. erweiterte Aufl. 1888); die "Klassifikation der Sprachen, dargestellt als die Entwicke- Steintisch - Steinverband. lung der Sprachidee" (das. 1850), welches Werk später neubearbeitet unter dem Titel: "Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues" (das. 1860) erschien und sehr anregend gewirkt hat; ferner "Die Entwickelung der Schrift" (das. 1852); "Grammatik, Logik, Psychologie, ihre Prinzipien und ihre Verhältnisse zu einander" (das. 1855); "Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern" (das. 1863); "Die Mande-Negersprachen, psychologisch und phonetisch betrachtet" (das. 1867); "Abriß der Sprachwissenschaft" (Bd. 1: "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft", 2. Aufl. 1881). Von kleinern Arbeiten sind zu nennen: "Die Sprachwissenschaft W. v. Humboldts und die Hegelsche Philosophie" (Berl. 1848); "Philologie, Geschichte und Psychologie in ihren gegenseitigen Beziehungen" (das. 1864); "Gedächtnisrede auf W. v. Humboldt" (das. 1867) u. a. Von einer Sammlung seiner "Kleinen Schriften" erschien der 1. Band (Berl. 1880). Mit Lazarus gibt S. die "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" (Berl. 1860 ff.) heraus, die von ihm namentlich kritische Aufsätze enthält. Auch besorgte er eine Ausgabe der "Sprachwissenschaftlichen Werke W. von Humboldts, mit Benutzung seines handschriftlichen Nachlasses" (Berl. 1884). Seine neueste Veröffentlichung ist "Allgemeine Ethik" (Berl. 1885). Steintisch, s. Dolmen. Steinverband, diejenige Anordnung der Mauersteine, durch welche auch ohne Bindemittel ein möglichst fester Zusammenhang unter denselben hergestellt wird. Als Hauptregeln gelten: a) die Lagerfugen der Mauersteine müssen möglichst horizontale Ebenen bilden; b) die Stoßfugen der Mauersteine dürfen in unmittelbar aufeinander folgenden Schichten nicht aufeinander treffen. Je nach der Gattung der Mauersteine unterscheidet man den Verband mit künstlichen Steinen (Backsteinen, Mauerziegeln), mit regelmäßig bearbeiteten natürlichen Steinen (Quadern, Hausteinen, Werksteinen), mit roh bearbeiteten natürlichen Steinen (Bruchsteinen) und den gemischten I. S. künstlicher Steine. Die deutschen Normalziegel sind 25 cm lang, 12 cm breit und 6,5 cm dick, wobei zwei Steinbreiten, vermehrt um eine Stoßfuge von 1 cm, einer Steinlänge gleich sind (2 x 12 + 1 = 25 cm). Man vermauert ganze Steine, halbe Steine von der halben Länge ganzer Steine, Dreiviertelsteine (Dreiquartierstücke) von 3/4 der Länge ganzer Steine und Riem- oder Kopfstücke von der halben Breite und der vollen Länge ganzer Steine. Steine, welche der Länge nach parallel und normal zur Mauerflucht liegen, heißen bez. Läufer und Binder (Strecker) und die aus solchen Steinen hergestellten Mauerschichten bez. Läuferschichten und Binderschichten (Streckerschichten). Man unterscheidet folgende Hauptsteinverbände: 1) Den Schornsteinverband (Fig. 1), so genannt, weil er für die meist 1/2 Stein starken Wangen der Schornsteine verwendet wird, entsteht durch die regelmäßige Versetzung der Stoßfugen von Läufern um je 1/2 Stein und liefert also an den beiden Enden eine regelmäßige Abtreppung (Fig. 1, rechts) und eine regelmäßige Verzahnung (Fig. 1, links). 2) Der Blockverband (Fig. 2-4) entsteht durch regelmäßige Abwechselung von Binder- und Läuferschichten, wenn deren Stoßfugen in der Mauerflucht um je 1/4 Stein versetzt werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch Schraffierung (in Fig. 2) hervorgehobenen, zusammenhängenden Kreuze. Fig. 2 zeigt eine 1 Stein starke Mauer, deren Abtreppung rechts durch je zwei Stufen von 3/4 und 1/4 Stein, und deren Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je 1/4 Stein gebildet wird. Aus Fig. 3 u. 4 ergeben sich die Blockverbände für 11/2 Stein u. 2 Steine starke Mauern mit ihren natürlichen Abtreppungen rechts und Verzahnungen links. 3) Der Kreuzverband (Fig. 5) entsteht aus dem Blockverband, wenn die Stoßfugen der 3., 7., 11. etc. Läuferschicht in der Mauerflucht um 1/2 Stein verschoben werden. In der Ansicht bilden sich hierdurch die durch Schraffierung hervorgehobenen unzusammenhängenden Kreuze, während die Abtreppung rechts durch Stufen von je 1/4 Stein und deren Verzahnung links durch Vor- oder Rücksprünge von je 21/4 Stein gebildet wird. 4) Der polnische oder gotische Verband (Fig. 6 u. 7) entsteht, wenn in einer und derselben Schicht Läufer und Binder abwechseln, wobei sich in der Ansicht das in Fig. 6 durch Schraffierung hervorgehobene Muster ergibt. Dieser Verband verstößt gegen die unter b) gegebene Hauptreael, indem stellenweise Fuge auf Fuge trifft. Fig. 6 zeigt eine 1 Stein, Fig. 7 eine 11/2 Stein starke Mauer, wobei diejenigen Fugen, welche aufeinander treffen, markiert sind, mit ihren Abtreppungen rechts und Verzahnungen links. 5) Der holländische Verband (Fig. 8) vermeidet zwar den eben angegebenen Fehler des polnischen Verbandes, findet aber trotzdem nur beschränkte Verwendung. In der Ansicht bildet Fig. 1. Schronsteinverband. Fig. 2. Blockverband. Fig. 3. und 4. Blockverband für 11/2 und 2 Steine starke Mauern. Fig. 5. Kreuzverband. Fig. 6. Polnischer Verband (1 Stein). Fig. 7. Polnischer Verband (11/2 Stein). Fig. 9. Haustein-Eckverband. Fig. 8. Holländischer Verband. Fig. 10. Haustein-Eckverband. Steinwald - Steinzeit. sich das in der Figur durch Schraffierung hervorgehobene Muster, welche zugleich die Abtreppung links und die Verzahnung links darstellt. Verbände für Pfeiler und Säulen aus künstlichen Steinen sowie für Ecken und Kreuzungen von Mauern sind mit deren Stärke sehr verschieden und in den unten bezeichneten Werken mehr oder minder ausführlich dargestellt. II. S. regelmäßig bearbeiteter natürlicher Steine. Bei schwächern Mauern wird dieser Verband dem in Fig. 1 dargestellten Schornsteinverband nachgebildet. Bei stärkern Mauern weicht man von dem Ziegelverband ab und zieht vor, nur Läufer von verschiedener Breite zu verwenden (Fig. 9 u. 10). Bei Mauerecken läßt man die in beiden Figuren durch Schraffierung hervorgehobenen sogen. Flügelsteine in beide Mauern eingreifen, um hierdurch den beiden Schenkeln der Ecke mehr Zusammenhang zu geben. III. S. roh bearbeiteter natürlicher Steine. Da die Steine hierbei verwendet werden, wie sie aus dem Bruch kommen, und nur mit dem Mauerhammer etwas zugerichtet werden, so kann von einem regelmäßigen S. nicht mehr die Rede sein. Immerhin sucht man den Hauptregeln desselben möglichst zu entsprechen und möglichst ebene und horizontale Lagerfugen wenigstens in gewissen, nicht zu hohen Schichten herzustellen, wobei man die Unebenheiten durch passende Steinstücke ausfüllt, um das Aufeinandertreffen der Stoßfugen möglichst zu IV. Gemischter S. Derselbe entsteht, wenn Bruchsteinmauern in den Außenflächen mit Quadern oder auch Backsteinen oder Ziegelmauern mit Quadern verkleidet (verblendet) werden, weshalb dieses Mauerwerk auch Blendmauerwerk heißt. Gewöhnlich wechseln hierbei Läufer und Binder der regelmäßigen Steine in einer und derselben Schicht miteinander ab, während deren Zwischenräume durch Bruchsteine ausgefüllt Steinwald, s. Fichtelgebirge, S. 239. Steinwärder, Vorort von Hamburg, auf einer Elbinsel im Freihafengebiet, hat große Schiffswerften, Maschinenfabrikation, Kesselschmiederei und (1885) 4039 Steinweg, Heinrich, Pianofortebauer, geb. 15. Febr. 1797 zu Seesen, begann in Braunschweig mit dem Bau von Guitarren und Zithern und ging dann zum Bau von Tafelklavieren, Pianinos und Flügeln über. Erlernt hatte er nur die Tischlerei und den Orgelbau zu Goslar. 1850 übergab er das Braunschweiger Geschäft seinem Sohn Theodor und ging mit vier andern Söhnen nach New York, wo sie zunächst in mehreren Klavierfabriken arbeiteten, 1853 aber sich selbständig unter der Firma Steinway and Sons etablierten. Das Geschäft nahm schnell einen enormen Aufschwung, nachdem es 1855 auf der New Yorker Industrieausstellung den ersten Preis für seine kreuzsaitigen Pianofortes erhalten. Es liefert jetzt wöchentlich ca. 60 Instrumente, und das Magazin der Firma ist eins der schönsten Gebäude der Stadt New York sowie der Musiksaal "Steinway-Hall" einer ihrer größten Konzertsäle. Heinrich S. starb 7. Febr. 1871 in New York. Von den übrigen Begründern der New Yorker Firma lebt nur noch Wilhelm, der vierte Sohn. Theodor S. gab 1865 das Braunschweiger Geschäft auf (jetzt: Theodor Steinweg Nachfolger, Helferich, Grotrian u. Komp.) und trat in das New Yorker ein, nachdem seine Brüder Heinrich 11. März 1865 in New York und Karl 31. März 1865 in Braunschweig gestorben waren; er selbst starb 26. März 1889 in Braunschweig; Albert S. war bereits 1876 in New York gestorben. Von den patentierten Verbesserungen der Firma seien erwähnt: die Patent-Agraffeneinrichtung (1855), welche die Widerstandsfähigkeit des Rahmens gegen die Saiten erhöht; die Patentkonstruktion in Flügeln von kreuzsaitiger Mensur (1859), deren Vorteile der Hauptsache nach in den verlängerten Stegen und deren Verschiebung von den Rändern ab nach der Mitte des Resonanzbodens zu suchen sind, wodurch größere Räume zwischen den Chören der Saiten entstehen und somit größere Resonanzflächen in Bewegung gesetzt werden; der vibrierende Resonanzbodensteg mit akustischen Klangpfosten (1869), beruhend auf der Tonleitung durch Stäbe und besonders bei Pianinos und Flügeln von kleinerer Dimension angewendet; der Patentringsteg am Resonanzboden (1869), wodurch eine bis dahin unerreichte Gleichheit der Klangfarbe im Übergang von den glatten zu den übersponnenen Saiten erzielt wird; die Doppelmensur (1872); das Patent-Tonhaltungspedal (1874); die neue Metallrahmenkonstruktion (1875) u. a. Steinweichsel, s. Kirschbaum, S. 789. Steinwein, s. Frankenweine. Steinwurz, s. Agrimonia. Steinzeit (Steinzeitalter, hierzu Tafel "Kultur der Steinzeit"), der erste große Abschnitt der Prähistorie, in welchem der auf niedriger Kulturstufe befindliche Mensch den Gebrauch der Metalle noch nicht kannte und seine Geräte, Werkzeuge und Waffen aus Holz, Knochen, Horn, besonders aber aus Stein herstellte. Solche Steingeräte wurden früher als vom Himmel herabgefallene Blitzsteine oder Donnerkeile betrachtet, auch wegen ihrer Form Katzenzungen genannt. Im Gegensatz zur Metallzeit (s. d.) umfaßt die S. außerordentlich lange Zeiträume, innerhalb deren der Kulturfortschritt durch allmähliche Vervollkommnung der besagten Geräte sich zu erkennen gibt. Man unterscheidet die ältere S. oder paläolithische Periode und die jüngere S. oder neolithische Periode. In der ältern wurden die im allgemeinen sehr primitiven Steingeräte durch Zuhauen, bez. vermittelst des durch Schläge bewirkten Absplitterns geeigneter Stücke von größern Steinklumpen hergestellt, während Waffen und Geräte der jüngern S. durch Schleifen und Polieren ihre Form erhalten haben. Eine scharfe Grenze zwischen beiden Perioden läßt sich selbstverständlich nicht ziehen, und bezüglich einzelner Funde, wie der dänischen Küchenabfälle, ist es zweifelhaft, ob sie der paläo- oder der neolithischen Periode oder einer Übergangszeit angehören. Die ältere S. fällt im allgemeinen zusammen mit der diluvialen und eiszeitlichen Existenz des Menschengeschlechts, die jüngere S. mit der alluvialen und nacheiszeitlichen Existenz des Menschen. Das Zusammenfallen der ältern S. in Deutschland mit der Diluvialperiode erklärt sich nach Penck aus dem gegen Ende der Diluvialzeit stattgehabten klimatischen Wechsel (Abschmelzen der Gletscher), welcher Veränderungen in der Bewohnbarkeit gewisser Länderstrecken hervorrief, die ihrerseits wieder zu Wanderungen des vorgeschichtlichen Menschen Anstoß gaben, bei welchen im Besitz der neolithischen Kultur befindliche Volksstämme nach Europa gelangten und der paläolithischen Kultur den Untergang bereiteten. Die Fundstätten, welche über die Existenzbedingungen und Lebensweise des Menschen der ältern S. Aufschlüsse liefern, liegen in diluvialen Ablagerungen der Flußthäler und in den Kalkhöhlen Deutschlands, Belgiens, Frankreichs und Englands. Knochen des Höhlenbären und Höhlenlöwen, des Mammuts, Auerochsen, Hippopotamus, mehrerer Rhinozerosarten, des irischen Riesenhirsches u. a. werden mit körperlichen Überresten, Geräten und sonstigen Kultur der Steinzeit. (Shurb Hill.) (Poiton.) Paläolithische Feuersteingeräte. (Rügen.) (Irland.) (Schonen.) _ (Dänemark.) (Dänemark.) Feuersteinäxte und Schleifsteine. (Rügen.) (Rügen.) (Schonen.) (Danemark.) Feuersteinnucleus, Messer, Pfeilspitzen und Schaber. chönow.) (Lübben.) (Hadersleben.) (Tondern.) Brandenburg. Schleswig:. (Schleswig.! (Rügen.) Feuersteindolche, Lanzenspitze und Säge. Meyers Konv. - Lexikon, 4. Aufl. Tumulus mit Grabkammern. Bibliographisches Institut in Leipzig. (Waaren.) (Köthen.) (Asmusstadt.) Mecklenburg. Anhalt. Durchbohrte Steinhämmer. Zum Artikel "Steinzeit". Spuren des paläolithischen Menschen auf gemeinschaftlicher Lagerstätte angetroffen. Im Rheinthal und in Frankreich aufgefundene Moschusochsenschädel, die hin und wieder die Spuren menschlicher Thätigkeit erkennen lassen, sowie die in den Höhlen des Perigord, im Keßlerloch bei Thayingen (Kanton Schaffhausen) und anderwärts aufgefundenen bearbeiteten Renntiergeweihe beweisen, daß der paläolithische Mensch diese Gegenden zu einer Zeit bewohnt hat, wo das Klima Nord- und Mitteleuropas ein kälteres gewesen ist als heutzutage. Während die Funde von Taubach (unweit Weimar) andeuten, daß der Mensch der ältern S. das heutige Thüringen während der der letzten Vergletscherung vorausgehenden Interglazialepoche (zwischen zwei Vergletscherungen fallende wärmere Zwischenperiode) bewohnt hat, zeigen die Funde von der Schussenquelle (Oberschwaben), bestehend in einer nordische Moose enthaltenden, unmittelbar auf der Rheingletschermoräne gelegenen Kulturschicht, daß der Mensch hier während der letzten Vergletscherungsepoche lebte. Die Nahrung des paläolithischen Menschen bestand aus dem Fleisch der erwähnten Tiere und aus Fischen; auch das diluviale Pferd hat, wie die Funde zahlreicher, zur Gewinnung des Knochenmarks aufgeschlagener Pferdeknochen beweisen, als Nahrungsmittel des Menschen der ältern S. eine wichtige Rolle gespielt. Außer den Höhlen dienten ihm Erdgruben und aus Fellen hergerichtete Zelte als Wohnungen. Daß er die Felle des erlegten Wildes mit Hilfe von Tiersehnen zur Kleidung aneinander nähte, deuten die in diluvialen Höhlen gefundenen Knochennadeln an, welche durch langen Gebrauch abgenutzt sind. Man fand auch Stücke farbiger Erde zum Bemalen des Körpers und zum Teil höchst primitive Schmuckgegenstände (durchbohrte Tierzähne, welche, mit Darmsaiten zur Kette aneinander gereiht, getragen wurden, Knochen kleiner Tiere, Schneckengehäuse und Muscheln, Stücke Jet, Plättchen von Renntierhorn u. dgl.). Die in französischen Höhlen, im Keßlerloch und anderwärts aufgefundenen Gravierungen in Renntierhorn u. Mammutelfenbein und die aus diesem Material hergestellten Schnitzereien beweisen eine gewisse Begabung für bildnerische Thätigkeit. Als Material für die primitiven Geräte, welche in paläolithischen Fundstätten angetroffen werden, dienten vorzugsweise Feuersteinknollen, die den Gegenstand eines ausgedehnten Handelsverkehrs bildeten und zum Teil durch primitiven Bergbau (s. Schmutzgruben) gewonnen wurden. In der Nachbarschaft der Feuersteinlager entstanden auch jene Feuersteinwerkstätten, von wo aus die Umgebung mit Werkzeugen und Waffen versehen wurde. Solche Werkstätten wurden in Frankreich zu Pressigny le Grand, in Belgien auf dem rechten Ufer der Trouille, unweit Spiennes, aufgedeckt. Während für schneidende oder stechende Werkzeuge und Waffen Gesteinsarten, welche beim Behauen eine scharfe Kante liefern, wie Feuerstein, Jaspis, Quarz, Achat, Obsidian u. dgl., vorzugsweise Verwendung fanden, wurden Hämmer und Äxte aus Diorit, Porphyr, Basalt u. dgl. angefertigt. Daß die Bearbeitung des Rohmaterials in der nämlichen Weise stattfand, wie noch heutzutage die Eingebornen Australiens ihr Steingerät herstellen, indem sie nämlich gegen den zwischen den Füßen festgehaltenen Steinblock rasch aufeinander folgende Schläge führen, dies beweisen die an der Mehrzahl der paläolithischen Geräte und Waffen nachweisbaren Schlagmarken. Letztere lassen die von Menschenhand hergestellten Steinobjekte sicher von jenen Steinfragmenten unterscheiden, welche durch zufällige Zersplitterung ohne Mitwirkung des Menschen entstehen. Indem von den Feuersteinknollen messerförmige Späne oder Splitter abgesprengt werden, bleiben in der Regel jene charakteristisch geformten Steinkerne (nuclei, s. Tafel "Kultur der Steinzeit") übrig. Arbeitssteine, ovale Steine mit Aushöhlungen an einer oder beiden Oberflächen, dienten als Hämmer oder Schnitzer. Die Schlagsteine (Schlagkugeln) zeigen auf den Rändern die Spuren der mit ihnen ausgeführten Schläge. Die Steinmesser (s. Tafel) sind dünne, zweischneidige, einer Barbierlanzette ähnelnde, länglich-ovale Splitter, die Schabsteine (s. Tafel) im allgemeinen von mehr unregelmäßiger Form. Sehr häufig finden sich in den ältern paläolithischen Fundstätten mandelförmige Steinäxte (s. Tafel), die wahrscheinlich vermittelst Tiersehnen an einem Holzstiel befestigt, aber auch als Meißel oder Pfrieme verwendet wurden. Steinobjekte von drei- oder viereckiger Form, die auf der einen Seite flach, auf der andern mehr oder weniger gewölbt, 21/2-51/2 Zoll lang, 11/2 bis 21/2 Zoll breit sind, und die eine wenn auch nicht scharfe, doch sehr starke Schneide besitzen, werden vorzugsweise in den Küchenabfallhaufen Dänemarks angetroffen und in der Regel als kleine Steinbeile bezeichnet, von Steenstrup aber als Angelschnurgewichte gedeutet. Von Schleudersteinen unterscheidet man einfache, roh bearbeitete Feuersteinstücke und runde, etwas abgeflachte, zierlich gearbeitete Scheiben. Aus Feuerstein hergestellte Sägen (s. Tafel) gehören in paläolithischen Fundstätten ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. Die Pfeilspitzen (s. Tafel) der ältern Stadien der paläolithischen Zeit sind von plumper, dreieckiger Gestalt, später finden sich leichter und besser gearbeitete, rautenförmige, blattförmige oder mit Widerhaken versehene Stücke, und daß gegen das Ende der ältern S. eine bedeutende Vervollkommnung in der Herstellung der Geräte und Waffen stattgefunden hat, beweisen die kunstvoll gearbeiteten, meist lorbeerblattförmigen Dolch- und Speerspitzen (s. Tafel), wie sie in jüngern paläolithischen Fundstätten wiederholt angetroffen wurden. Ferner finden sich Speerspitzen und Harpunen aus Knochen, Renntier- und Hirschgeweih sowie eigentümlich geformte, aus dem nämlichen Material hergestellte und mit Gravierungen versehene Objekte, welche als Kommandostäbe (Abzeichen des Häuptlings etc.) bezeichnet werden. In Gemeinschaft mit paläolithischen Geräten werden in Deutschland und Belgien, aber nicht in Frankreich und England Scherben irdenen Geschirrs, die, mit der Hand geformt und an der Sonne getrocknet, nur geringe Kunstfertigkeit verraten, nicht selten angetroffen. Die relativ hohe Entwicklungsstufe, welche der Mensch der jüngern S. im Vergleich zum paläolithischen Menschen einnimmt, äußert sich zunächst in der außerordentlich sorgfältigen und stellenweise einen nicht geringen Geschmack bekundenden Herstellung der Waffen und Werkzeuge, die zum Teil auch bedeutende Dimensionen aufweisen. So fanden sich z. B. in Skandinavien sorgfältig gearbeitete Steinäxte, welche 33 cm lang sind und in der Mitte eine Breite von 55-57 mm und eine Dicke von 35-38 mm aufweisen. Die neolithischen Feuersteingeräte sind nicht von Knollen abgeschlagene Steinsplitter, sondern von allen Seiten bearbeitete Steinstücke. Dieselben sind geschliffen oder mehr oder weniger sorgfältig gemuschelt, d. h. es sind aus dem Feuerstein Teilchen in muschelförmigem Bruch herausgehoben. Neben einfachen, beiderseits zur Schneide konvex sich zuschärfenden Axtblättern finden sich Steincelte, Steinzellen - Steißfuß d. h. von der Schneide nach hinten zu schmäler werdende Geräte, die als Messer, Hacken und Streitäxte dienten, sowie lange und schmale Instrumente mit einseitig flacher Schneide, die als Meißel oder Hobel bezeichnet werden; auch Hohlmeißel wurden angetroffen. Ferner finden sich steinerne Mörser und Handmühlen zum Zerreiben von Getreidekörnern. Die Schleifsteine (s. Tafel) bestehen gewöhnlich aus feinkörnigem Sandstein mit einer oder mehreren Schliffflächen. Als Hämmer (s. Tafel) werden Äxte bezeichnet, die statt der Schneide eine mehr oder weniger abgestumpfte Fläche tragen, während Hammeräxte an einem Ende die Schneide der Axt, am andern die Fläche des Hammers besitzen. Zur Befestigung des keilförmigen Steinbeils am hölzernen Stiel wurde es in einen Einschnitt an dem umgebogenen Ende eines krummen Holzgriffs gesteckt und mit kreuzweise umgelegten Riemen oder mit einer Schnur befestigt, oder man höhlte ein Stück Hirschhorn oder Renntiergeweih zu einer das Steingerät teilweise umfassenden Hülse aus, welche dann am dicken Ende einer Holzkeule oder eines Stockes befestigt wurde. Anderseits wurden die Steinäxte, um einen hölzernen Stiel hindurchzustecken, durchbohrt. Rau hat nachgewiesen, daß man das härteste Gestein mit einem hölzernen Stab oder einem cylinderförmigen Knochen, den man in schnelle Umdrehung versetzt, unter Anwendung von Sand und Wasser durchbohren kann. Auch ein zugespitztes Hirschhornstück oder ein an einem Holzstab angebrachter spitzer Feuerstein, der mit Hilfe einer an einem Bogen befestigten, sich auf- und abwickelnden Schnur in schnelle Umdrehung versetzt wurde, fand vielfach Verwendung. Zur Zerteilung eines großen Steinblocks bediente man sich einer an einem hin- und herschwingenden Baumast befestigten Feuersteinsäge, mit der man den Block von verschiedenen Seiten ansägte, während die übrigbleibende Verbindung mit dem Meißel durchgesprengt wurde. Besonderes Interesse knüpft sich an die aus Nephrit und Jadeit hergestellten Geräte, da die Herkunft des Materials mehr oder weniger zweifelhaft ist (vgl. Nephrit). Die aus Knochen und Horn hergestellten Objekte der jüngern S. bekunden zum Teil hervorragende technische Fertigkeit. Aus diesen Materialien hergestellte Angel-haken, Harpunen und Stechspeere für den Fischfang, ferner knöcherne Pfrieme, Meißel, Dolche, Pfeil- und Lanzenspitzen, aus Rippen des Hirsches oder der Kuh hergestellte Kämme zum Flachshecheln und ähnliche Objekte gehören nicht zu den Seltenheiten. Aus Holz gefertigte Gegenstände, wie Speerstangen, Bogen, Kämme aus Buchsbaumholz, aus einem Baumstamm ausgehöhlte Kähne u. dgl., haben sich ebenfalls hier und da erhalten. Die neolithischen Schmuckgegenstände zeichnen sich vor den paläolithischen durch größere Mannigfaltigkeit aus. Die Fundstätten der jüngern S. sind über ganz Europa zerstreut, und auch außerhalb Europas werden dieselben häufig angetroffen; ganz besonders reich aber hat sich Skandinavien erwiesen. Außer den gewöhnlichen neolithischen Objekten finden sich im N. und O. Schwedens aus Schiefer hergestellte Altertümer, die man für Überreste der S. der Lappen hält und als arktische Steinkultur bezeichnet. Außerordentlich reich an neolithischen Fundstücken ist Rügen, von wo aus in prähistorischer Zeit ein großartiger Export von Feuersteingeräten stattfand. Außer in Höhlen, wohnte der neolithische Mensch auf im Wasser errichteten Pfahlgerüsten (s. Pfahlbauten). Im nördlichen Europa dienten ihm wohl während des Sommers aus Fellen hergestellte Zelte, im Winter vermutlich niedrige Hütten aus einem Gerüst von Walfischrippen und Holz, das mit Rasenstücken oder mit einer Lage Torf und darübergeschütteter Erde bedeckt wurde, als Wohnungen. Die Form der letzterwähnten Behausungen ist nach Sven Nilsson in den skandinavischen Ganggräbern nachgeahmt. Das Andenken seiner Toten ehrte der neolithische Mensch durch Aufwerfen von Grabhügeln (s. Gräber u. Tafel) sowie durch Errichtung von Dolmen und Steinsetzungen (s. d.). Ein besonders wichtiges Kennzeichen der neolithischen Kultur besteht darin, daß während dieses Abschnitts der Prähistorie der Mensch zuerst Tiere zähmt, daß ebensowohl die Anfänge der Viehzucht als diejenigen des Ackerbaues dieser Epoche angehören, daß der neolithische Mensch aus Pflanzenfasern rohe Gewebe und Gespinste herstellt, und daß derselbe, wie die Funde an Gefäßen und Gefäßscherben beweisen, in der Thonbildekunst bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat. Vgl. Joly, Der Mensch vor der Zeit der Metalle (Leipz. 1880); de Nadaillac, Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten (deutsch, Stuttg. 1884); Kinkelin, Die Urbewohner Deutschlands (Lindau 1882); Fischer, Betrachtungen über die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde ("Kosmos", Bd. 10,S. 117); Tischler, Beiträge zur Kenntnis der S. in Ostpreußen etc. (Königsb. 1882-83, 2 Hefte); Montelius, Die Kultur Schwedens in vorchristlicher Zeit (deutsch, Berl. 1885); Maska, Der diluviale Mensch in Mähren (Neutitschein 1886); Rau, Drilling in stone without the use of metals (Washington 1869); Baier, Die Insel Rügen nach ihrer archäologischen Bedeutung (Strals. Steinzellen, s. Steinigwerden. Steinzeug, s. Thonwaren. Steiß, das hintere Rumpfende der Wirbeltiere, besonders wenn es, wie bei den Vögeln, über den Rumpf Steißbein (Os coccygis, Schwanzbein), der Endabschnitt der Wirbelsäule (s. d.) nach hinten vom Kreuzbein. Während der Schwanzteil derselben bei den mit einem deutlichen Schwanz versehenen Wirbeltieren oft aus sehr vielen und beweglichen Wirbeln besteht, sind beim Menschen 4, seltener 5, bei andern Säugetieren noch weniger, bei den Vögeln 4-6, bei den Fröschen ebenfalls einige wenige Wirbel zu einem Knochenstück, dem sogen. S., verschmolzen. Die Wirbel, in der menschlichen Anatomie als falsche Wirbel (vertebrae spuriae) bezeichnet, entbehren des dorsalen Bogens, so daß das Rückenmark hier nicht in einem Kanal, sondern frei liegt, was auch schon am letzten Kreuzbeinwirbel der Fall ist (s. Tafeln "Nerven II", "Skelett II" und "Bänder"). In abnormen Fällen, bei den sogen. geschwänzten Menschen, ist das S. nicht nach dem Innern des Körpers zu, sondern nach außen zu gekrümmt und bildet dann ein ordentliches Schwänzchen, das übrigens regelmäßig beim Embryo (s. d.) vorhanden ist. Steißdrüse, ein kleiner, unpaarer, drüsenartiger Körper von unbekannter Bedeutung in der Gegend des Steißbeins. Steißfuß (Lappentaucher, Podiceps Lath.), Gattung aus der Ordnung der Taucher und der Familie der Seetaucher (Colymbidae), Vögel mit breitem, platt gedrücktem Leib, langem, ziemlich dünnem Hals, kleinem, gestrecktem Kopf, langem, schlankem, seitlich zusammengedrücktem, zugespitztem, an den Schneiden sehr scharfem Schnabel, am Ende des Leibes eingelenkten, nicht sehr hohen, seitlich stark zusammengedrückten Füßen, mit Schwimmlappen be- Steißfußhuhn - Stellvertretung. setzten Vorderzehen mit breiten, platten Nägeln, stummelartiger Hinterzehe, kurzen, schmalen Flügeln und statt des Schwanzes mit einem Büschel zerschlissener Federn. Die Steißfüße sind vollkommene Wasservögel, welche ausgezeichnet tauchen, unter Wasser sich sehr schnell fortbewegen, auch auf dem Wasser ruhen und in einem schwimmenden Nest aus nassen Stoffen brüten. Das Gelege besteht aus 3-6 Eiern, welche von beiden Eltern gezeitigt werden. Sie nähren sich von Fischen, Insekten, Fröschen, verschlucken auch Pflanzenteile und ihre eignen Federn, welche sie sich aus der Brust rupfen. Der Haubensteißfuß (Haubentaucher, Blitzvogel, Seedrache, Fluder, P. cristatus L.), 66 cm lang, 95 cm breit, oberseits schwarzbraun, mit weißem Spiegel an den Flügeln, weißen Wangen und weißer Kehle, unterseits weiß, seitlich dunkel gefleckt, im Hochzeitskleid mit zweihörnigem Federbusch auf dem Kopf und aus langen, zerschlissenen Federn gebildetem rostroten, schwarz geränderten Kragen; die Augen sind karminrot, Zügel und Schnabel blaßrot, die Füße hornfarben. Er bewohnt die Seen und Gewässer Europas bis 60° nördl. Br., weilt in Deutschland von April bis November, überwintert auf dem Meer, in Südeuropa oder Nordafrika und findet sich auch in Asien und Nordamerika. Er lebt paarweise an größern bewachsenen Teichen oder Seen, hält sich sehr viel auf dem Wasser auf, ist auf dem Land sehr unbehilflich, fliegt aber verhältnismäßig schnell und schwimmt und taucht vortrefflich. Er ist sehr vorsichtig und sucht sich bei Gefahr stets durch Tauchen zu retten. Das Nest steht in der Nähe von Schilf auf dem Wasser, und das Weibchen legt drei weiße Eier. Die Jungen werden von der Mutter beim Schwimmen oft auf dem Rücken, beim Fluge nicht selten zwischen den Brustfedern versteckt getragen. Man jagt ihn des kostbaren Federpelzes halber. Der Zwergsteißfuß (P. minor L.), 25 cm lang, 43 cm breit, oberseits glänzend schwarz, unterseits grauweiß, dunkler gewölkt, an der Kehle schwärzlich, an Kopf-, Halsseiten und der Gurgel braunrot; das Auge ist braun, der Zügel gelbgrün, der Schnabel an der Wurzel gelbgrün, an der Spitze schwarz, der Fuß schwärzlich. Er ist wie der vorige weit verbreitet, weilt in Deutschland vom März, bis die Gewässer sich mit Eis bedecken, und überwintert in Südeuropa. Man findet ihn an bewachsenen Teichen, in Brüchern und Morästen, er lebt wie der vorige, fliegt aber schlecht und deshalb sehr ungern, nährt sich hauptsächlich von Insekten, nistet im Schilf und legt 3-6 weiße, schwach gefleckte Eier (s. Tafel "Eier II"), welche in 20 Tagen ausgebrütet werden. Der Ohrensteißfuß (P. auritus L.), 33 cm lang, 60 cm breit, an Kopf, Hals und Oberteilen schwarz, mit breitem, goldgelbem Zügel, an Oberbrust und Seiten lebhaft braunrot, an Brust und Bauchmitte weiß, das Auge ist rot, der Schnabel schwärzlich, der Fuß graugrün, bewohnt den gemäßigten Gürtel der Alten Welt. Die Eier (s. Taf. "Eier II") sind weiß, lehmgelb Steißfußhuhn (Megapodius Quoi et Gai.), Gattung aus der Ordnung der Hühnervögel und der Familie der Wallnister (Megapodiidae). Das Großfußhuhn (M. tumulus Less.), von der Größe des Fasans, oberseits braun, unterseits grau, mit rötlich-braunem Auge und Schnabel und orangefarbigem Fuß, lebt auf den Philippinen und Neuguinea im Gestrüpp an der Küste paarweise oder einzeln, ist sehr scheu, fliegt schwerfällig und nährt sich von Wurzeln, Sämereien und Insekten. Es erbaut aus Sand und Muscheln große Haufen, welche, von mehreren Geschlechtern benutzt und vergrößert, 5 m Höhe und einen Umfang von 50 m erreichen, und legt in diese sein weißes Ei, welches es tief vergräbt. Steißhühner, s. Hühnervögel. Steißtier, s. Aguti. Stele (griech.), Grabstein, gewöhnlich ein viereckiger, nach oben sich etwas verjüngender und mit Blätter- oder Blumenverzierungen (Anthemien) gekrönter Pfeiler, welcher den Namen des Verstorbenen trägt (s. Abbildung). Mitunter finden sich auch auf der S. Reliefdarstellungen, die sich auf das Leben des Geschiedenen beziehen. In makedonischer und römischer Zeit wird die S. niedriger und breiter und meist mit einem Giebel besetzt. Vgl. Brückner, Ornament und Form der attischen Grabstele (Straßb. 1886). Stell., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für G. W. Steller, geb. 1709 zu Windsheim, Arzt in Petersburg, starb 1745 (Seetiere). Stella (lat.), Stern. Stella, 1) Pseudonym, s. Lewis 2); 2) s. Swift. Stellage (französiert, spr. -lahsche), Gestell, Gerüst; auch s. v. w. Stellgeschäft (s. Börse, S. Stellaland, s. Westbetschuanen. Stellaria L. (Sternkraut, Sternmiere), Gattung aus der Familie der Karyophyllaceen, kleine, einjährige oder ausdauernde Kräuter mit weißen Blüten in allen Klimaten, doch meist auf der nördlichen Erdhälfte. S. Holostea L. (Augentrostgras, Jungferngras), in ganz Europa, ausdauernd, mit aufsteigendem, vierkantigem Stengel, sitzenden, lanzettlichen, lang zugespitzten, am Rand und auf dem Kiel scharfen Blättern, ward früher medizinisch benutzt; S. media Vill. (Vogelmiere, Hühnerdarm), sehr gemein, wird allgemein als Vogelfutter benutzt. Stellaten, s. Rubiaceen. Stellbrief, s. Engagementsbrief. Stelldichein, s. Rendezvous. Stellenvermittelungsbüreaus, s. Adreßbüreaus. Stelleriden, s. Asteroideen. Stellgeschäft, s. Börse, S. 238. Stellio, Dorneidechse (s. d.). Der S. der Alten ist der Gecko (s. Geckonen). Stellionat (Crimen stellionatus), im römischen Strafrecht die Verletzung und Unterdrückung der Wahrheit zur Gewinnung unrechtmäßiger Vorteile durch Täuschung, d. h. durch vorsätzliche Erweckung einer unrichtigen Vorstellung bei andern. Der Name ist von der Behendigkeit der Eidechse (stellio) im Entschlüpfen hergenommen. Stellknorpel, s. Kehlkopf. Stellmacher (Wagner), ehemals zünftige Handwerker, die das Holzwerk für Fuhrwerke, Kutschen, Schlitten, Pflüge etc. verfertigen. An manchen Orten fertigen die Radmacher die Räder allein. Stellung, s. Attitüde und Position. Stellvertretung, das Rechtsverhältnis, in welchem eine Person die Geschäfte einer andern ausführt, sei es, daß es sich dabei um einzelne Geschäfte, sei es, daß es sich um eine Summe von Geschäften handelt. Im Stellvertretung, militärische - Stelzhamer. privatrechtlichen Verkehr setzt die S. in der Regel einen Auftrag seitens der zu vertretenden Person voraus (s. Mandat). Handelt es sich dagegen um die Vertretung eines öffentlichen Beamten, so wird der Stellvertreter oder Vikar (s. d.) in der Regel von der vorgesetzten Dienstbehörde bestellt. Dem als Volksvertreter gewählten Beamten fallen die Kosten der S. nicht zur Last. Die S. des deutschen Reichskanzlers (Generalstellvertretung durch einen Vizekanzler oder Spezialvertretung durch die Chefs der Reichsämter) ist durch Reichsgesetz vom 17. März 1878 geordnet. Bei gekrönten Häuptern wird zwischen S. und Regentschaft unterschieden. Letztere ist auf die Dauer berechnet und tritt kraft gesetzlicher Bestimmung ein, während man unter S. die auf Anordnung des Monarchen selbst eintretende vorübergehende Vertretung Stellvertretung, militärische, früher Ableistung der Dienstpflicht im Kriegsheer durch und für einen andern, wofür der Stellvertreter (Einsteher, Remplacant) eine meist gesetzlich geregelte Abfindungssumme erhielt. Nach Deutschlands Vorgang bis auf Belgien und Niederlande, wo die m. S. noch heute besteht, nach dem Krieg 1870/71 überall abgeschafft. S. Loskauf. Stelter, Karl, lyr. Dichter, geb. 25. Dez. 1823 zu Elberfeld, widmete sich in einer Seidenweberei daselbst dem kaufmännischen Beruf, zu dem er auch nach einem kurzen Versuch, als Schauspieler eine künstlerische Zukunft zu gewinnen, zurückkehrte und bis 1880 (in den letzten 30 Jahren als Prokurist) thätig war. Seitdem lebt er in Wiesbaden. S. gehört als Dichter zu der kleinen Gruppe der "Wupperthaler Poeten", welche im materiellen Treiben ideale Gesinnungen zu wecken und zu erhalten bemüht waren und eine freisinnige und freudige Auffassung des Daseins dem trüben Wupperthaler Pietismus entgegensetzten. Er veröffentlichte: "Gedichte" (Elberf. 1858, 3. Aufl. 1880); "Die Braut der Kirche", lyrisch-epische Dichtung (Bresl. 1858); "Aus Geschichte und Sage", erzählende Dichtungen (Elberf. 1866, 2. Aufl. 1882); die Anthologie "Kompaß auf dem Meer des Lebens" (4. Aufl., Berl. 1884); "Kompendium der schönen Künste" (Düsseld. 1869); "Gedichte", 2. Band (Elberf. 1869); "Novellen" (das. 1882); "Neue Gedichte" (das. 1886) u. a. Stelvio, Monte, s. Stilfser Joch. Stelzen, hohe Stäbe, an welchen in bestimmter Höhe Trittklötze angebracht sind, auf denen man, sich an den Stangen selbst festhaltend, stehen und gehen kann. Sie sind ein gymnastisches Belustigungsmittel, während eine andre Art Stelzen, die ungefähr eine Elle hoch und oben so breit sind, daß sie an die Fußsohle festgeschnallt oder gebunden werden können, besonders von den Äquilibristen zum Stelzentanz benutzt werden. Beide Arten sind übrigens in Marschländern sehr gebräuchlich, um sumpfige oder überschwemmte Stellen zu durchschreiten, namentlich im franz. Departement des Landes, woselbst die Schäfer sich den ganzen Tag auf ihren S. bewegen. Zu Namur fand früher alljährlich zum Karneval ein zweistündiger Kampf zwischen zwei Armeen auf S. statt. Stelzengeier (Kranichgeier, Sekretär, Gypogeranus serpentarius Ill.), Vogel aus der Ordnung der Raubvögel und der Familie der Kranichgeier (Gypogeranidae), 125 cm lang, sehr schlank gebaut, mit langem Hals, ziemlich kleinem, breitem, flachem Kopf, kurzem, dickem, starkem, vom Grund an gebogenem, fast zur Hälfte von der Wachshaut bedecktem Schnabel mit sehr spitzigem Haken, langen Flügeln, in welchen die ersten fünf Schwingen gleich lang sind, auffallend langem, aber sehr stark abgestuftem Schwanz, unverhältnismäßig langen Läufen und kurzen Zehen mit wenig gekrümmten, kräftigen, stumpfen Krallen. Das Gefieder ist am Hinterkopf zu einem Schopfe verlängert, oberseits hell aschgrau, am Hinterhals gräulichfahl, an den Halsseiten u. Unterteilen schmutzig graugelb, Nackenschopf, Schwingen, Bürzel und Unterschenkel schwarz, die Steuerfedern weiß, graubraun, schwarz, an der Spitze wieder weiß; das Auge ist graubraun, der Schnabel dunkel hornfarben, an der Spitze schwarz, Wachshaut und Lauf gelb. Er bewohnt die steppenartigen Ebenen Afrikas vom Kap bis 16° nördl. Br., lebt meist paarweise, läuft und fliegt vortrefflich und ist berühmt als Schlangenvertilger. Er nistet auf Büschen oder Bäumen und legt 2-3 weiße oder rötlich getüpfelte Eier, welche das Weibchen in sechs Wochen ausbrütet. Die Tötung des Stelzengeiers ist am Kap streng verboten. In der Gefangenschaft hält er sich gut, wird auch recht zahm. Stelzenschuhe kamen im 15. Jahrh., wie es scheint zuerst in Spanien, auf, wo sich diese Mode eine Zeitlang mit der der Schnabelschuhe vereinigte. Schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. kam sie hier wieder in Abnahme, wogegen sie erst jetzt in England, Italien und besonders in Frankreich (unter dem Namen patins) Verbreitung fand. Allerdings gewannen sie im Norden insofern praktische Bedeutung, als der Straßenschmutz zur Benutzung hölzerner Unterschuhe zwang, die im Haus abgelegt wurden. Sie wurde hier in dem Maß übertrieben, daß man sie, nach Art eines förmlichen Piedestals, bis zu 2 Fuß hoch trug und auch durch die Farbe derselben die Aufmerksamkeit zu erregen suchte. In Deutschland fand diese Mode weniger Anklang. Trotz häufiger Verbote kam man, wenn auch in mäßigerer Anwendung, immer wieder auf sie zurück S. die Abbildungen. ^[Stelzenschuhe.] Stelzfuß, s. Bockhuf. Stelzhamer, Franz, ausgezeichneter österreich. Dialektdichter, geb. 29. Nov. 1802 zu Großpiesenham bei Ried in Oberösterreich als der Sohn eines Bauern, besuchte, für den geistlichen Stand bestimmt, die Gymnasien zu Salzburg und Graz und sollte im Seminar zu Linz die Weihen empfangen, verließ aber, weltlich gesinnt, das Berufsstudium und ging nach Wien, wo er sich erst als Jurist, dann als Malerakademiker versuchte, bis er sich einer wandernden Schauspielertruppe anschloß. In dieser Laufbahn lernte er Sophie Schröder kennen, die ihn in der Deklamation unterrichtete. Nach Auflösung der Truppe kehrte der mehr als 30jährige Sohn, von der Bäuerin-Mutter geholt, in die heimatliche Hütte zurück, wo er nun seine zerstreuten Dialektgedichte ordnete und herausgab ("Lieder in obderennsscher Mundart", Wien 1836; 2. Aufl. 1844), die einen durchschlagenden Erfolg hatten. Es folgten "Neue Gesänge" (Wien 1841, 2. Aufl. 1844) Stelzvögel - Stempelsteuern. von gleichem Wert nach, und nun gehörte S. ganz dem dichterischen Beruf an, indem er als wandernder Sänger, seine eignen Gedichte vortrefflich vortragend, Österreich und Bayern jahrelang durchzog. Weiter veröffentlichte er drei Bände Erzählungen ("Prosa", Regensb. 1845); "Neue Gedichte" (das. 1846); ferner "Heimgarten" (Pest 1846, 2 Bde.); "Liebesgürtel", in hochdeutscher Sprache (2. Aufl., Preßb. 1876); endlich "D'Ahnl", ein Dialektepos in Hexametern (Wien 1851, 2. Aufl. 1855). S. starb zu Henndorf bei Salzburg 14. Juli 1874. Aus seinem Nachlaß erschienen: "Aus meiner Studienzeit" (Salzb. 1875); "Die Dorfschule" (Wien 1877). "Ausgewählte Dichtungen" Stelzhamers gab Rosegger heraus (Wien 1884, 4 Bde.). Stelzvögel, s. v. w. Watvögel (s. d.). Stemma (griech.), Kranz, besonders als Schmuck der Ahnenbilder; Stammbaum. Stemmatographie, Genealogie. Stemm- und Stechzeug, Meißel zur Bearbeitung des Holzes, haben eine gerade, einseitig oder zweiseitig zugeschärfte oder eine bogen- oder winkelförmige Schneide. Zu der ersten Klasse gehört der 3-50 mm breite Stechbeitel, dessen Zuschärfungsfläche mit der gegenüberstehenden Fläche einen Winkel von 8-30° bildet. Der englische Lochbeitel ist sehr viel dicker, 1,5-25 mm breit und hat einen Zuschärfungswinkel von 25-35°. Die Kantbeitel sind lange und starke Stechbeitel für Wagner mit einer niedrigen Rippe auf der Seite, wo die Zuschärfung liegt, so daß der Querschnitt ein gedrücktes Fünfeck bildet. Zur zweiten Klasse gehört das Stemmeisen mit dünner Klinge und 12-36 mm breit. Zur dritten Klasse gehören die Hohleisen mit rinnenartiger Klinge und ein- oder zweiseitig zugeschärfter Schneide, deren Mitte bei den Hohleisen der Zimmerleute weit vorsteht. Der Geißfuß hat zwei gleichlange, geradlinige Schneiden, welche unter einem Winkel von 45-90° zusammenstoßen. Stemm- und Stechzeuge dienen zum Wegnehmen von Holzteilen, zur Bildung von Einschnitten, Ausarbeitung von Vertiefungen und Löchern etc. Stemmmaschinen zum Ausstemmen von Zapfen und durch Langlochbohrmaschinen erzeugten Nuten besitzen einseitig scharf geschliffene Meißel, die sich hin und her, resp. auf und ab bewegen und dabei in das auf dem Arbeitstisch liegende Holz einschneiden, welches nach jedem Schnitt um die Stärke eines Spans vorrückt. Stempel, Werkzeug, welches auf der einen Fläche mit erhabenen oder vertieften Figuren, Buchstaben u. dgl. versehen ist, um mittels aufgetragener Farbe diese Figur abzudrücken oder vermittelst eines Drucks diese Figuren in eine etwas weichere Masse einzudrücken, wie namentlich die S. zur Verfertigung der Münzen und Medaillen; auch das mit einem solchen Werkzeug aufgedrückte Zeichen, welches als Merkmal der erprobten Güte einer Ware, des Ursprungs (von woher) oder einer bezahlten Abgabe dient. - Im Staatshaushalt wird der S. (eigentlich: die Stempelung) als Mittel benutzt, um auf bequemem und nicht kostspieligem Wege Gebühren und Steuern (Verkehrssteuern) zu erheben (Gebührenstempel, Steuerstempel). Derselbe soll wegen seiner finanziellen Ergiebigkeit zuerst im verkehrsreichen Holland (seit 1624) in Gebrauch gekommen sein. Er ist überall da anwendbar, wo einer zu belastenden Leistung eine Schriftlichkeit zu Grunde liegt, die der Zahlungspflichtige überreicht oder empfängt. In diesen Fällen können sowohl Stempelbogen (gestempeltes Papier) als aufzuklebende, für den Gebrauch bequemere Stempelmarken benutzt werden, in andern bedient man sich auch wohl gestempelter Umschläge (Banderollen, z. B. beim Tabak), die bei dem Gebrauch zerrissen werden, während der Stempelbogen durch das Beschreiben, die Stempelmarke durch Durchstreichen oder Ausdrücken eines Zeichens für weitere Verwendungen unbrauchbar gemacht (nullifiziert, kassiert) wird. Endlich kann auch ein Gegenstand (z. B. Edelmetall, Zeitung, Kartenspiel) unmittelbar durch Aufdrücken des Stempels gestempelt und damit der Beweis der Steuer- oder Gebührenzahlung geliefert werden. Zu unterscheiden sind: 1) der Fixstempel, welcher mit einem festen Geldbetrag für die einzelne in Anspruch genommene öffentliche Leistung heute meist in der Form der Stempelmarke eintritt; 2) der Klassenstempel, bei welchem nach gewissen Merkmalen (Bedeutung des Gegenstandes, verursachte Kosten) die verschiedenen Fälle in Klassen eingeteilt werden und innerhalb der einzelnen Klassen Festempel zur Anwendung kommen; 3) der Dimensionsstempel, dessen Höhe sich nach der Ausdehnung des Gegenstandes (Zeitung, Prozeßakten) richtet, an welchen der S. angeknüpft wird; 4) der Wert- (Gradations-, Proportional-) S., welcher sich nach dem durch die steuerpflichtige Urkunde repräsentierten Wert richtet und in Prozenten des letztern oder auch mit Abrundung der Prozenthöhe in festen Beträgen für gewisse Klassen (klassifizierter Wertstempel) erhoben wird. Gegen Stempelfälschungen schützt man sich durch künstliche Herstellung der Stempelzeichen (geschöpftes Papier, Wasserzeichen etc.), gegen Umgehungen dienen Kontrolle und Strafe. Die Strafe kann dadurch verschärft werden, daß das vorgenommene Rechtsgeschäft für nichtig erklärt wird. Da hierdurch jedoch auch leicht Unschuldige getroffen werden, so begnügt sich die Stempelgesetzgebung meist mit Geldstrafen, während die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts nicht weiter angefochten wird. Vgl. Stempelsteuern. Stempel (Pistill), das weibliche Organ in den Blüten, s. Blüte, S. 67 f. Stempelakte, brit. Gesetz, 22. März 1765 für die nordamerikanischen Kolonien gegeben, angeblich behufs Aufbringung einer Summe zur Verteidigung der Kolonien gegen feindliche Angriffe und zwar durch Auflegung einer Stempeltaxe auf alles bei Geschäften zu verwendende Schreibpapier, steigerte die Unzufriedenheit, ward zwar 18. März 1766 wieder aufgehoben, trug aber zum Abfall der Kolonien von England mit bei. S. Großbritannien, S. 806. Stempelbogen, Stempelmarke etc., s. Stempel. Stempelschneidekunst, die Kunst, Figuren und Buchstaben in Stempel von Metall je nach Erfordernis des Abdrucks vertieft oder erhaben darzustellen. Zu den Stempelschneidern gehören daher auch die Petschaftstecher und die Schriftschneider, doch findet die eigentliche Anwendung der S. besonders für Münzen und Medaillen statt. Zahlen und sich oft wiederholende kleine Zeichen (Sternchen, Kreuze etc.) werden mit besondern Bunzen eingeschlagen. Über die geschichtliche Entwickelung und das Künstlerische der S. vgl. Denkmünze und Münzwesen, Stempelsteuern, eine Reihe von Staatsabgaben (Steuern wie Gebühren), welchen der Stempel (s. d.) als Erhebungsform gemeinsam ist. Im wesentlichen decken sie sich mit den Verkehrssteuern (s. d.). Das Deutsche Reich besitzt an solchen S. die Wechselstempelsteuer (s. d.), den Spielkartenstempel (s. d.) und die Börsensteuer (s. d.). Die Gliederstaaten haben mannigfaltige Urkundenstempel, Erbschaftsstempel und Gebührenstempel. Die französischen S. sind teils Stempelzeichen - Stengel. Verbrauchsstempel (Dimensionsstempel von Zeitschriften, öffentlichen Ankündigungen etc.), teils Urkundenstempel (als Dimensions- oder als Wertstempel auf alle Akte der öffentlichen Agenten, der Gerichte und Verwaltungsbehörden etc.). Der englische Stempel ist meist Fixstempel. Proportionell abgestuft sind hauptsächlich nur die Wechselstempelsteuern, die Erbschaftssteuern (s. d.), die Stempel auf Übertragung von Grundeigentum und von gewissen Wertpapieren. Stempelzeichen (Kontermarke), Zeichen, welches in die Münzen eingeschlagen wurde, um anzuzeigen, daß eine bisher ungültige Münze Geltung erhält, oder daß der Wert einer bisher kursierenden Münze verändert worden ist. Dergleichen S. finden sich schon auf den Münzen der alten Griechen und Römer. In Frankreich wurden früher bei jedem Regierungswechsel die Münzen Stenamma, s. Ameisen, S. 452. Stenay (spr. stönä), Stadt im franz. Departement Maas, Arrondissement Montmédy, an der Maas und der Eisenbahn Sedan-Verdun, mit Eisenhütte und (1881) 2794 Stenbock, Magnus, Graf, schwed. Feldmarschall, geb. 12. Mai 1664 zu Stockholm, studierte in Upsala, trat dann in holländische Dienste und focht seit 1688 unter dem Markgrafen von Baden und dem Grafen Waldeck mit Auszeichnung am Rhein. Nachdem er 1697 als Oberst eines deutschen Regiments in die Dienste seines Vaterlandes getreten, begleitete er Karl XII. auf dessen meisten Feldzügen und wirkte namentlich bei Narwa bedeutend zum Sieg mit. 1707 wurde er zum Statthalter von Schonen ernannt; als Friedrich IV. von Dänemark 1709 in Schonen landete, siegte S., von der Regentschaft jenem entgegengestellt, 28. Febr. 1710 bei Helsingborg, setzte 1712 nach Pommern über und schlug die Dänen 20. Dez. d. J. bei Gadebusch, wendete sich hierauf nach Holstein, wo er 9. Jan. 1713 Altona in Asche legen ließ, mußte sich aber 6. Mai bei Tönning, von den dänischen, russischen und sächsischen Truppen eingeschlossen, mit 12,000 Mann kriegsgefangen ergeben und ward nach Kopenhagen gebracht, wo er 23. Febr. 1717 im Kerker starb. Seine "Mémoires" erschienen Frankfurt 1745; seine Biographie gab Laenborn heraus (Stockh. 1757-65, 4 Bde.). Stendal, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, an der Uchte, Knotenpunkt der Linien Leipzig-Wittenberge, Berlin-Lehrte und S.-Langwedel der Preußischen Staatsbahn sowie der Eisenbahn S.-Tangermünde, 33 m ü. M., ist die ehemalige Hauptstadt der Altmark, hat 5 evang. Kirchen (darunter die spätgotische Domkirche), eine kath. Kirche, eine Synagoge, 2 alte interessante Stadtthore, schöne Anlagen an Stelle der alten Festungswerke, eine Rolandsäule, ein Denkmal des hier gebornen Archäologen Winckelmann (von K. Wichmann), ein öffentliches Schlachthaus und (1885) mit der Garnison (1 Reg. Husaren Nr.10) 16,184 meist evang. Einwohner, die Wollspinnerei, Tuch-, Öfen-, Maschinen- u. Goldleistenfabrikation, Kunstgärtnerei, Bierbrauerei etc. betreiben. Auch befindet sich hier eine Eisenbahnhauptwerkstatt und werden Pferde-, Vieh- u. Getreidemärkte abgehalten. S. hat ein Landgericht, ein Hauptsteueramt, ein Gymnasium, ein Johanniterkrankenhaus etc. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 16 Amtsgerichte zu Arendsee, Beetzendorf, Bismark, Gardelegen, Genthin, Jerichow, Kalbe a. M., Klötze, Öbisfelde, Österburg, Salzwedel, Sandau, Seehausen i. A., S., Tangermünde und Weferlingen. - S. ward 1151 von Albrecht dem Bären gegründet, erhielt, wie die meisten Städte im Slawenland, das Magdeburger Recht und gewann unter den folgenden Markgrafen mancherlei Privilegien, so 1215 die Befreiung vom Gericht des Burggrafen, obwohl es mit der ganzen Nordmark 1196 unter die Lehnshoheit des Erzstifts Magdeburg geraten war. Bei der Teilung der Mark unter die Brüder Johann I. und Otto IV. 1258 ward S. Sitz der ältern (Stendalschen) Linie des Hauses Askanien, die 1320 mit Heinrich von Landsberg erlosch. Damals war S. eine der bedeutendsten Städte der Mark, trat auch der Hansa bei und stand im 15. Jahrh. an der Spitze eines Bundes der Städte der Altmark. 1530 fand hier die evangelische Lehre Eingang, wurde aber von Joachim I. mit Gewalt unterdrückt; erst unter Joachim II. wurde dann die Reformation in S. durchgeführt. Vgl. Götze, Urkundliche Geschichte der Stadt S. (Stend. 1871). ^[Wappen von Stendal.] Stendhal (spr. stangdall), Pseudonym, s. Beyle. Stenge, auf größern Schiffen die erste Verlängerung des Mastes über dem Mars, mittels des sogen. Eselshaupts, eines starken Blocks von hartem Holz, mit dem Untermast verbunden; s. Takelung. Stengel (Caulis, Kaulom, Stamm, Achse), eins der morphologischen Grundorgane der Pflanzen, in der Fähigkeit dauernder Verjüngung an seiner Spitze mit der Wurzel übereinstimmend, aber durch den Besitz von Blättern wesentlich verschieden. Man beschränkt gewöhnlich das Vorkommen des Stengels im Pflanzenreich auf die deshalb so genannten stammbildenden Pflanzen (Kormophyten), welche, alle Gewächse von den Moosen an aufwärts umfassend, den Thallophyten gegenübergestellt sind, denen man den S. abspricht und einen Thallus beilegt. Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beim sogen. blattlosen S. sind in Wahrheit die Blätter entweder nur auf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn als bloße Scheiden nur am Grund, oder der vermeintlich blattlose S. ist nur das zu ungewöhnlicher Länge gestreckte Zwischenstück zwischen je zwei einander folgenden Blättern. Die Stellen des Stengels, an welchen ein Blatt sitzt, die Knoten (nodus), sind nicht selten durch eine knotenartige Verdickung und oft auch durch andre anatomische Beschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln mit Mark erfüllt. Das zwischen je zwei aufeinander folgenden Knoten liegende Stück heißt Stengelglied (Internodium). Das aus dem Blatt in den S. übertretende Gefäßbündel wird als Blattspur bezeichnet. Die im jugendlichen Zustand an der Stengelspitze dicht zusammengedrängten Blätterrücken erst bei der weitern Ausbildung in der Regel mehr auseinander, indem die Stengelglieder sich strecken. Bei Stengeln, deren Internodien unentwickelt bleiben, stehen alle Laubblätter unmittelbar über der Wurzel und heißen deshalb Wurzel- oder Grundblätter, während man solche Pflanzen ungenau stengellose Pflanzen (plantae acaules) nennt. Auch die Knospen, die Köpfchen, die Blüten sind Beispiele für S. mit verkürzten Internodien. Einen sehr hohen Grad erreicht die Streckung der Stengelglieder z. B. bei den Pflanzen mit windenden Stengeln, bei den fadendünnen Ausläufern und beim Schaft (scapus), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes Internodium eines aus der Achsel Stengel (botanisch). von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte oder einen Blütenstand tragenden Sprosses darstellt. Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare) das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die in der Fortbildung begriffene Spitze des Stengels der Länge nach durchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine halbkugel- bis schlank kegelförmige Kuppe endigt (Fig. 1), auf deren Oberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden sind. Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seine zellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels in die Länge. Erst ein mehr oder minder großes Stück unterhalb des Scheitels (Fig. 1 ss) desselben zeigen sich auf seiner Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nach rückwärts verfolgend, bald in größere Gebilde übergehen sehen und als die ersten Anlagen der Blätter erkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengels samt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt bedeckenden jungen Blättern (Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). Der Vegetationspunkt ist aus lauter gleichartigen, sehr kleinen, polyedrischen, dünnwandigen, reichlich mit Protoplasma erfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen Zellen zusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristem darstellen, aus welchem allmählich die Gewebe (Fig. 1 m) durch entsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei den Gefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es im Scheitel des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durch regelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und von welcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengels abstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen im Vegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig und unabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelle anzunehmen ist. Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugt an seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zu einer neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihr zusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweig oder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengels bilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schon in der Nähe der Spitze des Stengels und meist in regelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, auf welcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanze beruht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche aus Adventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von der Spitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnung und oft durch zufällige äußere Einflüsse veranlaßt entstehen. Bei jeder normalen Verzweigung treten die neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätter auf, und zwar an der Oberfläche des Stengels (Fig. 1 k). Daher ist die Stellung der Zweige von der Blattstellung abhängig und zeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessen erzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe, und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zu wirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert die Unterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, da man jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproß nennt, von Haupt- und Seitensprossen. Insofern aber die Nebenachsen sich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsen erster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nach dem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten der Verzweigung: 1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sich fortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, so nennt man ein solches Verzweigungssystem monopodial oder ein Monopodium; es ist die gewöhnlichste Form. 2) Wenn der S. aber an einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezu gleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, so heißt er gabelig verzweigt oder dichotom (cauli dichotomus), die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann auf dreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einer Modifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falsche Dichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebenso stark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrer Richtung etwas zur Seite drängt (Fig. 2 C, wo aaa die Hauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze der Hauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oder welche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zwei gegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und in demselben Grad wie der Hauptsproß erstarken (Fig. 2 B, Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltener bei den Selaginellen und Lykopodiaceen vorkommender Fall, der gar nicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht, daß das Wachstum am Scheitel des Stengelbrand - Stenograph. Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben in zwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem der Vegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt (Fig. 2 A, Bärlapp). 3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. in seiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aber die der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicher Richtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe von Internodien sich wiederholt (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb' die aufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbar Einer Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsen verschiedenen Grades zusammengesetzt ist. Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnen Sprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung bei phanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselben erwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällen schließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kann dabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einer einzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird. Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei denen erst an den Nebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, also z. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätter trägt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oder an der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auch jede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß für sich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachse unterirdisch als Rhizom wächst und einfache Nebenachsen über den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüte abschließen, wie z. B. bei Paris quadrifolia. Man kann hiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc. Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigen Pflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach, sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sie tragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose der Blätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamen bestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u. Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nach deren Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregion und Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzen folgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, bei mehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsen verteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc. unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denen hauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) der Pflanze abhängt, zeigen wiederum große Mannigfaltigkeiten. Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namen üblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S. oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm (culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einer einzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen und Baumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde, in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen und Nadelhölzer wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum). Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichtete Stengelformen sind die Knollen, Ranken und Dornen (s. d.). Bei manchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig, wie bei dem Kohlrabi (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus (Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedern zusammengesetzt, wie bei den Opuntien (Fig. 5). Ja, es gibt auch S., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen, wie z. B. die Zweige von Ruscus aculeatus (Fig. 6), welche flächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktes Längenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzte blattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia) unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch, daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmiger Blätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleine Blättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blüte hervorbringen. Über den innern Bau des Stengels vgl. die Artikel Gefäßbündel, Holz, Rinde, Kambium. ^[Fig. 5. Stengel von Opuutia.] ^[Fig. 6. Phyllokladien von Ruscus aculeatus.] ^[Fig 3. Kohlrabi.] ^[Fig. 4. Stengel von Melocactus.] Stengelbrand, s. Brandpilze III. Stengelgläser, venezian. Gläser mit dünnem, stengelartigem Fuß (s. Tafel "Glaskunstindustrie", Fig. 8). Stenochromie (griech.), Verfahren gleichzeitigen Druckes einer beliebigen Anzahl von Farben, dessen Erfindung von Radde in Hamburg und von dessen Kompagnon Greth beansprucht wird. Aus eigens präparierten Farbentäfelchen werden der zu bedruckenden Bildfläche entsprechende Teile mittels der Laubsäge herausgeschnitten, welche man, gleich den Teilen der Zusammensetzspiele der Kinder, sodann zu einer Platte vereinigt, in eine besonders konstruierte Presse bringt, wo der Druck mit chemisch gefeuchtetem Papier derart erfolgt, daß das Papier die zur Herstellung des Bildes erforderliche Farbenschicht von der Farbenplatte aufsaugt. Wird über solcherweise erzeugte Grund- oder Tonplatten eine denselben entsprechende, das Bild selbst als photographisches Positiv tragende Gelatinehaut gelegt, so können damit überraschend schöne Resultate erzielt Stenograph (griech.), im weitern Sinn jeder, der sich ein System der Stenographie (s. d.) zu eigen Stenographie (Wesen und Zweck). gemacht hat; im engern einer, dessen Beruf das geschwindschriftliche Aufnehmen von Reden u. dgl. ist. Stenographie (griech., "Engschrift", auch Tachygraphie, "Schnellschrift", engl. Shorthand. "Kurzhand", deutsch am treffendsten Kurzschrift genannt), eine Schriftart, welche vermittelst eines einfachen, von den gewöhnlichen Buchstaben abweichenden Alphabets, ferner durch eigne Grundsätze über deren Zusammenfügung und meist auch durch Aufstellung besonderer Kürzungen zu ihrer Ausführung nur ein Viertel der sonst nötigen Zeit erfordert und dazu bestimmt ist, bei schreiblicher Thätigkeit als zeitersparendes Erleichterungsmittel verwandt zu werden. Da die S. nicht beabsichtigt, die gewöhnliche Schrift zu verdrängen, sondern nur neben derselben hergehen will, so nimmt sie in der Lautbezeichnung hauptsächlich die gangbare Schrift zum Vorbild; doch werden auch aus orthographischen Vereinfachungen Kürzungsvorteile gern benutzt. Phonetische Stenographien (s. Phonographie), wie sie in England (s. Pitman) und Frankreich (s. Duployé) vorhanden sind, lassen sich in Deutschland bei dem Mangel einer Behörde zur Entscheidung über die Richtigkeit der provinziell verschiedenen Aussprache gewisser Laute vorläufig nicht durchführen. Hinsichtlich der Zeichenauswahl für das Alphabet unterscheidet man zwei Arten von Systemen der S.: geometrische, d. h. solche, welche nur die einfachsten geometrischen Elemente (Punkt, gerade Linie, Kreis und Kreisteile) verwenden, und graphische, d. h. solche, die ihre Zeichen aus Teilen der gewöhnlichen Buchstaben bilden und dadurch im Gegensatz zu den erstern geläufige, der Richtung der schreibenden Hand entsprechende Züge erzielen. Geometrische wie graphische Systeme vervielfältigen die geringe Menge der verfügbaren Urzeichen durch allerhand Auskunftsmittel, wie Höhenwert, Neigungswert, Stellenwert, Schattierungswert etc., die zur Erreichung der verschiedensten Zwecke benutzt werden. An einer Klassifikation der Systeme nach diesen Gesichtspunkten mangelt es noch vollständig. Zu der graphischen Art gehören außer der altrömischen Tachygraphie fast nur die modernen deutschen Systeme und deren Übertragungen, während die übrigen meist auf geometrischer Grundlage beruhen. In den Regeln über die Zeichenzusammenfügung herrscht außerordentliche Mannigfaltigkeit. Das Gleiche gilt von den Kürzungsregeln, doch ist fast allen Systemen gemeinsam die Anwendung von Siglen (s. d.). Schreibkürzungsmethoden, welche sich der gewöhnlichen Buchstaben, allenfalls mit einigen Signaturen, bedienen, fallen, auch wenn sie die angegebene Kürze erreichen sollten, nicht unter den Begriff der S., ebensowenig Systeme, welche zwar eigne Zeichen verwenden, aber hinter dem Maß von ein Viertel der sonstigen Schreibzeit erheblich zurückbleiben. Die Veranlagung, schnelle Reden wörtlich nachzuschreiben, gehört nicht zu den Bedingnissen einer S., obgleich die meisten Systeme dazu befähigen oder wenigstens sich dessen rühmen. Oft aber ist es dieses Bedürfnis, Reden nachzuschreiben, gewesen, welches den Anstoß zur Aufstellung einer Kurzschrift gegeben hat. Daher sehen die ersten Systeme mehr auf Kürze als auf genügende Bürgschaft für richtiges Wiederlesen des Geschriebenen. Sobald die S. die engen Grenzen der Redezeichenschrift verläßt, um ihre umfassendere und höhere Bestimmung zu erfüllen, muß das Streben nach Kürze durch die Rücksicht auf Deutlichkeit, Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und Formenschönheit eingeschränkt werden; auch darf die Zeit und Mühe, welche zur Erlernung eines solchen mechanischen Erleichterungsmittels aufgewandt wird, nicht zu groß sein oder gar den Charakter eines förmlichen Studiums annehmen. Je mehr ein System bei theoretischer Konsequenz und ästhetischem Äußern Zuverlässigkeit mit Kürze vereinigt, ohne an leichter Erlernbarkeit zu verlieren, desto höher steht es an Brauchbarkeit und Güte. Denn die S. ist für alle bestimmt, welche viel zu schreiben oder Geschriebenes zu lesen haben, nicht bloß für Gelehrte, Schriftsteller, höhere Beamte, Kaufleute, Studenten, Gymnasiasten etc., sondern auch für Subalternbeamte, Sekretäre, Kanzlisten, Schreiber, Schriftsetzer etc., bei deren gegenseitigem Zusammenwirken (ein einheitliches Stenographiesystem vorausgesetzt) sie erst ihren vollen Wert zeigen kann. Als rein mechanisches Hilfsmittel für so verschiedene zum Teil wenig gebildete Kreise besitzt die S. keinerlei Anrecht auf die Bezeichnungen "Wissenschaft" oder "Kunst"; höchstens im uneigentlichen Sinn, wie man von Buchdrucker- oder Schreibkunst spricht, könnte die S. eine Kunst heißen. Aus der Verwertung sprachlich-etymologischer und lautlich-physiologischer Forschungsergebnisse vermag die Kurzschrift wohl Vorteile zu ziehen, aber nur Schwärmer reden von hoher Wissenschaftlichkeit und zahlreichen bildenden Elementen der S. Die Kurzschrift hat ihren wissenschaftlichen Gehalt in der Konsequenz, in rationeller Ökonomie und einem systematischen Aufbau zu suchen; ihre wissenschaftliche Bedeutung liegt in den Diensten, die sie der Wissenschaft leistet. Eine kritisch-forschende Beschäftigung mit Geschichte, Wesen und Wert der S. ist dagegen sehr wohl als wissenschaftliche Thätigkeit zu denken. Zur Ausübung der redennachschreibenden Praxis bedarf es neben stenographischer Virtuosität insbesondere scharfer Sinne, schneller Auffassung und fester Nerven. Wissenschaftliche Bildung ist dafür nicht durchaus erforderlich, indessen gewährt dieselbe größere Bürgschaft für zuverlässige und von Verständnis getragene Leistungen; darum verlangt gewöhnlich der Staat von seinen amtlichen Stenographen außer der technischen Fertigkeit bestimmte Bildungsnachweise. In den größern deutschen Staaten und in Österreich werden z. B. fast nur akademisch gebildete Männer als Kammerstenographen zugelassen. Gegenwärtig dient die S. ihrem umfassendern, höhern Zweck umfänglich in Großbritannien, einem Teil des englisch sprechenden Nordamerika, in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich-Ungarn und langsam beginnend auch in Italien; in den übrigen europäischen und einigen überseeischen Ländern erfährt sie fast nur in dem beschränkten Sinn Anwendung zum Nachschreiben von Reden. Die Pflege der Kurzschrift ruht zumeist in den Händen der stenographischen Vereine, die zuerst in England aufgekommen sind. Ebenda entstand 1842 die stenographische Presse, welche jetzt über fast 150 Fachzeitschriften verfügt. Versuche zur Aufstellung einer stenographischen Tonschrift an Stelle des gewöhnlichen Notensystems sind von einigen Franzosen, Deutschen und Engländern gemacht worden, haben aber eine praktische Verwertung ebensowenig gefunden wie die Entwürfe zu "Blindenstenographien". Vgl. Steinbrink, Über den Begriff der Wissenschaftlichkeit auf dem Gebiet der S. (Berl. 1879); Hasemann, Prüfung der wichtigsten Kurzschriften (Trarbach 1883); Morgenstern, Wissenschaftliche Grundsätze zur Beurteilung stenographischer Systeme (im "Magazin für S." 1884); Brauns, Welche Anforderungen sind an eine Schulkurzschrift zu stellen? (Hamb. 1888); Hüeblin, Stimmen über die Bedeutung der S. (Wetzikon 1888). Stenographie (Geschichtliches, Verbreitung). Geschichtliches. Verbreitung. Den ersten Ansatz zu einer S. finden wir in Griechenland. Eine Marmorinschrift von etwa 350 v. Chr., welche vor wenigen Jahren auf der Akropolis von Athen ausgegraben ward und im dortigen Zentralmuseum aufgestellt ist, gibt Anweisungen einer gekürzten Schriftart, mit welcher allerdings nur die Hälfte der Zeit erspart wird. Der frühsten Erwähnung einer griechischen S. begegnet man erst ums Jahr 164 n. Chr. bei Galenos. Aus Zeugniffen späterer Schriftsteller geht hervor, daß die wörtliche Aufnahme einer griechischen Rede durch S. möglich war. Von der Beschaffenheit des dabei angewendeten Systems können wir uns keine rechte Vorstellung bilden, denn die Schriftproben, welche unter dem Namen griechische Tachygraphie gehen, repräsentieren nur eine ganz späte und entartete Gestalt, in der das System an Kürze sich wenig über die gewohnliche griechische Schrift erhebt und nicht mehr S., sondern nur noch Geheimschrift ist. Vgl. Gomperz, Über ein griechisches Schriftsystem aus der Mitte des 4. vorchristlichen Jahrhunderts (Wien 1884); Mitzschke, Eine griechische Kurzschrift aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (Leipz. 1885); Gitlbauer, Überreste griechischer Tachygraphie im "Codex Vaticanus graecus 1809" (Wien 1878); Wessely, Wiener Papyrus Nr. 26 und die Überreste griechischer Tachygraphie in den Papyri von Wien, Paris und Leiden (in den "Wiener Studien" 1881, Bd. 3, S. 1-21); Rueß, Über griechische Tachygraphie (Neuburg a. D. 1882). Reichlicher fließen die Quellen über die altrömische S., deren Wesen und Geschichte vom Beginn bis zum Untergang sich verfolgen läßt. Nach ihrem Erfinder Tiro führt diese Kurzschrift den Namen Tironische Noten (weiteres s. Tiro). Aus dem Mittelalter verdient nur hervorgehoben zu werden, daß ein Mönch, Johannes von Tilbury, den Versuch machte, durch eine Nova notaria die Tironischen Noten zu ersetzen (vgl. Rose, Ars notaria, im "Hermes", Bd. 8, S. 303 ff.). Die Nation, bei welcher die Kurzschrift in neuer Zeit zuerst wieder erwachte, und von wo der zündende Funke fast in alle Länder Europas und über den Ozean übersprang, war die englische. Die frühsten Spuren stenographischer Systeme zeigen sich in England schon zu Ende des 16. Jahrh. in den Schriften von Bright und Bales. Der erste aber, der hier von Bedeutung ward, ist John Willis ("The art of stenography, or short-writing", Lond. 1602). Von diesem Anfangspunkt an bis zur jüngsten Vergangenheit ist das stenographische Schrifttum Englands ein außerordentlich fruchtbares gewesen. Als besonders hervorragend sind zu nennen Samuel Taylors "Essay intended to establish a standard for an universal system of stenography" (Lond. 1786), wovon Übertragungen auf viele andre europäische Sprachen gemacht wurden, und Isaak Pitmans "Phonographie" (1837). Dieselbe hat nach dem Taylorschen System die weiteste Verbreitung und praktische Verwertung unter den Volksstämmen englischer Zunge gefunden (näheres s. Pitman). In Frankreich blieben die ersten von Cossard 1651 und dem Schotten Ramsay 1681 veröffentlichten Systeme ohne Erfolg. Erst einer von Bertin verfaßten Übertragung des Taylorschen Systems, die 1792 unter dem Titel: "Système universel et complet de sténographie" erschien, gelang es, Anerkennung und praktische Verwendung zu finden. Noch heute besitzt dieselbe namentlich in den Überarbeitungen von Prévost und Delaunay in den franzöfischen und belgischen Kammern als Redezeichenkunst das Übergewicht, auch sonst einige Verbreitung im täglichen Schriftverkehr und eine Zeitschrift zur Vertretung ihrer Interefsen. Hinsichtlich der allgemeinen Ausbreitung und Benutzung bei schriftlichen Arbeiten hat aber neuerdings die S. Duployé (s. d.) alle andern französischen Methoden weit überflügelt. In Italien ist der erste nachweisbare Versuch, zu einer Kurzschrift zu gelangen, der von Molina 1797. Ihm folgte eine von Amanti 1809 bewirkte Übertragung des Taylorschen Systems ("Sistema universale e completo di stenografia"), die mit einigen Modifikationen beim italienischen Parlament Verwendung findet, sonst aber hinter einer von Noe bewirkten Übertragung der deutschen Redezeichenkunst von Gabelsberger zurücktritt, welche bereits anfängt, in weitern Kreisen als Gebrauchsschrift sich Geltung zu verschaffen ("Manuale di stenografia italiana", 9. Aufl., Dresd. 1887). In Spanien war es Marti, der, auf englischen Grundlagen bauend, durch seine "Tachigrafia castellana" (Madr. 1803) die Kurzschrift in seinem Vaterland einbürgerte und eine Stenographenschule gründete, deren Anhänger auch in Mexiko, Carácas, Buenos Ayres als Schnellschreiber der dortigen Gesetzgebenden Körper thätig sind. Ihr ist in neuester Zeit die "Taquigrafia sistematica" (Barcel. 1864) des Garriga y Marill mit Erfolg an die Seite getreten; ein thätiger und tüchtiger Verein in Barcelona wirkt für dieses System. Ein Sohn des vorgenannten Marti führte seines Vaters System, indem er es auf das Portugiesische übertrug, in Portugal ein ("Tachigrafia portugueza", Lissab. 1828). In Brasilien kommt ein nach englisch-französischen Mustern von Pereira da Silva Velho geschaffenes System (Rio de Jan. 1844) im Parlament zur Verwendung. In Rumänien tauchte die Kurzschrift 1848 auf, als Rosetti die Taylorsche S. seiner Muttersprache anzupassen suchte. Von einigem Erfolg begleitet war erst Winterhalders 1861 bewirkte Übertragung des französischen Systems von Tondeur. Auch in Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Rußland, Polen, Böhmen und den übrigen slawischen Ländern, Ungarn, Finnland, der Türkei, Griechenland, Armenien, Madagaskar, Japan trägt die S. das Gepräge fremder Herkunft. Es gibt in diesen Ländern keine national-eigentümlichen Stenographien, sondern nur Übertragungen ausländischer Methoden, besonders der deutschen von Gabelsberger und Stolze oder englisch-französischer. Erst 1888 hat sich bei den Tschechen eine Richtung auf Nationalisierung der S. bemerkbar gemacht. Auch auf Schleyers Volapük sind schon mehrere Systeme der S. übertragen worden. In Deutschland begegnen uns merkwürdige Beispiele großer Schreibgeschwindigkeit während der Reformationszeit, wo Luthers Freunde und Gehilfen (Cruciger, Dietrich und Röhrer) Predigten, Reden, Verhandlungen u. dgl. wörtlich nachgeschrieben haben sollen. Da jedoch nähere Angaben nicht erhalten sind, muß es unentschieden bleiben, welcher Hilfsmittel sich diese Männer bedient haben. Der Versuch des Schotten Ramsay, 1679 das englische System von Shelton in Deutschland einzuführen, blieb ohne Erfolg. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lenkte Buschendorf in seinem "Journal für Fabrik, Manufaktur etc." 1796 die Aufmerksamkeit der Deutschen auf die stenographischen Systeme Englands und Frankreichs und wies auf die Wichtigkeit dieser Kunstfertigkeit hin. Noch in demselben Jahr erschienen Mosengeils "Anleitung zur S. nach Tay- Stenographiermaschine - Stenotelegraph. lor" und 1797 Horstigs "Erleichterte deutsche S.", beide ebenso wie das vom Hauptmann Danzer in Wien 1800 veröffentlichte "Allgemeine System der S. des Herrn Sam. Taylor" nach englischem Muster gearbeitet. Seit jener Zeit ist in Deutschland eine außerordentlich große Anzahl stenographischer Systeme aufgetaucht, unter denen aber nur die Methoden von Gabelsberger (s. d., 1834), Stolze (s. d., 1841) und Arends (s. d., 1850) in den Vordergrund getreten sind. Gabelsberger schuf in seiner Redezeichenkunst das erste deutsche Nationalsystem und eroberte der graphischen Richtung das Feld. Stolze hob die S. zur Bedeutung eines allgemeinen Hilfsmittels, brachte strengere Grundsätze zur Anwendung und belebte den früher toten Bindestrich. Arends ist darüber nicht hinausgekommen. Die Pflege dieser drei Hauptsysteme nebst Übertragungen stellt sich nach der neuesten Statistik folgendermaßen: Gabelsberger 660 Vereine mit 17000 Mitgliedern, Stolze 450 - - 10500 Arends 120 - - 2600 Erst in neuester Zeit hat der stenographische Gedanke wieder eine wirkliche Förderung erfahren durch Brauns, der in seinem "Entwurf eines Schulkurzschriftsystems" (Hamb. 1888) auf Grund eingehender Untersuchungen über die Häufigkeit der Lautgruppen einerseits und die Schreibflüchtigkeit der verfügbaren Zeichen anderseits die Bahnen für eine rationelle Ökonomie in der Kurzschrift vorgezeichnet hat. Diejenigen Systeme der S., welche in der Zwischenzeit veröffentlicht worden sind, haben wohl diesen oder jenen neuen Einzelvorteil sich zu nutze gemacht, für den Allgemeinfortschritt der S. aber nichts geleistet. Faulmanns Phonographie, die zuerst von Braut 1875 herausgegeben ward, hebt sich durch ihre Einfachheit hervor. Das sogen. "Dreimännersystem" von Schrey, Johnen und Socin (1888), gewöhnlich nach dem Hauptautor Schrey allein benannt, versucht eine Vermittelung zwischen Gabelsberger, Stolze und Faulmann. Durch Vereine sind folgende kleinere Systeme vertreten: Roller (1875) 105 1450 Faulmann (1875) 25 1000 Lehmanns "Stenotachygraphie" (1875) 40 860 Schrey (1888) 30 450 Merkes (1880) 15 150 Velten (1876) 10 150 Ganz vereinzelt bestehen auch Vereine nach den Systemen von Adler (1877), Herzog (1884) und einigen andern, wie denn das stenographische Vereinswesen in Deutschland, dem gegenwärtigen Hauptsitz stenographischer Thätigkeit, am meisten entwickelt ist. Ein regelmäßiger Gedankenaustausch zwischen den Stenographen aller Länder ist von Großbritannien aus durch die Einführung internationaler Stenographenkongresse geschaffen worden. Die erste Zusammenkunft dieser Art fand 1887 in London statt (vgl. "Transactions of the first international short-hand congress", Lond. u. Bath 1888). Einen Einblick in acht bedeutende Systeme der S. gewährt beifolgende Tafel "Stenographie". Für die umfängliche stenographische Litteratur besteht bei J. H. Robolsky in Leipzig eine besondere buchhändlerische Zentralstelle; Bücher von wirklichem Wert sind seltene Erscheinungen. Vgl. Pitman, A historv of short-hand (Lond. 1852); Anderson, History of short-hand (das. 1882) ; Rockwell, The teaching, practice and literature of short-hand (2. Aufl., Washingt. 1885); Scott de Martinville, Histoire de la sténographie (Par. 1849); Guénin, Recherches sur l'histoire, la pratique et l'enseignement de la sténographie (das. 1880); Depoin, Annuaire sténographique international (das. 1887); Gabelsberger, Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder S. (Münch. 1834); Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Litteratur der S. (Köslin 1855); Erkmann, Geschichte der S. im Grundriß (Görl.1875); Mitzschke, Beiträge zur Geschichte der Kurzschrift (Berl. 1876); Zeibig, Geschichte und Literatur der Geschwindschreibkunst (2. Aufl., Dresd. 1878) ; Blenck, Die geschichtliche Entwickelung etc. der S. (Berl. 1887); Krieg, Katechismus der S. (2. Aufl., Leipz. 1888); Moser, Allgemeine Geschichte der S. (das. 1889, Bd. 1.); "Panstenographikon" (Dresd. 1869-74); Faulmann, Historische Grammatik der S. (Wien 1887); Keil und Hödel, Verzeichnis der stenographischen Litteratur Deutschlands etc. (Leipz. 1880 u. 1888); Westby-Gibson, The bibliography of short-hand (Lond. u. Bath Stenographiermaschine, ein neuerdings konstruierter Apparat, auf gleicher Idee beruhend und von ähnlicher Einrichtung wie die Schreibmaschine (s. d.), der indessen mit solcher Schnelligkeit arbeiten soll, daß er gehaltenen Reden wörtlich zu folgen vermag. Dieses Ziel ist aber unerreichbar, und die unter dem Namen S. gehenden Apparate sind in der That nur Schreibmaschinen von größerer Leistungsfähigkeit. Am meisten hat die S. des Italieners Michela von sich reden gemacht. Vgl. Petrie, Reporting and transcribing machines (Lond. 1882); Guénin, Les machines à écrire (in Nr. 4 des "Bulletin de l'Association des sténographes de Paris" vom 1. Febr. 1883). Vgl. Stenotelegraph. Stenokardie (griech.), Herz- oder Brustkrampf. Stenokephalen, s. v. w. Dolichokephalen, s. Menschenrassen, S. 475, und Schädellehre. Stenopäisch (griech.), Bezeichnung für Brillen und andre optische Apparate, welche dem Licht nur durch eine enge Öffnung Zutritt zum Auge gestatten (z. B. zur Verkleinerung von Zerstreuungskreisen). Stenops, Lori. Stenosis (griech.), Verengerung oder auch Verschließung von Gefäßen oder Kanälen, wodurch die normale Zirkulation des Inhalts verhindert wird, so z. B. S. der Herzöffnungen, der Luftröhre etc. Stenotachygraphie (griech., "Engschnellschrift"), Name der Kurzschrift von A. Lehmann; s. Stenographie, S. 291. Stenotelegraph (griech.), von Cassagnes in Paris angegebener elektromagnetischer Druckapparat für stenographische Zeichen, der die gewöhnlichen Telegraphenapparate an Geschwindigkeit weit übertreffen soll. Als Geber dient der mechanische Stenograph von Michela, welcher seit 1880 im italienischen Senat benutzt wird (vgl. Stenographiermaschine). Michela zerlegt die Wörter in ihre phonetischen Elemente und verwendet zu deren Wiedergabe 20 Schriftzeichen, welche mittels einer Klaviatur auf mechanischem Weg hervorgebracht werden. Bei Cassagnes ist jede Taste mit einem Pol einer Linienbatterie verbunden, deren andrer Pol an der Erde liegt, und zwar sind zwei Batterien vorhanden, welche mit entgegengesetzten Polen so an den Geber geführt werden, daß die Polarität von Taste zu Taste wechselt. Die Tasten stehen mit den Kontaktplatten einer sehr gleichmäßig wirkenden Verteilerscheibe in Verbindung; über dieser Scheibe dreht sich eine metallische Bürste, welche die Leitung in jeder Sekunde mehrmals mit jeder Kontaktplatte in Berührung bringt. Auf der Empfangsstelle ist eine gleichartige Verteilerscheibe mit Stenschewo - Stephan. völlig übereinstimmend sich drehender Bürste aufgestellt; letztere teilt jeden aus der Leitung kommenden Stromstoß einem der 20 mit den Kontaktplatten verbundenen Elektromagnete mit, welcher sodann die Wiedergabe des entsprechenden Zeichens auf dem Papierstreifen unter Zuhilfenahme einer Lokalbatterie durch eine einfache Druckvorrichtung herbeiführt. Nach jeder Zeichengebung tritt ein 21. Elektromagnet in Thätigkeit, dessen Anker beim Abfallen mittels eines Sperrrades den Papierstreifen um die Breite eines Zeichens vorschiebt. Neuerdings hat Cassagnes die Anzahl der Kontaktplatten in der Verteilerscheibe vergrößert, um bei jedem Umlauf mehr als ein stenographisches Zeichen telegraphieren zu können; statt einer einzigen Klaviatur treten dann 2 oder 3 gleichzeitig in Thätigkeit, wobei auf jeder Klaviatur ein andres Telegramm übermittelt wird. Außerdem hat der Erfinder seinen Stenotelegraphen noch zur automatischen Beförderung eingerichtet, indem er denselben mit einem mechanischen Lochapparat verbindet und den gelochten Streifen durch das Laufwerk der Verteilerscheibe hindurchgehen läßt, wobei eine Anzahl von Kontaktstiften durch die Löcher des Streifens die zum Abdruck der Schriftzeichen dienenden Ströme entsenden. Mit diesem Apparat sollen von Paris aus Versuche auf Entfernungen zwischen 200 und 920 km angestellt und Leistungen von 12,000-24,000 Wörtern in der Stunde erreicht worden sein. Steuschéwo, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis Posen (West-), hat eine kath. Kirche und (1885) 1506 Stentando (ital.), musikal. Bezeichnung, s. v. w. hemmend, zögernd. Stentato, s. v. w. ritenuto, aber mit dem Ausdruck des Gehemmten, Mühevollen; in der Malerei s. v. w. gezwungen, steif. Stentor, bei Homer ein Thraker (oder Arkadier) mit eiserner Stimme, dessen Ruf so laut tönte wie der 50 andrer Männer; daher Stentorstimme. Stenzel, Gustav Adolf Harald, deutscher Geschichtsforscher, geb. 21. März 1792 zu Zerbst, studierte in Leipzig Theologie und Geschichte, habilitierte sich, nachdem er als freiwilliger Jäger den Befreiungskrieg von 1813 mitgemacht, zu Leipzig, 1817 zu Berlin, folgte 1820 einem Ruf als Professor der Geschichte nach Breslau und ward 1821 Archivar des schlesischen Provinzialarchivs. 1848 war er Abgeordneter zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, später Mitglied der preußischen Zweiten Kammer. Er starb 2. Jan. 1854. Von seinen Arbeiten sind hervorzuheben: "Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern" (Leipz. 1827, 2 Bde.); "Geschichte des preußischen Staats" (Hamb. u. Gotha 1830-54, 5 Bde.) und "Geschichte Schlesiens" (Bresl. 1853, Bd. 1). Auch besorgte er die Herausgabe der "Scriptores rerum silesiacarum" (Bresl. 1835-1851, 5 Bde.) und der "Urkunden zur Geschichte Breslaus im Mittelalter" (das. 1845). Stenzler, Adolf Friedrich, namhafter Sanskritist, geb. 9. Juli 1807 zu Wolgast, studierte 1826-1829 in Greifswald, Berlin und Bonn orientalische Sprachen, ging, nachdem er 1829 in Berlin promoviert, nach Paris, wo er die Vorlesungen von Chezy, S. de Sacy und A. Remusat besuchte, arbeitete dann bis 1833 in der Bibliothek des East-India House in London und erhielt noch im genannten Jahr die Professur der orientalischen Sprachen an der Universität Breslau, wo er bis 1872 zugleich als Kustos und zweiter Bibliothekar an der Universitätsbibliothek thätig war. Seine Hauptwerke sind: "Raghuvansa, Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., Lond. 1832); "Kumâra Sambhava, Kâlidâsae carmen" (sanskr. u. lat., das. 1838); "Mricchakatika. i. e. Curriculum figlinum, Sûdrakae regis fabula" (sanskr., Bonn 1847); "Yâjnavalkyas Gesetzbuch" (sanskr. u. deutsch, Berl. 1849); "Indische Hausregeln" (sanskr u. deutsch, 1. Teil: "Acvalâyana" . Leipz. 1864-65, 2 Bde.; 2. Teil: "Pâraskara", das. 1876-78, 2 Bde.); "Elementarbuch der Sanskritsprache" (Bresl. 1868, 5. Aufl. 1885); "Meghadûta, der Wolkenbote, Gedicht von Kalidasa" (mit Anmerkungen und Wörterbuch, das. 1874); "The Institutes of Gautama" (sanskr., Lond. 1876); außerdem Abhandlungen in Webers "Indischen Studien" und in der "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" (z. B. über die indischen Gottesurteile, im 9. Band) und Gelegenheitsschriften. S. starb 27. Febr. 1887 in Breslau. Stepenitz, rechter Nebenfluß der Elbe im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, entspringt bei Meyenburg, fließt in südwestlicher Richtung und mündet nach 75 km langem Lauf bei Wittenberge. Stepenitz (Groß- S.), Flecken im preuß. Regierungsbezirk Stettin, Kreis Kammin, am Einfluß des Gubenbachs in das Papenwasser, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Sägemühlen, Fischerei, Dampfschiffahrt nach Stettin und (1885) 1572 Einw. Stephan, Name von zehn Päpsten: 1) S. I., ein Römer, folgte 253 Lucius als Bischof von Rom und entschied den Streit über die Ketzertaufe dahin, daß auch eine solche gültig sei; er starb 2. Aug. 257, nach der Sage als Märtyrer, und ward später kanonisiert. Sein Tag ist der 2. August. - 2) S. (II.), gewählt 27. März 752, starb zwei Tage nach der Wahl; wird daher gewöhnlich nicht gezählt. - 3) S. II. (III.) bestieg den päpstlichen Stuhl 752. Als er den Kaiser Konstantin Kopronymos gegen den Langobardenkönig Aistulf, welcher das Exarchat eroberte, vergebens um Schutz angefleht hatte, rief er die Hilfe des Königs der Franken, Pippin, an und erhielt 755 von diesem das wiedereroberte Exarchat nebst der Pentapolis geschenkt, wodurch der Grund zum Kirchenstaat gelegt ward. S. starb 26. April 757. - 4) S. III. (IV.), ein Sizilier, folgte auf Paul I. nach Abfetzung des Gegenpapstes Konstantin 768 und bestimmte, daß keiner, der nicht durch alle niedern Stufen der Geistlichkeit bis zur Würde eines Kardinaldiakonus gestiegen sei, auf den päpstlichen Stuhl erhoben werden sollte. Von dem Langobardenkönig Desiderius bedrängt, suchte er bei den Frankenkönigen Karl und Karlmann Hilfe. Er starb 772. - 5) S. IV. (V.), erst Diakonus zu Rom, Nachfolger Leos III. seit 816, krönte den Kaiser Ludwig den Frommen; starb 817. - 6) S. V. (VI.), ein Römer, solgte auf Hadrian III. 885, krönte den Herzog Guido von Spoleto zum Kaiser; starb 891. 7) S. VI. (VII.) bestieg 896 den römischen Stuhl, ließ den ausgegrabenen Leichnam seines Vorgängers Formosus in den Tiber werfen, wurde aber selbst schon 897 im Kerker erdrosselt. - 8) S. VII. (VIII.), ein Römer, Nachfolger Leos VI. seit 929, stand ganz unter dem Weiberregiment der Theodora und Marozia; starb 931. - 9) S. VIII. (IX.), Verwandter des Kaisers Otto, folgte 939 Leo VII., ward aber von den Römern gefangen gesetzt und starb 942. 10) S. IX. (X.) hieß früher Friedrich und war Bruder des Herzogs Gottfried von Lothringen, ward vom Papst als Gesandter nach Konstantinopel geschickt, blieb dann als Mönch in Monte Cassino, ward Kardinal und nach Viktors II. Tod 1057 zum Papst gewählt. Als solcher stand er ganz unter dem Ein- Stephan (Fürsten) - Stephan (Zuname). fluß Hildebrands. Er starb bereits 29. März 1058 in Florenz. Vgl. Wattendorf, Papst S. IX. (Münster 1883). Stephan, Name mehrerer Fürsten. Bemerkenswert 1) S. von Blois, König von England, ward nach dem Tod König Heinrichs I., dessen Schwester Adele seine Mutter war, 1135 von den normännischen Großen an Stelle von Heinrichs Tochter Mathilde als König anerkannt, wofür er den Prälaten und Baronen einen umfassenden Freibrief gewährte. Die Widersetzlichkeit der Großen suchte er nicht immer mit Erfolg durch vlämische und französische Söldner niederzuhalten. Mit Schottland kämpfte er glücklich, als aber 1139 die von der Thronfolge ausgeschlossene Mathilde in England landete, fiel S. 1141 selbst in ihre Gewalt, ward 1142 zwar befreit, behauptete sich aber nur unter fortwährenden Kämpfen im Besitz der Herrschaft und starb 25. Okt. 1154, nachdem er Mathildens Sohn Heinrich Plantagenet als Erben anerkannt hatte. 2) Erzherzog von Österreich, Sohn des Erzherzogs Joseph (gest. 1847) und dessen zweiter Gemahlin, Hermine, gebornen Prinzessin von Anhalt-Bernburg-Schaumburg, geb. 14. Sept. 1817, wurde im Dezember 1843 Zivilgouverneur von Böhmen, 1847 nach dem Tod seines Vaters zum stellvertretenden Palatin von Ungarn ernannt und im November d. J. durch die Wahl des Reichstags und die Bestätigung des Kaisers definitiv mit dieser Würde betraut. Infolge der Märzereignisse 1848 wurde seine Stellung sowohl der nationalen Partei als auch der österreichischen Regierung gegenüber eine unhaltbare, namentlich als er im September vom Reichstag zum Oberbefehlshaber der ungarischen Armee gegen Jellachich ernannt worden war; er entsagte daher 24. Sept. dem Palatinat, zog sich 1850 auf seine Besitzungen in Nassau (Grafschaft Holzappel und Schaumburg) zurück und starb 19. Febr. 1867 in Mentone. Vgl. "Erzherzog S. Viktor von Österreich, sein Leben, Wirken etc." (Wiesb. 1868). 3) Bathori, König von Polen, geb. 1532 aus einer vornehmen ungarischen Familie (s. Bathori), ward 1571 von den siebenbürgischen Ständen zum Großfürsten von Siebenbürgen und 1575, nachdem er die Jagellonische Prinzessin Anna geheiratet, vom polnischen Reichstag zum König von Polen erwählt. Er verbesserte die Rechtspflege, suchte dem Jesuitenorden gegenüber die Gewissensfreiheit der Protestanten zu schützen, kämpfte im Bund mit Schweden glücklich gegen die Russen (1578-82) und eroberte einen Teil Livlands, versuchte aber mit seinem Günstling Zamojski vergeblich, ein starkes nationales Königtum in Polen zu schaffen und die Krone in seinem Geschlecht erblich zu machen. Er starb 12. Dez. 1586 in 4) S. I., der Heilige, erster König von Ungarn, 997-1038, war der Sohn des Herzogs Geisa, Urenkels des Großfürsten Arpad (s. d.), hieß ursprünglich Wajk, ward 995 in seinem 20. Lebensjahr angeblich durch den Bischof Adalbert von Prag zum Christentum bekehrt und nahm in der Taufe den Namen Stephanus an. Mit der bayrischen Herzogstochter Gisela vermählt, zog er zahlreiche Deutsche nach Ungarn und rottete, zur Regierung gelangt, das Heidentum mit Feuer und Schwert in seinem Land aus. Er nahm den Königstitel an, ließ sich mit der vom Papst Silvester II. ihm gesandten Krone 1001 krönen und gab dem Land eine Verfassung, durch welche die Krone im Geschlecht Arpads für erblich erklärt und eine geregelte politische Verwaltung eingeführt wurde. Die widerspenstigen Stammeshäuptlinge im Süden und Osten seines Landes zwang er in siegreichen Kämpfen zur Anerkennung seiner Herrschaft. Er starb 1038 und ward 1087 heiliggesprochen (sein Tag der 20. August). Nach ihm werden Ungarn und seine Teile die "Länder der Stephanskrone" genannt. - S. II.-V., s. Ungarn (Geschichte). Stephan, 1) Martin, Stifter einer nach ihm benannten Sekte, geb. 13. Aug. 1777 zu Stramberg in Mähren, machte, seit 1810 Pfarrer der böhmischen Gemeinde in Dresden, hier, im Muldenthal und im Altenburgischen Propaganda für ein starkgläubiges Altluthertum. Seine Veranstaltung von nächtlichen Erbauungs- und Erholungsstunden veranlagte endlich die Einleitung einer Untersuchung gegen ihn; er entzog sich jedoch derselben, indem er im Oktober 1838 sich von Bremen mit 700 seiner Anhänger nach Amerika einschiffte, wo er bereits zu Wittenberg am Mississippi Ländereien hatte ankaufen lassen. Er ließ sich dort zum Bischof ernennen, ward aber schon 30. Mat 1839 wegen Unzucht und Veruntreuung von seiner Gemeinde abgesetzt und nach Illinois gebracht, wo er 21. Febr. 1846 starb. Über S. und seine Sekte schrieben unter andern v. Polenz (Dresd. 1840) und Vehse (das. 1842). 2) Heinrich von, Staatssekretär des deutschen Reichspostamtes, geb. 7. Jan. 1831 zu Stolp in Pommern, trat 1848 in das Postfach ein, wurde 1856 als Geheimer expedierender Sekretär ins Generalpostamt nach Berlin berufen, 1858 zum Postrat, 1865 zum Geheimen Postrat und vortragenden Rat ernannt. In dieser Zeit war er in besonders hervorragender Weise auf dem Gebiet der internationalen Postreform thätig, indem er den Abschluß von Postverträgen mit fast allen europäischen Staaten bewirkte. Daneben fand er Gelegenheit, sich reiche Sprachkenntnisse zu erwerben und durch weite Reisen die internationalen Kulturhebel des Postwesens näher kennen zu lernen. Nachdem S. 1866 und 1867 die Verhandlungen zur Beseitigung der Thurn und Taxisschen Lehnspostwesens beendet und die taxissche Post durch einen Staatsvertrag vom 28. Jan. 1867 an die Krone Preußen übereignet hatte, wurde er im April 1870 zum Generalpostdirektor und obersten Chef des Postwesens des Norddeutschen Bundes ernannt. Gleich in den ersten Monaten seiner Verwaltung trat die große Aufgabe der Entwickelung der deutschen Feldpost im deutsch-französischen Krieg an ihn heran, welche von ihm in vollendeter Weise gelöst wurde. 1871 wurde S. zum kaiserlichen Generalpostdirektor, 1876 nach erfolgter Verschmelzung der Telegraphenverwaltung mit der Post zum Generalpostmeister und 1879 zum Staatssekretär des deutschen Reichspostamtes ernannt. Nach der Errichtung des Reichspostwesens begann S. das Werk des innern Ausbaues, welches eine neue Epoche für das Postwesen eröffnete und die deutsche Reichspost zu mustergültiger Höhe erhoben hat. Er schuf eine einheitliche Postgesetzgebung, führte den einheitlichen Tarif für Pakete durch, führte das von ihm erfundene neue Verkehrsmittel der Postkarten ein, rief den Postanweisungs- und Postauftragsverkehr sowie die für den litterarischen Verkehr wichtige Bücherpost ins Leben und führte eine Reihe erheblicher Erleichterungen bei Benutzung der Postanstalt ein. Dann folgte 1875 die auf Stephans Veranlagung eingeleitete Vereinigung der Telegraphie mit der Reichspost, welche zur Folge hatte, daß die Zahl der deutschen Telegraphenanstalten sich seitdem von 1700 auf 13,000 gehoben hat. Das bedeutendste Werk Stephans aber war die Gründung Stephani - Stephansorden. des Weltpostvereins. Er hat diese Bildung zuerst angeregt und sie mit umsichtiger und kräftiger Hand gefördert, so daß dieser Gemeinschaft jetzt mit geringen Ausnahmen alle zivilisierten Staaten der Erde angehören. Daneben hat S. in umfassendster Weise für Hebung der materiellen Lage und des geistigen Wohls der Post- und Telegraphenbeamten (Kaiser Wilhelm-Stiftung für die Post- und Telegraphenbeamten, Bewilligung von Stipendien für Studienreisen, Einrichtung der Postspar- und Vorschußvereine, deren Vereinsvermögen jetzt 14 Mill. Mk. beträgt, Errichtung der Post- und Telegraphenschule in Berlin mit akademischem Lehrkursus, Errichtung des Reichspostmuseums, Gründung von Amtsbibliotheken, Sonntagsruhe etc.) gesorgt. Bis in die neueste Zeit hinein hat S. die umfassendsten Umgestaltungen sowohl bei der Post als bei der Telegraphie durchgeführt; die Zahl der Postanstalten wurde von 5400 im J. 1871 auf 18,000 im J. 1888 erhöht. Das flache Land ist mit einem dichten Netz von Landbriefträgerverbindungen zu Fuß und zu Wagen durchzogen (Verstärkung der Zahl der Landbriefträger im Reichspostgebiet von 10,000 auf über 20,000), in den Städten machen die Fernsprecheinrichtungen zusehends Fortschritte; unterirdische Telegraphenleitungen sorgen für eine von atmosphärischen Störungen unabhängige Zuverlässigkeit des Verkehrs; überseeische Kabel und Postverbindungen haben sich von Jahr zu Jahr vermehrt, und seit 1886 haben die auf Stephans Initiative ins Leben gerufenen deutschen subventionierten Postdampfschiffe ihre Fahrten eröffnet. In den ersten zehn Jahren nach Gründung des Weltpostvereins lieferte die Verwaltung unter Stephans Leitung 180 Mill. Überschuß an das Reich ab. S. gründete im Verein mit Werner Siemens den Elektrotechnischen Verein in Berlin, welchem er seit seiner Errichtung als Ehrenpräsident vorsteht. Er ist Mitglied des preußischen Herrenhauses (seit 1872) und des preußischen Staatsrats, Ehrendoktor der Universität Halle und Ehrenbürger der Städte Stolp und Bremerhaven. Auch als Schriftsteller zeichnete sich S. aus. Außer einem "Leitfaden zur Anfertigung schriftlicher Arbeiten für junge Postbeamte" schrieb er: "Geschichte der preußischen Post" (Berl. 1859), "Das heutige Ägypten" (Leipz. 1872), "Weltpost und Luftschiffahrt" (Berl. 1874) sowie zahlreiche kleinere Essays. Er begründete das "Archiv für Post und Telegraphie" und gab das "Poststammbuch" (3. Aufl., Berl. 1877) heraus. 3) (Meister Stephan), s. Lochener. Stephani, 1) Heinrich, verdienter Pädagog der Aufklärungszeit, geb. 1. April 1761 zu Gemünden im Würzburgischen, studierte zu Erlangen, ward 1808 bayrischer Kirchen- und Schulrat und 1818 Dekan in Gunzenhausen, trat aber 1834 infolge von theologischen Streitigkeiten vom geistlichen Amt zurück und starb 24. Dez. 1850 zu Gorkau in Schlesien. Er veröffentlichte zahlreiche ihrer Zeit angesehene theologische, kirchenrechtliche, pädagogische und methodologische Schriften. Sein bleibendes Verdienst besteht in der Ausbildung und Einführung der Lautiermethode beim ersten Leseunterricht, welche vom Lautwert der Buchstaben ausgeht, statt, wie die ältere Buchstabiermethode, von den Lautzeichen und Namen der 2) Ludolf, Philolog und Archäolog, geb. 29. März 1816 zu Beucha bei Leipzig, studierte hier, erhielt auf Grund seiner kunstgeschichtlichen Schrift "Der Kampf zwischen Theseus und Minotaurus" (Leipz. 1842) durch Gottfr. Hermanns Empfehlung eine Hauslehrerstelle in Athen, gab diese aber bald auf, um zu wissenschaftlichen Forschungen eine Reise durch Nordgriechenland und Kleinasien zu unternehmen, die sich schließlich bis Unteritalien und Sizilien erstreckte. Nach seiner Rückkehr folgte er 1846 einem Ruf als Professor der Philologie an die Universität Dorpat und siedelte von da 1850 nach Petersburg über, wo er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Konservator der klassischen Altertümer eine große und erfolgreiche Thätigkeit entwickelte. Er starb 11. Jun. 1887 in Pawlowsk. Seine Hauptwerke sind: "Reise durch einige Gegenden des nördlichen Griechenland" (Leipz. 1843); "Über einige angebliche Steinschneider des Altertums" (das. 1851); "Der ausruhende Herakles" (das. 1854); "Antiquités du Bosphore Cimmérien" (Petersb. 1854, Prachtwerk mit Bilderatlas); "Nimbus und Strahlenkranz in den Werken der alten Kunst" (das. 1859); "Die Vasensammlung der kaiserlichen Eremitage" (das. 1869, 2 Bde); "Die Antikensammlung zu Pawlowsk" (das. 1872) etc. Zahlreiche Abhandlungen von S. enthalten die "Comptes rendus" der kaiserlichen Archäologischen Kommission. Stéphanie, Louise Adrienne Napoléone, Großherzogin von Baden, Tochter des Grafen Claude de Beauharnais (s. Beauharnais 1) und Nichte der Kaiserin Josephine, geb. 28. Aug. 1789, war 1806 von Napoleon I. adoptiert, zur Fille de France und kaiserlichen Hoheit erklärt und 8. April mit Karl Ludwig Friedrich, Erbgroßherzog von Baden, vermählt, welcher ihr aber mehrere Jahre lang entschiedene Abneigung zu erkennen gab, da er nur gezwungen die Ehe eingegangen war. Seit 1811 Großherzogin, aber seit 1818 verwitwet, residierte sie in Mannheim und starb 29. Jan. 1860 in Nizza. Sie hinterließ zwei Töchter, Josephine, geb. 21. Okt. 1813, Witwe des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, und Maria, geb. 11. Okt. 1817, seit 1863 verwitwete Herzogin von Hamilton, gest. 18. Okt. 1888; ihre Söhne waren kurz nach der Geburt gestorben. Stephanit, s. Sprödglaserz. Stephanos, röm. Bildhauer zur Zeit Cäsars, durch eine Knabenstatue in Villa Albani bekannt, Schüler des Pasiteles (s. d.). Stephanos von Byzanz, griech. Grammatiker, lebte in der ersten Hälfte des 6. Jahrh. n. Chr. und ward bekannt als Verfasser eines umfangreichen geographischen Wörterbuchs ("Ethnica"), das uns aber nur noch in einem Auszug des Grammatikers Hermolaos erhalten ist. Die besten Ausgaben sind die von Westermann (Leipz. 1839) und Meineke (Berl. 1849). Stephansfeld, Irrenanstalt, s. Brumath. Stephanskörner, Stephanskraut, s. Delphinium. Stephauskrone, s. Stephan 4). Stephansorden. 1) Königlich ungarischer Zivilverdienstorden, von Maria Theresia als Pendant des Militär-Maria-Theresienordens 5. Mai 1764 gestiftet und unter den Schutz des heil. Stephan gestellt. Großmeister ist der König von Ungarn. Der Orden soll 100 Ritter und drei Grade haben. Die Dekoration besteht in einem achteckigen, grün emaillierten, goldgeränderten Kreuz mit der Stephanskrone; im rot emaillierten Mittelschild steht auf einer goldenen, auf einen grünen Berg gestellten Krone ein silbernes apostolisches Kreuz und zu beiden Seiten M. T. mit der Umschrift: "Publicum meritorum praemium"; auf dem Revers, umgeben von einem Eichenkranz: "STO. ST.R.I.AP." Das große Stephansstein - Stephenson. Kreuz tragen die Ritter erster Klasse und Kommandeure, das kleine die Ritter, sämtlich am grünen Band mit rotem Streifen in der Mitte in der üblichen Weise. Die Großkreuze tragen dazu einen brillantierten Silberstern, in dessen Mitte das Ordensmedaillon angebracht ist, und außerdem noch eine Kette aus S S und M T, der Königskrone und einem Wolkenkranz, in dem ein Band die Inschrift: "Stringit amore" trägt, und zwischen dem ein Adler schwebt. Auch hat der Orden, der nur dem Adel zugänglich, eine besondere Ordenskleidung, Beamte und seinen Ordenstag an St. Stephan. Die Großkreuze heißen Kousins des Königs. Vgl. Dominus, Der S. und seine Geschichte (Wien 1873). - 2) Toscanischer Militärorden, gestiftet 1562 von Cosimo de Me- dici zur Bekämpfung der Seeräuberei und Verteidigung des Glaubens, mit religiöser Observanz, wurde 22. Dez. 1817 vom Großherzog Ferdinand III. erneuert und in vier Grade: Prioren- Großkreuze, Bali-Großkreuze, Kommendatoren und Ritter (di giustizia und di grazia), eingeteilt. Jeder Adlige von vier Ahnen, mit freiem Einkommen von 300 Skudi aus seinem Besitz, hat Anspruch auf den Orden, der in der Familie erblich ist, wenn der Ritter eine Kommende als Majorat stiftet. Die Cavalieri di grazia erhalten solche Kommende für ihre Verdienste. Die Dekoration besteht in einem achtspitzigen, rot emaillierten Kreuz mit Krone und goldenen Lilien in den Winkeln, das an rotem Band von den drei ersten Klassen am Hals, von den Rittern im Knopfloch getragen wird. Die Plaque wird auf der Brust getragen. Viktor Emanuel hob den Orden 16. Nov. 1859 auf. Stephansstein, s. Chalcedon. Stephanus, Name zahlreicher Heiligen der römisch-katholischen Kirche, von denen besonders zu nennen sind : 1) Einer der sieben Armenpfleger der Christengemeinde zu Jerusalem, der, ein eifriger Verkündiger des Evangeliums, vom fanatischen Pöbel als Gotteslästerer 36 oder 37 gesteinigt wurde und deshalb für den ersten Märtyrer gilt (Apostelgesch. 6 und 7); sein Tag ist der 26. Dezember. Die Steinigung des S. wurde in der bildenden Kunst häufig dargestellt, namentlich von Raffael (in den Teppichen des Vatikans), von Giulio Romano (in Santo Stefano zu Genua) u. a. 2) Erster König von Ungarn, s. Stephan 4). Stephanus, Gelehrtenfamilie, s. Estienne. Stephens, 1) Alexander Hamilton, amerikan. Politiker, geb. 11. Febr. 1812 zu Taliafero in Georgia, ward im Franklin College erzogen und studierte die Rechte, worauf er sich 1834 zu Crawfordsville in Georgia als Advokat niederließ, gleichzeitig aber sich der Politik widmete. Schon 1836 wurde er in die Legislatur, 1842 in den Senat von Georgia gewählt und 1843 zum Mitglied des Repräsentantenhauses ernannt, welchem er bis 1859 angehörte. Er schloß sich zuerst der Partei der Whigs, dann der demokratischen an, stimmte 1854 für die Kansas- und Nebraskabill und betrieb 1856 mit Eifer die Wahl Buchanans zum Präsidenten. 1859 schied er aus dem Kongreß, weil er die extremen Ansichten der Sklavenhalterpartei nicht billigte, wie er 1861 auch anfangs gegen die Sezession war. Dennoch ließ er sich zum Vizepräsidenten der südlichen Konföderation wählen und bekleidete diesen Posten bis zu deren Untergang 1865. Er wurde auf Befehl der Unionsregierung verhaftet und nach Fort Warren bei Boston gebracht, im Oktober 1865 aber freigelassen. 1872-77 wieder demokratisches Mitglied des Kongresses, bemühte er sich um die Versöhnung der Parteien. Seit 1882 Gouverneur von Georgia, starb er 4. März 1883. Er veröffentlichte: "A constitutional view of the late war between the states" (Philad. 1869, 2 Bde.); "Compendium of the history of the U.S. (neue Ausg., New York 1883). Ein Teil seiner Reden und Briefe wurde von Cleveland ("A. H. S.. in public and private life", Philad. 1867) herausgegeben. 2) George, Archäolog und Philolog, geb. 13. Dez. 1813 zu Liverpool, kam mit 20 Jahren nach Schweden, dessen Bibliotheken er behufs altnordischer Studien eifrig durchforschte, wurde 1851 an der Universität zu Kopenhagen angestellt und 1855 zum Professor ernannt. Sein Hauptwerk ist: "The old-northern Runic monuments of ScandinaVia and England" (Lond. u. Kopenh. 1866-84, 3 Bde.; abgekürzte Ausg. 1884). Von seinen übrigen Schriften sind zu ermähnen: "Bihang till Frithiofs saga" (1841); "Svenska folksagor och afventyr" (1844) und "Sveriges historiska och politiska visor" (1853); die beiden letztern Schriften sind im Verein mit G.O. Hylten-Cavallius herausgegeben. Stephenson (spr. stihwensson), 1) George, der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, geb. 8. Juni 1781 zu Wylam bei Newcastle als Sohn eines Kohlenarbeiters, arbeitete sich von einem gewöhnlichen Maschinisten zum Direktor der großen Kohlenwerke des Lord Ravensworth bei Darlington empor und baute 1812 die erste Lokomotive fürdas Kohlenwerk Killingworth. 1824 gründete er in Newcastle eine Maschinenfabrik, und im folgenden Jahr wurde nach seinem Prinzip die erste Eisenbahn zur Beförderung von Personen zwischen Stockton und Darlington angelegt. Er gehörte zu den ersten, welche hierbei die Anwendung glatter walzeiserner Schienen befürworteten und deren Konstruktion verbesserten. Die Erbauung der Liverpool-Manchester-Eisenbahn 1829 begründete seinen Ruf für immer. Bei der berühmten Preisausschreibung für die beste und schnellste Lokomotive dieser Bahn, welche ihr dreifaches Gewicht mit 10 engl. Meilen Geschwindigkeit in der Stunde ziehen sollte, ohne Rauch zu erzeugen, errang Stephensons Rocket den Preis, indem sie ihr fünffaches Gewicht zog und 14-20 engl. Meilen in der Stunde zurücklegte, also die gestellten Bedingungen weit übertraf. Dieser Erfolg war hauptsächlich der Einführung des eine lebhaftere Verbrennung erzeugenden Blasrohrs sowie des nach einer Idee Booths, des Generalsekretärs der Gesellschaft, zu einer größern Dampfentwickelungsfähigkeit geeigneten Röhrenkessels zuzuschreiben. Von da an leitete S. den Bau der bedeutendsten Eisenbahnen in England oder baute Maschinen für dieselben und wurde zu gleichem Zweck nach Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien berufen. Er war zuletzt auch Eigentümer mehrerer Kohlengruben und der großen Eisenwerke von Claycroß und starb 12. Aug. 1848 in Tapton House bei Chesterfield. Seine Statue ward in Newcastle auf der Stephensonbrücke aufgestellt. Vgl. Smiles, The life of George S. (Lond. 1884). 2) Robert, Baumeister, Sohn des vorigen, geb. 16. Dez. 1803 zu Wilmington, studierte in Edinburg, unterstützte seinen Vater bei dessen Unternehmungen, leitete den Bau mehrerer Eisenbahnlinien, verbesserte die Lokomotive, erbaute die unter dem Namen High Lewel Bridge bekannte eiserne Bogenhängwerkbrücke bei Newcastle, welche in sechs Öffnungen von je 37,5 m Weite und 25,8 m Höhe den Tyne überspannt, und erfand unter andern die sogen. Tubular- oder Röhrenbrücken, welche aus Blech zusammengesetzt und so weit sind, daß sie einem Eisenbahnzug die Durchfahrt gestatten. Eine Riesenbrücke dieser Art, Steppe - Sterblichkeit. die bekannte Britanniabrücke (s. d.), erbaute er von 1847 bis 1850 über den Menaikanal, indem er deren Röhren an dem Ufer zusammensetzte, auf Pontons zwischen die Pfeiler flößte und mittels hydraulischer Pressen bis zu dem Orte ihrer Bestimmung aufzog. Das bedeutendste Beispiel dieser Brückengattung ist die von S. entworfene, 3 km lange Viktoriabrücke bei Montreal in Kanada, welche den St. Lorenzstrom in 25 Öffnungen überspannt, deren mittlere eine Weite von 100,58 m besitzt. S. starb 12. Okt. 1859. Sein "Report on the atmospheric railway-system" wurde von Weber (Berl. 1845) deutsch bearbeitet. Vgl. Smiles, Lives of George and Robert S. (8. Aufl., Lond. 1868); Jeaffreson und Pole, Life of Robert S. (das. 1864, 2 Bde.). Steppe (v. russ. stepj, "flaches, dürres Land"), in der Erdkunde Bezeichnung für ausgedehnte Ebenen, die nur mit Gras und Kräutern bewachsen sind, auch wegen Mangels an Bewässerung keinen Anbau gestatten, in ihrem sonstigen physiognomischen Charakter aber von der geognostischen Beschaffenheit des Bodens und dem Klima abhängig sind (vgl. Ebene). Die Steppen stellen mannigfaltige Übergänge zu den Wüsten dar und sind entweder Salzsteppen, deren kahler Boden effloreszierendes Salz und magere Vegetation von Salzpflanzen trägt, oder mit Gerölle bedeckte Steinsteppen oder eigentliche Grassteppen, die sich nach dem Regen mit einem dichten und einförmigen Pflanzenteppich überziehen, deren Ackerkrume aber nicht tief genug ist, als daß Bäume darin Wurzel schlagen könnten; auch die mit Flechten und Moosen überzogenen Sumpfsteppen (Tundren) sind hierher zu rechnen. Die Steppen kommen unter verschiedenen Namen in allen Kontinenten vor; sie heißen im südlichen Rußland und in Westasien Steppen, im nordwestlichen Deutschland Heiden, im südwestlichen Frankreich Landes, in Ungarn Pußten, in Nordamerika Savannen und Prärien, in Südamerika Llanos und Pampas etc. Vgl. Humboldt, Über die Steppen und Wüsten (in den "Ansichten der Natur", zuletzt Stuttg. Steppenhuhn (Syrrhaptes Ill.), Gattung aus der Ordnung der Scharrvögel und der Familie der Flughühner (Pteroclidae), gedrungen gebaute Vögel mit kleinem Kopf, kurzem, seitlich wenig komprimiertem, auf der Firste leicht gebogenem Schnabel, sehr spitzen Flügeln, in welchen die erste Schwinge am längsten, nach der Spitze hin verschmälert und fast borstenartig ist, bis zur Spitze der Zehen mit zerschlissenen, daunenartigen Federn bekleideten, kleinen Füßen, fehlender Hinterzehe, durch eine Haut verbundenen Vorderzehen und breiten, kräftigen Nägeln. Das S. (Fausthuhn, S. paradoxus Ill.), ohne die verlängerten Mittelschwanzfedern 39 cm lang und ohne die verlängerten Schwingenspitzen 60 cm breit, am Kopf und Hals aschgrau, Kehle, Stirn und ein Streif über dem Auge lehmgelb, mit schwarzem und weißem Brustband, an der Brust grau isabellfarben, am Öberbauch schwarzbraun, Unterbauch hell aschgrau, Rücken lehmgelb, dunkel gefleckt und quergestreift, Schwingen aschgrau, die vorderste schwarz gesäumt, Schwanzfedern gelb, dunkel gebändert. Es bewohnt die Steppe östlich vom Kaspischen Meer bis zur Dsungarei, im W. nördlich bis 46°, im O. noch die Hochsteppen des südlichen Altai, geht im Winter südlich bis zum Südrand der Gobi, lebt im Frühjahr in kleinen Trupps, im Herbst in größern Flügen, in welchen aber die Paare stets beisammen bleiben. Sie laufen rasch, aber nicht anhaltend, fliegen schneller und schneidender als Tauben und nisten in kleinen Gesellschaften. Das Gelege besteht aus vier hell grünlichgrauen bis schmutzig bräunlichgrauen Eiern. 1860 zeigten sich Fausthühner in Holland und England, 1861 in Norwegen und Nordchina, 1863 aber erfolgte eine große Einwanderung, welche sich von Galizien bis Island, von Südfrankreich bis zu den Färöerinseln ausdehnte. Auf Borkum verschwanden die letzten im Oktober. Aber noch im folgenden Jahr wurden sie in Deutschland mehrfach beobachtet, und in Jütland und auf mehreren dänischen Inseln haben sie auch gebrütet. Eine ähnliche Einwanderung erfolgte 1888, blieb indes ebenfalls ohne weitere Folgen; nur im SO. Europas hat sich das S. seßhaft gemacht. In der Gefangenschaft hält es sich recht gut. Vgl. Holtz, Über das S. (Greifsw. 1888). Steppenhund, s. Hyänenhund. Steppenkuh, s. Antilopen, S. 640. Steppstich, s. Nähen. Ster (franz. stere, v. griech. stereos, starr, fest), Körpermaß (besonders Holzmaß), = 1 cbm, und zwar entweder Festmeter (fm) = 1 cbm fester Masse, oder Raummeter (rm) = 1 cbm Schichtmaß. Sterbekassen (Grabe-, Leichenkassen, Totenladen, Sterbeladen, Begräbniskassen) sind kleine, im wesentlichen die Deckung der Beerdigungskosten bezweckende genossenschaftliche, oft zweckmäßig mit Krankenkassen verbundene Lebensversicherungsanstalten, welche im Todesfall das Sterbegeld an die Erben auszahlen oder, wenn solche nicht vorhanden, auch wohl die Beerdigung selbst besorgen. Es gab solche nachweisbar schon in Rom und bei den alten germanischen Völkern. Sie sind in Deutschland sehr verbreitet und werden namentlich von den untern Klassen benutzt, ohne daß es jedoch möglich wäre, genauere Zahlenangaben über dieselben zu machen. S. bestehen auch als Nebenzweige von etwa zehn deutschen großen Lebensversicherungsanstalten, meistens aber sind sie kleinere Privatvereine, an welchen die Beteiligung entweder nur einer bestimmten Zahl von Personen (geschlossene Kassen) oder einer nicht festgesetzten Zahl von Mitgliedern, entweder nur Personen bestimmter Kategorien (z. B. Beamten derselben Behörde, Arbeitern derselben Fabrik, Personen bestimmten Berufs etc.) oder jedem Beitrittswilligen offen steht. Viele derselben werden in alter unrationeller Weise ohne genügende Abstufung der Prämien (hier oft Totenopfer genannt) und ohne richtige Bemessung der Prämienreserven verwaltet und sind deshalb zum Teil wenig lebensfähig, doch haben es manche bereits zu hohem Alter gebracht. In England gehören viele S. zu den hauptsächlichsten Einrichtungen der Friendly Societies (s. d.), welchen gesetzlich verboten ist, für den Sterbefall von Frau und Kind mehr als die Begräbniskosten zu versichern. Vgl. Lebensversicherung und Krankenkassen; Hattendorf, Über S. (Götting. 1867); Heym, Die Grabekassen (Leipz. 1850); Fleischhauer, Die Sterbekassenvereine (Weim. 1882). Sterbelehen, Abgabe, welche bei einem durch den Tod herbeigeführten Wechsel in der Person des Lehnsherrn oder des Beliehenen entrichtet werden mußte. Sterbender Fechter, s. Gallierstatuen. Sterbequartal, s. v. w. Gnadenquartal (s. Pension, S. 832). Vgl. Deservitenjahr. Sterbethaler, s. Begräbnismünzen. Sterbevogel, s. Seidenschwanz. Sterbfall, s. Bauer, S. 464. Sterblichkeit (Sterblichkeitsziffer, Mortalität), das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen einer Zeiteinheit (gewöhnlich das Jahr) zur Zahl derjeni- Sterblichkeit (statistisch). gen, welche vorher am Leben waren. Dagegen versteht man unter Intensität der S. den Bruch, welchen man erhält durch Division einer Anzahl Gestorbener durch die Zeit, welche die Personen, aus denen jene weggestorben sind, während der Dauer des Absterbens zusammen durchlebt haben. Zu unterscheiden ist die S. einer gesamten Bevölkerung und diejenige einer Gruppe, insbesondere von gleichaltrigen Personen. So kamen im Deutschen Reich im Durchschnitt der Jahre 1841-85 je auf 10,000 Köpfe der mittlern Bevölkerung 281,6 Todesfälle, die S. stellte sich demnach rund auf 0,028, dagegen findet man andre Zahlen für verschiedene Altersklassen. Die Feststellung der S. ist nicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für die Praxis (Lebensversicherung, Gesundheitspflege etc.) von hoher Wichtigkeit. Eine Tausende von Jahren umfassende Erfahrung hat zu dem bekannten Satz geführt, daß jeder Mensch einmal stirbt. Wenn man auch das höchste überhaupt nur erreichbare Alter nicht kennt, so hat man doch beobachtet, daß die Zahl derjenigen, welche die Grenze von 90 und 100 Jahren überschreiten, außerordentlich klein ist. Man fand ferner, daß die S. verschiedener Altersklassen, sobald sie nur für genügend große Zahlen ermittelt wird, gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Diese Thatsache gab dazu Veranlassung, an der Hand von Volkszählungen Geburts-, Sterbelisten etc., Sterblichkeit (Überlebens-, Mortalitäts-) Tafeln oder Absterbelisten aufzustellen (die ersten von den Engländern Graunt 1661 und Halley 1691, vom Holländer Kerseboom 1742, vom Franzosen Deparcieux 1746, vom Schweden Wargentin 1766). Aus denselben ist die Absterbeordnung, d. h. die Art zu ersehen, wie eine Anzahl Gleichalteriger (Neugeborner) sich durch Absterben von Jahr zu Jahr mindert. Diese Tafeln haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie aus großen Zahlen gewonnen werden. Sie geben alsdann die Wahrscheinlichkeit des Sterbens an, ihreZahlen werden darum in Wirklichkeit um so mehr zutreffen, auf eine je größere Zahl von Personen sie angewandt werden. So wird die Zahl derjenigen, welche von 1 Mill. 30jährigen Männern in den nächsten zwölf Monaten sterben werden, nicht viel von 0,928 Proz. abweichen, während der Prozentsatz, welcher von einer gegebenen kleinen Anzahl wirklich sterben wird, erheblich größer oder kleiner sein kann. Dann dürfen die Tafeln nur auf solche Bevölkerungsmassen angewandt werden, welche denen gleichartig sind, die Gegenstand der Erhebung waren. Denn die S. ist verschieden je nach Wohnort (Stadt, Land, Gegend), Geschlecht (im allgemeinen geringere S. des weiblichen Geschlechts), Beruf (Gefahr für Gesundheit, Anstrengung, Aufregung), Zivilstand, Lebensweise, Gesundheitspflege, Wohlstand etc. So wird die Sterblichkeitstafel einer Versicherungsanstalt, welche nur genügend gesunde Personen aufnimmt, andre Zahlen aufweisen als diejenige, welche für die Gesamtbevölkerung eines Landes aufgestellt wurde. Aus den Sterblichkeitstafeln ist zunächst die Sterbenswahrscheinlichkeit für jedes Lebensalter zu ersehen. Ist die Zahl der $n+1$-und die der $n$-jährigen Personen $m_{n+1}$ und $m_n$, so ist die Sterbenswahrscheinlichkeit der $n$-jährigen (für das nächste Jahr) gleich $\frac{m_{n+1}}{m_n}$, die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils (Überlebenswahrscheinlichkeit) ist gleich $1-\frac{m_{n+1}}{m_n}$. Die Wahrscheinlichkeit eines $n$-jährigen, in einem der nächsten vier Jahre zu sterben, ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}$, wenn $m_{n+4}$ die Zahl der übriggebliebenen $n+4$jährigen bedeutet. Dieselbe Zahl erhält man, wenn man die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Jahre miteinander multipliziert. Denn es ist $\frac{m_{n+4}}{m_n}=\frac{m_{n+1}}{m_n}\frac{m_{n+2}}{m_{n+1}}\frac{m_{n+3}}{m_{n+2}}\frac{m_{n+4}}{m_{n+3}}$. Das mittlere Lebensalter (Durchschnittsalter, vie moyenne) einer Anzahl Personen (gleichzeitig Lebender oder Gestorbener verschiedenen Alters) ist gleich der Summe der Jahre, welche alle zusammen durchlebt haben, dividiert durch die Anzahl der Personen. Von demselben ist zu unterscheiden die nur an der Hand von Sterblichkeitstafeln als eine Wahrscheinlichkeit zu berechnende mittlere Lebenserwartung (auch mittlere Lebensdauer oder Vitalität genannt), dieselbe ist gleich der Summe der nach Maßgabe der Tafel noch zu verlebenden Jahre, dividiert durch die Zahl der Personen. Die wahrscheinliche Lebensdauer oder Lebenserwartung (vie probable) ist gleich der Anzahl von Jahren, nach deren Verlauf gerade die Hälfte einer gegebenen Anzahl (wahrscheinlich) gestorben sein wird. Für diese Zeit sind also Sterbens- und Überlebenswahrscheinlichkeit einander gleich (je gleich 1/2). Nach der vom kaiserlichen Statistischen Amt aufgestellten deutschen Sterbetafel (1871-81) ist die S.: Eben vollendetes Alter Zahl der Überlebenden Sterbenswahrscheinlichkeit für das nächste Jahr Mittlere (durchschnittliche) Lebenserwartung Wahrscheinliche Lebenserwartung männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl. 0^1 104520 103692 0,2850 0,2453 34,0 37,1 34,2 39,6 0 100000 100000 0,2527 0,2174 35,6 38,5 38,1 42,5 1 74727 78260 0,0649 0,0636 46,5 48,1 53,2 56,3 2 69876 73280 0,0332 0,0326 48,7 50,3 54,6 57,7 3 67997 70892 0,0231 0,0225 49,4 51,0 54,6 57,7 13 61320 64390 0,0035 0,0039 44,1 45,8 47,4 50,2 20 59287 62324 0,0075 0,0061 38,5 40,2 41,2 44,0 30 54454 57566 0,0093 0,0097 31,4 33,1 33,2 35,6 40 48775 51576 0,0136 0.0122 24,5 26,3 25^3 27,6 50 41228 45245 0,0215 0,0160 18,0 19,3 18,0 19,6 60 31124 36293 0,0382 0,0329 12,1 12,7 11,5 12,3 70 17750 21901 0,0811 0,0747 7,3 7,6 6,5 6,7 80 5035 6570 0,1745 0,1683 4,1 4,2 3,3 3,4 90 330 471 0,3190 0,3138 2,3 2,4 1,8 1,8 100 2 3 0,5193 0,5180 1,4 1,2 1,0 0,9 1 Einschließlich der Totgebornen, die Zahl 100,000 bedeutet die Lebendgebornen. Die S. (Sterbenswahrscheinlichkeit) nimmt von Geburt an bis zum 13. Lebensjahr beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht ab; dann steigt sie mit einer kurzen Unterbrechung zuerst langsam, dann immer rascher bis zum höchsten Alter. Die S. des weiblichen Geschlechts bleibt mit Ausnahme der Zeit vom 9. bis 15., dann vom 27. bis zum 35. Lebensjahr stets hinter derjenigen des männlichen zurück. Die mittlere Lebenserwartung ist beim männlichen Geschlecht bis zum 50., bei dem weiblichen bis zum 54. Jahr kleiner und dann größer als die wahrscheinliche. Der Umstand, daß ermittelte Absterbeordnungen einen regelmäßigen Verlauf aufweisen, gab zur Aufstellung von Formeln Veranlassung, welche das Sterblichkeitsgesetz darstellen sollten, und aus denen die S., bez. die Zahl der Überlebenden für jedes Alter zu ermitteln sei (bereits Lambert für die Londoner Bevölkerung 1776, Th. Young 1826, Gompertz 1825 mit Erweiterungen von Makeham und Lazarus 1867, ferner Littrow 1832, Moser 1839, Sterculia - Stereometer. endlich Kaiser 1884), und zwar gelangte man, da die Sterbenswahrscheinlichkeit für kleine Zeitteilchen gleich dem Bruch aus dem Differential der jeweilig Lebenden und diesen letztern selbst ist, zu Exponentialfunktionen, deren Konstante durch Ausgleichungsrechnung an der Hand wirklicher Beobachtungen zu ermitteln sind; doch führen derartige Formeln nur für gewisse Zeitstrecken zu genügend genauen Ergebnissen. Vgl.Wappäus, Allgemeine Bevölkerungsstatistik (Leipz. 1859-61, 2 Bde.); Quételet, Sur l'homme (Par. 1835, 2 Bde.; deutsch, Stuttg. 1835); Derselbe, Physique sociale (Par. 1869, 2 Bde.); Moser, Die Gesetze der Lebensdauer (Berl. 1839); Casper, Die wahrscheinliche Lebensdauer der Menschen (das. 1843); Österlen, Handbuch der medizinischen Statistik (Tübing. 1865); Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik (8. Aufl., Leipz. 1879); Beneke, Vorlagen zur Organisation der Mortalitätsstatistik in Deutschland (Marb. 1875); die Veröffentlichungen des königlich preußischen Statistischen Büreaus: "Deutsche Sterblichkeitstafeln aus den Erfahrungen von 23 Lebensversicherungsgesellschaften" (Berl. 1883), nicht zu verwechseln mit der für die ganze deutsche Bevölkerung aufgestellten Tafel (Novemberheft der "Statistik des Deutschen Reichs" von 1887); Oldendorff, Der Einfluß der Beschäftigung auf die Lebensdauer des Menschen (das. 1877-78, 2 Tle.); Westergaard, Die Lehre von der Mortalität etc. (Iena 1882). Sterculia L. (Stinkbaum), Gattung aus der Familie der Sterkuliaceen, meist große Bäume mit wechselständigen, einfachen oder gelappten Blättern und filzigen Blüten in Rispen, sämtlich in heißen Ländern. S. foetida L. (Stinkmalve) ist ein großer Baum in Ostindien und auf den Molukken mit großen, gefingerten Blättern und dunkel karminroten, orangegelb gescheckten, sehr stark und unangenehm, dem Menschenkot ähnlich riechenden Blüten, von welchem die jüngern, schleimigen Blätter nach Art der Malvenblätter benutzt, die haselnußgroßen Samen aber geröstet gegessen werden und ein gutes Öl liefern. Einige andre Arten werden in Gewächshäusern kultiviert. S. acuminata Beauv., welche die Kolanüsse liefert, s. v. w. Cola acuminata (s. Cola). Stereiden, in der Pflanzenanatomie die einzelnen Bestandteile des Stereoms (s. d.). Stereobat (griech.), der massive, abgestufte Unterbau der griechischen Tempel. Weiteres s. Säule (S. 350) und Tempel. Stereochromie (griech.), eine 1846 in München von Schlotthauer (s.d.) und Oberbergrat Fuchs erfundene Art Malerei, welche eine Zeitlang angewendet wurde, um Wandflächen unmittelbar mit Gemälden, nach Art der Freskomalerei, zu bedecken. Es wurde dabei ein Malgrund hergerichtet, der bei Gemälden auf Leinwand in einer leichten Bindung, womit dieselbe gesättigt wurde, bei Wänden mit Stein oder aus einem wenige Linien dicken Bewurf bestand, der mit der Steinunterlage zu einer mechanisch völlig untrennbaren Masse sich verbindet. Auf diesem Grund wurde mit eigens präparierten Wasserfarben gemalt, und da diese sich mit dem Grund vereinigen und die Bildfläche schließlich durch Aufspritzen von Wasserglas steinhart gemacht wurde, so glaubte man in diesem Verfahren eine Technik gefunden zu haben, welche besonders Wandgemälde in großen Räumen gegen die nachteiligen Einflüsse des Temperaturwechsels, der Feuchtigkeit etc. unempfindlich machen würde. Doch hat auch die von Seibertz erfundene Vervollkommnung der S. durch Anwendung von trocknen Farben die Erwartungen, welche man von der S. hegte, nicht gerechtfertigt. Der von Kaulbach im Treppenhaus des Neuen Museums zu Berlin in großem Maßstab mit der S. gemachte Versuch hat vielmehr gezeigt, daß die Bildflächen über und über mit störenden Riffen überzogen werden, weshalb man die S. wieder aufgegeben hat. Stereograph (griech.), eine von Liwtschack zu Wilna erfundene Maschine zur Anfertigung von Stereotypmatrizen ohne vorgängigen Schriftsatz. Die Herstellung der letztern erfolgt durch Einschlagen von Typen, eine nach der andern, in eine präparierte, halbweiche Platte, welche stets um die Breite der eingeschlagenen Type durch den Mechanismus der Maschine weiter geschoben wird, wobei der Arbeiter den Wortlaut des Manuskripts auf einer Tastatur, wie bei den meisten Setzmaschinen, abspielt. Bis jetzt sind technisch befriedigende Resultate mit dem Stereographen nicht erzielt worden. Stereographie (griech.), perspektivische Zeichnung von Körpern auf einer Fläche. Stereom (griech.), in der Pflanzenanatomie die Gesamtheit der Gewebe, welche die mechanische Festigkeit eines Pflanzenteils bedingen, nämlich die Bastzellen, das Kollenchym und das Libriform, im Gegensatz zu dem Mestom (s.d.) oder dem Füllgewebe ohne mechanische Bedeutung. Stereometer (griech.), Apparat zur Bestimmung des von fester Substanz ausgefüllten Volumens pulverförmiger Körper. Das S. von Say (s. Figur) besteht aus einem Glasgefäß A, dessen eben geschliffener Rand durch eine Glasplatte luftdicht verschlossen werden kann; nach unten setzt sich dasselbe in eine offene, mit einer Teilung versehene Glasröhre fort, deren zwischen zwei Teilstrichen enthaltener Rauminhalt genau bekannt ist. Wird die Röhre, während A offen ist, in ein mit Quecksilber gefülltes Standgefäßbis zum Nullpunkt o der Teilung eingetaucht und die Glasplatte aufgelegt, so ist ein bestimmtes Luftvolumen v abgesperrt, dessen Druck durch den herrschenden Barometerstand b angegeben wird. Zieht man nun das Gefäß A in die Höhe, so dehnt sich die in ihr enthaltene Luft um das an der Teilung abzulesende Volumen w aus, ihr Druck wird geringer, u. der äußere hebt eine Quecksilbersäule h in die Röhre. Nach dem Mariotteschen Gesetz hat man nun die Proportion v+w:v=b:b-h, aus welcher, da w, b und h bekannt sind, v berechnet werden kann. Wiederholt man denselben Versuch, nachdem der pulverförmige Körper, dessen Volumen x bestimmt werden soll, in das Gefäß A gebracht ist, so ist das Volumen der abgesperrten Luft, wenn die Röhre bis zum Nullpunkt eingetaucht ist, v-x. Erhebt man nun die Röhre wieder, bis das Volumen um w zugenommen hat, und wird dabei die Quecksilbersäule h' gehoben, so kann man aus der Proportion v-x+w: v-x=b : b-h' das Volumen x finden. Mittels Division des absoluten Gewichts des Pulvers (in Grammen) durch sein Volumen (in Kubikzentimetern)ergibt sich das spezifische Gewicht desselben. Die Volumenometer von Kopp und Regnault gründen sich auf dasselbe Prinzip und haben dieselbe Bestimmung wie das S. Stereometrie - Stereoskop. Stereometrie (griech., "Körpermessung"), eigentlich die Lehre von der Ermittelung des Inhalts und der Oberfläche der Körper; im weitern Sinn der Teil der Geometrie, welcher sich mit den Gebilden beschäftigt, zu deren Konstruktion alle drei Dimensionen des Raums erforderlich sind, im Gegensatz zur Planimetrie. Vgl. Geometrie. Stereoskop (griech.), optisches Instrument, welches dazu dient, zwei ebene Bilder desselben Gegenstandes derart zu kombinieren, daß der Beschauer den Eindruck eines körperlichen Gegenstandes erhält. Beim Betrachten naher Gegenstände bietet das Sehen mit zwei Augen ein wesentliches Mittel zur richtigen Schätzung der Entfernungen. Mit dem rechten Auge sehen wir einen nahen Gegenstand auf einen andern Punkt des Hintergrundes projiziert als mit dem linken, und dieser Unterschied wird um so bedeutender, je näher der Gegenstand rückt. Richten wir beide Augen auf einen nicht allzu weit entfernten Punkt, so machen die beiden Augenachsen einen Winkel (Gesichtswinkel) miteinander, der um so kleiner wird, je weiter sich der Gegenstand entfernt. Die Größe dieses Winkels gibt uns daher ein Maß für die Entfernung der Gegenstände. Wir unterscheiden also beim Sehen mit zwei Augen deutlich, welche Punkte mehr vortreten, und welche mehr zurückliegen. Dazu kommt noch, daß wir nahe Gegenstände mit dem rechten Auge etwas mehr von der einen, mit dem linken Auge etwas mehr von der andern Seite sehen, und daß gerade die Kombination dieser etwas ungleichen Bilder zu einem Totaleindruck wesentlich dazu beiträgt, die flächenhafte Anschauung des einzelnen Auges zu einer körperlichen, einer plastischen zu erheben. Eine auf einer Fläche ausgeführte Zeichnung oder ein Gemälde kann immer nur die Anschauung eines einzelnen Auges wiedergeben; bietet man aber jedem Auge das passend gezeichnete Bild eines Gegenstandes dar, so werden sich beide Bilder zu einem einzigen Totaleindruck vereinigen. Wheatstone erreichte diese Vereinigung durch sein Spiegelstereoskop^ (Figur 1). Dasselbe besteht aus zwei rechtwinkelig gegeneinandergeneigten Spiegeln ab u. a c, deren Ebenen vertikal stehen. Der Beobachter schaut mit dem linken Auge l in den linken, mit dem rechten Auge r in den rechten Spiegel. Seitlich von den Spiegeln find zwei vorschiebbare Brettchen angebracht, welche die umgekehrten perspektivischen Zeichnungen d und e eines Objekts aufnehmen. Durch die Spiegel werden nun die von entsprechenden Punkten der beiden Zeichnungen ausgehenden Strahlen so reflektiert, daß sie von einem einzigen hinter den Spiegeln gelegenen Punkt m zu kommen scheinen. Jedes Auge sieht also das ihm zugehörige Bild an demselben Orte des Raums, und der Beobachter erhält daher den Eindruck, als ob sich daselbst der Gegenstand körperlich befände. Brewster hat die Spiegel dieses Instruments durch linsenartig gebogene Prismen ersetzt, und diese Stereoskope (Fig. 2) sind jetzt allgemein im Gebrauch. Fig. 1. Wheatstones Spiegelstereoskop. ^ Fig. 2. Brewster Linsenstereoskop. Eine Sammellinse von etwa 18 cm Brennweite ist durchschnitten; die beiden Hälften A und B sind, mit ihren scharfen Kanten gegeneinander gerichtet, in einem Gestell befestigt, und am Boden desselben wird das Blatt, welches die beiden Zeichnungen aa' und bb' photographische Bilder) enthält, eingeschoben. Durch die Anwendung der Linsenstücke ist es zunächst möglich, die Bilder dem Auge näher zu bringen; dann aber wirken sie auch wie Prismen, indem die Linsenhälfte vor dem rechten Auge das Bild etwas nach dem linken schiebt, während das Bild der mit dem linken Auge betrachteten Zeichnung etwas nach rechts gerückt erscheint. Auf diese Weise wird das vollständige Zusammenfallen der beiden Bilder bei CC' hervorgebracht. Wenn man durch eine zwischen den Bildern befindliche senkrechte Scheidewand dafür sorgt, daß jedes Auge nur das ihm zugehörige, nicht aber das für bestimmte Bild sieht, so ist eine besondere Vorrichtung, um die Bilder zur Deckung zubringen, gar nicht nötig (S. von Frick). Im S. von Steinhauser mit konkaven Halblinsen muß das für das rechte Auge bestimmte Bild links, das für das linke bestimmte rechts liegen; die Bilder des Brewsterschen Stereoskops würden darin mit verkehrtem Relief erscheinen. Die Bedeutung der Stereoskope, welche durch die Photographie eine so wesentliche Förderung gefunden haben, ist bekannt; man benutzt sie außer zur Unterhaltung auch zur Veranschaulichung trigonometrischer und stereometrischer Lehrsätze und zum Studium der Gesetze des binokularen Sehens. Dove demonstrierte mit Hilfe des Stereoskops die Entstehung des Glanzes. Ist nämlich die Fläche einer Zeichnung blau und die entsprechende der andern gelb angestrichen, so sieht man sie, wenn man sie im S. durch ein violettes Glas betrachtet, metallisch glänzend. Weiß und Schwarz führen zu einem noch lebhaftern Bilde der Art. Auch zur Unterscheidung echter Wertpapiere von unechten hat Dove das S. benutzt. Betrachtet man nämlich die zu vergleichenden Papiere mit dem Instrument, so werden sofort die kleinsten Unterschiede bemerkbar. Die einzelnen Zeichen, die nicht genau mit dem Original übereinstimmen, decken sich nicht und befinden sich anscheinend in verschiedenen Ebenen. Es wurde schon erwähnt, daß der Gesichtswinkel sehr klein wird, wenn wir beide Augen auf einen weit entfernten Punkt richten. Darum vermindern sich die Vorteile des Sehens mit zwei Augen in dem Maß, als die zu beschauenden Gegenstände weiter weg liegen, und verschwinden bereits völlig beim Betrachten einer landschaftlichen Ferne. Die Augen liegen zu nahe, als daß sich einem jeden derselben ein merklich verschiedenes Bild darstellen könnte. Helmholtz hat deshalb das Telestereoskop konstruiert, welches dem Beschauer zwei sich deckende Bilder einer Landschaft darbietet, gleich als ob das eine Auge von dem andern mehrere Fuß abstände. Das Instrument besteht aus vier Planspiegeln, welche senkrecht in einem hölzernen Kasten und unter 45° gegen die längsten Kanten desselben geneigt befestigt sind. Das von dem fernen Objekt kommende Licht fällt auf die zwei äußern großen Spiegel, wird von diesen rechtwinkelig auf die Stereotomie - Sterigmen. innern reflektiert und gelangt, nachdem es auch von den kleinen innern Spiegeln rechtwinkelig reflektiert wurde, in die Augen des Beobachters. Jedes Auge erblickt in den kleinen Spiegeln das von den großen Spiegeln reflektierte Bild der Landschaft in einer solchen perspektivischen Projektion, wie sie von den beiden großen Spiegeln aus erscheint. Will man das Bild vergrößern, so kann man die Lichtstrahlen, ehe sie in die Augen gelangen, auch noch durch kleine Fernrohre gehen lassen. Wie man mikroskopische Bilder körperhaft erscheinen lassen kann, ist unter Mikroskop, S. 602, angegeben worden. Vgl. Brewster, The stereoscope (Lond. 1856); Ruete, Das S. (2. Aufl., Leipz. 1867); Steinhauser, Über die geometrische Konstruktion der Stereoskopbilder (Graz 1870). Stereotomie (griech.), der Teil der Stereometrie, welcher die Durchschnitte der Oberflächen der Körper behandelt, insbesondere der sogen. Steinschnitt, welcher bei Gewölbekonstruktionen in Anwendung kommt. Ihre Darstellungen werden durch die beschreibende Geometrie zur Anschauung Stereotypie (griech.), das Verfahren, von aus beweglichen Lettern gesetzten Druckseiten vertiefte Formen abzunehmen und vermittelst derselben erhöhte, den Satzseiten genau entsprechende Druckplatten zu gewinnen. Die S. bietet sehr große Vorteile dar; ohne sie würde die Schnellpresse bei weitem nicht ihren jetzigen hohen Wert erlangt haben, und das Zeitungswesen hätte nicht annähernd seine gegenwärtige Entwickelung gewinnen können. Die S. ermöglicht jederzeit den Druck neuer Auflagen von den durch sie erzeugten Platten; das Papierstereotypieverfahren bietet sogar die Möglichkeit der Aufbewahrung billiger Matrizen, aus denen bei Bedarf Platten gegossen werden können, reduziert somit ganz außerordentlich die Anlagekosten für Druckwerke. Als erste Erzeugnisse der S. können betrachtet werden die Reproduktionen von Holzschnitten in einem 1483 zu Ulm von Konrad Dinkmut gedruckten Buch: "Der Seele Wurzgarten". Van der Mey und Johann Müller zu Leiden (1700-1716), Ged in Edinburg (1725-49), Valeyre in Paris (1735), Alexander Tilloch und Foulis zu Glasgow (um 1775), F. J. Joseph Hoffmann zu Schlettstadt im Elsaß (1783), der eine Anzahl experimentierender Nachfolger (unter andern Carez in Toul) erhielt, sind nacheinander als Erfinder der S. bezeichnet worden; zu dauernder Verbreitung aber wurde das Verfahren erst gebracht durch Earl Stanhope (s. d. 2) in London (1800) sowie um dieselbe Zeit durch Pierre und Firmin Didot und Herhan in Paris. Zu ihrer heutigen großen Bedeutung gelangte die S. durch die Erfindung von Genoux (1829), welcher die Matrize aus Lagen von Seidenpapier mit einem dazwischengestrichenen Gemisch von Kleister und Schlämmkreide etc. bildete. Bei dem Stanhopeschen oder Gipsverfahren wird die Satzform in einem eisernen Rahmen festgeschlossen (eingespannt) und leicht geölt, worauf der Gips als dünnflüssiger Brei über den Typensatz gegossen und mit Bürste oder Pinsel gehörig eingearbeitet wird. Die Gipsmatrize erstarrt in 15-20 Minuten; sie wird dann abgehoben und in einen Trockenofen gebracht. Der Guß geschieht in sargähnlichen eisernen verschließbaren Pfannen. Auf den Boden der Pfanne wird zuerst eine abgedrehte Eisenplatte gelegt, hierauf die erhitzte Gipsform mit der Bildfläche nach unten und nun der ebenfalls abgedrehte Pfannendeckel, welcher an allen vier Ecken abgestumpft ist, um dem Metall den Einlauf zu gestatten. Das Ganze wird durch einen Bügel geschlossen und mittels eines Krans in den mit flüssigem Metall versehenen Schmelzkessel versenkt; nach erfolgtem Guß wird die Pfanne aufgewunden und auf ein mit nassem Kies angefülltes Kühlfaß abgesetzt. Nach dem völligen Erstarren des Metalls wird die Stereotypplatte gerichtet, auf der Rückseite abgeebnet und an den Rändern bestoßen. Bei dem von Daulé in Paris um 1830 erfundenen Flaschenguß bleibt die Gipsmater in dem nach innen mit einem Vorstoß versehenen Rahmen, welcher hinlänglich groß ist, um noch Raum für einen Nachdruck gebenden Anguß zu gewähren. Nach dem Trocknen bringt man diesen Matrizenrahmen in die Gießflasche, die aus zwei abgeebneten Eisenplatten besteht, von denen die der Bildfläche zugekehrte mit Papier beklebt ist, um das Metall beim Eingießen weniger abzuschrecken. Beide Platten sind unten durch ein Scharnier verbunden und während des Gusses durch einen Schraubenbügel zusammengehalten. Bei dem Papierstereotypieverfahren wird die Matrize aus Seiden- und Schreibpapier angefertigt; zwischen die einzelnen Bogen kommen dünne, gleichmäßig ausgestrichene Schichten eines Breies, der aus gekochter, mit Schlämmkreide oder Magnesia, wohl auch mit Asbest oder China Clay, versetzter Weizenstärke besteht. Auf die mit einem zarten Pinsel oder auch mittels einer mit Flanell bezogenen Walze leicht geölte Form wird dann das Matrizenpapier gelegt und entweder mit einer Bürste gleichmäßig in den Schriftsatz eingeklopft, oder die Form wird mit der Matrize unter eine feststehende Walze geschoben, mit Filzen bedeckt und unter derselben durchgedreht; sodann schiebt man dieselbe mit der darauf befindlichen Papiermatrize in eine erhitzte Trockenpresse und bedeckt sie reichlich mit Filz und Fließpapier zum Aufsaugen der Feuchtigkeit; schon nach 6-8 Minuten ist die Matrize trocken und kann abgenommen werden. Nachdem sie beschnitten, in größern, beim Druck weiß bleibenden Stellen durch Hinterkleben von Pappstückchen oder auch durch Ausfüllen mit einer aus in dünner Gummiarabikumlösung verrührter Schlämmkreide erzeugten, leicht trocknenden Masse verstärkt und ein Eingußstreifen angeklebt worden, kommt sie mit dem Gesicht nach oben in das Gießinstrument, das dem beim Dauléschen Verfahren gebräuchlichen sehr ähnlich ist; ein verstellbarer eiserner Rahmen, Gießwinkel genannt, hält sie glatt und gibt das Maß ab für ihre Dicke, und der Guß kann erfolgen. Das Abschneiden des Angusses, das Anhobeln von Facetten an den Rändern der Platten geschieht in Zeitungsdruckereien mit eigens dafür hergerichteten Maschinen, wodurch eine große Betriebsbeschleunigung ermöglicht wird, so daß z. B. in der Londoner "Times" bei deren Morgenausgabe die letzte Druckplatte innerhalb 8 Minuten, vom Empfang der Satzform seitens des Stereotypeurs ab gerechnet, fertig gestellt werden kann. Für den Kleinbetrieb der Buchdruckereien hat man die S. durch Konstruktion kleiner, kompendiöser Stereotypie-Einrichtungen nutzbar gemacht; diese ermöglichen die Herstellung von Platten bis zu einer gegebenen Größe schon nach kurzer Übung bei geringen Anlagekosten. Vgl. außer den ältern Werken von Camus (Par. 1802) und Westreenen de Tiellandt (Haag 1833): H. Meyer, Handbuch der S. (Braunschw. 1838); Isermann, Anleitung zum Stereotypengießen (Lpz. 1869); Archimowitz, Die Papierstereotypie (Karlsr. 1862); Böck, Die Papierstereotypie (Leipz. 1885); Kempe, Wegweiser durch die S. und Galvanoplastik (das. 1888). Sterigmen, s. Basidien. Steril - Stern. Steril (lat.), unfruchtbar, dürr; Sterilität, Unfruchtbarkeit; sterilisieren, unfruchtbar machen, in der Bakteriologie von entwicklungsfähigen Keimen befreien ; s. Bakterioskopische Untersuchungen. Sterkoral (lat.), kotig. Sterkrade, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Kreis Ruhrort, Knotenpunkt der Linien Oberhausen-Emmerich und Ruhrort-Wanne (Emscherthalbahn) der Preußischen Staatsbahn, 41 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein großes Eisenhüttenwerk, Maschinenfabrikation, Kettenschmiederei und (1885) 7164 meist kath. Einwohner. Sterkuliaceen, dikotyle, etwa 500 Arten umfassende, der Tropenzone eigentümliche Familie aus der Ordnung der Kolumniferen, meist Bäume, deren grüne Teile mit sternförmigen Haaren bekleidet sind. Die Blätter sind wechselständig, meist an der Basis des Blattstiels mit abfallenden Nebenblättern versehen. Die regelmäßigen, meist zwitterigen, fünfzähligen Blüten haben einen verwachsenblätterigen, in der Knospe klappigen Kelch, eine gedrehte, selten verkümmerte, fünfblätterige Blumenkrone, einen doppelten Staubblattkreis mit mehr oder weniger verwachsenen, zum Teil durch Spaltung vermehrten oder auch zu Staminodien verkümmerten Gliedern und einen oberständigen, aus meist fünf Fruchtblättern gebildeten Fruchtknoten. Die Frucht ist entweder eine fünffächerige Kapsel und springt meist fachspaltig mit fünf Klappen auf, welche auf ihrer Mitte die von der Mittelsäule sich lösenden Scheidewände tragen, oder sie ist eine Steinbeere oder Beere mit 5, 3, 2 oder einem Fach, oder sie besteht aus mehreren freien, holzigen, krustigen oder häutigen Balgfrüchten, welche an der Bauchnaht aufgehen und innen häufig dicht wollig behaart sind. Die Samen haben ein fleischiges oder kein Endosperm und einen geraden oder gekrümmten Keimling mit faltigen, blattartigen oder fleischigen Kotyledonen. Die mit den Malvaceen verwandte Familie, zu welcher man auch die Bombaceen und Büttneriaceen (s. d.) rechnet, waren schon in der Tertiärzeit durch eine Anzahl von Arten aus den Gattungen Sterculia L. und Bombax L. vertreten. Sterlett, s. Stör. Sterling, im Mittelalter engl. Silbermünze, um 1190 aufkam, jetzt englische Währung, die seit 1816 in dem in Gold ausgeprägten Sovereign ihre Einheit findet. Ein Pfund S. in Gold wiegt gesetzlich 7,9881 g, enthält 7,3224 g fein Gold, ist 11/12 fein und hat einen Wert von 20,4295 deutschen Goldmark. Das Pfund S. (meist geschrieben L oder l.) zerfällt in 20 Schillinge (s.) à 12 Pence (d.). Der Ursprung des Namens S. ist von den Osterlingen (Easterlings) abzuleiten, worunter die Normannen diejenigen deutschen Stämme verstanden, die den Dänen nahe wohnten. Ein damaliger Penny Easterling wog 24 Gran, 240 machten 1 Pound Easterling (= 12 Unzen) aus, aus dem das neuere Pfund S. entstand. Sterling, Stadt im nordamerikan. Staat Illinois, am Rock River, 170 km westlich von Chicago, hat lebhaften Handel und (1880) Sterling, John, engl. Dichter und Schriftsteller, geb. 20. Juli 1806 zu Kaimes-Castle auf der Insel Bute, Sohn des Kapitäns Edward S. (geb. 1773, gest. 1847), eines eifrigen und angesehenen Mitarbeiters an der "Times" (genannt "the thunderer of the Times"), studierte in Glasgow und Cambridge, ging dann nach London, wo er für Zeitschriften thätig war und den Roman "Arthur Coningsby" (1833) veröffentlichte, ließ sich 1834 zum Geistlichen ordinieren und erhielt das Pfarrverweseramt zu Hurstmonceaux, das er indessen bald wieder aufgab. Er lebte nun wieder litterarischen Beschäftigungen meist im Süden Englands und starb 18. Sept. 1844 in Ventor auf der Insel Wight. Seine übrigen Werke sind: "Poems" (1839); "The election", ein satirisches Gedicht in 7 Büchern (1841), und das Trauer- spiel "Stafford" (1843). Seine gesammelten Prosawerke: "Essays and tales" gab Hare (1848, 2 Bde.) heraus; aus seinem Nachlaß erschienen: "Twelve letters by John S." (1851) und "The onyx (hrsg. von Hale, Boston 1856). Seine Biographie schrieb sein Freund Carlyle (Lond. 1851). Sterlitamak, Kreisstadt im russ. Gouvernement Ufa, am Flüßchen Sterleja, das in die Bjelaja mündet, hat 2 Kirchen, eine Moschee, bedeutende Gerbereien und (1886) 9447 Stern, leuchtender Himmelskörper, s. Fixsterne, Planeten, Kometen; heraldische Figur, Symbol des Glücks und des Ruhms; in der Nautik (unrich- tig) das Hinterteil des Schiffs (vgl. Heck); als kriti- sches Zeichen, s. Asteriskos. Stern, 1) Julius, Komponist und Dirigent, geb. 8. Aug. 1820 zu Breslau, trat schon mit zwölf Jahren als Violinspieler öffentlich auf, ward 1834 auf der Akademie der Künste zu Berlin Rungenhagens und Bachs Schüler in der Komposition und empfing 1843 auf zwei Jahre ein Staatsstipendium, das er zunächst zu einem längern Aufenthalt in Dresden benutzte, um bei Mieksch gründliche Studien im Gesang zu machen. Von hier begab er sich nach Paris, wo er als Dirigent des Deutschen Männergesangvereins glänzende Erfolge hatte. 1847 nach Berlin zurückgekehrt, gründete er hier seinen später berühmt gewordenen Chorgesangverein, dessen Direktion 1873 Stockhausen, 1878 M. Bruch, 1880 E. Rudorff übernahm. 1850 begründete er gemeinschaftlich mit Kullak und Marx das Konservatorium der Musik, welches er, nachdem 1855 Kullak und zwei Jahre später auch Marx ausgeschieden waren, allein übernahm und bis an seinen Tod mit ungewöhnlichem Geschick geleitet hat. Geringern Erfolg hatte seine Wirksamkeit als Orchesterdirigent 1869-71 an der Spitze der Berliner Symphoniekapelle sowie 1873-75 an der von ihm organisierten Kapelle der Reichshallen, wiewohl seine Leistungen auch auf diesem Gebiet hervorragend waren. Er starb 27. Febr. 1883. Von seinen Kompositionen haben namentlich die Lieder und Gesangunterrichtswerke vielen Beifall gefunden. Vgl. R. Stern, Erinnerungsblätter an J. S. (Leipz. 1886). 2) Adolf, Dichter und Literarhistoriker, geb. 14. Juni 1835 zu Leipzig, trat, nachdem er seine Bildung in bedrängten Jugendjahren auf selbständigem Wege gewonnen, sehr früh in die Litteratur ein, indem er mit "Sangkönig Hiarne" (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1857), einer nordischen Sage, debütierte, der die Dichtungen: "Zwei Frauenbilder" (das. 1856) und "Jerusalem" (das. 1858, 2. Aufl. 1866) folgten. Nachdem S. 1852 bis 1853 in Leipzig philosophischen und historischen Studien obgelegen, lebte er in den folgenden Iahren teils in Weimar, teils in Chemnitz und Zittau litterarischen Studien und ging 1859, nachdem er die philosophische Doktorwürde erworben, als Lehrer der Geschichte und deutschen Litteratur nach Dresden, wo der Roman "Bis zum Abgrund" (Leipz. 1861, 2 Bde.) und das Lustspiel "Brouwer und Rubens" (das. 1861) entstanden. Im Herbst 1861 siedelte er dann zu erneuten sprachwissenschaftlichen und historischen Studien nach Jena über, ließ sich 1863 in Schandau nieder und kehrte 1865 nach Dresden zurück, wo er 1868 zum außerordentlichen, 1869 zum Sterna - Sternberg. ordentlichen Professor der Litteratur und Kulturgeschichte am Polytechnikum ernannt ward. Als Resultate dieser Jahre traten seine "Gedichte" (Leipz. 1860, 3. Aufl. 1882), die Novellen: "Am Königssee" (das. 1863) und "Historische Novellen" (das. 1866) hervor, welche einen bedeutenden Fortschritt bekundeten. Als Litterarhistoriker veröffentlichte er die Anthologie: "Fünfzig Jahre deutscher Dichtung" (Leipz. 1871, 2. Aufl. 1877); "Katechismus der allgemeinen Litteraturgeschichte" (das. 1874, 2. Aufl. 1876); "Aus dem 18. Jahrhundert", Essays (das. 1874); "Zur Litteratur der Gegenwart", Studien und Bilder (das. 1880); "Lexikon der deutschen Nationallitteratur" (das. 1882); "Geschichte der neuern Litteratur" (das. 1883-85, 7 Bde.); "Geschichte der Weltlitteratur" (Stuttg. 1887-88) sowie mehrere litterar-historische Monographien in Riehls "Historischem Taschenbuch", Arbeiten, von denen namentlich der "Geschichte der neuern Litteratur" umfassendes Wissen, Sicherheit des Urteils, Geschmack in der Darstellung und Größe der historischen Auffassung zugestanden werden. Spätere poetische Werke sind: "Das Fräulein von Augsburg", Roman (Leipz. 1867); "Neue Novellen" (das. 1875); die Tragödie "Die Deutschherren" (Dresd. 1878); die epische Dichtung "Johannes Gutenberg" (Leipz. 1873, 2. Aufl. 1889); das Novellenbuch "Ans dunklen Tagen" (das. 1879, 2. Aufl. 1880); die Romane: "Die letzten Humanisten" (3. Aufl., das. 1889), "Ohne Ideale" (das. 1881, .2 Bde.) und "Camoens" (das. 1887); "Drei venezianische Novellen" (das. 1886), Werke, welche uns S. als einen Dichter von reicher Phantasie und künstlerischer Darstellung erkennen lassen. Er schrieb noch: "Wanderbuch", Bilder und Skizzen (Leipz. 1877, 2. Aufl. 1886), "Hermann Hettner", Lebensbild (das. 1885), "Die Musik in der deutschen Dichtung" (das. 1888) und gab "W. Hauffs sämtliche Werke" (Berl. 1879, 4 Bde.), "Herders ausgewählte Schriften" (Leipz. 1881, 3 Bde.), "Chr. Gottfr. Körners gesammelte Schriften" (das. 1882) und die 22. Auflage von Vilmars "Geschichte der deutschen Nationallitteratur" mit Fortsetzung (1887, 23. Aufl. 1889) heraus. - Seine Gattin Margarete, geborne Herr, geb. 25. Nov. 1857 zu Dresden, Schülerin Liszts, ist eine namhafte, durch echt musikalische Natur und Poesie der Auffassung hervorragende Klavierspielerin. 3) Alfred, Historiker, geb. 22. Nov. 1846 zu Göttingen, studierte in Heidelberg, Göttingen und Berlin, erhielt darauf eine Anstellung im badischen Generallandesarchiv zu Karlsruhe, habilitierte sich, nachdem er 1871 eine Studienreise nach England unternommen, 1872 für Geschichte in Göttingen und wurde 1873 Professor der Geschichte in Bern, 1888 am Polytechnikum in Zürich. Er schrieb: "Über die zwölf Artikel der Bauern und einige andre Aktenstücke aus der Bewegung von 1525" (Leipz. 1868), wozu sich Ergänzungen in den "Forschungen zur deutschen Geschichte" (Bd. 12, 1872) befinden; "Milton und seine Zeit" (das. 1877-79, 2 Bde.); "Geschichte der Revolution in England" (in Onckens Geschichtswerk, Berl. 1881); "Briefe englischer Flüchtlinge in der Schweiz", herausgegeben und erläutert (Götting. 1874); "Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807-15" (Leipz. 1885). Gemeinsam mit W. Vischer gab er den 1. Band der "Baseler Chroniken" (Leipz. 1872) heraus. 4) Daniel, Pseudonym, s. Agoult. Sterna, Seeschwalbe. Sternanis, Pflanzengattung, s. Illicium. Sternapfel, s. Chrysophyllum. Sternb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Kaspar Maria v. Sternberg (s. d. 1). Sternbedeckugen, s. Bedeckung. Sternberg, alte Landschaft im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, im O. von der Oder und im Süden von der Warthe, bildet jetzt die beiden Kreise Oststernberg (Landratsamt in Zielenzig) und Weststernberg mit der Hauptstadt Drossen. Vgl. Freier, Geschichte des Landes S. (Zielenzig Sternberg, 1) Stadt in Mähren, an der Ferdinands-Nordbahn (Linie Olmütz-S.) und der Mährischen Grenzbahn (S.-Grulich), Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat 9 Vorstädte, eine Landes-Unterrealschule, eine Webschule, Tabaksfabrik, sehr starke Leinen- und Baumwollwarenfabrikation, Obstbau (besonders Kirschen), Handel mit diesen Erzeugnissen und (1880) 14,243 Einw. S. ist im 13. Jahrh. von Jaroslaw von Sternberg gegründet worden, der hier 1241 die Mongolen geschlagen hatte. Seit Ende des 17. Jahrh. bildet S. eine Domäne des Hauses Liechtenstein. - 2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis Oststernberg, an der Linie Frankfurt-Posen der Preußischen Staatsbahn, 91 m ü. M., hat eine evang. Kirche und (1885) 1568 3) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Kreis Mecklenburg, an einem See, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Forstinspektion, (1885) 2646 Einw. und ist abwechselnd mit Malchin Sitz der mecklenburgischen Stände. Nach S. benannt sind die sogen. Sternberger Kuchen, Reste der Tertiärformation innerhalb der Diluvialschichten. Sternberg, 1) altes freiherrliches, später reichsgräfliches Geschlecht aus Franken, das in Österreich, Böhmen und Mähren begütert ist, in Böhmen seit dem 13. Jahrh. urkundlich auftaucht und 1663 von Kaiser Leopold I. in den Reichsgrafenstand erhoben ward. Die böhmische Linie teilte sich Anfang des 18. Jahrh. in eine ältere und jüngere. Jene erwarb durch Heirat 1762 die reichsunmittelbaren, in der Eifel gelegenen Herrschaften der Grafen Manderscheid mit Sitz und Stimme im westfälischen Grafenkollegium, nannte sich seitdem S.-Manderscheid und ward für den Verlust jener Besitzungen im Lüneviller Frieden mit den vormaligen Abteien Schussenried und Weißenau entschädigt, die jetzt eine Standesherrschaft unter württembergischer Oberhoheit bilden. Die Linie starb 1843 im Mannesstamm aus. Die jüngere Linie, S.-Serowitz, in Böhmen begütert, hat zum Haupte den Reichsgrafen Leopold von S., geb. 22. Dez. 1811, erbliches Mitglied des Herrenhauses des Reichsrats. Aus dieser Linie stammte auch Kaspar Maria von S., geb. 6. Jan. 1761 zu Prag, anfänglich für den geistlichen Stand bestimmt, sonders dem Studium der Kunst ergeben, 1748 im Regensburger, 1788 im Freisinger Kapitel, seit 1795 der Botanik und den Naturwissenschaften überhaupt ergeben und seit 1809 für Böhmens geistige Kultur rastlos thätig; gest. 20. Dez. 1838 zu Brzesina als Präsident des böhmischen Nationalmuseums in Prag, dem er seine sämtlichen reichen naturwissenschaftlichen Sammlungen, darunter eine nach geognostische Zeitperioden geordnete Petrefaktensammlung, vermachte. Man verdankt ihm die ersten tüchtigen Arbeiten über gewisse Gruppen vorweltlicher Pflanzen; sein Hauptwerk ist der "Versuch einer geognostisch-botanischen Darstellung der Flora der Vorwelt" (Prag 1820-32, 2 Bde. mit 160 Tafeln). Auch lieferte S. eine Monographie über die Saxifrageen und mehrere Arbeiten über die böhmische Flora etc. Seinen Briefwechfel mit Goethe aus den Jahren 1820-32 gab Bratranek Sternberger Kuchen - Sternkarten. (Leipz. 1866) heraus. Vgl. Palacky, Leben des Grafen Kaspar S. (Prag 1868). 2) Alexander von, Schriftsteller, s. Ungern-Sternberg. Sternberger Kuchen, s. Tertiärformation. Sternbilder (Konstellationen), Gruppen von Fixsternen zu leichterer Übersicht und Bezeichnung, wurden schon von den alten Ägyptern aufgestellt und mit zum Teil noch jetzt gültigen Namen belegt; die Griechen führten viele mythologische Bezeichnungen ein. Nähere Angaben sowie ein Verzeichnis der S. enthält das Textblatt der Karte "Fixsterne". Sternblume, s. Aster und Narcissus. Sterndeutekunst, s. Astrologie. Sterndienst (Sternanbetung), s. Sabäismus. Sterndolde, s. Astrantia. Sterne, 1) (spr. stern) Lawrence, berühmter engl. Humorist, geb. 24. Nov. 1713 zu Clonmel in Irland, widmete sich zu Cambridge theologischen Studien und wurde 1720 Pfarrer in Sutton, siedelte 1760 nach London über, bereiste dann Frankreich und Italien und starb 18. März 1768 in London. Sein Hauptwerk ist : "The life and opinions of Tristram Shandy" (Lond. 1759-67, 9 Bde., oft aufgelegt; deutsch von Gelbke, Hildburgh. 1869), von dem die beiden ersten Bände ihn bereits auf den Gipfel der Popularität erhoben. Die Neuheit und Seltsamkeit seines Stils erregte allgemeines Aufsehen; er wurde der verzogene Liebling der feinen Gesellschaft Londons. "Tristram Shandy" ist eine Erzählung, die aus einer Reihe von Skizzen besteht und teils unter der Maske des Yorick (S. selbst), eines Geistlichen und Humoristen, teils unter derjenigen des phantastischen Tristram vorgetragen wird. Das Ganze ist, ähnlich wie bei unserm Jean Paul, mit wunderlicher Gelehrsamkeit verquickt und mehr ein buntes Durcheinander als ein planvolles Kunstwerk. Viel lesbarer als "Tristram Shandy" ist Sternes "Sentimental journey through France and Italy" (Lond. 1768 u. öfter; deutsch von Böttger, Berl. 1856; von Eitner, Hildburgh. 1868) geblieben. Der geistvolle, scharf beobachtende, tief empfindende Reisende, hinter dessen leicht hingeworfenen Liebesabenteuern man übrigens kaum einen Geistlichen vermutet, ist eins der frischesten und unvergänglichsten Charakterbilder des 18. Jahrh. Außer den genannten Schriften erschienen von S. mehrere Bände "Sermons" (1760 ff.), die nicht minder den Humoristen verraten, sowie nach seinem Tod "Letters to his most intimate friends" (1775, 3 Bde.) und sein Briefwechsel mit Elisa (Elizabeth Draper), einer indischen Lady, zu der er eine Zeitlang in einem Liebesverhältnis stand (1775). Von den vielen Gesamtausgaben der Sterneschen Werke ist die neueste, mit Sternes Selbstbiographie, von Browne besorgt (1884, 2 Bde.). Vgl. Ferriax, Illustrations of S. (Lond. 1798); Traill, L. S. (das. 1882); Fitzgerald, Life of L. S. (das. 1864, 2 Bde.), worin auch Sternes merkwürdiges Schicksal nach dem Tod mitgeteilt ist, indem sein Leichnam von den Wiederauferstehungsmännern nach Cambridge auf die Anatomie verkauft wurde. 2) Carus, Pseudonym, s. Krause 5). Sterneichuugen, das von William Herschel angewandte Verfahren, um die Verteilung der Sterne im Weltraum zu ermitteln: ein Fernrohr wird nach und nach auf verschiedene Punkte des Himmels eingestellt und die Zahl der gleichzeitig im Gesichtsfeld erscheinenden Sterne abgezählt, worauf aus mehreren benachbarten Zählungen unter Berücksichtigung der Größe des Gesichtsfeldes ein Schluß auf die Dichte der Sterne an der betreffenden Stelle des Himmels gemacht werden kann. Herschel kam 1785 auf dieses Verfahren und durchmusterte nach demselben mit seinem 20füßigen Spiegelteleskop, dessen Gesichtsfeld ungefähr 1/833000 des ganzen Himmels betrug, die Zone vom 45.° nördl. bis 15.° südl. Deklination, in welcher er 3400 Felder abzählte. Sterngewölbe, s. Gewölbe, S. 312 (mit Sterngucker, s. Dummkoller. Sternhaufen, s. Fixsterne, S. 322, und Nebel (Nebelflecke). Sternhaufen, s. Stör. Sternjahr, s. Jahr. Sternkammer (lat. Camera stellata, engl. Star Chamber), engl. Gerichtshof, von König Heinrich VII. eingesetzt, welcher, aus dem Lord-Kanzler und aus königlichen Räten bestehend, über Staats- und Majestätsverbrechen urteilte und unter den letzten Stuarts durch Härte und Willkür sich sehr verhaßt machte. Sterne zierten die Decke des Sitzungssaals, daher der Name. Sie ward 1641 aufgehoben (s. Großbritannien, S. 797). Sternkarten, Darstellung der Himmelskugel mit den Sternen auf einer ebenen Fläche, gewöhnlich in stereographischer oder zentraler Projektton (vgl. Landkarten). Die älteste bemerkenswerte Sammlung von S. ist Bayers "Uranometria" (Augsb. 1603), 51 Blätter nebst einem Katalog von 1706 Sternen; gleichfalls aus dem 17. Jahrh. ist Schillers "Coelum stellatum christianum" (das. 1627) in 55 Blättern, worin an die Stelle der alten Sternbilder die Apostel, Propheten und Heiligen gesetzt waren, sowie Hevels "Firmamentum Sobiescianum" (Danz. 1690), 54 Blätter mit 1900 Sternen. Verdrängt wurden diese Atlanten durch Flamsteeds "Atlas coelestis britannicus" (Lond. 1729, 28 Bl.; kleinere Ausg. von Fortin, Par. 1776, und neu aufgelegt 1796), welcher 2919 Sterne enthält und von Bode in Berlin 1782 verbessert in 34 Blättern herausgegeben wurde. 1782 erschien Bodes "Représentation des astres" (Stralsund), auf 34 Blättern gegen 5000 Sterne enthaltend, worauf seine 20 großen Himmelskarten in der "Uranographia" (Berl. 1802; 2. Aufl., das. 1819) mit 17,240 Sternen folgten. Diese ältern Karten, auf denen überdies die ausführliche Zeichnung der Sternbilder sehr störend wirkt, konnten dem Bedürfnis der Astronomen nicht mehr genügen, seitdem man das Kreismikrometer zur Beobachtung der Kometen anwandte; es kam jetzt darauf an, möglichst viel Sterne, auch schwächere, in der Karte zu haben. Hardings "Atlas novus coelestis" (Götting. 1822; neue Ausg., Halle 1856), der auf 27 Tafeln 120,000 Sterne enthält, war in dieser Hinsicht epochemachend. Aus späterer Zeit sind zu nennen: Argelanders "Neue Uranometrie" (Berl. 1843), welche ein getreues Bild des gestirnten Himmels gibt, wie er sich im mittlern Europa dem bloßen Auge darstellt; dessen "Atlas des nördlichen gestirnten Himmels" (Bonn 1857-63, 40 Karten) und Schwincks "Mappa coelestis" (Leipz. 1843), welche in 5 Blättern den nördlichen gestirnten Himmel bis zu 30° südl. Deklination darstellt. Eine bis dahin unbekannte Ausführlichkeit zeigen die "Akademischen S.", welche auf Bessels Anregung und auf Kosten der Berliner Akademie der Wissenschaften 1830-59 von Argelander, Bremiker, Harding, Göbel, Hussey, Inghirami, d'Arrest, Boguslawski, Fellecker, Hencke, Knorre, Morstadt, Bluffen, Steinheil und Wolfers veröffentlicht worden sind und alle Sterne zwischen 15° nördlicher und südl. Deklination bis herab zur neunten und teilweise bis zur zehnten Größe enthalten. Diese Sternkataloge - Sternschnuppen. Karten haben bei der ersten Aufsuchung des Planeten Neptun und bei der Entdeckung der Planetoiden wesentliche Dienste geleistet. Für derartige Zwecke genügt es aber, alle Fixsterne in der Nähe der Ekliptik genau zu verzeichnen, da jeder Planet zweimal bei seinem Umlauf die Ekliptik schneidet; dies gab den Anlaß zur Entwerfung der "Ekliptischen Atlanten" von Hind und Chacornac, welcher letztere von der Pariser Sternwarte vollendet wird und die Sterne bis herab zur 13. Größe und bis auf 2 1/2° Abstand von der Ekliptik auf mehr als 72 Karten darstellen wird. Für Laien sind geeignet: Littrow, Atlas des gestirnten Himmels (3. Aufl., Stuttg. 1866); Dieu, Atlas celeste (Par. 1865); Proctor, A star atlas showing all the stars visible to the naked eye and 1500 objects of interest in 12 circular maps (Lond. 1870); Heis, Neuer Himmelsatlas (Köln 1872), welcher auf 12 Karten alle im mittlern Europa am Himmel sichtbaren Objekte darstellt und namentlich auch durch sehr genaue Zeichnung der Milchstraße sich auszeichnet; etwas Ähnliches leistet für den südlichen Himmel Gould, Uranometria Argentina (1879), und für beide Hemisphären Houzeau, Uranométrie générale (Brüssel 1878); Klein, Sternatlas (Köln 1887); Schurig, Himmelsatlas (Leipz. 1886); Messer, Sternatlas für Himmelsbeobachtungen (Petersb. Sternkataloge, Verzeichnisse der Örter von Fixsternen für einen bestimmten Zeitpunkt mit Angabe derjenigen Größen, welche notwendig sind, um die Örter zu andern Zeiten zu berechnen. Der älteste, von Hipparch entworfene enthielt 1080 Sternpositionen für das Jahr 128 v. Chr.; ihm ist wahrscheinlich der im "Almagest" des Ptolemäos enthaltene mit 1025 Sternen nachgebildet. Aus dem Mittelalter sind zu nennen die S. des Abd al Rahmân al Sûfi (903-986): "Description des étoiles fixes, composée au milieu du X. siècle de notre ère par l'astronome persan Abd al Rahmân al Sûfi, par Schjellerup" (Petersb. 1874) und der des Herrschers von Samarkand, Ulugh Beigh, mit 1019 Sternpositionen für 1437: "Ulugh Beigh, tabulae astronomicae, ed. Th. Hyde" (Oxf. 1665) und das Sammelwerk von Baily: "The catalogues of Ptolemy, Ulugh Beigh. Tycho Brahe, Halley, Hevelius" (Lond. 1843). Im christlichen Abendland entwarf zuerst Tycho Brahe (1600) ein Verzeichnis von 777 Sternen, sodann (1660) Hevel eins von 1564 Sternen. Leider konnte der letztere sich nicht zum Gebrauch des Fernrohrs bei seinen Beobachtungen entschließen, weshalb auch sein Katalog rasch verdrängt wurde durch den von Flamsteed in der "Historia coelestis britannica" (Lond. 1712; 2. Ausg. von Halley, 1725) veröffentlichten, welcher 2866 Sterne zählt. Lalandes "Histoire celeste" (Par. 1801) enthält die Örter von 47,390 Sternen, die später von Baily mit Hilfe der von Schumacher gegebenen Reduktionstafeln auf die Epoche 1800 reduziert wurden (Lond. 1847), und Piazzi veröffentlichte (1803) ein Verzeichnis von 6748 Sternen, welche Zahl in der spätern Ausgabe ("Praecipuarum stellarum inerrantium positiones mediae ineuntesaeculo XIX., ed. altera", Pal. 1814) auf 7646 vermehrt ist. Epochemachend sind Bessels "Fundamentaastronomiae" (Königsb. 1818), welche auf den Beobachtungen Bradleys fußen; daran reiht sich Argelanders "Bonner Durchmusterung" ("Bonner Beobachtungen", Bd. 3-5, 1859-62), welche 324,198 am nördlichen Himmel bis zu 2° südl. Br. sichtbare Sterne aufzählt (von Schönfeld bis 10° südl. Br. fortgesetzt). Ferner sind zu nennen: Baily, "The catalogue of stars of the British Association" (Lond. 1845, 8377 Sternpositionen für 1850); von Airy eine Reihe von Katalogen nach Greenwicher Beobachtungen von 1836-41 (das. 1843), 1836-47 (das. 1849), 1848-53 (das. 1856), 1854-60 (das. 1862), 1861-67 (das. 1868); von Groombridge "Catalogue of circumpolar stars"; Weißes "Positiones mediae stellarum tixarum in zonis Regiomontanis a Besselio observatarum" (Petersb. 1846 u. 1863, gegen 70,000 Sterne); Argelanders "Zonenbeobachtungen" (geordnet von W. Öltzen, Wien 1851, 1852, 1857); Lamonts in den Annalen der Münchener Sternwarte erschienene Verzeichnisse von Sternen zwischen 15° nördlicher und südlicher Deklination (34,634 Sterne, darunter an 12,000 zum erstenmal bestimmte); das Verzeichnis von Sternen in der Nähe der Ekliptik, die Cooper und Graham zu Markree Castle in Irland beobachteten, u. a. Von der südlichen Halbkugel hat zuerst Halley einen Sternkatalog geliefert, ferner im vorigen Jahrhundert Lacaille ("Coelum australe stelliferum", Par. 1763; neue engl. Ausg., Lond. 1847); in unserm Jahrhundert haben Henderson, Fallows, Brisbane, Maclear u. a. solche S. geliefert, der neueste ist Ellerys "Melbourne catalogue". Kataloge von Doppelsternen haben hauptsächlich W. Herschel, W. Struve und I. Herschel geliefert; den des letztern (mit 10,300 Doppel- und vielfachen Sternen) haben Main und Pritchard im 40. Bande der "Memoiren der Londoner Astronomischen Gesellschaft" (Lond. 1874) veröffentlicht. Kataloge der veränderlichen Sterne haben Schönfeld (1866 u. 1874), Dreyer (1888) und Chandler (1889) geliefert. Sternkegel, s. Globus, S. 436. Sternkrant, s. Stellaria. Sternkreuzorden, österreich. Frauenorden, 18. Sept. 1668 von der Kaiserin Eleonore, zur Erinnerung an ein verlornes und wiedergefundenes Reliquienkreuz, für adlige Damen zur Förderung der Andacht zum heiligen Kreuz, des tugendhaften Lebens und wohlthätiger Handlungen gestiftet. Die Zahl der Damen ist unbeschränkt, alter Adel unbedingt erforderlich. Die Ernennungen gehen von der Großmeisterin des Ordens, "der höchsten Ordensschutzfrau", immer einer österreichischen Erzherzogin, aus. Die Dekoration, welche viermal geändert wurde, besteht jetzt in einem kaiserlichen Adler, auf welchem ein achteckiges rotes Kreuz auf einem blauen liegt; das Ganze ist medaillonartig gefaßt, und an dem obern Rand zieht sich ein weiß emailliertes Band mit der Devise: "Salus et gloria" hin. Das Band ist schwarz. Ordensfesttage sind der 3. Mai und 14. Sternkunde, s. Astronomie. Sternmiere, s. Stellaria. Sternocleidomastoideus (Musculus s.), Kopfnickermuskel. Sternsaphir, s. Korund. Sternschanze, Schanze mit sternförmigem Sternschnuppen, Lichtpunkte, die in heitern Nächten plötzlich am Himmel aufleuchten, rasch eine meist scheinbar geradlinige, mehr oder minder ausgedehnte Bahn beschreiben und dann erlöschen, öfters einen leuchtenden Schweif hinterlassend. Größere derartige Erscheinungen nennt man Feuerkugeln (s. d.). Während man sie früher für entzündete, von der Erde aufgestiegene Gase hielt, hat sich seit Chladni die Überzeugung Bahn gebrochen, daß diese Erscheinungen herrühren von Körpern, die aus dem Weltraum zu uns kommen und in den obern Schichten unsrer Atmosphäre zum Leuchten erhitzt werden. Die Sternschnuppen. Helligkeit der S. ist sehr verschieden, im Mittel gleich derjenigen von Fixsternen 4. Größe. Die Farbe ist meist weiß, ins Gelbe oder Blaue spielend. Nach Schmidt steht dieselbe im Zusammenhang mit der mittlern Dauer der sichtbaren Bewegung; er findet dieselbe nämlich für weiße S. 0,75 Sekunden (886 Beobachtungen), für gelbe 0,98 Sek. (400 Beob.), für rote 1,63 Sek. (188 Beob.) und für grüne 1,97 Sek. (125 Beob.). Beim Erlöschen mancher S. beobachtet man, wie bei den Feuerkugeln, Funkensprühen, auch bisweilen ein erneutes Aufleuchten. Der leuchtende Schweif, den viele hinterlassen, dauert häufig mehrere Minuten lang. Diese Schweife zeigen oft merkwürdige Formverändernngen, namentlich sieht man bei teleskopischer Beobachtung in den ersten Sekunden starke wellenförmige Krümmungen; auch haben sie nach Heis eine seitliche Bewegung. Das Spektrum der S. hat Konkoly kontinuierlich von vorherrschend gelber oder grüner Farbe, je nach der Färbung der S., gefunden; Indigo wurde selten, Rot nur bei roten S., Violett nie beobachtet. Im Spektrum des Schweifs wurde bei gelben S. Natrium, bei grünen Magnesium, bei roten Strontium gefunden ; bei einem 156 Sekunden nachleuchtenden Schweif einer Sternschnuppe, welche die Venus an Helligkeit übertraf, zeigten sich außer den Natrium- und Magnesiumlinien noch helle Banden in Grün und Blau. Coulvier-Gravier hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der S., die ein Beobachter stündlich zählt, im allgemeinen im Lauf der Nacht von den Abendstunden an zunimmt, und Schiaparelli hat dies dadurch erklärt, daß ein Beobachter um so mehr S. sehen werde, je höher über dem Horizont der Punkt des Himmels steht, nach welchem hin die Bewegung der Erde gerichtet ist. Dieser Punkt, der sogen. Apex, ist aber um einen Vierteltreis nach W. von der Sonne aus ; er hat also seinen höchsten Stand um Sonnenaufgang. Nach Schmidt fällt die größte stündliche Zahl auf die Stunde von früh 2 1/2-3 1/2 Uhr. Die stündliche Häufigkeit der S. ist auch nicht das ganze Jahr hindurch gleich; nach Schmidt fällt der kleinste Wert auf den Februar, der größte auf den August, wenn man absieht von den gleich zu erwähnenden großen Novemberströmen. Durch außerordentliche Häufigkeit der S. sind nämlich die Nächte um den 12. Nov. ausgezeichnet; insonderheit beobachtete man 12. Nov. 1799, 1833, 1866 und 1867 förmliche Sternschnuppenregen. Es erreicht dieses Phänomen, wie H. A. Newton bis 902 zurück dargethan hat, alle 33 Jahre seinen Höhepunkt. Weniger dicht, aber gleichmäßiger wiederkehrend sind die Sternschnuppenregen in den Nächten um den 10. Aug. (Laurentiustag). deren schon in altenglischen Kirchenkalendern unter dem Namen der "feurigen Thränen des heil. Laurentius" gedacht wird. Außerdem sind auch die Nächte des 18.-20. April, 26.-30. Juni, 9.-12. Dez. u. a. durch größere Häufigkeit der S. ausgezeichnet. Bei den Sternschnuppenfällen in diesen Nächten bewegt sich die Mehrzahl der S. in parallelen Bahnen; sie scheinen von einem und demselben Punkte des Himmels ausgestreut zu werden, wie es sein muß, wenn diese Körper in größern Schwärmen Bahnen um die Sonne beschreiben. Dieser Ausstreuungspunkt oder Radiant liegt für die Novembersternschnuppen im Sternbild des Löwen (10 Stund. Rektaszension und 23° nördl. Deklination) , für die Laurentius-S. im Perseus (2,9 Stund. Rektaszension und 56° nördl. Deklination), weshalb man jene auch Leoniden, diese Perseiden nennt. Doch gibt es in diesen Nächten nicht bloß einen, sondern immer mehrere Radianten, so beim Novemberphänomen nach Heis 5; derselbe Beobachter hat am nördlichen Himmel über 80 Radianten bestimmt. Im allgemeinen unterscheidet man die in bestimmten Nächten in größerer Häufigkeit fallenden S. als periodische von den sporadischen, die unregelmäßig aus den verschiedensten Gegenden des Himmels kommen. Die Höhe, in welcher die S. aufleuchten und verlöschen, läßt sich aus korrespondierenden Beobachtungen von verschiedenen Punkten aus ermitteln. Sie ist sehr verschieden; so fand Heis beim Augustphänomen 1867 Höhen zwischen 20 1/2 und 4 geogr. Meilen (im Mittel 13 1/2 Meilen) für das Aufblitzen, solche zwischen 11 1/2 und 3 Meilen (im Mittel 7 1/2) für das Verlöschen; doch sind auch noch größere Höhen bis zu 40 Meilen und darüber beobachtet worden. Die Geschwindigkeiten, mit welchen sich die S. bewegen, sind solche, wie wir sie nur bei selbständig um die Sonne laufenden Weltkörpern antreffen, 3 und mehr, selbst 10-20 Meilen in der Sekunde. Die kosmische Natur dieser Erscheinungen ist namentlich seit dem bereits erwähnen glänzenden Sternschnuppenfall im November 1866 außer Zweifel gestellt; derselbe hat uns auch noch weitere Aufschlüsse über dieselben gegeben. Schon früher hat man einen Zusammenhang zwischen den Sternschnuppenschwärmen und den Kometen geahnt, und namentlich hat Chladni bereits 1819 sich für einen solchen ausgesprochen. Aber erst 1866 wurde es durch Schiaparelli fast außer Zweifel gesetzt, daß manche Kometen, wenn auch nicht alle, zu den Erscheinungen der periodischen Sternschnuppenfälle beitragen. Insbesondere glaubte Schiaparelli aus der großen Ähnlichkeit der Bahn des August- oder Laurentiusstroms mit derjenigen des Kometen III des Jahrs 1862 auf eine Identität beider Erscheinungen schließen zu müssen. Diese Meinung fand rasch eine Bestätigung durch die von Leverrier ausgeführte Berechnung der Bahn des großen Novemberschwarms von 1866. Es machte nämlich sehr bald Peters in Altona auf die auffallende Übereinstimmung dieser Bahn mit derjenigen des Tempelschen Kometen I von 1866 aufmerksam. Seitdem hat die Idee, daß die periodisch erscheinenden Sternschnuppenschwärme Teile von Kometen seien, die, durch die Anziehung der Erde aus ihrer Bahn abgelenkt, durch die obern Regionen unsrer Atmosphäre schießen und hier infolge ihrer raschen Bewegung durch die Luft ins Glühen geraten, immer mehr Anklang gefunden. Insbesondere führt man auch die glänzenden Sternschnuppenregen vom 27. Nov. 1872 und 1885 auf kleine kosmische Körper zurück, die der zerfallende Bielasche Komet längs seiner Bahn ausgestreut hat. Während aus den größern Feuerkugeln nicht selten Meteorsteine zur Erde niederfallen, ist bei den S. bis jetzt noch nichts Ähnliches nachgewiesen. Ob die eisenhaltigen Staubmassen, welche Nordenskjöld auf den Schneeflächen Skandinaviens, Gaston Tissandier in Paris und Umgegend gesammelt und untersucht haben, wirklich von den Schweifen der S. und Feuerkugeln herrühren, wie letzterer glaubt, ist noch zweifelhaft. Die gallertigen, frischem Eiweiß oder Stärkekleister ähnlichen, oft tellergroßen Massen, die man hin und wieder am Boden findet, und welche die Volksmeinung in Europa und Nordamerika als Sternschnuppensubstanz bezeichnet, sind nach Cohn aufgequollene Frosch-Eileiter, welche wahrscheinlich von Nachtvögeln ausgeleert werden. Vgl. Schiaparelli, Entwurf einer astronomischen Theorie der S. (deutsch, Stett. 1871); Boguslawski, Die S. und ihre Beziehungen zu den Kometen (Berl Sternschnuppengallerte - Sternwarte. Steruschnuppengallerte, s. Nostoc. Sterusingen, der in der Weihnachtszeit bis zum Dreikönigsabend ehedem weit und breit übliche Brauch, mit einem an einer Stange befestigten goldpapiernen Stern herumzuziehen und Weihnachts- oder Dreikönigslieder zu singen, um dafür eine Gabe zu erhalten. Bald sind es Erwachsene, bald Kinder, welche, meist als die drei Könige aus dem Morgenland verkleidet, von Haus zu Haus ziehen, um ihre Lieder vorzutragen und den Stern oder statt dessen auch einen Kasten mit Puppen zu Sterustein, s. Korund. Sterntag, s. Tag. Sterntypen, s. Fixsterne, S. 325. Sternum (lat.), Brustbein. Sternutatio (lat.), das Niesen (s. d.). Stern von Indien, großbrit. Orden, gestiftet 26. Juni 1861 von der Königin Viktoria für das indische Reich. Der Orden besteht aus dem Souverän, dem Großmeister, welcher der Vizekönig von Indien ist, und 246 ordentlichen Genossen sowie einer unbegrenzten Zahl Ehrenmitglieder. Die Genossen teilen sich in drei Klassen: Großkommandeure (30), Kommandeure (72) und Genossen (144). Die Dekoration besteht in einer Kette aus Lotus, Palmzweigen und roten und weißen Rosen, in der Mitte die königliche Krone, an welcher das Ordenszeichen hängt, ein kameenartig in Onyx geschnittenes Brustbild der Königin in einem durchbrochenen Oval, mit der Devise: "Heaven's light our guide", überragt von einem Stern aus Diamanten. Der Ordensstern besteht in einem Mittelschild mit Diamantstern, von welchem Goldstrahlen ausgehen, und der auf einem blau und weiß geränderten Band ruht, welches die Devise in Diamanten Stern von Rumänien, fürstlich rumän. Zivil- und Militärverdienstorden, gestiftet 10. Mai 1877 vom Fürsten Karl I. Der Orden hat fünf Klassen: Großkreuze, Großoffiziere, Kommandeure, Offiziere und Ritter, deren Zahl festgestellt ist. Die Dekoration besteht in einem blau emaillierten Kreuz, das, mit Strahlen verziert, die goldene Fürstenkrone trägt. Militärverdienst wird durch gekreuzte Schwerter gekennzeichnet. Der Mittelschild des Kreuzes zeigt in rotem Email vorn einen Adler mit der Devise: "In fide salus" in grünem Randreif, hinten die fürstliche Chiffer. Die Ritter tragen das Kreuz in Silber, die andern von Gold; die Großkreuze und Großoffiziere außerdem einen diamantierten Silberstern mit darauf liegendem Kreuz. Das Band ist rot mit dunkel-blauen Randstreifen. Sternwarte (Observatorium, hierzu Taf. "Sternwarte"), ein zu astronomischen Beobachtungen und Messungen bestimmtes Gebäude. Während man früher die Sternwarten der bessern Umsicht halber gern auf Türmen einrichtete, hat man, namentlich im vorigen Jahrhundert, eingesehen, daß so hohe Gebäude einen für Erschütterungen sehr empfindlichen und infolge der ungleichen Erwärmung durch die Sonne sehr schwankenden Standort gewähren, weshalb sich auf ihnen genaue, der gegenwärtigen Vollendung der Instrumente und der Ausbildung der Beobachtungskunst entsprechende Beobachtungen gar nicht ausführen lassen. Man baut daher die Sternwarten heutzutage niedrig und stellt die größern Instrumente auf steinerne Pfeiler, die mit den übrigen Fundamenten außer Zusammenhang stehen. Im Meridian, auch im ersten Vertikal (s. d.), müssen Einschnitte für das Passageinstrument vorhanden sein. Ferner baut man für die größern Äquatoriale Türme mit drehbarem Dach, die Beobachtungen nach den verschiedensten Richtungen gestatten; auch sorgt man für eine Terrasse od. dgl. zu Beobachtungen im Freien. Die ganzen Baulichkeiten, mit den Wohnräumen für das Personal, sollen an einem ruhigen, nicht zu nahe an frequenten Straßen gelegenen Platz, nicht im Innern größerer Städte, gelegen sein; die freie Umsicht am Horizont ist nicht nötig, wenn nur in größerer Höhe der Himmel frei ist, denn Beobachtungen dicht am Horizont sind wenig zuverlässig. Zur Ausstattung einer S. gehören: Meridiankreis, Mittagsrohr, Äquatorial, Vertikalkreis, Heliometer, kleinere Fernrohre, gute Uhren, elektrische Registrierapparate und meteorologische Instrumente, zunächst zur Reduktion der astronomischen Beobachtungen. Neuerdings sind aber viele Sternwarten auch zugleich meteorologische Beobachtungsstationen. Die erste nach neuern Grundsätzen erbaute S. ist die von Greenwich, 1672 errichtet; die noch ältere, 1664-72 erbaute Pariser S. ist den Ansprüchen der Gegenwart nicht mehr ganz entsprechend. Ein großartiges Institut ist die 1833-39 auf dem Pulkowaberg bei Petersburg errichtete Nikolai-Zentralsternwarte. Auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen eine Anzahl sehr gut eingerichteter Sternwarten, unter denen namentlich die Marinesternwarte in Washington sich durch ihre Leistungen hervorgethan hat und das Lick-Observatorium auf dem 1400 m hohen Mount Hamilton in Kalifornien durch seine Lage und Ausstattung außerordentlich begünstigt ist. Ebenso sind in Südamerika, Südafrika, Ostindien und Australien einzelne Sternwarten thätig. Die Gesamtzahl aller Observatorien übersteigt jetzt 200, während sie Ende des vorigen Jahrhunderts nur 130 betrug. Auf dem Kontinent von Europa sind die meisten Sternwarten Staatsanstalten, in Großbritannien aber haben sich viele Privatsternwarten durch ihre Leistungen einen Namen erworben. Als Beispiel einer allen Anforderungen der Neuzeit, sowohl für die Zwecke des Unterrichts als der wissenschaftlichen Forschung, entsprechenden S. dient uns die auf beifolgender Tafel dargestellte neue S. zu Straßburg (die Beschreibung derselben siehe auf der Textbeilage zur Tafel, wo sich auch eine Übersicht der bedeutendsten Sternwarten befindet). Seitdem in den letzten Jahrzehnten Physik und Chemie insbesondere in der Photographie und Spektralanalyse neue Hilfsmittel dargeboten haben, welche den Untersuchungen über die physische Beschaffenheit der Himmelskörper einen früher ungeahnten Grad von Genauigkeit und Zuverlässigkeit verleihen, bilden derartige, ehemals nur einzelnen Liebhabern überlassene Forschungen eine wesentliche Aufgabe des Astronomen von Fach. Indessen sind die ältern Sternwarten neben ihren sonstigen, vorzugsweise auf Erforschung der Bewegung der Himmelskörper gerichteten Arbeiten nur unvollkommen im stande, sich dieser Aufgabe zu widmen; denn dieselbe stellt nicht nur an die Ausbildung und Arbeitskraft der Beobachter Forderungen besonderer Art, sondern sie verlangt auch bedeutende instrumentelle Hilfsmittel und macht physikalische und chemische Arbeiten nötig, für welche die ältern Sternwarten nicht eingerichtet sind. So wie man daher früher einzelne Sternwarten speziell zur Beobachtung der Erscheinungen auf der Sonne eingerichtet hat, so ist man in der neuesten Zeit an die Errichtung von Observatorien gegangen, welche der Pflege der verschiedensten Zweige der Astrophysik dienen sollen, so in Frankreich das Observatorium zu Meudon und in Deutschland das astrophysikalische Observatorium auf dem Telegraphenberg bei Potsdam, das 1879 seiner Bestimmung übergeben wurde. STERNWARTE DER KAISER WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU Grosser Refraktorbau. (Ansicht.) Grosser Refraktorbau. (Durchschnitt von A nach B.) Grosser Refraktorbau. a. Grosser Refraktor, b. Raum für konstante Temperatur, h. Vestibül. i. Bibliothek k. Direktionszimmer Gemeinschaftliches Observatoriengebäude. a. Treppenhaus. b. Rechenzimmer. c. Treppengang zum Instrument d. Instrumente. e. Eingang zum Meridiansaal. f. Passageninstrument. g. Meridiankreis. Beamtenwohnhaus. Situationsplan der Sternwarte Gemeinschaftliches Observatoriengebäude. (Meridianbau.) (Durchschnitt von A nach B.) Turm des Altazimuth Turm des Bahnsuchers. [Zu Artikel und Tafel Sternwarte.] Die Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zu Die im Sommer 1881 ihrer Bestimmung übergebene Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg besteht aus drei Gebäuden, von denen das eine Wohnungen, die andern beiden die zur Aufstellung der Instrumente nötigen Räume enthalten. Der Refraktorbau für das Hauptinstrument der Sternwarte (s. Tafel) ist ein von einer mächtigen Kuppel gekrönter Turm, der sich 24 m über den Boden erhebt. Die Mitte des aus Sandstein aufgeführten Unterbaues, dessen Querschnitt die Form eines gleicharmigen Kreuzes zeigt, nimmt eine Halle ein, um welche sich eine Anzahl verschiedenen Zwecken dienender Räume gruppieren. Die diese Halle einschließenden sehr starken Mauerpfeiler tragen ein mehrfaches Gewölbe, auf welchem die den großen Refraktor tragende Säule ruht. Dieses Gewölbe ist von der obern, die Kuppel tragenden Umfassungswand des Turms und von dem Fußboden des Kuppelraums isoliert, so daß sich Erschütterungen dieser Teile nicht direkt auf das Instrument übertragen können; es umschließt einen Hohlraum, der im Innern des ganzen Mauerwerks zu allen Tages- und Jahreszeiten sehr nahe dieselbe Temperatur behält, und in welchem daher die Normaluhren des Observatoriums ihre Aufstellung gefunden haben. Ein zweiter Raum mit konstanter Temperatur ist noch inmitten des Kellergeschosses gelegen. Die halbkugelförmige Kuppel des Turms (vgl. den Durchschnitt auf der Tafel) von 11 m Durchmesser ist aus eisernen Bogenträgern konstruiert, die eine außen mit Zink verkleidete Holzverschalung tragen, und an der Innenfläche zum Schutz gegen die sich hier leicht ansetzende Feuchtigkeit mit Tuch ausgeschlagen. Ein Spalt von 2 m Breite, vom Horizont durch den Scheitel bis wieder zum Horizont gehend, ermöglicht den Ausblick auf den Himmel; bei ungünstigem Wetter wird derselbe durch zwei halbcylindrische Stücke geschlossen, die sich beim Öffnen symmetrisch voneinander entfernen. Die Kuppel ist drehbar und läuft auf dem obern Rande der Turmwand vermittelst an ihr befestigter Räder von 1 m Durchmesser. Sie ist mit einem Zahnkranz versehen, in den eine Transmission eingreift, welche durch ca. 1000 kg schwere, in tiefen, zu diesem Zweck im Mauerwerk ausgesparten Schächten niedersteigende Gewichte getrieben wird. Durch Umschaltung einer Welle in dieser Transmission kann man die Drehung rechts- oder linksherum vor sich gehen lassen, und dieses Umschalten ebenso wie das Auslösen der Gewichte erfolgt, indem man durch Schluß eines am Okularende des Fernrohrs angebrachten Kontakts einen Elektromagnet wirken läßt, so daß also der Beobachter, ohne seinen Platz zu verlassen und ohne alle Mühe den Spalt der ca. 34,000 kg schweren Kuppel auf die gerade zu beobachtende Himmelsgegend richten kann. Eine breite Terrasse um die Kuppel ist bestimmt für die mit bloßem Auge oder mit kleinem transportabeln Instrumenten anzustellenden Beobachtungen. Auf ihr befindet sich auch ein großer Kometensucher von 16,2 cm Öffnung und 1,3 m Brennweite, welchen der auf einem Drehstuhl sitzende Beobachter auf jede Gegend des Himmels richten kann, ohne dabei die Lage seines Kopfes verändern zu müssen. Derselbe dient außerdem zur fortlaufenden Beobachtung des Lichtwechsels der in ihrem Glanz veränderlichen Fixsterne. Unter der Kuppel ruht auf einer 4 m hohen gußeisernen Säule der große parallaktisch montierte Refraktor, dessen Objektiv einen freien Durchmesser von 48,7 cm und 7 m Brennweite hat (vgl. Äquatorial). Bemerkenswert sind noch die an der großen Drehkuppel angebrachten Vorrichtungen, um dieselbe auf ihrer Außenfläche vollständig mit Wasser zu berieseln und so im heißen Sommer vor Beginn der Beobachtungen eine raschere Abkühlung derselben zu bewirken. In den ersten Abendstunden würden sonst die das Instrument zunächst umgebenden Luftschichten eine bedeutend höhere Temperatur als die äußere Luft zeigen, was eine Störung der durchgehenden Lichtstrahlen und ein verwaschenes und zitterndes Ausheben der im Fernrohr beobachteten Gestirne zur Folge haben müßte. Der Meridianbau (s. Tafel) enthält in seinem Ostflügel den Meridiansaal, dessen Längsachse in der Richtung OW. liegt; er wird in nordsüdlicher Richtung von zwei je 1 m breiten, durch Klappen verschließbaren Spalten durchschnitten, unter denen der Meridiankreis von 16,2 cm Öffnung und 1,9 m Brennweite und das Passageinstrument aufgestellt sind. Diese Instrumente ruhen, um ihnen eine feste und unveränderliche Aufstellung zu geben, auf starken Pfeilern, die frei aus dem Boden aufsteigen und vom ganzen übrigen Gebäude isoliert sind. Die äußern Grundmauern des Gebäudes sind gleichfalls sehr stark und mit zwischenliegenden Luftschichten aufgeführt, um die Instrumentenpfeiler möglichst vor Temperaturschwankungen, welche Verziehungen derselben zur Folge haben könnten, zu sichern; sie tragen ein flaches Bogengewölbe, durch das jene Pfeiler frei hindurchgehen. Der Fußboden ist in der verhältnismäßig beträchtlichen Höhe von fast 5 m über der Erde angelegt, um die Gesichtslinien der Instrumente auch bei nahezu horizontaler Stellung des Fernrohrs aus dem Bereich der an der Erdoberfläche stattfindenden unregelmäßigen Strahlungen zu bringen. Der Oberbau des Meridiansaals ist aus Eisen konstruiert; Wandung und Dach sind aus verzinntem Wellenblech hergestellt und außen mit einer jalousieartigen Holzverkleidung versehen, um die Innentemperatur des Raums möglichst gleich der äußern Schattentemperatur zu machen und auf diese Weise sowohl alle störenden Luftströmungen durch die geöffneten Spalten zu vermeiden als auch namentlich die Bildung von nach oben wärmer werdenden Luftschichten zu verhindern, wodurch auch die obern und untern Teile der Instrumente sich ungleich erwärmen und infolgedessen ihre genaue Gestalt verlieren würden. Der Westflügel des Meridianbaues wird im N. und S. von zwei mit Drehkuppeln versehenen Türmen begrenzt, die sich bis zur Höhe von 20 m erheben. In dem südlichen Turm ist aufgestellt der Bahnsucher, in dem nördlichen das Altazimut mit einem Fernrohr von 13,6 cm Öffnung und 1,5 m Brennweite, welche Instrumente auf sehr starken, vom übrigen Gebäude völlig getrennten Pfeilern ruhen. Diese verjüngen sich nach oben, sind im Innern bis auf radiale Versteifungen hohl und werden zum Schutz gegen Wärmeänderungen, welche leicht merkliche Schwankungen der 16 m hohen Pfeiler verursachen könnten, von einem Hohlcylinder aus Backsteinen eingeschlossen. Um diesen windet sich dann die Wendeltreppe, die von der äußern Turmwand getragen wird. Die beiden drehbaren Kuppeln haben einen Durchmesser von 5,5 m; die südliche ist ganz ähnlich der des Refraktorbaues, die nördliche dagegen ist, weil das unter ihr befindliche Altazimut eine besonders große Öffnung derselben bei der Beobachtung erforderte, durch einen senkrecht durch ihren Scheitel gelegten Schnitt in zwei gleiche Hälften geteilt, die sich durch einen Bewegungsmechanismus bis zum Abstand von 2,5 m voneinander entfernen lassen. Die Galerien und Terrassen, welche die beiden Kuppeln umgeben, können ebenfalls mit Wasser berieselt werden. Außer den erwähnten Meßwerkzeugen besitzt die Sternwarte noch eine Anzahl kleinerer Instrumente, ein Heliometer, ein transportables Passageinstrument, welche im Freien unter Bedachung ihre Aufstellung gefunden haben, etc. Übersicht der bedeutendsten Sternwarten. Sternwarte Länge in Bogen von Greenwich Breite Deutschland. Berlin ö. 13° 23' 43" +52° 30' 16,7" Bonn ö. 7 5 58 +50 43 45,0 Bothkamp b. Kiel (Priv.) ö. 10 7 42 +54 12 9,6 Breslau ö. 17 2 16 +51 6 56,5 Danzig ö. 18 39 51 +54 21 18,0 Düsseldorf (Bilk) ö. 6 46 13 +51 12 25,0 Gotha ö. 10 42 37 +50 56 37,5 Göttingen ö. 9 56 33 +51 31 47,9 Hamburg ö. 9 58 25 +53 33 7,0 Kiel ö. 10 8 52 +54 20 29,7 Königsberg ö. 20 29 43 +54 42 50,6 Leipzig ö. 12 23 30 +51 20 6,3 Lübeck ö. 10 41 24 +53 51 31,2 Mannheim ö. 8 27 41 +49 29 11,0 Marburg ö. 8 46 15 +50 48 46,9 München (Bogenhausen) ö. 11 36 28 +48 8 45,5 Straßburg ö. 7 45 35 +48 34 55,0 Wilhelmshaven ö. 8 8 48 +53 31 57,0 Krakau ö. 19 57 37 +50 3 50,0 Kremsmünster ö. 14 8 3 +48 3 23,7 Pola ö. 13 50 52 +44 51 49,0 Prag ö. 14 25 19 +50 5 18,5 Wien ö. 16 22 55 +48 12 35,5 Wien (Josephstadt) ö. 16 21 19 +48 12 53,8 Bern ö. 7 26 24 +46 57 6,0 Genf ö. 6 9 16 +46 11 58,8 Neuchâtel ö. 6 57 31 +47 0 1,2 Zürich ö. 8 32 58 +47 22 42,1 Niederlande u. Belgien. Leiden ö. 4 29 3 +52 9 20,3 Utrecht ö. 5 8 1 +52 5 10,5 Brüssel ö. 4 22 8 +50 51 10,7 Großbritannien. Armagh w. 6 38 53 +54 21 12,7 Birr Castle w. 7 55 14 +53 5 47,0 Cambridge ö. 0 5 40 +52 12 51,6 Dublin w. 6 20 31 +53 23 13,0 Durham w. 1 34 57 +54 46 6,2 Edinburg w. 3 10 54 +55 57 23,2 Glasgow w. 4 17 39 +55 52 42,6 Greenwich 0 0 0 +51 28 38,4 Liverpool w. 3 4 17 +53 24 3,8 Markree w. 8 27 2 +54 10 31,8 Oxford w. 1 15 39 +51 45 36,0 Portsmouth w. 1 5 55 +50 48 3,0 Tulse Hill w. 0 6 56 +51 26 47,0 Abo (aufgelöst) ö. 22 17 2 +60 26 56,8 Charkow ö. 36 13 40 +50 0 10,2 Dorpat ö. 26 43 22 +58 22 47,1 Helsingfors ö. 24 57 16 +60 9 42,3 Kasan ö. 49 7 13 +55 47 24,2 Kiew ö. 30 30 16 +50 27 12,5 Moskau ö. 37 34 13 +55 45 19,8 Nikolajew ö. 31 58 31 +46 58 20,6 Odessa ö. 30 45 35 +46 28 36,2 Petersburg ö. 30 18 22 +59 56 29,7 Pulkowa ö. 30 19 38 +59 46 18,7 Warschau ö. 21 1 50 +52 13 5,7 Wilna ö. 25 17 58 +54 41 0,0 Schweden u. Norwegen. Lund ö. 13° 11' 15" +55° 41' 54,0" Stockholm ö. 18 3 32 +59 20 34,0 Upsala ö. 17 37 30 +59 51 31,5 Christiania ö. 10 43 32 +59 54 43,7 Kopenhagen ö. 12 34 47 +55 41 13,6 Bologna ö. 11 21 9 +44 29 47,0 Florenz ö. 11 15 22 +43 46 4,1 Mailand ö. 9 11 31 +45 28 0,7 Modena ö. 10 55 42 +44 38 52,8 Neapel ö. 14 14 42 +40 51 45,4 Padua ö. 11 52 14 +45 24 2,5 Palermo ö. 13 21 1 +38 6 44,0 Rom ö. 12 28 50 +41 53 53,7 Turin ö. 7 42 5 +45 4 6,0 Venedig ö. 12 21 11 +45 25 49,5 Marseille ö. 5 23 50 +43 18 19,1 Paris ö. 2 20 13 +48 50 11,2 Toulouse ö. 1 27 44 +43 36 47,0 Madrid w. 3 41 18 +40 24 29,7 San Fernande w. 6 12 33 +36 27 40,4 Lissabon w. 9 6 15 +38 42 15,2 Griechenland. Athen ö. 23 43 55 +37 58 20,0 Vereinigte Staaten von Nordamerika. Albany w. 73 44 35 +42 39 49,6 Alfred Centre w. 77 46 46 +42 15 19,8 Alleghany-City w. 80 0 49 +40 27 36,0 Ann Arbor w. 83 43 44 +42 16 48,0 Cambridge w. 71 7 41 +42 22 48,0 Chicago w. 87 36 38 +41 50 1,0 Cincinnatiw. 84 29 41 +39 6 26,5 Clinton w. 75 24 18 +43 3 16,5 Georgetown w. 77 4 30 +38 54 26,1 Licks Sternwarte w. 98 54 34 +19 25 17,0 Mew York w. 73 59 12 +40 43 48,5 Philadelphia w. 75 9 37 +39 57 7,5 Washington w. 77 3 2 +38 53 38,8 Cordova w. 64 11 15 -31 25 15,0 Rio de Janeiro w. 43 8 56 -22 53 51,0 Santiago de Chile w. 70 40 34 -33 26 42,0 Madras ö. 80 14 19 +13 4 8,1 Melbourne ö. 144 58 34 -37 49 53,4 Sydney ö. 151 11 27 -33 51 41,1 Williamstown ö. 144 54 38 -37 52 7,2 Windsor ö. 150 48 50 -33 36 29,2 Kap der Guten Hoffnung ö. 18 28 44 -33 56 3,0 1 1825-63 unter dem Direktorat von J. F. Encke. - 2 Bonn: Argelander, von 1837-75 Direktor, bearbeitete daselbst seine ausgezeichneten Sternkarten. - 3 Gotha: Encke begann hier seine astronomische Thätigkeit; ihm folgte 1825 im Direktorat P. A Hansen - 4 Göttingen: K F Gauß 1807-55 Direktor. - 6 Königsberg: 1810-46 F. W. Bessel Direktor. - 6 Prag: Tycho Brahe und Kepler haben daselbst gewirkt. - 7 Greenwich: Halley beschloß hierselbst als Direktor der Sternwarte seine ruhmreiche Thätigkeit; ihm folgte 1725 Bradley. - 8 Abo: Argelanders Fixsternbeobachtungen. - 9 Dorpat: W. Struves Untersuchungen über Doppelsterne. 1840-66 J. H. Mädler Direktor. - 10 Pulkowa: 1839 - 65 W. Struve Direktor. - 11 Bologna: Cassinis erste Beobachtungen. - 12 Palermo: Piazzi entdeckte daselbst den ersten kleinen Planeten. - 13 Rom: Pater Secchis (gest. 1878) spektralanalytische Untersuchungen. - 14 Paris: Cassini erster Direktor 1669; spätere: Bouvard, Arago, Sternweite - Stettin. Sternweite, Entfernung eines Fixsterns von der Sonne, wenn seine jährliche Parallaxe (s. d.) eine Bogensekunde beträgt, gleich 206,264,8 Erdbahnhalbmessern oder ungefähr 30 2/3 Bill. km. Sternwürmer, s. Gephyreen. Sternzeit, die durch die scheinbare tägliche Bewegung der Fixsterne bestimmte Zeit; vgl. Sonnenzeit und Tag. Sterrometall, Legierung aus 55 Kupfer, 41 Zink und 4 Eisen, von großer Festigkeit und Zähigkeit, dient zu Blech- und Gußwaren, Achsenlagern etc. Stertmorchel, s. Phallus. Stertor (lat.), das Röcheln (s. d.). Stertz, ein steir. Nationalgericht, bestehend aus einem aus Buchweizenmehl bereiteten großen Kloß, welcher mit Speckgriefen und Milch genossen wird. Sterzing, Stadt in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Brixen, am Eisack und an der Brennerbahn, 947 m ü. M., altertümlich gebaut, mit gotischer Pfarrkirche, schönem gotischen Rathaus, einem Deutschordenshaus (1263 gestiftet), Kapuzinerkloster, einem Bezirksgericht, Fabrikation von Sensen, Sicheln, Beinlöffeln etc. und (1880) 1528 Einw. Südöstlich das nunmehr ausgetrocknete Sterzinger Moos. S. hieß zur Römerzeit Vipitenum. Gegenwärtig ist es ein beliebtes Standquartier der Touristen. Vgl. Fischnaler S. am Eisack (2. Aufl., Innsbr. 1885). Stesichoros, der bedeutendste Vertreter der ältern dorischen Lyrik, der "lyrische Homer" genannt, geb. um 630 v. Chr. zu Himera in Sizilien, starb erblindet 556 in Catana. Von ihm rührt die Einteilung der chorischen Lieder in Strophe, Gegenstrophe und Epode her, auch galt er für den Begründer des höhern frischen Stils. Seine von Spätern in 26 Bücher eingeteilten Festgesänge behandelten in prächtiger Darstellung vorwiegend epische Stoffe; ebenso standen die einfachen metrischen Formen der epischen nahe, wie auch der Dialekt der mit wenigen Dorismen gemischte epische war. Wir besitzen von ihm nur Bruchstücke (in Schneidewins "Delectus poesis Graecorum" , Götting. 1839, und Bergks "Poetae lyrici graeci" , Bd. 3, 4. Aufl., Leipz. 1882). Stethograph (griech.), ein Apparat, welcher die Atmungsbewegungen einzelner Punkte des Brustkorbes in Form von Kurven graphisch darstellt. Stethoskop (griech.), s. Auskultation. Stetig, fest, unbeweglich; ununterbrochen, fortdauernd. Eine stetige (kontinuierliche) Größe ist eine solche, deren Teile keine Unterbrechung zeigen, z. B. eine Linie im Gegensatz zu einer Reihe voneinander getrennter (diskreter) Stetigkeit, s. v. w. Kontinuität (s. d.). Stetten, 1) (S. am Kalten Markt) Flecken im bad. Kreis Konstanz, in rauher Gegend auf der Hardt, hat eine kath. Kirche, Weißstickerei, Korsettnäherei und (1885) 1037 Einw. 2) Dorf im bad. Kreis Lörrach, im Wiesenthal, an der Linie Basel-Zell i. W. der Badischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, Weinbau, Eisengießerei, Baumwollweberei, Gewehrschäftefabrikation und (1885) 2186 Einw. Stettenheim, Julius, humorist. Schriftsteller, geb. 2. Nov. 1831 zu Hamburg, Sohn eines Kunsthändlers, verließ 1857 das väterliche Geschäft, in das er eingetreten war, und begab sich nach Berlin, wo er studierte und gleichzeitig als Schriftsteller auftrat. Unter den von ihm um jene Zeit veröffentlichten Humoresken, Singspielen, Possen etc. verdienen der "Almanach zum Lachen" (Berl. 1858-63) und das oft gegebene Liederspiel "Die letzte Fahrt" (das. 1861) besondere Hervorhebung. Nach vollendetem dreijährigen Universitätskurs kehrte er nach Hamburg zurück und gründete hier die bekannte humoristisch-satirische Zeitschrift "Die Wespen", die jedoch erst eigentlichen Erfolg hatte, nachdem er mit derselben Ende 1867 nach Berlin übergesiedelt war, wo im Januar 1868 zuerst die "Berliner Wespen" erschienen, die er noch gegenwärtig redigiert. S. ist einer der glänzendsten Vertreter des satirischen Wortwitzes. Von seinen Veröffentlichungen erwähnen wir noch: "Lohengrin", humoristische Albumblätter (Berl. 1859); "Die Hamburger Wespen auf der internationalen landwirtschaftlichen Ausstellung" (das. 1863); "Die Hamburger Wespen im zoologischen Garten" (das. 1863); "Satirisch-humoristischer Volkskalender" (das. 1863); "Die Berliner Wespen im Aquarium" (das. 1869); "Ungebetene Gäste", Posse (das. 1869); "Berliner Blaubuch aus dem Archiv der Komik" (das. 1869-70, 2 Bde.); "Ein gefälliger Mensch", Posse (das. 1872); "Wippchens sämtliche Berichte" (das. 1878-86, 5 Bde.); "Muckenichs Reden und Thaten" (das. 1885); "Unter vier Augen" (das. 1885) u. a. Seit 1885 gibt er die illustrierte Monatsschrift "Das humoristische Deutschland" (Bresl.) heraus. Stettin (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt der preuß. Provinz Pommern und des gleichnamigen Regierungsbezirks, Stadtkreis, an der Oder, Knotenpunkt der Linien Berlin-Stargard, Breslau-S. und S.-Mecklenburgische Grenze, 7 m ü. M., besteht aus der eigentlichen Stadt am linken Flußufer mit ausgedehnten neuen Stadtteilen und Vorstädten, welch letztere wegen der bis 1873 vorhandenen Befestigung der innern Stadt zum Teil in großer Entfernung von derselben angelegt sind, und aus der Lastadie und den zugehörigen Anlagen am rechten User. Beide Ufer der Oder sind für den allgemeinen Verkehr durch drei Brücken (Baumbrücke, Lange Brücke und Neue Brücke) verbunden; für den Eisenbahnverkehr sind über die Oder und ihre Nebenströme besondere Überbrückungen hergestellt. Die innere Stadt enthält acht Plätze: den Paradeplatz, den Königsplatz mit den Statuen Friedrichs d. Gr. (von Schadow) und Friedrich Wilhelms III. (von Drake), den Roßmarkt mit monumentaler Fontäne, den Heumarkt und den Neuen Markt, zwischen denen das alte Rathaus steht, den Marktplatz und den Viktoriaplatz, durch das neue Rathaus getrennt, und den mit Anlagen gezierten Kirchplatz. S. hat 6 evang. Kirchen, unter welchen die in ihrer jetzigen Gestalt spätgotische Petrikirche (1124 gegründet) als die erste christliche Kirche in Pommern und die Jakobikirche (aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.) wegen ihrer Größe etc. bemerkenswert sind; außerdem eine kath. Kirche (im Schloß), eine Baptistenkapelle, eine Kirche der Altlutherischen, eine der apostolischen Gemeinde und eine neue Synagoge. Andre hervorragende Gebäude sind: das königliche Schloß (1575 erbaut), jetzt Sitz der Regierung und des Oberlandesgerichts, das Militärkasino, das Schauspielhaus, die Börse, das Vereins- und Konzerthaus, der Zirkus, das neue großartige Krankenhaus (auf einer Anhöhe vor der Stadt, vgl. den Plan bei Art. "Krankenhaus") etc. Bemerkenswert sind ferner zwei von Friedrich Wilhelm I. erbaute monumentale Thorgebäude (Königsthor und Berliner Thor), welche, seit Abtragung der Wälle freigelegt und von der Stadt Wappen von Stettin. Albrecht-Straße Arndt-Straße Artillerie-Kaserne Artillerie-Straße Artillerie-Zeughaus Augusta-Straße Bäckerberg-Straße Barnim-Straße Bellevue-Straße Berliner Thor, Am Birken-Allee Bismarck-Platz Bismarck-Straße Blumen-Straße Breite-Straße Buggenhagen-Straße Bürger-Ressource Charlotten-Straße Deutsche-Straße Dom Straße, Große Dom Straße, Kleine Elisabeth-Straße Exerzierplatz Falkenwalder Straße Fischer-Straße Fort Preußen Frauen-Straße Friedrich-Karl-Straße Friedrich-Straße Friedrichs II. Denkmal Friedrichs Wilhelms III. Denkmal Furage-Magazin Garnison-Lazarett Garten-Straße General-Kommando Gertruden-Kirche Giesebrecht-Straße Grabower Straße Grüner Graben Grüne Schanze Gastav-Adolf-Straße Gutenberg- Straße Güter-Bahnhof Gymnasium, Kaiser-Wilhelm Gymnasium, Marienstifts- Gymnasium, Stadt- Heilige Geist-Straße Heilige Geist-Thor Hohenzollern-Platz Hohenzollern-Straße Hühnerbeiner Straße In den Anlagen Jageteufel-Straße Jakobi-Kirche Johannes-Kirche Johannis-Kloster Johannis-Straße Kaiser-Wilhelm-Platz Kaiser-Wilhelm-Straße Kirchen-Straße Kommandantur König-Albert Straße Königs-Platz Königs-Straße Königsthor, Am Kronenhof-Straße Kronprinzen-Straße Kurfürsten-Straße Lange Brücke Linden-Straße Logen-Garten. Luisen-Straße Lutherischer Kirchhof Marien-Platz Masches Insel Militär-Kirchhof, Alter Militär-Kirchhof, Neuer Mittwoch-Straße Moltke-Straße Mönchen-Straße Oder-Straße, Große Oder-Straße, Kleine Offizier-Kasino Papen-Straße Parade-Platz Parnitzer Bollwerk Passauer Straße Pelzer Straße Pölitzer Straße Polizei-Direktion Preußische Straße Prutz-Straße Reformierter Kirchhof Reifschläger-Straße Rosengarten-Straße Roßmarkt-Straße Sankt Petri-Kirche Sanne-Straße Schiller-Straße Schloßkirche Schloß, Königliches Schuh-Straße Schulzen-Straße Schützengarten Schwerin-Straße Schwimm-Anstalt Sellhaus-Bollwerk Speicher-Straße Töpfers Park Töpfers Park-Straße Turner-Straße Viktoria-Platz Wilhelm-Straße Wollweher-Straße, Große Wrangel-Straße Zum. Artikel "Stettin". Stettiner Haff - Steub. entsprechend ausgebaut, den Mittelpunkt breiter, mit Anlagen versehener Passagen bilden. Die Zahl der Einwohner belief sich 1885 mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 2, 2 Füsilierbat. Nr. 34 und 2 Abteilungen Feldartillerie Nr. 2) auf 99,543 Seelen, darunter 2881 Katholiken, 923 sonstige Christen und 2501 Juden. Die Industrie ist bedeutend. S. hat große Eisengießereien und Maschinenfabriken, darunter die große Maschinenfabrik und Schiffbauanstalt "Vulkan" in Bredow (s. d.) mit 4-5000 Arbeitern, Fabrikation von chemischen Produkten (in Pommerensdorf) mit 800-900 Arbeitern, Zementfabriken (in Züllchow, Bredow und Podejuch) mit 300-600 Arbeitern, große Mühlenetablissements (in Züllchow), ferner Fabriken für Zucker, Zichorie, Parfümerien, Seife, Stearin, Öl, feuerfeste Geldschränke, Kartonagen, Dachpappe etc., Gartenbau, Bierbrauerei und Branntweinbrennerei. Für den Handel, der durch eine Handelskammer, eine Börse, eine Reichsbankstelle (Gesamtumsatz 1887: 756 Mill. Mk.) und andre große Geldinstitute unterstützt wird, ist S. der erste Seeplatz des preußischen Staats. Ausgeführt werden vorzüglich: Getreide, Mehl, Sprit, Ölfrüchte, Holz, Chemikalien, Kartoffeln, Heringe, Zichorie, Zucker, Steinkohlen, Zink etc., dagegen werden eingeführt: Eisen und Eisenwaren, Erden und Erze, Getreide, Mehl, Bau- und Nutzholz, Heringe, Reis, Fettwaren, Petroleum, Steine, Schiefer, Steinkohlen etc. Der Wert der 1887 eingeführten Waren betrug 16,760,036 Mk., der ausgeführten Waren 17,019,190 Mk. Die Stettiner Reederei zählte 1887: 193 Schiffe, darunter 58 Seedampfer, mit zusammen 44,259 Registertonnen Raumgehalt. In den Hafen liefen ein 1887: 3826 Schiffe zu 1,116,438 Registertonnen, es liefen aus: 3884 Schiffe zu 1,142,427 Registertonnen. Regelmäßige Dampferverbindungen unterhält S. mit den wichtigsten Häfen der Ostsee, mit London und New York. An Bildungs- und andern ähnlichen Anstalten besitzt S. 3 Gymnasien, 2 Realgymnasien, eine Handelsschule, ein Lehrerinnenseminar, eine Taubstummen- und eine Blindenanstalt, ein Stadt-, ein pommersches und ein antiquarisches Museum, einen Verein für Altertumskunde, einen Kunstverein, mehrere Theater etc.; ferner: eine Hebammenlehranstalt, ein Johanniskloster, Diakonissenanstalten, ein Mädchenrettungshaus u. a. m. S. ist Sitz eines Oberpräsidiums, einer königlichen Regierung, eines Konsistoriums, eines Medizinal- und eines Provinzial-Schulkollegiums und einer Provinzial-Steuerdirektion, der Provinzialverwaltung , der pommerschen Generallandschaftsdirektion, einer Rentenbank für die Provinzen Pommern und Schleswig-Holstein, eines Oberlandes- und eines Landgerichts, einer Oberpostdirektion, eines Seeamtes, eines Landratsamtes (für den Kreis Randow) etc.; ferner: des Generalkommandos des 2. Armeekorps, des Kommandos der 3. Division, der 5. und 6. Infanterie-, der 3. Kavallerie- und der 2. Feldartilleriebrigade. - Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Altdamm, Bahn, Gartz a. O., Greifenhagen, Kammin, Neuwarp, Pasewalk, Penkun, Pölitz, Stepenitz, S., Swinemünde, Ückermünde und Wollin. Geschichte. S. ist schon im 11. Jahrh. gegründet worden, erscheint aber erst im 12. Jahrh., seit der Zerstörung von Jumne durch die Dänen, als der erste Seehandelsplatz an der Oder. Von Herzog Barnim I. erhielt es 1243 Stadtrecht. Seit 1107 war es Sitz eines pommerschen Fürstenhauses und blieb es, den Zeitraum von 1464 bis 1532 abgerechnet, bis zum Aussterben der einheimischen Dynastie. 1360 trat es dem Hansabund bei und nahm 1522 die Reformation an. Hier wurde im Dezember 1570 ein Friede zwischen Schweden und Dänemark unter Vermittelung des Kaisers geschlossen. Am 11. Juli 1630 wurde S. Gustav Adolf eingeräumt, der große Verbesserungen an der Befestigung vornahm. Im Westfälischen Frieden nebst Vorpommern an Schweden abgetreten, ward die Stadt 6. Jan. 1678 von dem Kurfürsten von Brandenburg durch Kapitulation eingenommen, aber schon 1679 an Schweden zurückgegeben. Eine abermalige Belagerung hatte sie 1713 im Nordischen Krieg von den verbündeten Russen und Sachsen auszuhalten, wurde infolge einer Übereinkunft (29. Sept.) von Preußen und Holstein besetzt und erst im Frieden von Stockholm 1720 nebst Vorpommern an Preußen abgetreten. Nach der Katastrophe von 1806 ward die Festung 29. Okt. vom General v. Romberg ohne Widerstand den Franzosen übergeben, die sie bis 5. Dez. 1813 besetzt hielten. Durch das Reichsgesetz über den Umbau der deutschen Festungen (19. Mai 1873) ist die Festung S. aufgehoben. Vgl. Thiede, Chronik von S. (Stett. 1849); Berghaus, Geschichte der Stadt S. (Wriezen 1875-76, 2 Bde.); Th. Schmidt, Zur Geschichte des Handels und der Schiffahrt Stettins 1786-1846 (Stett. 1875); K. F. Meyer, S. zur Schwedenzeit (das. 1886); W. H. Meyer, S. in alter und neuer Zeit (das. 1887). Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 12,074 qkm (219,29 QM.) mit (1885) 728,046 Einw. (darunter 709,671 Evangelische, 8871 Katholiken und 6832 Juden) und 13 Kreise: Kreise QKilom. QMeil. Einwohner Einw. auf 1 qkm Anklam 648 11,77 31088 48 Demmin 984 17,87 46464 47 Greifenberg 764 13,88 36257 47 Greifenhagen 964 17,51 52158 54 Kammin 1135 20,63 43626 38 Naugard 1228 22,30 55208 45 Pyritz 1045 18,98 43968 42 Randow 1316 23,90 109462 83 Regenwalde 1190 21,61 46036 40 Saatzig 1220 22,16 66688 55 Stettin (Stadt) 60 1,09 99543 - Ückermünde 831 15,09 48693 59 Usedom- Wollin 689 12,51 48855 71 Stettiner Haff, s. Pommersches Haff. Steub, Ludwig, Schriftsteller, geb. 20. Febr. 1812 zu Aichach in Oberbayern, siedelte mit seinen Eltern später nach München über und studierte daselbst erst Philologie, dann aber Rechtswissenschaft. 1834 ging er nach Griechenland, wo er erst eine Stelle im Büreau der Regentschaft zu Nauplia, dann auf dem Staatskanzleramt zu Athen bekleidete und bis 1836 blieb. Nach seiner Rückkehr, die ihn über Rom, Florenz und Venedig führte, ließ er sich in München nieder, wurde hier 1845 zum Anwalt, 1863 zum Notar ernannt und starb 16. März 1888. Steubs Schriften behandeln vorzugsweise die ethnographischen und kulturhistorischen Verhältnisse der Alpenländer; hierher gehören zunächst: "Über die Urbewohner Rätiens und ihren Zufammenhang mit den Etruskern" (Münch. 1843); "Zur rätischen Ethnologie" (Stuttg. 1854); "Die oberdeutschen Familiennamen" (Münch. 1870); "Onomatologische Belustigungen aus Tirol" (Innsbr. 1879); "Zur Namens- und Landeskunde der Deutschen Alpen" (Nord l. 1885) und "Zur Ethnologie der Deutschen Alpen" (Salzb. 1887). Mit vielem Glück hat S. Steuben - Steuerbewilligung. Ergebnisse strenger Forschung in das Gewand des gefällig unterhaltenden Reisebildes zu kleiden gewußt, so in: "Drei Sommer in Tirol" (Münch. 1846; 2. Aufl., Stuttg. 1871, 3 Bde.); "Aus dem bayrischen Hochland" (das. 1850); "Das bayrische Hochland" (Münch. 1860); "Wanderungen im bayrischen Gebirge" (das. 1862); "Herbsttage in Tirol" (das. 1867); "Altbayrische Kulturbilder" (Leipz. 1869); "Lyrische Reisen" (Stuttg. 1878) und "Aus Tirol" (das. 1880). Eine Frucht seines Aufenthalts in Griechenland waren die "Bilder aus Griechenland "(Leipz. 1841, 2. Ausg. 1885). Außerdem veröffentlichte er Belletristisches, wie: "Novellen und Schilderungen" (Stuttg. 1853), "Deutsche Träume", Roman (Braunschweig 1858, 3 Bde.), die Erzählungen: "Der schwarze Gast" (Münch. 1863), "Die Rose der Sewi" (Stuttg. 1879), die Lustspiele: "Das Seefräulein" und "D1e Römer in Deutschland" (1873), "Sängerkrieg in Tirol", Erinnerungen aus den Jahren 1842-44 (Stuttg. 1882), u. a. Seine "Kleinern Schriften" erschienen gesammelt Stuttgart 1873-75, 4 Bde.; seine "Gesammelten Novellen" daselbst 1881 (2. Aufl. 1883). In der "Deutschen Bücherei" erschien von ihm: "Mein Leben" (mit Anhang von Felix Dahn: "Über Ludwig S.", Bresl. Steuben, 1) Friedrich Wilhelm von, amerikan. General, geb. 15. Nov. 1730 zu Magdeburg, wo sein Vater preußischer Ingenieurhauptmann war, trat 1747 als Fahnenjunker in das preußische Infanterieregiment Lestwitz, ward 1753 Leutnant, machte den Siebenjährigen Krieg meist als Adjutant mit Auszeichnung mit, nahm nach dem Ende desselben als Kapitän seinen Abschied, ward Hofmarschall des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen und trat 1775 als Oberst in badische Dienste. Er begab sich 1777 auf Veranlassung des französischen Ministers Saint-Germain und Beaumarchais' nach Nordamerika, wo er 1778 als Generalmajor und Generalinspektor der Armee in die Dienste der Vereinigten Staaten trat, erwarb sich um die Disziplinierung, die Organisation und die Einübung der Truppen große Verdienste, war auch zeitweilig Generalstabschef Washingtons, der ihn besonders hochschätzte, und beteiligte sich in hervorragender Weise am Entwerfen der Operationspläne. 1780 ward er Greenes Generalquartiermeister in Virginia, wo er auch selbständig operierte und mit kleinen Mitteln bedeutende Erfolge errang. Trotz seiner Verdienste mußte er nach Beendigung des Kriegs sieben Jahre warten, ehe der Kongreß seinen Ansprüchen auf Entschädigung seiner Verluste und eine Pension einigermaßen gerecht wurde; doch machten ihm einige Staaten Landschenkungen. S. lebte nach seiner Verabschiedung teils in New York, teils aus seiner Farm in Oneida County, wo er 28. Nov. 1794 starb. Vgl. F. Kapp, Leben des amerikanischen Generals F. W. v. S. (Berl. 1858). 2) Karl von, franz. Maler, geb. 19. April 1788 zu Bauerbach in Baden, bildete sich in Paris unter David und Gros und malte nach dem Vorbild dieser Meister eine große Zahl von Geschichtsbildern von theatralischer Haltung, darunter Peter d. Gr. in einem Sturm auf dem Ladogasee (1813), der Schwur auf dem Rütli, Tell den Nachen von sich stoßend, Peter d. Gr. als Kind durch seine Mutter vor den aufständischen Strelitzen gerettet, Napoleons I. Rückkehr von Elba und Napoleons I. Tod, die Schlachten von Tours, Poitiers und Waterloo (im Museum zu Versailles) u. a. Er starb 21. Nov. 1856 in Paris. Steubenville (spr. stuhbenwill), nach Steuben 1) benannte Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Ohio, hat lebhaften Verkehr, eine höhere Schule, ein sehr geschätztes Seminar für Mädchen und (1880) 12,097 Einw. In der Nähe sind Kohlengruben. Steud., bei botan. Namen Abkürzung für H. Steudner (s. d.). Steudner, Hermann, Naturforscher und Afrikareisender, geb. 1832 zu Greiffenberg in Schlesien, studierte in Berlin und Würzburg Botanik und Mineralogie und ließ sich dann durch Barth zur Teilnahme an der deutschen Expedition nach den Nilländern unter Heuglin gewinnen. Er begleitete denselben 1861 über Massaua und Keren (im Lande der Bogos) nach Adoa, Gondar und südlich davon über Magdala hinaus bis zum Kriegslager des Kaisers Theodoros bei Edschebet. Die Rückreise erfolgte vom Tsanasee ab in nordwestlicher Richtung zum Blauen Nil und nach Chartum. 1863 reiste er wieder mit Heuglin und im Anschluß an die Tinnésche Expedition von Chartum nach dem Bahr el Ghasal und zum See Reck; bei seinem weitern Vorgehen aber nach Westen über den Djurfluß erlag er in dem Dorf Wau 1863 einer Krankheit. Seine sorgfältigen Berichte (in der "Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" 1862-64) sind um so wichtiger, als weite von ihm bereiste Strecken vorher von einem Botaniker von Fach noch nicht durchforscht waren. Steuer, s. Steuerruder. Steuerabwälzuug, s. Steuer, S. 312. Steuerbewilliguug und Steuerverweigerung ist als Recht der Volksvertretung nicht erst mit der konstitutionellen Staatsform anerkannt worden. Die Entstehung dieser Befugnis reicht vielmehr viel weiter zurück. Den mittelalterlichen Ständen in den einzelnen deutschen Territorien, welche allerdings nicht die Gesamtheit des Volkes, sondern nur gewisse bevorzugte Klassen desselben vertraten, stand sie unbestritten zu. Aus dem Recht, Steuern zu bewilligen, d. h. ihre Erhebung zuzulassen, entwickelte sich aber auch ein Recht der Mitwirkung bei ihrer Verwendung, und so entstand das parlamentarische Budgetrecht. In England unterscheidet man dabei einen festen und einen beweglichen Teil des Staatshaushalts. Zu dem festen Teil gehören alle diejenigen Einnahmen, welche durch Gesetz auf unbestimmte Zeit, d. h. auf so lange bewilligt sind, bis sie durch ein andres Gesetz aufgehoben werden, und alle diejenigen Ausgaben, welchedem Betrag nach gesetzlich feststehen. Von den Ausgaben für das Heer abgesehen, welche in England alljährlich neu bewilligt werden müssen, gehören die meisten Staatsausgaben dem festen Teil des Budgets an. Dieser feste Teil unterliegt der jährlichen Bewilligung nicht. Das Recht des Unterhauses bei Feststellung des Staatshaushalts besteht nur in folgenden Befugnissen: jeder neuen von der Regierung geforderten Steuer, jeder Verlängerung einer nur periodisch oder auf einen bestimmten Zeitraum eingeführten Steuer, jeder Erhöhung oder Abänderung bestehender Steuern die Zustimmung versagen zu können und in dem beweglichen Teil der Staatsausgaben die von der Regierung geforderten Beträge im einzelnen abzusetzen oder zu streichen. Je nach der Richtung, in welcher diese Befugnisse ausgeübt werden, spricht man von einer Bewilligung oder Verweigerung der Steuern. Diese beiden Rechte sind offenbar Korrelate: man kann nur bewilligen, was man auch verweigern dürfte. Die meisten Verfassungen enthalten gegenwärtig die Bestimmung, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Staats jährlich auf den Staatshaushaltsetat gebracht und dort bewilligt werden müssen. Infolgedessen kann ein Steuerbord - Steuern. Widerspruch zwischen einem Gesetz und einem Geldbewilligungsbeschluß entstehen und damit ein Konflikt, dessen Lösung nicht durch eine Interpretation des geltenden Rechts herbeigeführt, sondern der als eine Machtfrage behandelt wird. Ein solcher Konflikt war der preußische "Militärkonflikt", der von 1862 bis 1866 währte. übrigens bleiben Steuergesetze, welche auf die Dauer erlassen sind, so lange wirksam , bis sie auf verfassungsmäßigem Weg wieder aufgehoben werden; gleichviel ob das Budget zu stande kommt oder nicht. Dies ist z. B. in der preußischen Verfassungsurkunde (Artikel 109) ausdrücklich anerkannt. Um der Volksvertretung ein wirksames Recht der S. u. S. zu geben, ist notwendig, daß wenigstens Eine periodische und bewegliche Steuer vorhanden sei, durch deren Bewilligung oder Verweigerung die Volksvertretung einen Einfluß auf die beweglichen Ausgaben gewinnt. Im Deutschen Reich ersetzen die Matrikularbeiträge diese periodische, bewegliche Steuer, und durch sie übt der Reichstag ein Recht der S. u. S. Vgl. Gneist, Budget und Gesetz (Berl. 1867); Laband, Das Budgetrecht (das. 1871). Steuerbord, die rechte Seite des Schiffs, wenn man in der Richtung von hinten nach vorn sieht. Der Ausdruck stammt daher, daß der Steuermann eines mit einem Riemen oder losen Ruder gesteuerten Fahrzeugs seinen Platz an dessen hinterm Ende auf dieser Seite hatte. Vgl. Bord. Steuerbuch, s. v. w. Kataster (s. d.). Steuereinheit, die Maßeinheit der Gegenstände, für welche die Steuer ausgeworfen ist; dieselbe kann, wie bei spezifischen Zöllen, in Stückzahl, Maß oder Gewicht (100 kg) oder, wie bei Wertzöllen und den meisten Steuern, in einer Geldsumme angegeben sein. Auch ist S. s. v. w. einfacher Steuersatz oder Simplum, d. h. gleich der Summe, welche als normale Steuerhöhe für die Einheit der Steuerbemessungsgrundlage angegeben ist und je nach Bedarf des Staats in einem mehrfachen Betrag zur Erhebung gelangt. Das Steuersimplum hat besonders seine Bedeutung für die Fälle, in welchen ein eignes Steuerkapital (s. d.) berechnet oder überhaupt eine Steuer als bewegliche in der Art benutzt wird, daß dieselbe eine Ergänzung der übrigen Steuern bildet. Letzteres ist der Fall bei der englischen Einkommensteuer, welche vorzüglich zur Deckung von etwanigem Mehrbedarf bestimmt ist, während die preußische Einkommensteuer in einem festen Prozentsatz vom Einkommen erhoben wird. Steuerfundation, Steuerdeckung, die Sicherung, welche gegen Entwertung von Staatspapiergeld dadurch geboten wird, daß dasselbe an öffentlichen Kassen an Zahlungs Statt angenommen wird, allenfalls in Verbindung mit dem Zwang, daß bei Meidung eines Strafagios wenigstens ein Teil der Steuern in Papiergeld (s. d.) entrichtet werden muß. Steuerfuß, das Verhältnis der Steuer zu derjenigen Summe, von welcher sie erhoben wird. So ist, wenn von einem Einkommen von 4-5000 Mk. 100 Mk. entrichtet werden, der S. gleich 0,020-0,025 oder, auf 100 als Einheit bezogen, gleich 2-2,5 Proz. Auch wird die Summe, welche von der Einheit der Bemessungsgrundlage, mag dieselbe in einer Geldsumme bestehen oder nicht, als S. bezeichnet. Insofern wird auch von einem S. bei dem Dimensionsstempel (s. Stempel) oder bei Zöllen gesprochen, welche nach Maß, Gewicht oder Stückzahl erhoben Steuergemeinschaft nennt man zum Zweck einer gleichmäßigen Besteuerung geschlossene Staatenverbindungen. So bilden die norddeutschen Gliederstaaten mit Elsaß-Lothringen eine S. für Erhebung wichtiger Verbrauchssteuern. Steuerkapital, bei verschiedenen direkten Steuern die Summe, für welche die Steuer als ein Bruchteil in der Art ausgeworfen ist, daß die relative Steuerhöhe (Steuerfuß) für alle steuerpflichtigen Personen oder Gegenstände als gleich erscheint. Ein S. wird vorzüglich zu dem Zweck berechnet, um in Fällen, in welchen es an einem Vergleichsmaßstab für verschiedene Steuern fehlt, eine Einheit zu schaffen und dann nach Bedarf für alle gleichmäßig die Steuer in einem Ansatz erhöhen oder herabsetzen zu können. Die Einkommensteuer kann in der Art ausgeworfen werden, daß in einer Tabelle die Summen (Prozente) angegeben sind, welche von den verschiedenen Einkommenshöhen erhoben werden. Nach Bedarf könnte ein Mehrfaches aller Prozente einverlangt werden. Zahlt man z. B. von 6000 Mk. 3 Proz., von 1000 Mk. 1 Proz., und muß die Einnahme auf das Doppelte gesteigert werden, so erhebt man einfach im einen Fall 6, im andern 2 Proz. Statt dessen kann aber auch der Prozentsatz scheinbar gleich gemacht werden. So könnte, wenn 1000 Mk. das niedrigste noch zu besteuernde Einkommen ist, die Summe als Einheit angenommen werden, von welcher 10 Mk. als Steuersimplum (1 Proz.) zu erheben sind. Von 6000 Mk. wären für gewöhnlich 3 Simpeln zu bezahlen. Um aber auch hier auf 1 Simpel zu kommen, beziffert man das S. für ein Einkommen von 6000 Mk. auf 18,000 Mk., von welchen ein Simplum sich auf 180 Mk. stellt. Seine eigentliche Bedeutung gewinnt aber die Aufstellung eines Steuerkapitals für diejenigen Steuern, welche nach äußern Merkmalen gemessen werden; so insbesondere für die Gewerbesteuer, zumal wenn diese Steuern mit progressivem Steuerfuß angelegt sind. Man bestimmt dann Steuerkapitalien für gewerbliche Unternehmungen, Grund und Boden, Gebäude, ferner für andre Einkommensquellen mit genau bestimmbaren Erträgen und erhält eine Gesamtsumme für das ganze Staatsgebiet, von welcher der Normalbedarf das Simplum (berechnet für 100 oder 1000) ausmacht. Ist der Bedarf m-mal so groß, so werden m Simpla ausgeschrieben und Steuerkontingent, der bestimmte von einer Gesamtheit von Pflichtigen und auf die letztern zu verteilende Steuerbetrag, s. Kontingentierung der Steuern. Steuerkredit, s.Steuern, S. 313, vgl. auch Steuermann, auf Kriegsschiffen der Deckoffizier, welcher unter Verantwortlichkeit des wachthabenden Offiziers die Navigierung des Schiffs leitet, das Steuern beaufsichtigt, loggt und den Wachthabenden bei Beobachtungen unterstützt. Auf Handelsschiffen steht der S. zunächst unter dem Kapitän, beaufsichtigt das Steuern, die Takelung, das Ankergerät etc. Er muß im Stande sein, alle Instrumente und die Seekarten richtig zu benutzen und das Schiff bei jedem Wetter zu manövrieren; im Notfall vertritt er den Kapitän. Er erwirbt seine Qualifikation durch eine reichsgesetzlich geregelte Prüfung für große oder kleine Fahrt. Vgl. Marine, Steuern im weitern Sinn sind alle nicht auf privatrechtlichem Titel beruhenden Abgaben, welche die Angehörigen einer öffentlich-rechtlichen Gemeinschaft an die letztere entrichten. Sie umfassen somit auch Gebühren, Strafgelder etc. sowie solche Abgaben, deren Zweck keineswegs eine Einnahmebeschaffung ist (sogen. Polizeisteuern, echte Luxussteuern, welche den Luxus hindern sollen, etc.). Heute versteht man unter denselben Beiträge, welche zum Zweck allgemeiner Ko- Steuern (Allgemeines, Steuerpolitik). stendeckung der Staats- oder Gemeindewirtschaft von Staats- oder Gemeinde- (Kreis- etc.) Angehörigen sowie von im Staatsgebiet sich aufhaltenden Ausländern zwangsweise erhoben werden. Dadurch, daß die S. nicht zur Vergütung eines durch den Zahlenden veranlaßten Aufwandes dienen sollen, unterscheiden sich dieselben von den Gebühren. Bisweilen wird verlangt, die Besteuerung solle auch als Mittel benutzt werden, um eine für die untern Klassen günstigere Verteilung des Einkommens zu bewirken (sogen. sozialpolitische Seite der S.). Während heute der Zwang ein Merkmal der Steuerbegriffs bildet, war derselbe dem letztern früher in Deutschland so fremd, daß V. L. v. Seckendorff in seinem "Deutschen Fürstenstaat" von 1656 die S. als "Extraordinar Anlagen" bezeichnete, welche "freywillig und als guthertzige Beysteuern gereichet, und dahero auch in etlichen Orten Bethen (nach andrer Schreibweise Beden oder Beeden), das ist erbetene Einkünffte, anderswo auch Hülffen und Praesente genennet werden". Diese Beden (petitiones, precariae, Heischungen) wurden in Geld oder Naturalien entrichtet. Ritter und Geistliche waren davon meist befreit. In außerordentlichen Fällen wurden sogen. Notbeden gefordert. Auch Städte zahlten oft Beden (Orbede) an den Landesherrn. Auferlegte S. (Auflagen) wurden von den Germanen früher als ein Zeichen der Unfreiheit betrachtet; noch in den ersten Zeiten des Mittelalters durften die auf dem Reichstag bewilligten S. nur von denen erhoben werden, die sie bewilligt hatten. Übrigens waren die S. auch in der ältern germanischen Zeit durch die Sitte mehr oder weniger gebotene Beiträge, welche in der Zeit, als der Staatsgedanke mehr von privatrechtlichen Elementen durchsetzt war, vertragsmäßig geregelt wurden (Ordinarsteuern). Bei außerordentlichen Beihilfen (Extraordinarsteuern) ließen sich die Landstände landesfürstliche Reversbriefe ausstellen, "daß solche Bewilligungen künfftig zu keiner ordentlichen Beschwerung oder Aufflage gereichen sollten". Die Einnahmen aus S. flossen in die der Aufsicht und Kontrolle der Landstände unterstellte Steuerkasse, während die von den Landständen unabhängige Kammerkasse die Einnahmen aus Domänen und Regalien aufnahm. In den modernen Kulturstaaten unterliegt die Besteuerung und die Verwendung der S. verfassungsmäßiger Regelung und Bewilligung. Die durch Geburt, Ernennung und Wahl bestimmten gesetzgebenden Gewalten ordnen die S. an, während der einzelne Staatsangehörige sich solcher Anordnung zu fügen hat (Steuerrecht des Staats, Steuerpflicht des Staatsangehörigen). Vertritt hierbei die Regierung mit ihren Anforderungen das Interesse der Verwaltung, so wahrt die Volksvertretung mit ihrem Steuerbewilligungsrecht dasjenige der Steuerzahler. Dem Steuerbewilligungsrecht entspricht das nicht dem einzelnen Steuerzahler, sondern der Volksvertretung zustehende Recht der Steuerverweigerung. Doch wird dies Recht nicht allein durch die gesetzlich feststehenden Ausgaben, sondern überhaupt durch die Notwendigkeit der Staatserhaltung praktisch beschränkt. Die Praxis (in England) und das formale Recht (in Deutschland) fassen das Steuerbewilligungsrecht auch nur in diesem Sinn auf. Darum bleiben Steuergesetze, welche nicht für einen bestimmten Zeitraum erlassen werden, so lange bestehen, als sie nicht auf verfassungsmäßigem Weg (Übereinstimmung der gesetzgebenden Gewalten) aufgehoben werden, während für Einführung neuer S. die Bewilligung der Volksvertretung erforderlich ist (vgl. Budget). Steuerpolitik Eine gute Steuerpolitik stellt folgende Anforderungen: I. Im Interesse einer geordneten, echt staatswirtschaftlichen Bedarfsdeckung soll 1) die Steuer sich als ausreichend erweisen. 2) Ihr Ertrag soll genügend genau voraus bestimmbar sein und auch pünktlich und sicher eingehen. 3) Die S. müssen fähig sein, sich dem wechselnden Bedarf des Staats anzupassen, ohne daß ihre Erhöhung oder Erniedrigung anderweite Nachteile (z. B. Störungen der Verkehrs- und Erwerbsordnung) im Gefolge hat. II. Im Interesse der Steuerzahler liegt es, daß 1) die Gesamtlast der Steuer richtig verteilt ist. Es soll demgemäß sein a) die Steuerpflicht eine allgemeine und zwar als subjektive, indem sie alle steuerpflichtigen Personen, als objektive, indem sie alle pflichtigen Gegenstände erfaßt. Steuerfreiheiten (Exemtionen, Steuerprivilegien) widersprechen dem herrschenden Gerechtigkeitsgefühl. Früher vielfach von privilegierten Ständen nicht allein für ihren Grundbesitz, sondern auch für indirekte Abgaben in Anspruch genommen, sind die Steuerfreiheiten in der neuern Zeit meist (bei Grundsteuern in der Regel gegen Gewährung von Entschädigung) aufgehoben worden. Dauernde Freiheiten von direkten S. (allen, bez. einzelnen) genießen heute meist das Staatsoberhaupt (in Preußen auch die 1866 depossedierten Fürstenhäuser), ehemals reichsunmittelbare Standesherren (in Preußen nur für ihre Domanialgrundstücke), Gesandte fremder Mächte, Offiziere für den Fall der Mobilmachung, Beamte für einen Teil der Gemeindesteuer. Dann wird freigelassen nicht allein der Arme, sondern auch von der Einkommensteuer das sogen. Existenzminimum in England bis zu 150 Pfd. Sterl., in Preußen bis zu 900 Mk. Vorübergehende Befreiungen, insbesondere von Ertragssteuern, treten oft ein, wo sie durch die persönliche Lage (thatsächlich mangelnde Steuerfähigkeit), Elementarereignisse, Meliorationen mit zeitweiliger Ertragslosigkeit auch wirklich geboten ist. Aber auch Doppelbesteuerungen sind zu meiden. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich bei Beachtung eines gegebenen Steuersystems, wer als pflichtiges Steuersubjekt (Inländer gegenüber Ausländern, die Frage des abgeleiteten Einkommens, der Besteuerung von Gesellschaften, Stiftungen, Gemeinden etc.) durch die Steuer zu erfassen ist. b) Die Steuer soll gleichmäßig verteilt und gerecht sein. Die ältere Vergeltungstheorie betrachtete die Besteuerung als eine gerechte, wenn sie dem Vorteil entspreche, den der Steuerzahler von der Staatsverbindung habe (Leistung gleich der Gegenleistung). Dabei nahm man meist an, daß der Staat dem Reichen nach Maßgabe seines Reichtums mehr Vorteile biete als dem Armen. So gelangen wir praktisch zu dem meist vertretenen Steuerprinzip, welches die Steuerfähigkeit als richtigen Maßstab für die Steuerverteilung betrachtet. Meist wird jetzt verlangt, daß der Unkräftige freibleibe (Freilassung des Existenzminimums, die nicht bei allen S. möglich, bei Aufwandssteuern durch Wahl der Objekte angestrebt werden kann). Dann sollen die Steuerkräftigen verhältnismäßig stärker belastet werden, indem, wenigstens bei kleinem und mittlerm Einkommen, individuelle Verhältnisse (Krankheit, Stärke der Familie etc.) berücksichtigt werden, das fundierte Einkommen höher belastet wird. Streitig ist die Frage des Steuerfußes, d. h. hier des Verhältnisses von Gesamtsteuer des Pflichtigen zu dessen Gesamteinkommen. Von der einen Seite wird diejenige Steuer als gerecht bezeichnet, welche vom Einkommen einen gleichbleibenden Prozentsatz wegnehme Steuern (Steuersysteme). (konstanter Steuerfuß), von der andern diejenige, welche das höhere Einkommen auch mit einem höhern Prozentsatz belaste (progressiver Steuerfuß, progressive Steuer). Die Idee der Progression findet mehrfach praktische Anwendung in der Einkommensteuer. Doch kann dieselbe immer nur darin bestehen, daß der Steuerfuß, wenn auch steigend, eine gewisse Höhe nicht überschreitet. weil sonst die bald übermäßig hoch werdende Steuer schädlich wirken würde. Infolgedessen wird sich bei großer Verschiedenheit des Einkommens die Steuer immer nur derart gestalten können, daß der Steuerfuß von unten auf steigend bei einer gewissen Einkommenshöhe einen gleichbleibenden Satz erreicht (degressiver Steuerfuß, degressive Steuer). Bei der Aufwandsteuer läßt sich die Progression durch entsprechende Auswahl der Steuerobjekte, höhere Belastung der bessern Qualitäten anstreben. Ob sie im ganzen verwirklicht wird, hängt von der Gestaltung des Steuersystems ab. c)Die Steuer soll den Pflichtigen richtig erfassen. Viele S. werden in der Absicht aufgelegt, daß dieselben vom Zahler auf eine dritte Person übergewälzt werden (durch Abzug von Zahlungen, Erhöhung des Kaufpreises). Nicht immer sind solche überwälzungen möglich, auch können sie vorkommen, wo sie der Absicht des Gesetzgebers widersprechen. Die dadurch entstehenden Steuerprägravationen (einseitigen Steuerüberbürdungen), bez. Steuerfreiheiten sind möglichst durch richtige Wahl der S. und zweckmäßige Ausführung der Besteuerung zu mindern. Von der Steuerüberwälzung (als Rückwälzung vom Käufer auf den Verkäufer als Fortwälzung von diesem auf jenen) ist die sogen. Steuerabwälzung zu unterscheiden, welche darin besteht, daß der Steuerzahler die Steuer durch wirtschaftliche Verbesserungen ausgleicht. 2) Die Steuer soll ferner die wirtschaftliche Lage von Steuerzahler und Steuerträger, Erwerb und Verkehr nicht verkümmern. Dem entsprechend sind einseitige Steuerüberlastungen zu meiden und geeignete Besteuerungsformen III. Bezüglich der Erhebung ist endlich im Interesse von Verwaltung und Steuerzahler zu fordern: I) Einfachheit und Bestimmtheit der Steuer. Viele Steuervergehen werden unbewußt begangen, weil die S. und die Steuerbestimmungen zu verwickelt und unklar sind. 2) Möglichste Bequemlichkeit in Bezug auf Ort, Zeit und Art der Entrichtung. Der Zahlungsort soll dem Wohnort des Pflichtigen nicht zu entlegen sein. Die Steuer soll möglichst in der Zeit der Zahlungsfähigkeit erhoben werden, darum richtige Einteilung der Steuertermine, Zulassung von Steuerkrediten, wenn ohnedies die frühere Erhebung nur der formellen, nicht der tatsächlichen Fälligkeit der Steuer entspricht (Rohstoffbesteuerung), ferner von Vorauszahlungen und Teilzahlungen. Die Erhebungsform soll mit ihrer Aufsicht, ihren Kontrollen und Vorschriften möglichst wenig lästig fallen. 3) Die Erhebungskosten sollen möglichst niedrig sein. 4) Die Steuer soll dem Reize zu Umgehungen (Ersatz besteuerter Verbrauchsgegenstände, Handlungen etc. durch unbesteuerte), Hinterziehungen (milder Ausdruck für zu niedrige Steuerfassion), Unterschleif, Schmuggel, Bestechung keinen Spielraum gewähren. Es gibt nun keine Steuer, welche allen diesen Anforderungen gleich vollkommen entspricht. Die gesamte Leistungsfähigkeit läßt sich nicht direkt voll erfassen, weil dieselbe für Dritte nicht genau erforschbar ist, vom Steuerpflichtigen aber richtige Angaben nicht zu erwarten sind. Die Besteuerung von Einkommen, bez. Ertrag würde weder zureichen, den gesamten Staatsbedarf ohne einseitigen Druck zudecken, noch eine gleichmäßige Verteilung der gesamten Steuerlast zu bewirken. Diese Steuer darf demnach eine gewisse Grenze nicht überschreiten und muß eine Ergänzung in der indirekten Steuer finden. Steuersysteme. Als indirekte Steuer (Aufschlag, in Österreich auch Steuergefälle genannt) wird meist eine solche verstanden, welche dem Steuerzahler in der Absicht aufgelegt wird, daß derselbe sie auf eine dritte Person, den Steuerträger, überwälze, während bei der direkten Steuer (Schatzungen) Zahler und Träger eine und dieselbe Person ist. Da die Erhebungsform der Aufwandsteuern vorwiegend eine indirekte ist, so bezeichnet man dieselben meist schlechthin als die indirekten S. und rechnet denselben vielfach noch die Gebühren und Verkehrssteuern hinzu, während die Ertragssteuern, die Personal- und Einkommensteuern und die allgemeinen Vermögenssteuern als direkte S. zusammengefaßt werden. Von dieser Auffassung weichen andre wesentlich ab. Hoffmann("Lehre von den S.") bezeichnete als direkte S. solche, die auf den Besitz, als indirekte solche, die auf eine Handlung gelegt werden; Conrad nennt indirekte S. diejenigen, bei denen man von den Ausgaben auf die Einnahmen und somit indirekt auf die Leistungsfähigkeit schließt, während bei direkten S. vom Besitz oder von den Einnahmen unmittelbar die Leistungsfähigkeit geschätzt wird. Aus dem genannten Grund war man von jeher dazu gezwungen, mehrere S. miteinander zu verbinden, von denen eine die andre zu ergänzen bestimmt ist. Entspricht die Gesamtwirkung derselben den Grundsätzen der Besteuerung, so bilden die S. ein einheitliches organisches Steuersystem. Im praktischen Leben kommen folgende S. nebeneinander vor: 1) S., welche auf Produktions- und Erwerbsquellen gelegt werden, deren Erträge zu treffen bestimmt sind und demgemäß Ertragsteuern (s. d.) genannt werden. Dieselben sind echte Realsteuern, wenn sie auf die persönlichen Beziehungen des Besitzers zur Steuerquelle (Schulden, Möglichkeit einer sehr vorteilhaften Ausnutzung infolge persönlicher Tüchtigkeit, günstiger sozialer Stellung u. dgl., oder Schwierigkeit einer vorteilhaften Benutzung wegen Krankheit, Überbürdung mit andern Aufgaben, große Entfernung vom Wohnsitz etc.) gar keine Rücksicht nehmen. Eine folgerichtig durchgeführte Ertragsbesteuerung würde die gesamten Reinerträge, welche ein Volk zieht, und damit im wesentlichen auch das gesamte Einkommen desselben treffen. In der Praxis freilich kommt eine derartige Besteuerung nicht vor. Werden doch in den meisten Ländern wichtige Produktionsquellen von einer Ertragssteuer nicht belastet. Dann kommen bei Ertragssteuern leicht Doppelbesteuerungen vor, wenn bei denselben nicht scharf zwischen Real- und Personalsteuer unterschieden wird. Erträge werfen nun ab das Kapital und die Arbeitskraft. Bei jeder Unternehmung wären zu treffen alle Bezüge, welche den an der Unternehmung beteiligten Personen zufließen können, also der Unterschied zwischen dem gesamten Rohertrag und denjenigen Aufwendungen, welche für den Zweck der Produktion gemacht werden, ohne jenen Personen einen Genuß zu ermöglichen (Rohstoffe, Heizstoffe, Saatfrucht, Dünger etc.). Dieser Unterschied umfaßt die für die Arbeit gezahlten und berechneten Löhne, die gezahlten und zu berechnenden Kapitalzinsen und den dem Unternehmer verbleibenden Überschuß. Trifft man Steuern (Veranlagung und Erhebung). denselben mit einer Art Unternehmungssteuer voll bei jedem Unternehmer, so brauchen die Löhne und die Zinsen der Leihkapitalien nicht noch besonders belastet zu werden. Kommen dagegen die Löhne in Abzug, so ist die Arbeitskraft als Ertragsquelle noch für sich zu besteuern. Ein vollständiges Ertragssteuersystem müßte alsdann treffen die Erträge: a) aus Grund und Boden (s. Grundsteuer); b) von Häusern (s. Gebäudesteuer); c) aus allen sonstigen gewerblichen und industriellen Unternehmungen (s. Gewerbesteuer); d) aus der Arbeit (s. Lohnsteuer). Wird unter diesem Titel nur die vermietete Arbeitskraft besteuert, so sind die aus der eignen Unternehmung gezogenen Arbeitserträge unter den Titeln von Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer zu treffen. Mehrere Länder besteuern nun noch besonders e) die aus Leihkapitalien fließenden Zinsen (s. Kapitalrentensteuer). Voraussetzung hierfür aber ist, daß bei den Ertragsstenern die Verschuldung berücksichtigt wird. Je mehr nun die S., welche die Reinerträge eines ganzen Erwerbskörpers (Fabrik, Landgut) treffen sollen, auf die einzelnen Personen gelegt werden, auf welche sich jene Erträge verteilen, desto mehr nimmt die Realsteuer den Charakter einer Personalsteuer an. Ganz vorzüglich ist dies der Fall, wenn die Steuer außerdem nicht nach den allgemein möglichen, sondern nach den wirklichen Erträgen bemessen wird. 2) S. auf persönliches Einkommen. Dieselben sind Personalsteuern, weil sie die Leistungsfähigkeit der einzelnen Personen treffen. Ist die Steuer auf das Gesamteinkommen gelegt, so nennt man sie allgemeine Einkommensteuer. (s. d.). Eine Abart derselben ist die Rang- oder Klassensteuer (s. d.), bei welcher nicht direkt das wirkliche Einzeleinkommen ermittelt, sondern aus äußern Merkmalen, welche zu Gruppenbildungen Veranlassung geben, auf die persönliche Leistungsfähigkeit geschlossen wird. Hierher wird auch vielfach die Kopfsteuer (s. d.) gerechnet. Dieselbe haftet allerdings an einer Person, ist jedoch mit der Realsteuer insofern verwandt, als sie einen allgemein möglichen Erwerb voraussetzt, ohne die wirkliche Höhe desselben zu berücksichtigen. Die Einkommensteuer kann jedoch auch in der Art aufgelegt werden, daß man die einzelnen Quellen desselben trifft, wie Einkommensbezüge aus Arbeit (Dienstleistungen, Hilfe bei der Produktion) und aus Besitz (Grundeigentum, Gebäude, flüssiges Kapital) und aus Verbindung von Arbeit mit Besitz (eigne Bewirtschaftung landwirtschaftlichen Geländes, Betrieb industrieller Unternehmungen etc.). Diese "partiellen Einkommensteuern" fallen mit denjenigen Ertragssteuern zusammen, welche die Erträge der Steuerquellen bei ihrer Verteilung auf die einzelnen an denselben bezugsberechtigten Personen erfassen. 3) S., welche nach Maßgabe des Aufwandes erhoben werden, welchen ein Steuerpflichtiger macht. Die wichtigsten derselben sind diejenigen, welche den Verbrauch von Sachgütern, wie Lebens- und Genußmittel (vgl. Zölle und Aufwandsteuern), treffen. Andre werden von Gebrauchsgegenständen erhoben, wie Häusern, Pferden, Hunden etc. Dann gehört hierher die Besteuerung der Ausgaben, welche für persönliche Dienstleistungen und Vergnügungen (Schaustellungen, Tanzvergnügen etc.) gemacht werden. 4) S. vom Vermögen, welche in der Wirklichkeit jedoch meist Aufwand- oder Einkommensteuern sind (vgl. Vermögenssteuern). 5) S., welche bei Gelegenheit von Handlungen und Ereignissen erhoben werden. Hierher gehören die Gebührensteuern (s. Gebühren), die Verkehrssteuern (s. d.), einschließlich der Erbschaftssteuern (s. d.). 6) S., welche ganz oder teilweise die Stelle anderweiter dem Staat schuldiger Leistungen vertreten. Dazu gehört insbesondere die Wehrsteuer (s. d.). Veranlagung und Erhebung. Die Ausführung der Besteuerung (Veranlagung, Feststellung der Steuergrundlagen und Erhebung) ist bei vielen S., zumal bei denjenigen, bei welchen sich keine bleibenden Merkmale bieten, um Steuerpflicht und Steuerschuldigkeit zu erkennen und zu bemessen, mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Zunächst handelt es sich um Feststellung des Steuersubjekts, bez. des für dasselbe haftpflichtigen Stellvertreters. Dieselbe ist einfach bei den meisten direkten S., bei welchen amtliche Nachforschung, Grundbücher, Meldezwang des Pflichtigen zur Aufstellung von Steuerlisten führen, ebenso bei vielen indirekten Verbrauchssteuern, bei welchen äußere Thatsachen und gewerbepolizeiliche Listen die Ermittelung erleichtern. Bei Zöllen und Accisen ist der Frachtführer, bez. (besonders bei dem Begleitscheinverfahren) der Eigentümer zahlungspflichtig. Bei vielen Verkehrssteuern ist durch Gesetz zu bestimmen, wer von beiden Parteien die Steuer zu entrichten hat. Bei mehreren S. fällt die Ermittelung der Steuersubjekte mit derjenigen der Steuerobjekte zusammen, von welchen S. zu entrichten sind. Großen Schwierigkeiten begegnet meist die Bewertung der Objekte, zumal wo es an äußerlich leicht erkennbaren Merkmalen und an objektiven Maßstäben fehlte. Die Bemessung kann erfolgen durch die Pflichtigen selbst (Fassion, Steuerbekenntnis bei der Einkommensteuer, der Kapitalrentensteuer, Deklaration), durch Steuergesellschaften, d. h. eine Gruppe von Steuerpflichtigen, welche eine ihr auferlegte Gesamtsumme auf die einzelnen Mitglieder verteilt, durch besondere Steuerkommissionen oder Steuerausschüsse, welche auf Grund äußerer Merkmale, von Personal- und Sachkenntnis die Einschätzung vornehmen, durch die Steuerbehörde (Steuerkommissar, Steuerperäquator etc.) selbst, bei einigen S. unter Zuziehung von Sachverständigen etc. (vgl. Kataster). Die Steuereinhebung wurde früher oft verpachtet, so in Rom, wo die Ritter gewerbsmäßig als publicani (Steuerpachter) auftraten, in Frankreich, wo die fermiers généraux (Generalpachter) die S. der Regierung vorstreckten. Doch kommt die Verpachtung heute nur noch selten vor. In manchen Fällen besorgt die Gemeinde die Erhebung, bald als einfaches Erhebungsorgan, bald mit voller Steuerhaftung, indem sie in diesem Fall oft eine Aversalsumme zahlt und diese auf ihre Mitglieder verteilt. Ebenso können dritte Personen, bei welchen sich viele Steuerschuldigkeiten konzentrieren, die Einhebung übernehmen (bei verschiedenen Gebühren und Verkehrssteuern). Meist besorgt heute der Staat die Erhebung in Regie durch eigne Steuerbeamte (Steuereinnehmer, Steuerempfänger, Steuerperzeptor etc.), insbesondere beim Zollwesen, bei verschiedenen direkten Steuern etc. Bisweilen wird hierbei unter Ersparung spezieller Berechnungen und lästiger Einzelkontrollen die Erhebung dadurch vereinfacht, daß der Steuerpflichtige eine vertragsmäßig festgesetzte Summe für eine bestimmte Periode als Steuerabfindung (Fixation) entrichtet. Im Interesse der Pflichtigen und des richtigen Steuereingangs sind nötig die amtliche Benachrichtigung und Steueransage (Zustellung von Steuerzetteln), Festsetzung von Steuerterminen und Steuerfristen, die Gewährung von Steuerkrediten (Gestattung der Zahlung zu späterer Zeit als der gesetzlich bestimmten, wenn letztere Steuerrepartition - Steuerung. eigentlich zu früh angesetzt ist) unter Sicherheitsleistung, die Einräumung des Reklamations-, Beschwerde-, Steuerklagerechts gegenüber der Einschätzung und Erhebung und die Steuerrestitution (Rückersatz, auch als Exportbonifikation) bei Zahlungen, welche über die Grenze der Steuerschuldigkeit hinausgehen. Bei ausbleibender Zahlung tritt Mahnung und Pfändung (Steuerexekution) ein, allenfalls bei augenblicklicher Zahlungsunfähigkeit die Steuerstundung, bei Uneinbringlichkeit die Niederschlagung (Steuererlaß) oder Steuerabschreibung (der Steuerrückstände oder Steuerreste), ohne solche aber auch nach bestimmter Frist die Steuerverjährung. Mittel zur richtigen Durchführung gegenüber Steuerhinterziehungen, Defraudationen etc. sind die Steuerkontrolle, die Steuerstrafe, der Steuereid, die Denunziantengebühr, die Öffentlichkeit des Steuerverfahrens, Begehung von gegensätzlichen Interessenten bei der Einsteuerung etc. Mitte der 80er Jahre waren die an direkten Steuern Mill. Mk. % an indirekten Steuern Mill. Mk. % aus andern Quellen Mill. Mk. % pro Kopf d. Bevöl-kerung Mark Deutsches Reich nebst Gliederstaaten 260 13 600 29 1240 59 30 70 Österr.-Ungarn 280 21 670 49 410 31 30 70 26,00 Rußland 250 19 780 60 270 30 25 75 11,00 Italien 310 25 590 44 410 21 36 64 29,80 Frankreich 340 14 1800 74 290 18 15 85 56,80 Großbritannien. 270 15 1170 67 310 12 21 79 41,00 Vgl. Gebühren, Zölle, Aufwandsteuern sowie die verschiedenen Artikel über die einzelnen S. [Litteratur.] Außer den unter "Finanzwesen" angegebenen Werken vgl. Hofmann, Die Lehre von den S. (Berl. 1840); v. Hock, Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Förstemann, Die direkten und indirekten S. (Nordh. 1868); Schäffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik (Tübing. 1880); Roscher, System der Finanzwissenschaft (Stuttg. 1886); Kaizl, Die Lehre von der Überwälzung der S. (Leipz. 1882); v. Falck, Rückblicke auf die Entwickelung der Lehre von der Steuerüberwälzung (Dorp. 1882); R. Meyer, Die Prinzipien der gerechten Besteuerung (Berl. 1884); Fr. J. Neumann, Die Steuer (Leipz. 1887, Bd. 1); Holzer, Historische Darstellung der indirekten S. (Wien 1888) ; Mangoldt, Das deutsche Zoll- u. Steuerstrafrecht (Leipz. 1886) ; Vocke, Die Abgaben, Auflagen und die Steuer vom Standpunkt der Geschichte etc. (Stuttg. 1887); Rousset, Histoire des impôts indirects (Par. 1883). Steuerrepartition, s. v. w. Steuerverteilung, Umlegung einer bestimmten Summe auf die einzelnen steuerpflichtigen Personen oder Gegenstände. Vgl. Repartitionssteuern und Kontingentierung der Steuern. Steuerrollen, s. Heberolle n. Steuerruder (Ruder), Vorrichtung zum Lenken des Schiffs, bestehend aus einem hölzernen oder eisernen Blatt, welches in vertikaler Ebene, drehbar am Hintersteven des Schiffs, ähnlich wie eine Thür in ihren Angeln, befestigt ist. Man unterscheidet am S. das Ruderblatt, welches sich ganz oder zum größten Teil unter Wasser befindet, und den Ruderhals mit dem Ruderkopf, welche, wenn erforderlich, wasserdicht durch die Schiffswand geführt, in den innern Schiffsraum hineinragen. Am Ruderkopf greift die Ruderpinne an, ein hölzerner oder eiserner einarmiger Hebel, oder das Ruderjoch, ein eiserner zweiarmiger Hebel. Während die Pinne gewöhnlich mit dem Ruderblatt in einer Ebene liegt, steht das Ruderjoch im allgemeinen querschiffs. Durch Drehung der Pinne oder des Jochs wird das Ruder um einen ebenso großen Winkel aus der Symmetrieebene des Schiffs herausgedreht und dadurch die Symmetrie des den Schiffskörper umgebenden Wasserstroms gestört, vorausgesetzt, daß ein solcher infolge der bis dahin geradlinigen Bewegung des Schiffs vorhanden ist. Das Schiff wird dadurch gezwungen, von seiner bisherigen Bahn in der Weise abzuweichen, daß der Mittelpunkt der vom Schwerpunkt des Schiffs beschriebenen Bahnlinie auf derjenigen Seite des Schiffs liegt, nach welcher das Ruderblatt gedreht wurde. In neuerer Zeit ist bei einzelnen größern Schiffen (König Wilhelm) das Balanceruder zur Anwendung gekommen, ein Ruder, dessen Drehachse die Fläche des Ruderblattes ungefähr in dem Verhältnis von 1:2 teilt, so daß ein Drittel des Flächeninhalts des Blattes vor der Drehachse liegt. Ein Balanceruder bedarf einer kleinern Kraft zum Drehen als ein ebenso großes gewöhnliches Ruder und kann infolgedessen schneller gedreht werden. Anderseits kehrt es nicht so schnell in seine neutrale Lage zurück wie dieses. Die Bewegung der Pinne ersolgt bei kleinern Schiffen direkt mit der Hand, bei größern Schiffen durch Flaschenzüge, Zahnradübersetzungen, Schraubenräder, hydraulische Pressen etc. Die Kraft wird am Steuerrad eingeleitet, einem mit Griffen versehenen, um eine horizontale Achse drehbaren Speichenrad, welches eventuell in mehrfacher Ausführung vorhanden sein muß, um eine größere Anzahl von Leuten zum Drehen des Ruders verwenden zu können. Der Widerstand des um einen gewissen Winkel gedrehten Ruders ist unter sonst gleichen Umständen proportional mit dem Quadrat der Schiffsgeschwindigkeit; steigert man diese auf das Doppelte, so wächst dadurch der Widerstand des Ruders auf die vierfache Größe. Es ist daher erklärlich, daß bei den neuesten Schiffen mit Geschwindigkeiten bis zu 20 Knoten und darüber zur Bewegung des Ruders Menschenkraft nicht mehr ausreicht, um das Schiff Bahnlinien von starker Krümmung beschreiben zu lassen. Dies ist die Veranlassung zur Einführung des Dampfsteuerapparats, einer kleinen, zweicylindrischen Dampfmaschine, welche die Achse der bisherigen Steuerräder nach Steuerbord oder Backbord in Rotation versetzt. Die Verrichtung des Mannes am Ruder beschränkt sich alsdann auf das Anlassen dieser Maschine in der einen oder andern Richtung und deren rechtzeitige Arretierung. Steuerüberwälzuug, s. Steuern, S. 312. Steuer- und Wirtschaftsreformer, s. Agrarier. Steuerung, Vorrichtung, mittels deren der Zufluß einer gepreßten Flüssigkeit oder Luftart zu einer Kraftmaschine und der Abfluß derselben nach ihrer Wirksamkeit so geregelt wird, daß der Gang der Maschine zu stande kommt. Die einer solchen S. benötigten Kraftmaschinen, mit Ausnahme der nur ganz vereinzelt vorkommenden sogen. rotierenden Dampfmaschinen, nehmen den Druck der Flüssigkeiten, Gase oder Dämpfe mittels eines Kolbens auf, welcher in einem Cylinder durch ebendiesen Druck hin- und hergetrieben wird. Um dies letztere zu ermöglichen, muß man den arbeitenden Dampf etc. abwechselnd gegen die eine oder andre Seite des Cylinders drücken und den verbrauchten Dampf etc. auf der der jedesmaligen Druckrichtung entgegengesetzten Steuerverein - Stewarton. Seite wieder austreten lassen. Dazu dient die S., welche in der Regel von der Maschine aus selbstthätig bewegt, seltener von Menschenhand bedient wird (z. B. bei Hebemaschinen mit direkt wirkendem hydraulischen oder Dampfcylinder, bei Dampfbremsen etc.). Man unterscheidet bei jeder S. eine innere und eine äußere S.: erstere bestehend aus irgend einer oder mehreren Absperrvorrichtungen (Ventilen, Schiebern, Hähnen, Kolben), letztere aus Exzentriks, Daumen, Wellen, Stangen, Hebeln etc. oder auch aus kleinen Cylindern mit Kolben etc., überhaupt aus Mechanismen, mittels welcher die erstern in passender Weise geöffnet oder geschlossen werden. Schieber-, Ventil- und Hahnsteuerungen werden besonders bei Dampfmaschinen und ähnlichen Umtriebsmaschinen, Kolbensteuerungen namentlich bei den Wassersäulenmaschinen verwendet. Die Einrichtungen der äußern Steuerungen sind außerordentlich mannigfaltig; man unterscheidet Einrichtungen für die eine Rotation hervorbringenden Maschinen, welche ihre Bewegung meist von einer rotierenden Welle (Schwungradwelle) aus erhalten, und solche für die sogen. direkt wirkenden, d. h. ohne Rotation, nur hin- und hergehend arbeitenden Motoren, welche von einem hin und her bewegten Maschinenteil bethätigt werden. Hierher gehören die Steuerungen von Dampfhämmern, Gesteinsbohrmaschinen, direkt wirkenden Dampfpumpen, Wasserhaltungsmaschinen etc. Sehr ausgebildet sind die Steuerungen der Dampfmaschinen und besonders die Expansionssteuerungen mit durch den Regulator verstellbarem Expansionsgrad oder Präzisionssteuerungen (s.Dampfmaschine, S. 464 f.). Umsteuerungen bewirken bei Maschinen mit rotierender Bewegung eine Richtungsänderung der Rotation, z. B. bei Lokomotiven, Dampfschiffen, Fördermaschinen, Walzwerken etc. Hierher gehören die Kulissensteuerungen (erfunden von Stephenson, abgeändert von Gooch, Allan u. a.), bestehend aus einer geschlitzten Schiene (Kulisse), deren Enden von zwei auf der Kurbelwelle der Lokomotive etc. um 180° versetzten Exzentriks so bewegt werden, daß sie abwechselnd vor- und rückwärts gehen. In dem Schlitz der Kulisse läßt sich ein Gleitstück (Stein) auf- und niederschieben, welches mit einer die Bewegung des Schiebers, der Ventile oder Hähne der S. vermittelnden Stange verbunden ist, so daß die betreffenden Absperrungsorgane bald von dem einen, bald von dem andern Exzenter ihre Bewegung erhalten oder in Ruhe bleiben, je nachdem die Maschine vorwärts oder rückwärts gehen oder stillstehen soll. Steuerungen kommen auch bei manchen Arbeitsmaschinen vor, so z. B. bei den Schiebergebläsen und Schieberpumpen zur Bewegung ihrer Schieber. Die S. der Metallhobelmaschine erzeugt selbstthätig den regelmäßigen Wechsel der Bewegungsrichtung der das Arbeitsstück tragenden Platte (Tisch). Steuerverein, s. Zollverein. Steuerverweigerung, s. Steuerbewilligung etc. Steuervorschuß, s. Antizipation. Steuerzölle, s. Zölle. Steuerzuschläge, die Abgaben, welche Gemeinden zur Deckung ihres Bedarfs als Zuschläge zu bestehenden (direkten) Staatssteuern erheben. Vgl. Gemeindehaushalt. Stev., bei botan. Namen Abkürzung für Ch. Steven, geb. 1781 zu Fredriksham, bereiste Taurien und den Kaukasus, gest. 1863 in Simferopol. Steven, die das Schiff vorn (Vordersteven) und hinten (Achtersteven) begrenzenden, mehr oder weniger senkrecht aufsteigenden Hölzer; s. Schiff, S. 455. Stevens, Alfred, belg. Maler, geb. 11. Mai 1828 zu Brüssel, besuchte das Atelier von Navez in Brüssel und später das von Roqueplan in Paris und malte anfangs kleine Historienbilder, wandte sich aber bald der Schilderung des eleganten Pariser Lebens der Gegenwart zu. S. schildert mit Vorliebe das Pariser Damenboudoir mit seinen Bewohnerinnen mit außerordentlicher koloristischer Zartheit, seinem Geschmack des Arrangements u. pikanter Charakteristik. Seine sehr zahlreichen Bilder sind meist im Privatbesitz. Das Museum zu Brüssel besitzt : die Allegorie des Frühlings, der Besuch; das zu Marseille: ausgelassene Maskengruppe am Aschermittwochsmorgen; die Ravené-Galerie in Berlin: die Tröstung. Von seinen übrigen Bildern sind hervorzuheben: die Unschuld, das Neujahrsgeschenk, der Morgen auf dem Lande, die japanisierte Pariserin, die Dame im Atelier, der Frühling des Lebens. Für den König der Belgier malte er in Fresko die vier Jahreszeiten als Frauengestalten in moderner Tracht (auch als Ölbilder wiederholt). Er lebt in Paris. Vgl. Lemonnier in der "Gazette des beaux-arts" 1878. - Sein Bruder Joseph S. (geb. 1822 zu Brüssel) hat sich ebenfalls in der Pariser Schule gebildet und ist als Tiermaler in Brüssel thätig. Seine Hauptwerke sind: der Hund des Gefangenen, eine Episode auf dem Hundemarkt in Paris, und eine Brüsseler Straße am Morgen (beide im Museum zu Brüssel), der naschende Affe und der Hund mit der Fliege. Stevens Point (spr. stihwens peunt), Stadt im nordamerikan. Staat Wisconsin, am obern Wisconsinfluß, mit Sägemühlen, Holzhandel und (1885) 6510 Einw. Steward (engl., spr. stjuh-erd), Verwalter, Ordner, Rentmeister; auf Schiffen s. v. w. Oberkellner. Vgl. High Stewart (spr. stjuh-ert), 1) Dugald, schott. Philo-soph, geb. 22. Nov. 1753 zu Edinburg, erhielt schon 1775 die Professur der Mathematik an der dortigen Universität als Nachfolger seines Vaters, 1780 die der Moralphilosophie und starb, seit 1810 in den Ruhestand versetzt, 11. Juni 1828 in Edinburg. Von seinen oft ausgelegten Schriften, die ihn als einen der Hauptvertreter der sogen. schottischen Schule kennzeichnen, sind hervorzuheben: "Elements of the philosophy of the human mind" (Edinb. 1792-1827, 3 Bde.); "Outlines of moral philosophy" (das. 1793); "Philosophical essays" (das. 1810); "Philosophy of the active and moral powers" (das. 1828). Eine Gesamtausgabe seiner Werke besorgte Hamilton (Edinb. 1854-58, 10 Bde.). 2) Balfour, Physiker, geb. 1. Nov. 1828 zu Edinburg, studierte daselbst und in St. Andrews, wurde 1859 Direktor des Observatoriums in Kew, 1867 Sekretär des meteorologischen Komitees, 1870 Professor der Physik am Owen's College in Manchester und starb 21. Dez. 1887. Er lieferte mit De la Rue und Loewy sehr bedeutende Untersuchungen über die Physik der Sonne und mit Tait über die Erzeugung von Wärme bei der Rotation der Körper im luftleeren Raum; auch lieferte er mehrere Arbeiten über Magnetismus und Meteorologie und schrieb: "Elementary treatise on heat" (5. Aufl. 1888); "Lessons in elementary physics" (1871; erweiterte Ausg. 1888; deutsch, Braunschw. 1872); "Physics" (7. Aufl. 1878); "The conservation of energy" (4. Aufl. 1878; deutsch, Leipz. 1875); "The unseen universe" (mit Tait, 6. Aufl. 1876); "Lessons in elementary practical physics" (mit Glee, 1885-87, 2 Bde.). Stewarton (spr. stjúh-ert'n), Binnenstadt im nördlichen Ayrshire (Schottland), mit Woll- und Kappenfabrikation und (1881) 3130 Einw. Steyermark - Stickerei. Steyermark, s. Steiermark. Steyr, Stadt mit eignem Statut in Oberösterreich, an der Mündung des Flusses S. in die Enns und an der Bahnlinie St. Valentin-Pontafel, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft (für die Umgebung von S.) und eines Kreisgerichts, hat eine 1443 vollendete gotische Stadtpfarrklrche, eine 980 erbaute, jetzt fürstlich Lambergsche Burg, ein Rathaus, eine Oberrealschule, Handelsschule, Fachschule für Eisen- und Stahlindustrie, eine bedeutende Sparkasse (Einlagen 10 Mill. Guld.), eine Pfandleihanstalt und (1880) mit den Vorstädten 17,199 Einw. S. ist ein Hauptsitz der österreichischen Eisenindustrie und des Eisenhandels. Es bestehen daselbst: eine große Waffenfabrik, welche hauptsächlich Armeegewehre verfertigt, außerdem Maschinenfabriken, Unternehmungen für Messerschmiedewaren, Ahlen, Feilen, Nägel, Bohrer, Ring- u. Kettenschmiedewaren; ferner Bierbrauereien, Druckereien und Färbereien, Gerbereien und Papiermühlen. S. war ehemals Hauptort einer Markgrafschaft, welche dem Land Steiermark den Namen gab. Südlich von S. liegt das Dorf Garsten mit Männerstrafanstalt (ehemals Benediktinerstift). Vgl. Widmann, Fremdenführer für S. (Steyr 1884). Stheino (Stheno), eine der Gorgonen (s. d.). Sthelenos, nach griech. Mythus Sohn des Kapaneus und der Euadne, war Teilnehmer am Epigonenzug und am Trojanischen Krieg, wo er als treuer Gefährte und Wagenlenker des Diomedes tapfer mitkämpfte. Auch ein Sohn des Perseus und der Andromeda, welcher den König Amphitryon (s. d.) von Tiryns vertrieb, hieß S.; er war Vater des Eurystheus. Sthenie (griech.), strotzende Kraftfülle (vgl. Asthenie); sthenisch, vollkräftig; sthenisieren, kräftigen, die Wirkung der Lebenskraft erhöhen. St. Hil., bei botan. Namen Abkürzung für A. F. C. Prouvensal de Saint-Hilaire (s. d.). Stibine (Antimonbasen), s. Basen. Stibio-Kali tartaricum, s. v. w. Brechweinstein. Stibium, Antimon; S. chloratum, muriaticum, Antimonchlorid; S. sulfuratum aurantiacum, s. Antimonsulfide; S. sulfuratum nigrum, Spießglanz, s. Antimonsulfide; S. sulfuratum rubrum, Mineralkermes, s. Antimonsulfide. Stich, Bertha und Klara, Schauspielerinnen, s. Stichblatt, an Schwertern und Degen die über dem Griff zum Schutz der Hand angebrachte Platte, welche oft künstlerisch verziert ist. Besonders von Sammlern gesucht sind die in Eisen geschnittenen, mit Bronze, Silber und Gold tauschierten japanischen Schwertstichblätter. Stiche, s. Seitenstechen und Bruststiche. Stichel, s. v. w. Grabstichel. Stichkappe, eine dreieckige gewölbte Fläche, welche an den Stirnseiten eines Tonnengewölbes in die Fläche desselben einschneidet. Vgl. Gewölbe, S. 312. Stichkoupon, s. Koupon. Stichling (Gasterosteus Art.), Gattung aus der Ordnung der Stachelflosser und der Familie der Stichlinge (Gasterostoidei), Fische mit spindelförmigem, seitlich zusammengedrücktem Körper, spitziger Schnauze, sehr dünnem Schwanzteil, Bürstenzähnen, freien Rückenstacheln vor der Rückenflosse, bauchständigen, fast nur aus einem Stachelstrahl bestehenden Bauchflossen und bisweilen mit 4-5 Reihen kleiner Schilder an den Seiten. Der gemeine S. (Stechbüttel, G. trachurus L., s. Tafel "Fische II", Fig. 16), 8 cm lang, mit drei Stachelstrahlen vor der Rückenflosse, oberseits grünlichbraun oder schwarzblau, an den Seiten und am Bauch silberfarben, an der Kehle und Brust blaßrot, variiert vielfach in der Färbung, findet sich in ganz Europa, mit Ausnahme des Donaugebiets, und ebenso häufig im süßen Wasser wie im Meer. Er ist lebhaft, räuberisch und streitsüchtig, kämpft tapfer mit seinen Stacheln und ändert in der Erregung seine Färbung; er jagt auf alle Tiere, welche er zu überwältigen vermag, besonders auf Fischbrut, und ist äußerst gefräßig. Er laicht in seichtem Wasser auf kiesigem oder sandigem Grund und baut aus Wurzelfasern, Halmen etc., die er mit einem eigentümlichen Klebstoff verbindet, ein faustgroßes, länglichrundes Nest mit einem seitlichen Eingang, welches er freischwebend zwischen Wasserpflanzen befestigt oder halb im Sand vergräbt. In dieses Nest legt das Weibchen seine Eier und bohrt dann auf der dem Eingang entgegengesetzten Seite ein Loch in das Nest, um sich zu entfernen. Das Männchen schafft noch mehrere Weibchen herbei, befruchtet die Eier, bewacht und verteidigt dann das Nest und sorgt durch Bewegung seiner Flossen für die nötige Strömung in demselben. Auch die Jungen überwacht er und führt entweichende im Maul zum Nest zurück. Auch in der Gefangenschaft baut er Nester und pflanzt sich fort. Der S. soll nur drei Jahre alt werden. In der Teichwirtschaft ist der S. nicht zu dulden; an der Nordsee fängt man ihn oft in großer Menge und benutzt ihn als Dünger, Schweinefutter und zum Thransieden. Stichomantie (griech.), eine Art Wahrsagung aus Zeilen oder Versen (stichos), welche bei den Römern darin bestand, daß Stellen aus Dichtern (namentlich aus Vergil, auch aus den Sibyllinischen Büchern) auf Zettel geschrieben und diese, nachdem man sie in einer Urne gemischt hatte, gezogen wurden. Aus dem zufällig gezogenen Los weissagte man sich Gutes oder Schlimmes. Außer andern Büchern wurde später besonders die Bibel zu ähnlichem Zweck benutzt. Stichometrie (griech.), bei den Alten übliches Abmessen oder Zählen der Zeilen (stichos) in den Handschriften, um den ungefähren Umfang einer Schrift bestimmen zu können (vgl. Ritschl, De stichometria veterum, Bonn 1840); in der Rhetorik eine Antithese, welche im Dialog durch Behauptung und Entgegnung entsteht, wie z. B. in der ersten Szene von Schillers "Maria Stuart". Stichtag, bei Zeitgeschäften der Tag der Erfüllung; s. Börse, S. 236. Stichwahl, s. Wahl. Stichwort (Schlag- oder Merkwort), in der Bühnensprache diejenigen Worte eines Darstellers, nach welchen ein andrer aufzutreten oder seine Rede anzufangen hat. Ebenso gibt das S. das Signal zu gewissen in der Handlung des Stücks bedingten szenischen Vorgängen. Stickerei, eine Kunst, durch welche verzierende Darstellungen auf schmiegsamen, Falten werfenden Stoffen, also auf Geweben, Gewändern, Leder etc., mit der Nadel hergestellt werden. Von den Chinesen von alters her gepflegt, war die S. auch den alten Indern und Ägyptern bekannt. Diese gingen in ihren verzierenden Zeichnungen noch nicht über geometrische Figuren hinaus, wogegen die Assyrer zuerst Tier- und Menschengestalten auf ihren glatt anschließenden Kleidern und Vorhängen zur Darstellung brachten. Von ihnen lernten die Griechen und von diesen die Römer, welche die S. phrygische Arbeit nannten. Im Mittelalter wurde sie in den Klöstern im Dienste des Kultus für geistliche Gewänder und Altarbekleidung (Paramente) gepflegt. Ihre Arbeiten wurden vom 11. Jahrh. an von arabischen Kunstanstalten Stickertressen - Stickmaschine. übertroffen. Seltene Beispiele, wie ein deutscher Kaiserkrönungsmantel, zeugen noch heute von der Höhe der damaligen S. Mit der geistigen Bildung kam auch die Kunst des Stickens in weltliche Hände. Erst in England, später aber in Burgund erreichte sie im 14. Jahrh. die höchste Ausbildung und ist seitdem langsam bis auf unsre Zeit ganz in Verfall geraten, wo auch sie an der allgemeinen Hebung des Kunstgewerbes ihren Anteil erhielt und jetzt eine verständnisvolle Pflege, zum Teil durch größere Ateliers (Bessert-Nettelbeck in Berlin), findet. Die S. verziert nicht nur, sondern sie bedeckt oft den ihr zu Grunde gelegten Stoff ganz; man könnte danach Weiß- und Buntstickerei unterscheiden, wenngleich auch bei der letztern zuweilen der Grund frei stehen bleibt. Die Buntstickerei kann entweder auf einen dichten Grund, auf Leinwand, Tuch, Seide, Leder, oder auf einen eigens dazu gefertigten, siebartig durchlöcherten Stoff, Kanevas, aus Hanf, Leinen, Baumwolle, auch Seide aufgesetzt sein. Auf Kanevas werden hauptsächlich der gewöhnliche Kreuzstich und seine Abarten (Gobelinstich, Webstich) ausgeführt sowie der sehr feine Petitpoint-Stich, welcher sehr zarte, mosaikartige Bildnerei ermöglicht. Weniger mühsam als der letztere, aber besser als der Kreuzstich zur figürlichen Darstellung geeignet ist der Plattstich, mit dem die mittelalterlichen Arbeiten fast durchgängig auf dichtem Grund gefertigt sind. Während der Petitpoint-Stich nur mit Seidenfäden hergestellt wird, verwendet man für die andern Sticharten gewöhnlich gefärbte Wolle, wenn auch bei ihnen Seide, Goldfäden und sogar zeitweise mit eingenähte Perlen nicht ausgeschlossen sind. Andre Arten der S. sind: der Kettenstich, bei welchem jeder Stich doppelt gemacht wird, indem der Faden von unten nach oben und durch dasselbe Loch wieder zurückgeht, so eine Schleife bildend, durch welche er, nachdem er durch ein neues Loch wieder nach oben gekommen, gezogen wird; der Steppstich, bei welchem auf der untern Seite des Stoffes ein langer Stich gemacht wird, auf der obern Seite um die Hälfte der Ausdehnung desselben wieder zurückgegriffen wird, so daß auf der untern Seite jeder Stich doppelt so lang ist wie oben; in umgekehrter Anwendung entsteht der Stielstich. Noch andre Arten des Stichs (Flechtenstich, Doppelstich, Gitterstich, maurischer, spanischer Stich) sind bei Lipperheide, Muster altitalienischer Leinenstickerei (Berl. 1881-85, 2 Bde.), beschrieben. Die Art der im Mittelalter hochberühmten Goldstickerei, die so wunderbare Wirkung hervorbrachte, wie man sie noch an den in Wien aufbewahrten sogen. burgundischen Gewändern aus dem 15. Jahrh. sieht, ist technisch sehr von der unsrigen verschieden. Während jetzt die Goldfäden wie andre Fäden behandelt werden, legte man sie früher parallel nebeneinander und nähte sie mit Überfangstichen fest. Auf den so erst gebildeten Grund wurde nun mit Plattstich die eigentliche S. gesetzt, durch welche das Gold hindurchschimmerte (Reliefstickerei). Die heutige Gold- und Silber-Kannetillestickerei nähert sich schon der Perlenstickerei. Dieses reihenweise Aufnähen billiger Glasperlen hat dadurch, daß es den Grundstoff schwer und unbiegsam macht, viel zum Verfall der Kunst beigetragen. Für den künstlerischen Wert ist allemal die Vorzeichnung des Musters wichtig, die jetzt selten die Erfindung des Verfertigers einer S. ist. Die Herstellung der Muster ist dagegen zum besondern Industriezweig der Dessinateure oder Musterzeichner geworden. Eine eigne Art der S. ist noch das Tamburieren, das nicht mit der Nähnadel, sondern mit dem Häkelhaken geschieht, wie auf den Handrücken feiner Glaceehandschuhe. Ferner werden jetzt feine Lederwaren, namentlich in Amerika, sehr zart durch auf der Nähmaschine hergestellten Steppstich verziert. Die Weißstickerei, abgesehen von der Namenstickerei, dem Zeichnen der Wäsche, beschränkt sich auf Verzierung der Wäsche und des Tischzeugs in Leinwand oder Baumwolle (deshalb auch Leinenstickerei genannt). In der sogen. französischen Weißstickerei herrscht mehr der Plattstich, in der englischen der durchbrochene Arbeit liefernde Bindlochstich vor; doch kommen bei beiden noch der Languettenstich und verschiedene Phantasiestiche zur Anwendung. Die venezianische Weißstickerei, bei der stellenweise der Grund nach der Arbeit entfernt wird, so daß die durchbrochenen Stellen durch feine Fadenverschlingungen gefüllt werden, streift schon nahe an die Spitzennäherei. Die Weißstickerei ist im westlichen Europa mehr Sache der Industrie; in Deutschland wird sie im sächsischen Vogtland, namentlich in Plauen, und den angrenzenden Gegenden des Erzgebirges und des bayrischen Oberfranken und zwar in ausgedehntester Weise mit Stickmaschinen (s. d.) betrieben. Vgl. die bei den Artikeln Handarbeiten und Spitzen angeführte Litteratur, insbesondere die Musterbücher von H. Sibmacher (dazu noch: Kreuzstichmuster, 36 Tafeln der Ausgabe von 1604, Berl. 1885), und Drahan, Stickmuster (Wien 1873); "Original-Stickmuster der Renaissance" (2. Aufl., daf. 1880); Lessing, Muster altdeutscher Leinenstickerei (3 Sammlungen, Berl.); Teschendorff, Kreuzstichmuster für Leinenstickerei (das. 1878-83, 2 Hefte); Wendler, Stickmuster nach Motiven aus dem 16. Jahrhundert in Farben gesetzt (das. 1881); H. Schulze, Mustersammlung alter Leinenstickerei (Leipz. 1887); Fröhlich: Neue farbige Kreuzstichmuster (Berl. 1888), Neue Borden (das. 1888), Allerlei Gedanken in Vorlagen für das Besticken und Bemalen unsrer Geräte (das. l888). Stickertressen, s. Bortenweberei. Stickftuß, s. Lungenödem. Stickgas, s. v. w. Stickstoff. Stickhusten, s. Keuchhusten. Stickmaschine, von Josua Heilmann 1829 erfundene Vorrichtung zur Herstellung von Stickereien auf Geweben. Die Figuren entstehen hierbei dadurch, daß die Fäden an den Figurenrändern mittels Nadeln so durch das Gewebe gesteckt und durchgezogen werden, daß sie nach und nach auf der Fläche das Muster erhaben bilden, z. B. indem (Fig. 1) der Faden den durch die Zahlen 1-10 angedeuteten Verlauf nimmt, 1-2 oben, 2-3 unten, 3-4 oben u. s. f. Die Heilmannsche S., welche bis heute keine wesentliche Abänderung erfahren hat, ahmt die Handarbeit genau nach und besteht in der Hauptsache aus drei Teilen, nämlich einem Rahmen, an welchem das mit Stickerei zu versehende Zeug ausgespannt wird, den Nadeln und einem Apparat, welcher die Nadel ergreift, durchs Zeug sticht und mit dem Faden durchzieht, also die Hand des Arbeiters ersetzt. Bei der S. ist nun aber der Rahmen nicht, wie beim Handsticken, horizontal feststehend, sondern beweglich und zwar so, daß das Zeug immer in einer vertikalen Ebene bleibt, während die Nadeln nur eine horizontale Bewegung machen. Wenn also eine Nadel durch das Zeug an einer Stelle, z. B. Punkt 1 der Fig. 1, durchgegangen ist, so wird der Rahmen so bewegt, daß die Nadel beim Zurückstechen den nächsten Punkt, z. B. Punkt 2 der Fig. Stickmaschine. trifft. Die S. arbeitet mit einer großen Anzahl Nadeln, welche in zwei horizontale Reihen so verteilt sind, daß auf dem Zeuge gleichzeitig zwei kongruente Stickereien an zwei verschiedenen Stellen gebildet werden. Dazu ist es nötig, daß der Rahmen stets parallel verschoben wird. Zu dem Zweck liegt der vertikale Stickrahmen A (Fig. 2) mit zwei runden Schienen a auf Rollen b, welche wieder in einem Rahmen c sitzen, der sich mit Schneiden auf das gegabelte Ende eines Hebels d stützt, welcher in Fig. 2 abgebrochen gezeichnet ist, jedoch sich in Wirklichkeit über den Drehpunkt d' fortsetzt und am Ende ein Gegengewicht trägt. Die Gegengewichte beider Hebel halten dem Rahmen mit den darauf befindlichen Walzen e, e1, e2, e3 und dem aufgespannten Zeug das Gleichgewicht. Da nun außerdem der Rahmen unten an zwei Stellen durch vertikale Schlitze f geführt und oben durch zwei Zapfen g des Gestells, welche zwischen Gleitschienen h des Rahmens stecken, gehalten wird, so läßt sich derselbe in horizontaler und vertikaler Richtung so verschieben, daß er in einer vertikalen Ebene bleibt, und daß auch jede in ihm liegende Linie ihrer ursprünglichen Lage parallel bleibt. An dem Rahmen sind nun vier Walzen e, e1, e2, e3 in Zapfen drehbar angebracht, wovon jede mit einem Sperrrad versehen ist, in welches je eine Sperrklinke (e' e1', e2', e3') eingreift. Je zwei Walzen (e und e1, e2 und e3) dienen zur Aufspannung je eines Zeugstücks kk' parallel zu dem Rahmen, während die Sperrklinken die Rückdrehung verhindern. Ist auf jedem Stück eine horizontale Reihe nebeneinander liegender Figuren fertig gestickt, so zieht man das Zeug von e auf e1 und von e2 auf e3 ein Stück weiter. Die Bewegung zwischen je zwei Nadelstichen wird dem Rahmen nicht direkt, sondern mit Hilfe eines sogen. Storchschnabels (Pantographen) übertragen. Fig. 3 zeigt denselben mit dem Rahmen A in verkleinertem Maßstab. I II III IV ist ein in seinen Ecken in Scharnieren drehbares Parallelogramm. Die Seite II III ist bis zum Punkt V, die Seite III bis zum Punkt VI verlängert, wobei die Dimensionen I VI und III V so gewählt sind, daß die Punkte V, IV und VI auf einer Geraden liegen. Wenn man daher den Punkt V festhält und den Punkt VI die Kontur irgend einer Figur umfahren läßt, so wird dabei Punkt IV eine dieser ähnliche Figur verkleinert beschreiben. Der Punkt V ist nun an dem Gestell der S. drehbar befestigt, während im Punkt IV ein am Rahmen A befindlicher Zapfen angebracht ist. Da sich aber der Rahmen A so verschiebt, daß jede Linie in ihm ihrer ursprunglichen Lage parallel bleibt, so wird, wenn Punkt VI an einer vergrößerten Figur des Stickmusters entlang geführt wird, jeder Punkt des Rahmens, also auch des aufgespannten Zeugs, dieselbe Figur in (gewöhnlich sechsfach) verkleinertem Maßstab beschreiben. An dem Stickmuster sind die einzeln Fadenlagen durch Linien, die Nadelstiche durch Punkte angedeutet, der Arbeiter rückt einen in VI befestigten spitzen Stift zwischen je zwei Nadelstichen von einem Punkt auf den nächstfolgenden, so daß jeder Punkt des Zeugs in derselben Richtung um eine verkleinerte Strebe verschoben wird, die der wirklichen Größe des Musters entspricht. Die Nadeln werden durch jedes der beiden Zeugstücke in je einer horizontalen Reihe von 50-75 Stück hin- und hergestochen. Dazu sind sie mit zwei Spitzen und einem in der Mitte sitzenden Öhr durch das der Faden gezogen ist, versehen und werden auf jeder Seite von Zangen erfaßt, durchgezogen, dann wieder nach Verschiebung des Rahmens rückwärts eingestochen, losgelassen und von der auf der andern Seite dagegen geführten Zange ergriffen und durchgezogen etc. Diese Zangen sitzen auf jeder Seite in zwei horizontalen Reihen an je einem mit Rollen ll' auf Schienen m m des Untergestells C gegen das Zeug zu bewegenden Gestell B B'. Dasselbe besteht aus einem Wagen n n' von der Breite des Zeugs mit Schildern o o', welche oben und unten prismatische Schienen p p' tragen. An diesen sind die Zeuge mit ihren festliegenden Schenkeln q q' befestigt, welche an ihrer dem Zeug zugekehrten Seite eine kleine Platte mit einem konischen Loch zum Einführen der Nadeln haben. Die Nadel wird so weit eingeschoben, daß sie gegen einen kleien Vorsprung stößt. Während sie nun in einer kleinen Rille liegt, wird der bewegliche Backen r r' der Zange dagegen gedrückt. Dies geschieht in folgender Weise: Der Schwanz der beweglichen Zangenschenkel steht fortwährend Fig. 2. Stickmaschine (Querschnitt) Fig. 3. Storchschnabel Sticknähmaschine - Stickstoffoxyd. dem Druck einer auf Schließung der Zange wirkenden Feder s s'. Gegen die andre Seite des Schwanzes legt sich jedoch eine über sämtliche Zangen einer Reihe fortgehende Welle t t', welche im allgemeinen von rundem Querschnitt und nur von einer Seite abgeflacht ist. Liegt diese Welle mit ihren runden Teilen auf den Zangen, so sind dieselben geöffnet; ist sie dagegen so gedreht, daß sie ihre flache Seite den Zangen zukehrt, so geben die Schwänze dem Druck der Federn nach und schließen sich. Zur Drehung dieser Wellen dient der Zahnsektor u u', in welchen die Zähne einer durch einen besondern Mechanismus bewegten Zahnstange v v' eingreifen. An den Stützen o' sind nun noch kleine durchgehende Wellen w w' gelagert, an deren beiden Enden die Hebelchen x x' und y y' befestigt sind. Die Enden der erstern sind durch je eine parallel zum Zeug liegende dünne Stange z z' verbunden, dieselben legen sich unter der Einwirkung der Gewichte ß ß' auf die von dem Gewebe zu den Nadeln geführten Stickfäden und geben ihnen eine gleichmäßige Spannung, werden aber aufgehoben, sobald sich die Zangen dem Zeug so weit nähern, daß die Hebel y y' gegen kleine am Maschinengestell befestigte Zapfen $\zeta\zeta'$ stoßen. Die Bewegung der Wagen n n' mit den daran befindlichen Zangen erfolgt durch einen Arbeiter von einer Seite der Maschine aus mittels Mechanismen, welche in der Figur fortgelassen sind. Die Maschine arbeitet nun in folgender Weise: Die einen Enden der Fäden mögen im Zeug befestigt sein, während die andern in die Nadeln eingefädelt sind. Ist der linke Wagen eben gegen das Zeug gefahren, und sind dabei die Nadeln mit ihren aus den Zangen herausstehenden Spitzen durchgestochen, dann muß der rechte Wagen mit geöffneten Zangen vor dem Zeug stehen, um die Nadeln zu fassen. Darauf werden zugleich durch Verschiebung der Zahnstangen v und v' unter Vermittelung der Zahnsegmente u u' und der Wellen t t' die linken Zangen geöffnet und die rechten geschlossen, so daß die Nadeln nunmehr in den rechten Zangen festgehalten werden. Während nun der linke Wagen in seiner Stellung verbleibt, entfernt sich der rechte vom Zeug und nimmt dabei die Nadeln mit. Nachdem der Wagen einen kleinen Weg zurückgelegt hat, sind die an w drehbaren kleinen Stangen v an den Zapfen $\zeta$ so weit zurückgeglitten, daß sie sich zugleich mit den Hebeln x und den daran befestigten Querstangen z unter der Einwirkung des Gewichtshebels ß gesenkt haben, so daß die Stangen z sich auf die durch das Zeug hindurchgezogenen Fadenenden legen. Der Wagen wird so weit geführt, bis die Fäden ganz ausgezogen sind, wobei sie durch die aufgelegte Stange z eine gleichmäßige schwache Spannung erhalten, welche genügt, die eben auf der linken Seite des Zeugs entstandene Lage von Fadenschleifen gehörig anzuziehen. Nun wird der Rahmen A mit Hilfe des Storchschnabels verschoben, dann der Wagen B zurückgeführt, damit z gehoben und die Nadeln von rechts nach links durchgesteckt, worauf sich der beschriebene Vorgang abwechselnd von links und rechts wiederholt. In neuester Zeit ist für die S. eine neue Grundlage dadurch gewonnen, daß man, wie bei den Nähmaschinen, Nadeln mit dem Öhr an der Spitze und kleine Schiffchen zum Durchbringen eines zweiten Fadens anwendet, also die Sticknähmaschine nachahmt. Vgl. Jäck, Die rationelle Behandlung der S. (3. Aufl., Leipz. 1886). Sticknähmaschine, zum Sticken kleiner Muster eingerichtete Nähmaschine, besteht aus einer gewöhnlichen Nähmaschine, auf deren Nähplatte der Stoff, in einen Stickrahmen eingespannt, durch Führung des letztern vermittelst eines Storchschnabels, wie bei den Stickmaschinen, unter der Nadel hin- und hergeschoben wird, so daß die Figuren durch Plattstich entstehen. Stickoxyd und Stickoxydul, s. v. w. Stickstoffoxyd, resp. Stickstoffoxydul. Stickseide, s. v. w. Plattseide. Stickstoff (Stickgas, Azot, Luftgas, Nitrogenium) N, chemisch einfacher Körper, findet sich in der Atmosphäre (79 Volumprozent), mit Sauerstoff und Wasserstoff verbunden als salpetrige Säure und namentlich als Salpetersäure, mit Wasserstoff verbunden als Ammoniak weitverbreitet, mit Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff verbunden in vielen Tier- und Pflanzenstoffen, namentlich in den Proteinkörpern. Zur Darstellung von S. entzieht man der Luft den Sauerstoff durch Eisen- oder Manganhydroxydul, alkalische Pyrogallussäure oder alkalische Kupferchlorürlösung, durch Phosphor, glühende oder mit Salzsäure befeuchtete Kupferdrehspäne etc., oder man erhitzt eine Lösung von salpetrigsaurem Ammoniak (NH4NO2), welches dabei in S. und Wasser (H2O) zerfällt, oder man leitet Chlor in stets überschüssiges Ammoniak, wobei Salmiak (NH4Cl) und S. entstehen; auch kann man saures chromsaures Ammoniak (oder ein Gemisch von saurem chromsaurem Kali mit Salmiak) erhitzen, welches sich zu Wasser, Chromoxyd und S. zersetzt. S. ist ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas, welches unter einem Druck von 200 Atmosphären und bei sehr niedriger Temperatur zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet werden kann. Es besitzt ein spezifisches Gewicht von 0,971 (1 Lit. wiegt bei 0° und 760 mm Barometerstand 1,256 g); das Atomgewicht ist 14,01, 100 Volumen Wasser lösen bei 0°: 2,035, bei 15°: 1,478 Vol. S., Alkohol löst etwas mehr. S. ist sehr indifferent, unterhält weder die Verbrennung noch die Atmung, ist auch selbst nicht brennbar und verbindet sich direkt nur mit wenigen Elementen; aus indirektem Weg aber bildet er eine Reihe von Verbindungen, die meist durch sehr charakteristische Eigenschaften ausgezeichnet sind: manche von ihnen sind sehr beständig, andre höchst wandelbar, zum Teil explosiv, wie der Chlorstickstoff, manche Nitrokörper etc. S. tritt gewöhnlich dreiwertig, in manchen Verbindungen aber auch fünfwertig auf. Er bildet mit Sauerstoff fünf Verbindungen: Stickstoffoxydul N2O, Stickstoffoxyd NO, Stickstofftrioxyd (Anhydrid der salpetrigen Säure) N2O3, Stickstoffperoxyd NO2 und Stickstoffpentoxyd (Anhydrid der Salpetersäure) N3O5. Er wurde von Rutherford 1772 entdeckt, insofern dieser zeigte, daß die Luft, in welcher Tiere geatmet hatten, auch nach Beseitigung der ausgeatmeten Kohlensäure die Verbrennung einer Kerze nicht mehr unterhält. Scheele sprach 1777 bestimmt von zwei Bestandteilen der Luft, und Lavoisier erkannte den S. als einfachen Körper und nannte ihn Azot, weil er das Leben nicht unterhält, während Chaptal den Namen Nitrogène vorschlug, weil er in Salpeter enthalten sei. Vgl. König, Der Kreislauf des Stickstoffs und seine Bedeutung für die Landwirtschaft (Münst. 1878); Frank, über die Ernährung der Pflanze mit S. etc. (Berl. 1888). Stickstoffbor, s. Borstickstoff. Stickstoffdioxyd, s. v. w. Stickstoffoxyd. Stickstoffmonoxyd, s. v. w. Stickstoffoxydul. Stickstoffoxyd (Stickstoffdioxyd, Stickoxyd) NO entsteht bei Einwirkung vieler Metalle (Kupfer, Silber, Quecksilber etc.), des Phosphors und andrer leicht oxydierbarer Körper auf Salpetersäure und beim Erwärmen von Eisenchlorür mit salpetersaurem Kali und Salzsäure. Es ist ein farbloses Gas Stickstoffoxydul - Sticta. bei sehr niedriger Temperatur unter einem Druck von 104 Atmosphären zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet. Das spezifische Gewicht ist 1,039, es verbindet sich mit dem Sauerstoff der Luft direkt unter Bildung roter Dämpfe von Stickstoffperoxyd, löst sich bei mittlerer Temperatur in 20 Volumen Wasser, erträgt hohe Temperatur, ist nicht atembar, unterhält die Verbrennung von erhitztem Eisen und Phosphor, während eine Kerze darin erlischt; eine Mischung von Schwefelkohlenstoffdampf und Stickstoffoxyd verbrennt mit einer blauen, an chemisch wirksamen Strahlen sehr reichen Flamme, welche zum Photographieren bei Ausschluß des Tageslichts dienen kann (Sellsche Lampe). Feuchte Zink- und Eisenfeilspäne, Schwefelleber etc. reduzieren S. zu Oxydul; Kalium und glühendes Kupfer reduzieren es vollständig. Eisennitriollösung absorbiert es reichlich und färbt sich dabei fast schwarz, auch Salpetersäure nimmt es auf und bildet eine blaue, grüne oder braune Flüssigkeit. Es wurde schon von van Helmont beobachtet, aber erst von Priestley näher untersucht und von ihm Salpetergas genannt. Stickstoffoxydul (Stickstoffmonoxyd, Stickoxydul, Lustgas, Lachgas) N2O entsteht bei vorsichtigem Erhitzen von salpetersaurem Ammoniak, bei Einwirkung sehr verdünnter kalter Salpetersäure auf Zink- oder feuchter Eisen- oder Zinkfeile, Schwefelleber oder schwefliger Säure auf Stickstoffoxyd und bei Einwirkung von schwefliger Säure auf heiße verdünnte Salpetersäure. Dargestellt wird es stets durch Erhitzen von salpetersaurem Ammoniak und Waschen des Gases mit Eisenvitriollösung und Kalilauge; 1 kg des Salzes liefert 182 Lit. Gas. Ein kontinuierlich arbeitender Apparat zur Darstellung des Gases besteht aus einer mit gereinigtem groben Sand gefüllten, entsprechend erhitzten eisernen Röhre, in welcher das geschmolzene salpetersaure Ammoniak, während es durch den Sand sickert, vollständig zersetzt wird. Man versendet das Gas im flüssigen Zustand in starkwandigen eisernen oder kupfernen Flaschen. Es bildet ein farbloses Gas, riecht und schmeckt schwach süßlich, spez. Gew. 1,52; 100 Volum. Wasser lösen bei 0°: 130,5, bei 15°: 77,8 Vol. In Alkohol ist es noch leichter löslich; bei 0° und unter einem Druck von 30 Atmosphären wird es zu einer farblosen Flüssigkeit kondensiert, welche bei -88° siedet, bei -115° erstarrt und, mit Schwefelkohlenstoff gemischt, beim Verdampfen im luftleeren Raum eine Temperatur von -140° erzeugt. Das Gas kann geatmet werden, unterhält den Atmungs- und Verbrennungsprozeß, und ein glimmender Holzspan entzündet sich darin fast wie in Sauerstoff. Ein Gemisch von 4 Vol. S. mit 1 Vol. Sauerstoff erzeugt beim Einatmen nach 1 1/2-2 Minuten Rausch und Heiterkeit (daher Lustgas). Bei längerm Einatmen erzeugt es Ohrensausen, Rausch, Bewußtlosigkeit und tötet endlich durch Erstickung. Unterbricht man aber die Einatmung, sobald die Bewußtlosigkeit eingetreten ist, so verschwinden alle Erscheinungen schnell und ohne bleibenden Nachteil. Deshalb benutzt man das Gas als anästhetisches Mittel bei kleinen Operationen. S. wurde 1772 von Priestley entdeckt, Davy beobachtete 1799 seine eigentümliche Wirkung auf den Organismus, und Wells zu Hartford in Connecticut benutzte es zur Hervorbringung einer schnell vorübergehenden Narkose. Es blieb indes ohne praktischen Wert, bis Colton und Porter 1863 von neuem darauf aufmerksam machten. Letzterer führte es in England ein, und 1867 brachte es Evans in Paris zur eigentlich wissenschaftlichen Verwertung. Das S. erleidet bei der Einatmung durchaus keine Veränderung, und dies Verhalten erschwert eine genügende Erklärung seiner Wirkung. Zur Hervorbringung einer vollständigen Narkose sind im Durchschnitt 22-26 Lit. Gas erforderlich. Gewöhnlich währt dieselbe nur 30-90 Sekunden, reicht also nur für kurze Operationen, wie das Ausziehen von Zähnen; doch hat man durch geschickte Leitung des abwechselnden Einatmens von S. und Luft die Narkose auch schon auf 50-90 Minuten ausgedehnt. Unterbricht man die Zufuhr des Stickstoffoxyduls vollständig, so tritt schon nach 1-2 Minuten der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich die mindeste Nachwirkung bemerkbar macht. Lange fortgesetztes Einatmen von S. behufs Herbeiführung einer vollkommen und lange andauernden Empfindungslosigkeit erfordert immerhin große Umsicht des Operateurs, weil in solchem Falle leicht bedenkliche Erstickungszufälle eintreten können. Nun hat aber Bert das gleichzeitige Einatmen von S. und Luft ohne Abschwächung der Wirkung des erstern dadurch ermöglicht, daß er gleiche Volumen dieser Gase mischt und sie unter doppeltem Atmosphärendruck einatmen läßt. In gleicher Zeit wird dann dieselbe Menge S. den Lungen zugeführt wie beim Einatmen des reinen Gases unter gewöhnlichem Druck, nebenbei aber erhält die Lunge die für eine normale Respiration erforderliche Menge Sauerstoff. Auf solche Weise vermochte Bert bei Versuchen an Tieren eine volle Stunde hindurch gänzliche Empfindungslosigkeit zu unterhalten und in dieser Zeit große Operationen schmerzlos vorzunehmen. Nach 2-3 Atemzügen reiner Luft trat der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich irgend welche Nachwirkungen gezeigt hätten. Vgl. Goltstein, Die physiologischen Wirkungen des Stickstoffoxydulgases (Bonn 1878); Schrauth, Das Lustgas und seine Verwendbarkeit in der Chirurgie (Bonn 1889). Stickstoffpentoxyd, s. Salpetersäure, S. 226. Stickstoffperoxyd (Stickstofftetroxyd) NO2 entsteht bei Berührung von Stickstoffoxyd mit Luft, beim Erhitzen verschiedener Salpetersäuresalze (wie Bleinitrat) und, mit Stickstofftrioxyd gemischt, bei Einwirkung von Salpetersäure auf Stärkemehl, Zucker etc.; es bildet bei -9° farblose Kristalle und schmilzt leicht zu einer farblosen Flüssigkeit, die sich bei höherer Temperatur gelb färbt, bei 15° orangerot ist, bei 22° siedet und einen braunroten, erstickend riechenden Dampf bildet, welcher bei stärkerm Erhitzen immer dunkler, fast schwarz wird. In Form dieses Dampfes beobachtet man es am häufigsten. Mit wenig eiskaltem Wasser zersetzt sich das Peroxyd in salpetrige Säure und Salpetersäure, mit Wasser von gewöhnlicher Temperatur (wegen Zersetzung der salpetrigen Säure) in Salpetersäure und Stickstoffoxyd und bei Gegenwart von Sauerstoff zuletzt vollständig in Salpetersäure. Wegen der schnell eintretenden sauren Reaktion des feuchten Peroxyds nannte man dasselbe früher Untersalpetersäure. Stickstofftetroxyd, s. v. w. Stickstoffperoxyd. Stickstofftheorie, s. Agrikulturchemie und Landwirtschaft, S. 478. Sticta Schreb. (Grubenflechte), Laubflechten mit weißen, becherartig vertieften Flecken (Cyphellen) auf der Unterseite des Thallus, meist am Rande des letztern befindlichen Apothecien und mit der Markschicht aufsitzender Apothecienscheibe. S. pulmonacea Ach. (Lungenflechte), mit lederartigem, buchtig gelapptem, netzförmig grubigem, grünem, trocken bräunlichem Thallus mit weißen Flecken und rotbraunen Apothecien, wächst am Fuß alter Buchen und Eichen und war früher als Lungenmoos offizinell. Stiefel - Stiehle. Stiefel, Fußbekleidung, s. Schuh. Stiefel, altdeutsches gläsernes Trinkgefäß in Form eines Stiefels, zum Willkomm oder Rundtrunk benutzt, oft von bedeutender Größe; daher die Redensart "einen S. vertragen". In der Technik heißt S. der Cylinder, worin der Kolben einer Pumpe sich bewegt. Stieffel, Michael, s. Stifel. Stiefgeschwister, s. Halbgeschwister. Stiefmütterchen, s. v. w. Viola tricolor. Stiefverwandtschaft, s. Schwägerschaft. Stiege, eine Anzahl von 20 Stück. Stieglitz (Distelfink, Goldfink, Jupitersfink, Fringilla [Carduelis] elegans Cuv.), Sperlingsvogel aus der Gattung Fink, 13 cm lang, 22 cm breit, mit langem, kegelförmigem, an der dünnen Spitze etwas gebogenem Schnabel, spitzigen Flügeln, mittellangem Schwanz, kurzen, starken, langzehigen, mit wenig gebogenen Nägeln bewehrten Füßen und sehr buntem Gefieder. Den Schnabel umgibt ein schwarzer und diesen ein breiter, karminroter Kreis; der Hinterkopf ist schwarz, die Wangen und der Unterkörper sind weiß, der Rücken ist braun; Flügel und Schwanz sind schwarz mit weißem Spiegel, die Schwingen an der Wurzelhälfte goldgelb. Beide Geschlechter ähneln sich täuschend. Der S. findet sich fast in ganz Europa, auf den Kanaren, Madeira, in Nordwestafrika, weitverbreitet in Asien, verwildert auf Cuba, überall in baum- und obstreichen Gegenden. Im Herbst zieht er in Scharen weit umher, und im Winter trifft man ihn in kleinern Trupps. Er ist hauptsächlich Baum-, aber nicht eigentlich Waldvogel, sehr lebhaft und gewandt, fliegt leicht und schnell, klettert wie eine Meise, nährt sich von allerlei Samen, besonders von Birken, Erlen, Disteln, frißt auch viele Kerbtiere, nistet auf Bäumen und legt im Mai 4-5 weiße oder blaugrünliche, sparsam violettgrau punktierte, am stumpfen Ende kranzartig gezeichnete Eier, welche das Weibchen 13-14 Tage bebrütet. Wegen seines anmutigen Gesangs wird er viel in der Gefangenschaft gehalten; er erzeugt leicht mit dem Kanarienvogel eigentümlich gefärbte Bastarde. Stieglitz, 1) Ludwig, Baron von, Gründer des berühmten Handels- und Wechselhauses seines Namens in Petersburg, geb. 1778 zu Arolsen, ging früh nach Rußland, erwarb sich dort durch sein kommerzielles Genie und seine rastlose Thätigkeit ein bedeutendes Vermögen, übte auf Rußlands Handel und Industrie einen weitgreifenden förderlichen Einfluß aus und war an allen größern Kredit- und Finanzoperationen der russischen Regierung beteiligt. Seiner Bemühung hauptsächlich verdankt Rußland unter anderm die Einführung der Dampfschiffahrt zwischen Petersburg und Lübeck. Dabei war sein Haus in Petersburg der Sammelplatz der geistreichsten Notabilitäten. Der Kaiser ernannte ihn 1825 zum Reichsbaron. Er starb 18. März 1843 in Petersburg. Nach seinem Tod führte sein Sohn Alexander das Geschäft fort und wahrte ihm als tüchtiger Finanzmann seinen alten Ruhm, doch löste er 1863 die Firma auf. Er starb 24. Okt. 1884. 2) Heinrich, Dichter, geb. 22. Febr. 1803 zu Arolsen, studierte in Göttingen und Leipzig , ward 1828 in Berlin Gymnasiallehrer und Kustos an der königlichen Bibliothek und verheiratete sich in demselben Jahr mit Charlotte Sophie Willhöft (geb. 1806 zu Hamburg). Ein Nervenleiden veranlaßte ihn jedoch bald, seine Stellen niederzulegen; eine Reise nach Petersburg hatte nicht den gewünschten Erfolg der Heilung. Ein anempfindendes Talent, dem Stärke und Konzentration fehlten, fühlte S. diesen Mangel aufs tiefste; die Sehnsucht nach einer höchsten Leistung erfüllte und verzehrte ihn krankhaft. Seine schwärmerische Gattin nährte den unseligen Gedanken, daß ein großer Schmerz den Geliebten zum ganzen Mann und Dichter reifen würde, und gab sich deshalb 29. Dez. 1834 durch einen Dolchstich den Tod (vgl. Mundt, Charlotte S., ein Denkmal, Berl. 1835). Die That dieser opferfreudigen Verirrung konnte indessen den geträumten Erfolg nicht haben, S. brach beinahe völlig zusammen. Er lebte fortan meist zu Venedig und starb daselbst 24. Aug. 1849 an der Cholera. Seine bedeutendsten dichterischen Arbeiten sind: "Bilder des Orients" (Leipz. 1831-33, 4 Bde.) mit der Tragödie "Sultan Selim III." Ihnen schließen sich die "Stimmen der Zeit in Liedern" (2. Aufl., Leipz. 1834) an. Von seinen spätern Leistungen sind nur die "Bergesgrüße" (Münch. 1839) hervorzuheben. Vgl. die von H. Curtze herausgegebenen Schriften: "H. S., eine Selbstbiographie" (Gotha 1865), "Briefe von S. an seine Braut Charlotte" (Leipz. 1859, 2 Bde.) und "Erinnerungen an Charlotte" (Marb. 1865). Stiehl, Ferdinand, preuß. Schulmann, namentlich bekannt als Verfasser der "Regulative für das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen" vom 1., 2. u. 3. Okt. 1854, wurde 12. April 1812 zu Freusburg (Kreis Altenkirchen) geboren, studierte in Bonn und Halle Theologie, kam 1835 als erster Lehrer an das Seminar zu Neuwied und wurde 1839 zum Direktor ernannt. Der Minister Eichhorn berief ihn 1844 als Hilfsarbeiter in das Kultusministerium, 1845 ward er Regierungs- und Schulrat, 1848 Geheimer Regierungs- und vortragender Rat, 1855 Geheimer Oberregierungsrat. Um die Entwickelung des Seminarwesens in jenen Jahrzehnten hat er sich bei aller Einseitigkeit seiner konservativen Richtung unleugbare Verdienste erworben und die Einfügung des Volksschul- und Seminarwesens der neuen Provinzen in die preußische Ordnung nach 1866 mit kundiger, sicherer, wenn auch bisweilen rauher Hand vollzogen. Kurz nach Falks Antritt des Kultusministeriums und nach dem Erlaß der "Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Okt. 1872 am 1. Jan. 1873 trat S. als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat in den Ruhestand und starb 16. Sept. 1878 in Freiburg i. Br. Er veröffentlichte: "Der vaterländische Geschichtsunterricht" (Kobl. 1842); "Aktenstücke zur Geschichte und zum Verständnis der drei preußischen Regulative" (Berl. 1855); "Die Weiterentwickelung der Regulative" (das. 1861); "Meine Stellung zu den drei preußischen Regulativen" (das. 1872). Auch begründete er 1859 das "Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen". Stiehle, Gustav von, preuß. General, geb. 14. Aug. 1823 zu Erfurt, trat 1840 in das 4. pommersche Infanterieregiment Nr. 21, ward 1841 Offizier, 1845 bis 1847 zur Kriegsakademie und 1852-55 zur trigonometrischen Abteilung des Großen Generalstabs kommandiert. 1858 als Hauptmann in das Königsgrenadierregiment versetzt, trat er 1859 als Major in den Generalstab zurück und ward Direktor der neuerrichteten Kriegsschule zu Potsdam, dann zu Neiße. 1860 erhielt er die Leitung der historischen Abteilung des Generalstabs und hielt zugleich Vorlesungen an der Kriegsakademie. 1864 nahm er im Stab des Feldmarschalls v. Wrangel am Feldzug gegen Dänemark teil, wurde geadelt, zum Oberstleutnant und Flügeladjutanten des Königs ernannt und dann als Militärattaché den Gesandtschaften in London und Wien zugeteilt. Den Feldzug von 1866 machte er im großen Hauptquartier des Königs mit; er erwarb sich hier den Orden pour le mérite, nahm an den Nikolsburger Stielbrand - Stiergefechte. Verhandlungen teil u. leitete die militärischen Schlußverhandlungen, welche dem Prager Frieden folgten. 1868 ward er zum Kommandeur des Gardegrenadierregiments Königin Augusta in Koblenz ernannt, 1869 jedoch in den Großen Generalstab zurückgerufen. 1870 wurde er Chef des Generalstabs der zweiten Armee und nahm an allen kriegerischen Thaten dieser Armee in einflußreichster Weise teil. S. war es, der am 27. Okt. mit dem französischen General Jarras die Kapitulation von Metz abschloß. Nach dem Friedensschluß trat er als Abteilungschef in den Generalstab zurück, wurde 1871 Direktor des allgemeinen Kriegsdepartements und Mitglied des Bundesrats, 1873 Generalleutnant à la suite und Inspekteur der Jäger und Schützen, 1875 Kommandeur der 7. Division in Magdeburg, 1881 kommandierender General des 5. Armeekorps in Posen und 1886 Chef des Ingenieur- und Pionierkorps und Generalinspekteur der Festungen; im September 1888 nahm er seinen Abschied. Stielbrand (Stengelbrand), s. Brandpilze III. Stieler, 1) Adolf, Kartograph, geb. 26. Febr. 1775 zu Gotha, studierte die Rechte, erhielt 1797 eine Anstellung beim Ministerialdepartement in Gotha, ward 1813 zum Legationsrat und 1829 zum Geheimen Regierungsrat befördert und starb 13. März 1836. S. hat sich um die Geographie besonders durch gründliche und geschmackvolle Behandlung des Kartenwesens verdient gemacht. Sein Hauptwerk ist der bekannte "Handatlas", den er unter Mitwirkung von Reichard (Gotha 1817-23) in 75 Blättern herausgab, und der in neuester Bearbeitung seit 1888 (in 90 Bl.) erscheint. Auch sein "Schulatlas" und seine "Karte von Deutschland" in 25 Sektionen fanden weite Verbreitung. 2) Karl Joseph, Maler, geb. 1. Nov. 1781 zu Mainz, bildete sich als Autodidakt zum Pastell- und Miniaturmaler, widmete sich dann seit 1805 als Schüler Fügers in Wien der Ölmalerei und eröffnete sich hier eine glänzende Thätigkeit als Porträtmaler. Sein Ruf führte ihn von da nach Ungarn und Polen, wo er zahlreiche Bildnisse malte, dann nach Paris, wo er zwei Jahre verweilte und sich weiter bei Gerard ausbildete, dessen elegante und anmutige, aber oberflächliche und charakterlose Art für ihn maßgebend blieb. Nach einem Besuch Roms, wo er das jetzt in der Leonhardskirche zu Frankfurt a. M. befindliche große Altarblatt malte, ließ er sich 1812 in München nieder. 1816 nach Wien gerufen, um den Kaiser Franz zu malen, verweilte er dort bis 1820 und kehrte dann nach München zurück, wo er 9. April 1858 starb. Von seinen Arbeiten sind noch hervorzuheben: die Bildnisse Goethes (1828), Schellings, Tiecks, A. v. Humboldts, Beethovens, der Familie des Königs Maximilian von Bayern und die Galerie weiblicher Schönheiten in der königlichen Residenz zu München. 3) Karl, Dichter und Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 15. Dez. 1842 zu München, studierte auf der Universität daselbst die Rechte und promovierte, unternahm dann Reisen nach England, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Italien, Ungarn und Norddeutschland, über die er meist in der "Allgemeinen Zeitung" berichtete, und übernahm endlich eine Beamtenstelle im bayrischen Staatsarchiv zu München, wo er 12. April 1885 starb. Sein Ruf als Dichter gründet sich auf seine volkstümlich frischen und von köstlichem Humor gewürzten Dichtungen in oberbayrischer Mundart, von denen mehrere Sammlungen vorliegen, wie: "Bergbleameln" (Münch. 1865), "Weil's mi freut!" (Stuttg. 1876), "Habt's a Schneid'?!" (das. 1877), "Um Sunnawend" (das. 1878), "In der Sommerfrisch" (das. 1883) und "A Hochzeit in die Berg" (das. 1884), letztere beiden mit Zeichnungen von H. Kauffmann. Alle diese (meist in wiederholten Auflagen erschienenen) Bücher fanden, wie auch seine hochdeutschen "Hochlandlieder" (Stuttg. 1879), "Neue Hochlandlieder" (das. 1883) und das Liederbuch "Wanderzeit" (das. 1882), allgemein die günstigste Aufnahme. Außerdem beteiligte sich S. an der Herausgabe mehrerer illustrierter Prachtwerke, so: "Aus deutschen Bergen" (mit H. Schmid, Stuttg. 1871); "Weidmanns-Erinnerungen" (Münch. 1874); "Italien" (mit E. Paulus und W. Kaden, Stuttg. 1875); "Rheinfahrt" (mit H. Wachenhusen und Fr. W. Hackländer, das. 1877) und "Elsaß-Lothringen" (das. 1877). Nach sei- nem Tod erschienen noch: "Ein Winteridyll" (Stuttg. 1885); "Kulturbilder aus Bayern" (das. 1885); "Natur- und Lebensbilder aus den Alpen" (das. 1886); "Aus Fremde und Heimat", vermischte Aufsätze (das. 1886); "Durch Krieg zum Frieden. Stimmungsbilder aus den Jahren 1870/71" (das. 1886). Stielstich, s. Stickerei. Stier, 1) das zweite Zeichen des Tierkreises (*); 2) ein Sternbild zwischen 46-87° Rektaszension und 0-28 1/2° nördl. Deklination, nach Heis mit 188 dem bloßen Auge sichtbaren Sternen, darunter der Aldebaran von erster Größe sowie die Plejaden und Hyaden. Der Poniatowskische S. ward 1777 vom Abt Poczobut zu Wilna als ein eignes Sternbild aus Sternen gebildet, die zwischen der östlichen Schulter des Ophiuchus und dem Adler sich befinden und größtenteils zum Ophiuchus gehören. Stier, Ewald Rudolf, protestant. Theolog, geb. 17. März 1800 zu Fraustadt in Posen, studierte erst Jura, dann Theologie, war bis 1819 Vorsteher der Halleschen Burschenschaft, hielt sich hierauf an verschiedenen Orten auf, teils lernend, teils lehrend, wurde, ohne eine Prüfung absolviert zu haben, 1829 Pfarrer zu Frankleben bei Merseburg, 1838 in Wichlinghausen bei Barmen; 1846-50 privatisierte er in Wittenberg , dann wurde er zum Superintendenten ernannt zuerst 1850 in Schkeuditz, 1859 in Eisleben, wo er 16. Dez. 1862 starb. Unter seinen zahlreichen exegetischen Werken nennen wir: "Siebzig ausgewählte Psalmen" (Braunschw. 1834-36, 2 Bde.); "Die Reden des Herrn Jesu" (3. Aufl., Leipz. 1865 bis 1874, 7 Bde.); "Die Reden der Engel" (das. 1860); "Die Reden der Apostel" (2. Aufl., das. 1861); "Jesaias, nicht Pseudo-Jesaias" (Barm. 1851). Auch beteiligte er sich am Streit über die Apokryphen (zu gunsten derselben), über die Union, an der Revision der deutschen Bibel etc. Sehr verbreitet war "Luthers Katechismus als Grundlage des Konfirmandenunterrichts" (6. Aufl., Berl. 1855). Seine Auslegung ist mehr von einem kraftvollen Inspirationsglauben, den er von J. F. v. Meyer übernommen hatte, als vonwissenschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Auch war er Mitherausgeber der "Polyglotten-Bibel" (mit Theile, 4. Aufl., Bielef. 1875). Sein Leben beschrieben seine Söhne G. und F. S. (Wittenb. 1868). Stiergefechte (Corridas ["Rennen"] oder Fiestas ["Feste"] de Toros), Kämpfe von Menschen zu Fuß und zu Pferd mit Stieren, eine spezisisch spanische Volksbelustigung, die, wahrscheinlich durch die Mauren in Spanien eingeführt, auch in den spanischen Kolonien (nur schwach in Portugal) sich erhalten hat. Als ritterliches Vergnügen, ähnlich dem Turnier und den Eberhetzen, waren sie nachweislich schon im Anfang des 12. Jahrh. in Spanien üblich, wie denn auch der Cid Campeador als glänzender echter gerühmt wird, und unter Philipp IV. Stieringen-Wendel - Stift. erreichten die S. den Höhepunkt ihres Glanzes. Erst Philipp V. trat, wenn auch ohne Erfolg, als offener Gegner der S. auf, welche von nun an gewerbsmäßig von bezahlten Stierkämpfern (Toreros) betrieben wurden, die heute in ganz Spanien der Gegenstand allgemeinster Popularität und der übertriebensten Huldigungen sowohl innerhalb als außerhalb der Arena sind. Fast jede irgend bedeutende Stadt hat ihre in Form eines Amphitheaters errichtete Plaza de Toros. Die größten finden sich in Valencia (16,000 Plätze) und Madrid (14,000). In Madrid finden, mit einer kurzen Unterbrechung im Sommer, von Ostern bis Allerheiligen jeden Sonntag und Donnerstag, oft auch häufiger, S. statt, so im J. 1887 deren 34 mit 217 Stieren und 372 Pferden als Opfer; in den Provinzialstädten nicht so oft, dennoch kann man 200 S. jährlich in Spanien annehmen. Das moderne Stiergefecht besteht aus drei Akten, in welchen die vier Gruppen der Cuadrilla (alle Toreros, welche irgendwie am Gefecht teilnehmen) nacheinander ihre Geschicklichkeit entfalten. Die Picadores (Lanzenreiter) auf elenden Kleppern reizen zunächst den auf den Kampfplatz gelassenen Stier durch Lanzenstiche in den Nacken; seine Wut wird gesteigert durch die Banderilleros, welche zu Fuß dem Stier mit Widerhaken versehene aufgeputzte Stäbe (Banderillas, Fähnlein) ins Fleisch stoßen. Die Chulos (auch Capeadores, von Capa, Mantel, genannt) unterstützen die andern, indem sie durch geschicktes Schwingen roter Mäntel die Aufmerksamkeit des Stiers von seinen Verfolgern, sobald diese in Gefahr schweben, ablenken. Die Hauptperson aber ist der Espada (Degen), der dem Stier mit der blanken Waffe, einem ca. 90 cm langen, starken Stoßdegen (Espada), den Todesstoß in eine bestimmte Stelle des Nackens zu versetzen hat. Der Espada (der Ausdruck Matador [Töter] ist in Spanien weniger üblich) reizt den Stier durch die Muleta, ein an einem Stock befestigtes Stück roten Tuches, das er mit der Linken vor sich flattern läßt, und stößt dann dem angreifenden Stier den Degen zwischen den Hörnern hindurch bis ans Heft in den Leib. Berühmte Espadas erhalten 6-8000 Frank für jedes Stiergefecht. Feige Stiere werden erst gebrannt und dann durch Hunde zerrissen, oder man durchschneidet ihnen von hinten die Fesseln, und der Cachetero, der auch die andern Stiere, die nicht tödlich getroffen sind, abfängt, tötet sie durch einen Dolchstoß ins Genick. Jeder einzelne Stierkampf dauert ungefähr eine halbe Stunde; meist kommen bei einer Vorstellung sechs Stiere und ungefähr doppelt so viel Pferde ums Leben. Man kann heute die Opfer auf jährlich 1000 Stiere und mindestens 3500 getötete Pferde berechnen. Die jährlichen Ausgaben für S. betragen viele Millionen Frank. In Spanien wie in den südamerikanischen Republiken widmen sich zahllose Zeitschriften dem nationalen Sport der S., und die Litteratur über dieselbe ist eine sehr reichhaltige. Vgl. Joest, Spanische S. (Berl. 1889). Stieringen-Wendel, Gemeinde im deutschen Bezirk Lothringen, Kreis Forbach, an der Eisenbahn S. (Preußische Grenze)-Novéant, hat ein bedeutendes Eisenhüttenwerk mit 1250 Arbeitern (Fabrikation von Trägern, Eisenbahnschienen etc.), eine Glashütte und (1885) 3854 meist kath. Stiersucht, s. Brüllerkrankheit. Stier von Uri, im Mittelalter der Hürner (Hornist) der Männer von Uri, so benannt, weil er die Mannschaft durch das Blasen eines Auerochsenhorns zusammenrief. Stieve, Felix, Geschichtsforscher, geb. 9. März 1845 zu Münster in Westfalen als Sohn des damaligen Gymnasialdirektors, spätern vortragenden Rats im preußischen Unterrichtsministerium, Friedrich S. (gest. 1878), studierte in Breslau, Innsbruck, Berlin und München Geschichte und erlangte mit einer Dissertation: "De Francisco Lamberto Avenionensi". 1867 zu Breslau die philosophische Doktorwürde. Hierauf trat er im Herbst 1867 bei der Historischen Kommission in München als Mitarbeiter an den "Wittelsbacher Korrespondenzen zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" ein, habilitierte sich 1874 als Privatdozent der Geschichte an der Münchener Universität, wurde 1878 Mitglied der königlich bayrischen Akademie der Wissenschaften und 1886 Professor der Geschichte am Polytechnikum in München. Er veröffentlichte: "Die Reichsstadt Kaufbeuren und die bayrische Restaurationspolitik" (Münch. 1870); "Der Ursprung des Dreißigjährigen Kriegs 1607-19" (Bd. 1: "Der Kampf um Donauwörth", das. 1875); "Das kirchliche Polizeiregiment in Bayern unter Maximilian I." (das. 1876); "Zur Geschichte der Herzogin Jakobe von Jülich" (Bonn1878); "Die Politik Bayerns 1591-1607" (als Band 4 u. 5 der "Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", Münch. 1878-82); "Die Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser Rudolfs II. in den Jahren 1581-1602" (das. 1879); "Der Kalenderstreit des 16. Jahrhunderts in Deutschland" (das. 1880); "Über die ältesten halbjährigen Zeitungen oder Meßrelationen und insbesondere über deren Begründer Freiherrn v. Aitzing" (das. 1881) ; "Wittelsbacher Briefe aus den Jahren 1590-1610" (das. 1885-88, 3 Tle.) u. a. Stifel (Styfel, auch Stieffel), Michael, Algebrist, geb. 1487 zu Eßlingen, ging in das dortige Augustinerkloster, aus dem er aber 1522 als Anhänger Luthers entfloh, worauf er als evangelischer Prediger erst bei einem Grafen von Mansfeld, dann in Oberösterreich, 1528-34 zu Lochau bei Torgau, hierauf bis 1547 zu Holzdorf bei Wittenberg, nachher zu Haberstrohm bei Königsberg i. Pr. wirkte. Später scheint er in Jena gelebt zu haben, wo er 19. April 1567 starb. Sein Hauptwerk ist die "Arithmetica integra" (Nürnb. 1544). Vgl. Cantor in Schlömilchs "Zeitschrift für Mathematik und Physik", Bd. Stift (das S.; Mehrzahl: die Stifter), jede mit Vermächtnissen und Rechten ausgestattete, zu kirchlichen Zwecken bestimmte und einer geistlichen Korporation übergebene Anstalt mit allen dazu gehörigen Personen, Gebäuden und Liegenschaften. Die ältesten Anstalten dieser Art sind die Klöster, nach deren Vorbild sich später das kanonische Leben der Geistlichen an Kathedralen und Kollegiatstiftskirchen gestaltete. Im Gegensatz zu den mit den Kathedralkirchen verbundenen Erz- und Hochstiftern mit je einem Erzbischof oder Bischof an der Spitze hießen die Kollegiatkirchen, bei welchen kein Bischof angestellt war, Kollegiatstifter. Die Mitglieder derselben wohnten in Einem Gebäude zusammen und wurden von dem Ertrag eines Teils der Stiftsgüter und Zehnten unterhalten. So bildeten sich die Domkapitel, deren Glieder, die Canonici, sich Kapitularen, Dom-, Chor- oder Stiftsherren nannten. Infolge des häufigen Eintritts Adliger entzogen sich dieselben schon im 11. Jahrh. der Verpflichtung des Zusammenwohnens (Klausur), verzehrten ihre Präbenden einzeln in besondern Amtswohnungen, bildeten jedoch fortwährend ein durch Rechte und Einkünfte ausgezeichnetes Kollegium, welches seitdem 13. Jahrh. über die Aufnahme neuer Kapitularen zu entscheiden, bei Erledigung eines Bischofsitzes (Sedisvakanz) die Stifte - Stigel. provisorische Verwaltung der Diözese zu führen und den neuen Bischof aus seiner Mitte zu wählen hatte. Vor der durch den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803 verfügten Säkularisation hatten die deutschen Erz- oder Hochstifter Mainz, Trier, Köln, Salzburg, Bamberg, Würzburg, Worms, Eichstätt, Speier, Konstanz, Augsburg, Hildesheim, Paderborn, Freising, Regensburg, Passau, Trient, Brixen, Basel, Münster, Osnabrück, Lüttich, Lübeck und Chur sowie einige Propsteien (Ellwangen, Berchtesgaden etc.) und gefürstete Abteien (Fulda, Korvei, Kempten etc.) Landeshoheit und Stimmrecht auf dem Reichstag, daher sie auch reichsunmittelbare Stifter hießen und den Fürstentümern gleich geachtet wurden. In andern Ländern waren die Stifter niemals zu so hoher Macht gelangt. Auch in den bei der Reformation protestantisch gewordenen Ländern blieben meist die Stifter und die Domkapitel, jedoch ohne einen Bischof und ohne Landeshoheit, und ihre Einkünfte wurden als Sinekuren vergeben. Ausnahmen bildeten nur das ganz protestantische Bistum Lübeck und das aus gemischten Kapitularen bestehende Kapitel zu Osnabrück. Jetzt sind alle Stifter mittelbar, d. h. der Hoheit des betreffenden Landesherrn unterworfen. Bei den unmittelbaren Hoch- und Erzstistern mußten die Domherren ihre Stiftsfähigkeit durch 16 Ahnen beweisen; sie waren Versorgungsanstalten für die jüngern Söhne des Adels geworden. Während diese adligen Kapitularen sich den Genuß aller Rechte ihrer Kanonikate vorbehielten, wurden die geistlichen Funktionen den regulären Chorherren auferlegt, woher sich der Unterschied der weltlichen Chorherren (Canonici seculares), welche die eigentlichen Kapitularen sind, von den regulierten Chorherren (Canonici regulares) schreibt. Die säkularisierten und protestantisch gewordenen Stifter behielten häufig ihre eigne Verfassung und Verwaltung; meist wurden aber ihre Präbenden in Pensionen verwandelt, welche zuweilen mit gelehrten Stellen verbunden sind. In Preußen sind die evangelischen Domkapitel zu Brandenburg, Merseburg und Naumburg sowie das Kollegiatstift in Zeitz bemerkenswert. Vgl. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel (Mainz 1885). Außer den Erz-, Hoch- und Kollegiatstiftern gibt es auch noch weibliche Stifter und zwar geistliche und weltliche. Erstere entstanden durch eine Vereinigung regulierter Chorfrauen und glichen den Klöstern; bei den freien weltlichen Stiftern dagegen legen die Kanonissinnen nur die Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams gegen ihre Obern ab, können jedoch heiraten, wenn sie auf ihre Pfründe verzichten, und haben die Freiheit, die ihnen vom S. zufließenden Einkünfte zu verzehren, wo sie wollen. Nur die Pröpstin und Vorsteherin nebst einer geringen Zahl Kanonissinnen pflegen sich im Stiftsgebäude aufzuhalten. Auch die Pfründen dieser Stifter wußte der stiftsfähige Adel vielfach ausschließlich für seine Töchter zu erlangen, doch hängt häufig die Aufnahme auch von einer Einkaufssumme ab. Auch sind für die Töchter von verdienten Beamten Stiftsstellen geschaffen worden. Die Kanonissinnen dieser "freien weltadligen Damenstifter" werden jetzt gewöhnlich Stiftsdamen Stifte, s. Nägel, S. 977. Stifte (Balzstifte), die kleinen hornartigen Federchen an beiden Seiten der Zehen des Auerhahns, welche er zu Ende der Balz Stifter, Adalbert, Dichter und Schriftsteller, geb. 23. Okt. 1806 zu Oberplan im südlichen Böhmen, studierte in Wien die Rechte, daneben Philosophie und Naturwissenschaften, ward Lehrer des Fürsten Richard Metternich und 1849 zum Schulrat für das Volksschulwesen Oberösterreichs ernannt. Als solcher nahm er seinen Wohnsitz in Linz, von wo aus er vielfach die Alpen, Italien etc. bereiste, ward 1865 pensioniert und starb daselbst 28. Jan. 1868. Seine Idylle und Novellen erschienen gesammelt unter den Titeln: "Studien" (Pest 1844-51, 6 Bde.; 8. Aufl. 1882, 2 Bde.) und "Bunte Steine" (das. 1852, 2 Bde.; 7. Aufl. 1884). Namentlich die "Stadien" erregten von ihrem Erscheinen an Teilnahme und selbst Enthusiasmus. Die unbedingte Hinwegwendung von allen Problemen und Tendenzen des Tags, der idyllische, fast quietistische Grundzug, die meisterhaften Details, namentlich die sinnigen Naturschilderungen, die feine, gleichmäßige Durchführung bildeten einen so wohlthuenden Gegensatz zur Tagesbelletristtk, daß man darüber die Mängel der überwiegend kontemplativen, aller Leidenschaft und Thatkraft abgewandten, zur lebendigern Menschendarstellung daher unfähigen Natur des Autors übersah. Diese Mängel traten namentlich in den größern Romanen Stifters: "Der Nachsommer" (Pest 1857, 3. Aufl. 1877) und "Witiko" (das. 1864-67, 3 Bde.), hervor. Stifters Nachlaß ("Briefe", Pest 1869, 3 Bde.; "Erzählungen", das. 1869, 2 Bde.; "Vermischte Schriften", das. 1870, 2 Bde.) gab Aprent heraus. "Ausgewählte Werke" von ihm erschienen in 4 Bänden (Leipz. 1887). Vgl. Emil Kuh, Adalbert S. (Wien 1868); Derselbe, Grillparzer und A. S. (Preßb. 1872); Markus, A. Stifter (2. Aufl., Wien 1879). Stiftsherr, s. Domherr. Stiftshütte (Bundeshütte), das zeltartige tragbare Heiligtum, welches Moses auf dem Zug der Israeliten durch die Wüste zum Gottesdienst anfertigen ließ. Es ward später in Kanaan an verschiedenen Orten, zuletzt unter David in Jerusalem, aufgestellt und darin bis zur Erbauung des Tempels durch Salomo der Opferkultus verrichtet. Die S. (hebr. Ohel moed, wobei man Ohel und Mischkan unterschied) bildete ein Rechteck von 30 Ellen Länge, 10 Ellen Breite und 10 Ellen Höhe. Ihre Wände bestanden aus 48 übergoldeten Brettern von Akazienholz, welche durch goldene Ringe zusammengehalten wurden. Über diesen Wänden hing ein einfacher Teppich. Die vordere, zum Eingang dienende Seite war mit einem an fünf Säulen befestigten Vorhang verhängt. Das Innere teilte ein andrer Vorhang (Parochet) in eine vordere Abteilung, das Heilige, worin der Tisch mit den Schaubroten, der goldene Leuchter und der Räucheraltar, und in eine hintere Abteilung, das Allerheiligste, worin die Bundeslade stand. Das Ganze war mit einem für das Volk bestimmten Vorhof umgeben. Salomo ließ nach Erbauung des Tempels die Überreste der S. in diesem aufstellen. Vgl. Naumann, Die S. (Gotha 1869). Stiftslehen, s. Kirchenlehen. Stiftsschulen, s. Domschulen. Stiftung, s. Milde Stiftungen. Stigel, Johann, neulat. Dichter, geb. 13. Mai 1515 bei Gotha, studierte in Leipzig und Wittenberg, wo er Luthers und Melanchthons Freundschaft genoß, Humaniora, ward 1542, zu Regensburg vom Kaiser als Dichter gekrönt, Professor der lateinischen Sprache in Wittenberg, eröffnete 1558 als erster Professor der Beredsamkeit die Universität Jena mit der Weihrede und starb 11. Febr. 1562. Unter seinen Schriften sind die "Carmina" (Jena 1660 ff., 4 Bde.) hervorzuheben. Vgl. Göttling, Vita Joh. Stigelii (Jena 1858; abgedr. in den "Opusc. acad.", S. 1-64). Stiglmayer - Stil. Stiglmayer, Johann Baptist, Erzgießer, Bildhauer und Medailleur, geb. 18. Okt. 1791 zu Fürstenfeldbruck bei München, kam zu einem Goldschmied in München in die Lehre, ward 1810 in die Akademie der bildenden Künste aufgenommen, 1814 als Münzgraveur angestellt und 1819 nach Italien gesandt, um die Technik des Erzgusses kennen zu lernen. In Rom gründete er seinen Ruf durch den Guß der Büste des spätern Königs Ludwig I. von Bayern nach Thorwaldsens Modell. 1822 ins Vaterland zurückgekehrt, schnitt er Stempel zu Kurrentmünzen und Medaillen und ward dann zum Inspektor der königlichen Erzgießerei ernannt, in welcher Stellung er eine lebhafte Thätigkeit entfaltete. Aus seiner Werkstatt gingen folgende Güsse hervor: der Kandelaber für das vom Grafen von Schönborn in Gaibach errichtete Konstitutionsdenkmal, der auf dem Karolinenplatz in München errichtete Obelisk, Bronzethore nach Zeichnungen L. v. Klenzes für die Glyptothek und die Walhalla, das Denkmal des Königs Maximilian I. im Bad Kreuth, nach eignem Entwurf, das Monument des Königs Maximilian I. auf dem Max Josephsplatz in München, nach Rauchs Modell (1835), die Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian aus dem Wittelsbacher Platz daselbst, nach Thorwaldsens Modell (1836), die zwölf kolossalen Standbilder der Fürsten des Hauses Wittelsbach im Thronsaal der Residenz, nach Schwanthalers Modellen, die Statue Schillers auf dem Schloßplatz zu Stuttgart, nach Thorwaldsen, die Standbilder Jean Pauls in Baireuth, Mozarts in Salzburg, des Markgrafen Friedrich von Brandenburg in Erlangen, des Großherzogs Ludwig von Hessen-Darmstadt in Darmstadt, nach Schwanthaler. Das kolossalste Werk der Münchener Gießerei, dessen Guß S. aber nur in seinen ersten Teilen ausführte, war die Bavaria in München, sein letztes die Goethestatue in Frankfurt a. M. Er starb 2. März 1844 in München. Stigma (griech., "Stich"), bei den Griechen und Römern ein Brandmal, das Verbrechern, namentlich diebischen oder entlaufenen Sklaven, eingebrannt wurde (gewöhnlich auf der Stirn); in der Botanik s. v. w. Narbe (s. Blüte, S. 69); in der Zoologie s. v. w. Luftloch (s. Tracheen). Stigmaria Brongn., s. Lykopodiaceen, S.6. Stigmatisation, das angebliche freiwillige Auftreten der fünf Wundmale Christi bei Personen, die sich in eine schwärmerische Betrachtung seiner Leiden versenkt hatten. Nachdem der heil. Franz von Assisi (s. Franziskaner) zuerst diese Auszeichnung erhalten haben soll und die heil. Katharina von Siena wenigstens einen Ansatz dazu genommen, hat sich diese Erscheinung im Lauf der Jahrhunderte an sehr zahlreichen Personen, namentlich weiblichen Geschlechts, wiederholt, und zwar sowohl bei Nonnen als bei weiblichen Laien, und bei einigen blieb die S. eine dauernde, indem die Wundmale alle Freitage und am stärksten in der Passionszeit bluteten, was dann häufig zu Schaustellungen Anlaß gegeben hat. Insbesondere wiederholte sich die S. in Zeiten religiöser Aufregung, und in unserm Jahrhundert haben Katharina Emmerich, die Freundin Klemens Brentanos, Maria v. Mörl und insbesondere Louise Lateau in dem belgischen Dörfchen Bois d'Haine in dieser Richtung großes Aufsehen erregt. Diese Personen gaben bestimmten Verehrerkreisen Schaustellungen, indem sie theatralisch die Leiden Christi, während sie dieselben angeblich empfanden, in lebenden Bildern durchführten; daneben bekamen sie kataleptische Zufälle (Verzückungen), in denen sie unempfindlich gegen Schmerzen zu sein vorgaben, und mancherlei andre Wundergaben (vollkommenes Fasten, Empfindung der Nähe heiliger Gegenstände etc.). Das Urteil über diese Fälle hat sich zuerst naturgemäß nur in den beiden Gegensätzen: Wunder oder Betrug! kundgegeben, und in der unendlichen Litteratur, die über Louise Lateau entstand, vertrat der belgische Arzt Professor Lefebvre ("Louise Lateau", Löwen 1873) mit aller Entschiedenheit die Überzeugung, daß hier ein übernatürliches Ereignis vorliege, während Virchow u. a. es einfach als Betrug brandmarkten. In der That sind denn auch nicht wenige Fälle von sogen. S. vor den Gerichten als grober Betrug entlarvt worden. Bei der Bedeutung, welche von manchen Seiten dem Fall der Louise Lateau beigelegt wurde, ernannte die Brüsseler Akademie der Wissenschaften eine Kommission zur Untersuchung desselben, und in dem Bericht, welchen Warlomont über die Arbeiten dieser Kommission erstattet hat, wird nun auf Grund sehr sorgfältiger und den Betrug ausschließender Untersuchungen und in Übereinstimmung mit andern belgischen und französischen Ärzten die schon von Montaigne vertretene Meinung ausgesprochen, daß eine bis zur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholte freiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringen könne. Außerdem bieten viele den Stigmatisierten eigentümliche Zufälle, wie die Katalepsie, Unempfindlichkeit, die Nachahmungssucht u. a., eine bedeutende Ähnlichkeit mit den neuerdings genauer untersuchten Zuständen des Hypnotismus (s. d.), welche in ähnlicher Weise durch Konzentration der Gedanken und Sinneseindrücke auf bestimmte eng begrenzte Gebiete hervorgerufen werden. Danach würde sich die S. in den Fällen, wo nicht grober Betrug vorliegt, jenen zahlreichen Erscheinengen anreihen lassen, welche mit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit und Selbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. Diesen Standpunkt nehmen die Schriften von Warlomont (Brüssel 1875) und Bourneville (Par. 1875) über Louise Lateau und Charbonnier ("Maladies des mystiques", Brüssel 1875) ein; aus der unübersehbaren fernern Litteratur vgl. Schwann. Mein Gutachten über die Versuche etc. (Köln 1875). Stigmatypie (griech.), ein von Fasol in Wien erfundenes Setzverfahren zur Herstellung von Bildern durch Punkte auf typographischem Weg. Stikeen (spr. -kihn, Stachine), Fluß in Nordamerika, entspringt auf dem Tafelland von Britisch-Columbia, durchfließt in seinem untern, schiffbaren Teil das Territorium Alaska und mündet unterm 57.° nördl. Br. in den Stillen Ozean. An seinen Ufern wurde 1862 Golo entdeckt. Dampsschiffe befahren ihn 320 km weit. Stil (v. lat. stilus, "Griffel", Schreibart), bezeichnet in der Litteratur die Art und Weise der sprachlichen Darstellung, wie sie sowohl durch die geistige Fähigkeit und subjektive Eigentümlichkeit des Schriftstellers als auch durch den Inhalt und den Zweck des Dargestellten bedingt wird. Da der S. also als die durch das Ganze der schriftlichen Darstellung herrschende Art, einen Gegenstand aufzufassen und auszudrücken, nicht nur von dem Inhalt des Gegenstandes, sondern auch von dem Charakter und der Bildung des Menschen abhängig ist, so hat eigentlich jeder Schriftsteller seinen eignen S., was Buffon meint, wenn er sagt: "Der S. ist der Mensch selbst" ("le style c'est l'homme même"). Die erste Forderung, die man an jede Art des Stils macht, ist Deutlichkeit und Klarheit. Die Deutlichkeit verlangt aber Reinheit der Sprache oder Vermeidung aller Stilbit - Stilke. Wörter, die das Bürgerrecht in der Sprache nicht erlangt haben, z. B. aller Provinzialismen, ausländischer, ohne Not neugeschaffener oder veralteter Wörter; treue Beobachtung der durch die Grammatik bestimmten Gesetze; Korrektheit, wonach man das den darzustellenden Begriff bezeichnende und deckende Wort wählt; Präzision oder Bestimmtheit, wonach alles Überflüssige entfernt und nicht mehr oder weniger gegeben wird, als was zur genauen Darstellung des Gedankens erforderlich ist. Inhalt und Zweck der stilistischen Darstellung können verschieden sein, und man unterscheidet insbesondere drei Kräfte, die bei derselben in Wirksamkeit treten: Verstand, Einbildung und Gefühl, weshalb man von einem S. des Verstandes, der Einbildung und des Gefühls spricht. Bei dem erstern wird man sich vor allem der Deutlichkeit, bei dem zweiten der Anschaulichkeit und bei dem dritten der Leidenschaftlichkeit zu befleißigen haben. Zu dem ersten gehört die prosaische Darstellung im allgemeinen, zu dem zweiten die Epik und das Drama, zu dem dritten die Lyrik und die Rede. Die alten Griechen und Römer unterschieden, ungefähr dem entsprechend, aber ohne Rücksicht auf Inhalt und Zweck der Darstellung, in der Prosa einen niedern (genus submissum), einen mittlern (g. medium) und einen höhern S. (g. sublime), und es sollen nach ihrer Regel z. B. in einer Rede alle drei Stilarten miteinander abwechseln (vgl. Rede). Im übrigen unterscheidet man mehrere stilistische Gattungen mit gewissen feststehenden Formen, z. B. den philosophischen, den didaktischen, den historischen, den Geschäfts- und Briefstil. Die Theorie des Stils oder Stilistik ist die geordnete Zusammenstellung aller Regeln des guten Stils oder der üblichen Art, sich schriftlich auszudrücken. Vgl. Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik (2. Aufl., Halle 1888). - In der bildenden Kunst versteht man unter S. einerseits die in einem Kunstwerk zur Darstellung gebrachte formale und geistige Anschauung, wie sie bei einem Volk oder in einer gewissen Zeit für die verschiedenen Künste als maßgebend angesehen ward, anderseits die individuelle, sich von der allgemeinen Richtung in Einzelheiten unterscheidende Darstellungsweise eines Künstlers. Wenn sich dieser individuelle S. zu einseitig ausprägt oder seinen geistigen Inhalt verliert, nennt man diese Darstellungsweise Manier (s. d.). Ebenso bezeichnet S. in der Musik sowohl die für eine Kompositionsgattung oder für bestimmte Instrumente erforderliche Schreibweise (Opernstil, Klavierstil, Kirchenstil, Vokalstil etc.) als auch die eigentümliche Schreibweise eines Meisters. Auch spricht man von einem strengen oder gebundenen S. und versteht darunter die Schreibweise mit reellen Stimmen unter Beobachtung der für den Vokalstil gültigen Gesetze, und von einem freien oder galanten S., welcher sich nicht an eine bestimmte Anzahl Stimmen bindet, sondern dieselben nach Belieben vermehrt oder vermindert etc. Endlich heißt auch S. die verschiedene Rechnungsart nach dem julianischen und gregorianischen Kalender. Man unterscheidet alten S., nach dem julianischen (noch jetzt bei den Russen gebräuchlich), und neuen S., nach dem gregorianischen Kalender, die beide um zwölf Tage voneinander abweichen; daher datiert man meist 12./24. Jan., d. h. 12. Jan. nach dem alten und 24. Jan. nach dem neuen S. Stilbit (Heulandit, Blätterzeolith), Mineral aus der Ordnung der Silikate (Zeolithgruppe), kristallisiert monoklinisch, findet sich aufgewachsen oder in Drusen (s. Tafel "Mineralien", Fig. 7), auch derb in strahligblätterigen Aggregaten, ist farblos, gelblich, grau, braun oder durch eingeschlossene Schüppchen von Eisenoxyd rot, glasglänzend, durchsichtig bis kantendurchscheinend, Härte 3,5-4, spez. Gew. 2,1-2,2, besteht aus Thonerdekalksilikat H4CaAl2Si6O18+3H2O mit geringem Natriumgehalt. Fundorte aus Erzlagern oder Gängen (Arendal, Kongsberg, Andreasberg), häufig in Blasenräumen der Basalte und Basaltmandelsteine auf den Färöern, Island, Skye, im Fassathal und in Nordamerika. S. auch s. v. w. Desmin (s. Stilett (ital.), Spitzdolch, ein kleiner Dolch mit schlanker, spitzer Klinge; s. Dolch. Stilfser Joch (Monte Stelvio, Wormser Joch), der höchste fahrbare Alpenpaß, 2756 m ü. M., an der Nordwestseite der Ortleralpen in Tirol, mit prachtvoller Kunststraße, welche das Etschthal (Vintschgau) mit dem Thal der Adda (Veltlin) verbindet. Die Straße wurde 1820-25 vom Ingenieur Donegani angelegt, ist 53 km lang und führt von Spondinig im Vintschgau über Gomagoi (Mündung des Suldenthals), Trafoi und Franzenshöhe in 48 Windungen, von denen die letzten teilweise durch Galerien gedeckt sind, bis zur Paßhöhe und von dort in 38 Windungen in das Brauliothal und weiter nach Bormio in der italienischen Provinz Sondrio. Die Straße übertrifft an Großartigkeit der Umgebung alle fahrbaren Alpenübergänge. Seinen Namen erhielt das Joch nach dem oberhalb der Straße gelegenen Tiroler Dörfchen Stilfs. Stilicho, röm. Feldherr und Staatsmann, Sohn eines im römischen Heer dienenden Vandalen, schwang sich durch Mut, Einsicht und Treue unter Kaiser Theodosius I. zu den höchsten Stellen empor und ward von diesem zum Gemahl seiner Nichte und Pflegetochter Serena und zum Vormund seines Sohns Honorius, welcher 395 als elfjähriger Knabe die Herrschaft des weströmischen Reichs antrat, erwählt. S. ließ seinen Nebenbuhler Rufinus ermorden, zwang 396 den Gotenkönig Alarich, das von ihm verwüstete Griechenland zu räumen, unterdrückte 398 den Aufstand des Gildo in Afrika, brachte Alarich, als derselbe 403 in Italien einfiel, zwei Niederlagen bei Pollentia und Verona bei, durch die derselbe genötigt wurde, Italien zu verlassen, und als 405 oder 406 ein großes Heer deutscher Völker unter Radagaisus in Italien eindrang, wurde dieses bei Fäsulä von ihm eingeschlossen und fast völlig vernichtet. Dagegen vermochte er nicht, Gallien gegen die Vandalen und Alanen, welche dasselbe 406 überschwemmten, zu schützen und Britannien, wo sich Constantinus zum Gegenkaiser erhoben hatte, wieder zu unterwerfen. Er wurde 408 durch Olympius gestürzt und in Ravenna ermordet. Vgl. Keller, Stilicho (Berl. 1884). Stilisieren, stilmäßig formen, besonders in Bezug auf die Schreibweise (s. Stil); in der Zeichenkunst und Malerei das Zurückführen der Naturformen unter Fortlassung des Zufälligen und Willkürlichen auf Grundformen, in welchen eine gewisse Gesetzmäßigkeit waltet. So ist z. B. der Akanthus (s. d., mit Abbildung) am korinthischen Kapitäl stilisiert. Über stilisierte oder stilistische Landschaften s. Heroisch. Stilistik (lat.), s. Stil. Stilke, Hermann, Maler, geb. 29. Jan. 1803 zu Berlin, studierte auf der Akademie daselbst, dann seit 1821 in München unter Cornelius, folgte demselben nach Düsseldorf, malte mit Stürmer gemeinsam im Assisensaal zu Koblenz das (unvollendete) Jüngste Gericht, führte darauf mehrere Fresken in den Arkaden zu München aus, besuchte 1827 Oberitalien und ging 1828 nach Rom. 1833 kehrte er nach Düsseldorf zurück, stellte 1842-46 im Rittersaal des Schlosses Stille - Stiller Ozean. Stolzenfels die sechs Rittertugenden in großen Wandbildern dar, siedelte 1850 nach Berlin über und starb daselbst 22. Sept. 1860. Außer einigen Fresken für das königliche Schloß in Berlin und das Schauspielhaus in Dessau malte er dort nur Staffeleibilder. Von seinen übrigen Werken sind hervorzuheben: Kreuzfahrerwacht (1834), St. Georg mit dem Engel, Pilger in der Wüste (Nationalgalerie in Berlin), die Jungfrau von Orléans, die letzten Christen in Syrien (1841, Museum in Königsberg), Raub der Söhne Eduards (Nationalgalerie in Berlin). - Seine Gattin Hermine S., geborne Peipers, geb. 1808, gest. 1869, hat sich als talentvolle Zeichnerin und Aquarellmalerin bekannt gemacht. Stille, Karl, Pseudonym, s. Demme 1). Stille Gesellschaft, s. Handelsgesellschaft. Stillen der Kinder, die Ernährung der Kinder in den ersten Lebensmonaten durch die Mutter- oder Ammenmilch. Für das neugeborne Kind, den Säugling, ist die Milch seiner Mutter die natürlichste und gesündeste Nahrung. Anderseits ist das Stillen ihrer Kinder für die Mutter eine natürliche Pflicht und für die Erhaltung ihrer eignen Gesundheit, zumal während des Wochenbettes, erforderlich. Bleibt die Mutter gesund, und wird die Milchabsonderung nicht gestört, so genügt die Mutterbrust dem Kind bis zu der Zeit, wo mit dem Durchbruch der Zähne sich der Trieb nach festen Nahrungsmitteln äußert. Mit dem ersten Anlegen des Kindes darf man nicht warten, bis die Brüste reichlichere und wirkliche Milch geben. Gerade durch das Saugen des Kindes wird die Milchabsonderung am besten befördert, und das Kolostrum, welches vom Kind zuerst verschluckt wird, begünstigt den Abgang des Kindspechs aus dem Darm. Schon in den ersten 24 Stunden nach der Geburt, am besten, sobald das Kind ordentlich aufgewacht ist, legt man dasselbe an die Brust und wiederholt dies etwa alle 3 Stunden, im allgemeinen um so häufiger, je schwächlicher das Kind ist, und läßt es dann um so weniger auf einmal trinken. Sonst aber läßt man es saugen, bis es satt ist, d. h. bis es zu trinken aufhört, oder bis es einschläft. Man läßt das Kind nun so lange schlafen, bis es von selbst aufwacht, und gibt ihm dann wieder die Brust. Nach einigen Monaten braucht dem Kinde die Brust nur in größern Zwischenräumen gereicht zu werden, und es pflegt dann um so größere Portionen auf einmal zu trinken. Wegen der nachteiligen Wirkung auf die Milchabsonderung und somit auch auf den Säugling darf dieser niemals gleich nach einem heftigen Gemütsaffekt, Zorn oder Ärger, der Mutter an die Brust gelegt werden; man kennt viele Fälle, wo Kinder unter solchen Umständen plötzlich erkrankt und selbst gestorben sind. Nach jedesmaligem Trinken muß der Mund des Säuglings mit einem zarten, in Wasser getauchten Leinwandläppchen sorgfältig gereinigt werden. Es ist dies das sicherste Mittel gegen Schwämmchenbildung auf der kindlichen Mundschleimhaut sowie gegen das Wundwerden der Brustwarzen. Mit der Entwickelung der Zähne müssen dem Kind noch andre Nahrungsmittel als Milch gereicht werden, und jetzt, wenn das Kind die Mutterbrust beißen kann, soll es von derselben entwöhnt werden, gewöhnlich etwa nach Vollendung des ersten Lebensjahrs, oft aber auch erst später. Je schwächlicher und kränklicher das Kind, je schlechter es genährt ist, um so später ist dasselbe zu entwöhnen, desgleichen bei bestehendem Verdacht auf erbliche Anlage zu gewissen Krankheiten. Hier fahre man womöglich mit dem Stillen über das erste Zahnen hinaus fort. Überhaupt warte man mit dem Entwöhnen eine Zeit ab, wo das Kind ganz gesund ist, und nehme es womöglich erst im Frühjahr oder Sommer vor. Immer sollte das Kind schon vorher mit Vorsicht und allmählich an dünnen Milchbrei, Suppen mit Zwieback, Arrowroot u. dgl. gewöhnt werden. Dem entwöhnten Kind gibt man täglich vier- bis fünfmal einen dünnen Brei aus feinem Weizenmehl, fein gestoßenem Zwieback und Milch mit wenig Zucker. Nebenher gibt man dem Kind gute, erwärmte, nicht abgekochte Kuhmilch, unter Umständen mäßig verdünnt, zu trinken. Wird das Kind stärker, so reicht man ihm Kalbfleisch- und Hühnerfleischbrühe, später auch andre Fleischbrühsuppen mit Grieß, Reis u. dgl., die aber durchgeseiht und einem dünnen Brei ähnlich sein müssen, bis man endlich nach dem Zahndurchbruch zu festern Nahrungsmitteln übergeht. Stiller Freitag, s. Karfreitag. Stiller Ozean (engl. Pacific Ocean, franz. Océan Pacifique), derjenige Teil des Weltmeers, welcher sich zwischen Amerika, Asien und Australien von der Beringsstraße bis zum südlichen Polarkreis ausbreitet (s. Karte "Ozeanien") und gegen den Atlantischen Ozean durch den Meridian des Kap Horn, gegen den Indischen Ozean durch den Meridian des Kap Liuwin abgegrenzt wird. Er überdeckt (uneingerechnet das Chinesische Meer und die australisch-ostindischen Archipelgewässer) einen Flächenraum von 2,926,210 QM. oder 161,125,673 qkm (nach Krümmels Berechnung), übertrifft also an Ausdehnung die Gesamtoberfläche der fünf Kontinente (2,441,642 QM.). Die älteste Benennung des Stillen Ozeans war Mar del Zur, die Südsee, weil dieses Meer bei der ersten Entdeckung 1513 von Vasco Nunez de Balboa im Süden des Isthmus von Darien gesehen wurde. Die Benennung Südsee ist noch jetzt für das gesamte inselreiche Meer südlich von Japan und den Sandwichinseln, namentlich bei den Seeleuten, allgemein in Gebrauch. Die von Malte-Brun herrührende Bezeichnung als Großer Ozean hat sich nicht allgemein einzubürgern vermocht und verschwindet mehr und mehr. Die in allen Sprachen eingebürgerte Bezeichnung Pacific oder S. O. rührt von Magelhaens her, welcher nach stürmischer Fahrt drei Monate lang bei beständigem stillen Wetter dieses Meer durchsegelte, bis er die Ladronen erreichte. Die Erforschung des Stillen Ozeans auf wissenschaftlicher Grundlage datiert von Cook und seinen unmittelbaren Nachfolgern. Krusenstern, Dumont d'Urville, King und Fitzroy und eine Reihe andrer hervorragender Seeoffiziere setzten diese Arbeiten in unserm Jahrhundert fort. Die Hydrographie des Stillen Ozeans ist so weit gefördert, daß Entdeckungen neuer Inseln als ausgeschlossen gelten dürfen, wenn auch die genauere Bestimmung und Kartierung der zahlreichen kleinen Inseln (nahe 700) noch zum größern Teil der Zukunft vorbehalten Die Tiefenverhältnisse des Stillen Ozeans sind durch eine Reihe von Forschungen in den beiden letzten Jahrzehnten in großen Zügen bestimmt worden. Danach befindet sich im nördlichen Stillen Ozean ein großes Depressionsgebiet von über 6000 m Tiefe (Tuscaroratiefe), dessen westlicher Teil die größte bisher gelotete Tiefe aufweist (8513 m; vgl. die Tabelle im Art. "Meer", S. 411). Der steile Abfall von der Küste von Japan zu diesen großen Tiefen ist bemerkenswert. Ein kleines tiefes Gebiet liegt in großer Nähe des südamerikanischen Kontinents. Dagegen ist der südliche Stille Ozean, soweit bis jetzt erforscht, verhältnismäßig arm an großen Tiefen. Die Tiefenverhältnisse zwischen den einzelnen Inselgruppen Stiller Ozean (Hydrographisches, Verkehrsverhältnisse). noch wenig bekannt und nach den vereinzelten Lotungen als sehr ungleichmäßig zu betrachten. Die für den Stillen Ozean charakteristischen Erdbebenwellen, welche von Zeit zu Zeit beobachtet worden sind, lassen einen Schluß zu auf die mittlere Tiefe des durchlaufenen Meeresgebiets. Die Erdbebenwellen von 1854, 1868 und 1877 sind zu solchen Berechnungen benutzt und haben für die Richtung Kalifornien-Japan rund 4050 m, für die Richtung Peru-Neuseeland 2750 m ergeben (Hochstetter 1869, Geinitz 1877 in "Petermanns Geographischen Mitteilungen"). Bisher sind solche Beobachtungen nur immer an einer Seite des Ozeans mit selbstregistrierenden Apparaten angestellt, während die Zeitangaben für die andre Seite schwankend waren. Die Ergebnisse sind daher noch ungenau. Auf Grund der verschiedenen Lotungen und Berechnungen bis zum Jahr 1878 ist die mittlere Tiefe des Stillen Ozeans von Supan gefunden worden zu 3370 m, von Krümmel (ohne Rücksicht auf die Wellenrechnung) zu 3912 m. Das Stromsystem an der Oberfläche des Stillen Ozeans zeigt in seinen Hauptzügen Analogien mit dem des Atlantischen Ozeans. Auch hier wird ein Äquatorialstrom von den Passaten zu beiden Seiten des Äquators nach W. getrieben. Die Nordgrenze dieser Westströmungen setzt Duperrey in 24° nördl. Br., die Südgrenze in 26° südl. Br. In der Nähe des Äquators findet sich ein östlich gerichteter Äqnatorialgegenstrom, in der Regel zwischen 2 und 6° nördl. Br. angegeben. Diese Strömungen sind bei weitem nicht so stark und beständig wie die analogen des Atlantischen Ozeans. Da außerdem ihre Grenzen nach N. und Süden mit den Jahreszeiten schwanken müssen, so bedarf es einer sehr großen Zahl von Beobachtungen, um ein zuverlässiges Bild dieser Verhältnisse zu erlangen. Daran mangelt es so sehr, daß die Fortführung dieser Strömungen über den ganzen Ozean auf einer Verbindung von Einzelbeobachtungen und Wahrscheinlichkeiten beruht, welche noch weiterer Bestätigung bedürfen. Die weitaus größte Fläche des Stillen Ozeans ist frei von regelmäßigen Strömungen, an den Küsten der Kontinente dagegen finden sich ausgeprägte Stromverhältnisse, welche denen des Atlantischen Ozeans nahekommen. Namentlich der Kuro Siwo (Schwarzer oder Japanischer Strom, s. Kuro Siwo), welcher warmes Wasser an der Ostküste von Japan nach N. führt, ist stets gern mit dem Golfstrom verglichen worden. Seine Fortsetzung macht sich an der Westküste Nordamerikas in warmem, feuchtem Klima bemerklich. Der Labradorströmung der Ostküste von Nordamerika entspricht das kalte Wasser im Ochotskischen Meer und bis zur Halbinsel von Korea. Im südlichen Stillen Ozean finden sich ebenfalls analoge Strömungen wie im südlichen Atlantischen Ozean. Eine nach Süden setzende australische Strömung macht sich an der Küste von Neusüdwales bemerklich. Im Süden von Australien herrscht ein östlicher Strom vor, welcher den australischen Strom nach Neuseeland hin ablenkt. Südlich von 30° südl. Br. herrschen Westwinde und mit ihnen laufende Ostströme vor, welche nach der Westküste Südamerikas das Wasser hintreiben. Daraus resultieren an dieser Küste die an der patagonischen Küste nach Süden um das Kap Horn setzende Strömung und nach N. die kalte Peru- oder Humboldt-Strömung, welche sich bis über die Galapagosinseln hinaus fortsetzt und auf das Klima der ganzen Küste einen so wohlthätigen Einfluß ausübt. Die an der Küste von Chile und Peru bekannten dichten Nebel werden diesem kalten Wasser zugeschrieben. Doch wird selbst diese Strömung streckenweise durch anhaltende Nordwinde in ihren obern Schichten zum Stillstand gebracht. Neuere Forschungen machen es wahrscheinlich, daß das kalte Wasser an der peruanischen Küste nicht der Strömung direkt entstammt, sondern aus der Tiefe aufsteigt. Die Temperaturverteilung an der Oberfläche dieses ausgedehnten Wasserbeckens ist nur lückenhaft erforscht. Es knüpft sich jedoch an die Kenntnis derselben das für die Südsee so wichtige Problem von der Verbreitung der Riffe bauenden Korallen; man hat daher aus direkten Beobachtungen, aus den Strömungen und aus der Lage der Koralleninseln wechselseitig Schlüsse gezogen. Danach ist die Oberflächentemperatur zwischen 28° nördl. Br. und 28° südl. Br. im allgemeinen nicht niedriger als 20° C., mit Ausnahme der Gewässer im Bereich der peruanischen Strömung und der Küste von Kalifornien, während im O. das warme Wasser noch höhere Breiten (Japan) erreicht. Im Bereich des Äquatorialgegenstroms ist das Wasser, ebenso wie im Atlantischen Ozean, am wärmsten. Das Gebiet, in welchem das Wasser über 20° warm bleibt, bietet die Lebensbedingungen für die Riffe bauenden Korallen, welche im Stillen Ozean eine so große Verbreitung aufweisen (vgl. Dana, Corals and coral-islands) und Inselgruppen von der Ausdehnung der Karolinen u. der Tuamotus u.a. ganz ausschließlich aufgebaut haben. Eine charakteristische Eigentümlichkeit des westlichen Stillen Ozeans sind die tiefen Meeresbecken, welche von der freien Zirkulation des Tiefenwassers durch unterseeische Bodenerhebungen abgeschlossen werden (vgl. Tiefentemperatur im Art. "Meer", S. 413 f.). Eine solche Erhebung verbindet in ca. 2600 m Tiefe Japan mit den Bonininseln, Marianen und Karolinen und umschließt ein 8400 m tiefes Becken. Das Korallenmeer mit Tiefen von 4900 m ist in 2500 m durch eine Bodenerhebung abgesperrt, ebenso sind die Sulusee (4700 m), Mindorosee (4800 m), Celebessee (5150 m) in Tiefen von 600-1200 m umrandet, wie sich aus ihren warmen Bodentemperaturen unzweifelhaft ergibt. Die Windverhältnisse des Stillen Ozeans sind im allgemeinen denen des Atlantischen Ozeans ähnlich. Zwischen 25° nördl. Br. und 25° südl. Br. wehen vorherrschend Nordost- und Südostpassate, welche jedoch hier nur durch einen schmalen, im mittlern Teil sogar überhaupt nicht durch einen Stillengürtel voneinander getrennt sind. An der Westküste von Nordamerika sind nördliche, an der von Südamerika sehr beständige, aber schwache südliche Winde das ganze Jahr hindurch vorherrschend. Die Westseite des Stillen Ozeans, namentlich die oben genannten, durch ihre Tiefentemperaturen merkwürdigen Meeresteile liegen im Gebiet der Monsune, welche sie mit dem Indischen Ozean (s. d.) gemeinsam haben. Die höhern Breiten beider Hemisphären weisen, ähnlich wie im Atlantischen Ozean, vorherrschend Westwinde auf, welche namentlich im Süden sehr kräftig und beständig angetroffen werden. Verkehrsverhältnisse des Stillen Ozeans. Der Stille Ozean ist erst sehr spät dem Weltverkehr eröffnet worden. Seine nordwestliche Küste wurde allerdings schon in früher Zeit befahren, ohne daß man aber eine Ahnung davon hatte, daß man sich hier in andern Gewässern befinde als denen des Atlantischen Ozeans. Auch Kolumbus meinte, daß letzterer bis nach Japan und China reiche. Erst dem Vasco Nunez de Balboa verdanken wir die Entdeckung der Existenz einer zwischen der Westküste Amerikas und Asien sich hinziehenden Meeresfläche. Als der Stillfried-Rattonitz - Stillleben. eigentliche Entdecker des Stillen Ozeans muß aber Magelhaens gelten, welcher ihn in seiner ganzen Ausdehnung von SO. nach NW. durchquerte. Aber erst 44 Jahre später (1565) gelang dem Mönch und Seefahrer Urbaneta der oft gemachte, stets mißglückte Versuch, den Stillen Ozean von W. nach O. zu durchmessen. Doch bot trotz mancher neuen Unternehmungen noch 250 Jahre nach Magelhaens der Stille Ozean noch immer ein ungeheures Feld für Entdeckungen; der Ruhm, nicht nur die in ihm verstreuten Archipele und einzelnen Inseln, auch seine Tiefenverhältnisse und Riffe näher bekannt gemacht zu haben, gebührt unbestritten Cook, und wenn auch nach ihm noch viel gethan wurde, die Hauptarbeit hatte er doch geleistet. Indessen eine Verkehrsstraße wurde der Stille Ozean erst viel später. Seine Ränder freilich wurden an den asiatischen und den australischen Küsten sowie entlang der Westseite Amerikas mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, bez. der Erschließung derselben für den europäischen Handel mit jedem Jahr belebter; allein ein Bedürfnis, durch die ganze weite Fläche des Ozeans einen regelmäßigen Verkehr hindurchzuleiten, stellte sich erst weit später ein. Dies fand erst nach dem Aufblühen der australischen Kolonien und nach der regern Anteilnahme Nordamerikas an dem Handel mit Ostasien statt. Die Vollendung der Eisenbahn über den Isthmus von Panama führte zur Errichtung einer Dampferlinie von Panama nach Sydney als Fortsetzung einer in Aspinwall endigenden englischen Linie, aber die Pacificbahn von New York nach San Francisco gab dem Verkehr sofort eine andre Bahn. Die Dampfer verließen in Zukunft San Francisco, um über Honolulu und Auckland nach Sydney zu gelangen, und kehrten auf demselben Weg zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Eine Linie von Segelschiffen stellte regelmäßige Verbindung zwischen San Francisco und den französischen Markesas und Tahiti her. Eine bessere Kenntnis der Winde und Meeresströmungen bestimmte viele Segler, den Weg von Australien nach Europa um die Südspitze Amerikas zu nehmen. Die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutung der australischen Kolonien führte Hand in Hand mit einem schnell wachsenden Handelsverkehr zu einer Vermehrung der zwischen Europa und dem fünften Weltteil fahrenden Postdampferlinien. Zu den Linien, welche um die Südküste des Australkontinents dessen Ostküste erreichen, traten solche, welche die Torresstraße durchziehen, kamen Anschlußlinien in Sydney nach Neukaledonien, dem Fidschiarchipel, der Samoa- und Tongagruppe sowie nach Neuguinea. Englische, französische und deutsche Dampfer traten hier in Konkurrenz. Den nördlichen Stillen Ozean durchziehen zwei von Hongkong über Jokohama gehende Dampferlinien, deren eine in San Francisco, deren andre in Vancouver endet. Ein größerer Verkehr mit und zwischen den einzelnen Inseln wurde erst dann zum Bedürfnis, als man auf denselben oder in deren Gewässern Waren entdeckte, deren der Welthandel benötigt, wie Kopra und Kokosnußkerne, Perlen und Perlmutter, Trepang, Schildkrötenschalen, und als die von europäischen Unternehmern in Ostaustralien und auf mehreren Inselgruppen begonnene Plantagenwirtschaft eine Nachfrage nach Arbeitern erzeugte, die nur durch Herbeiziehung von Bewohnern gewisser Inselgruppen befriedigt werden konnte. Daß das Telegraphenkabel hier noch einen wenig bedeutenden Platz einnimmt, ist bei der ungeheuern Ausdehnung des Stillen Meers erklärlich. Doch haben bereits seit längerer Zeit Tasmania und Neuseeland Anschluß an den Australkontinent gefunden, der wiederum durch Kabel und Landlinien mit der übrigen Welt in Verbindung steht. Stillfried-Rattonitz, Rudolf Maria Bernhard, Graf von, preuß. Geschichtsforscher, geb. 14. Aug. 1804 zu Hirschberg aus einem alten, ursprünglich böhmischen, jetzt auch in Schlesien verzweigten Geschlecht, studierte zu Breslau die Rechte, trat für kurze Zeit in den Staatsverwaltungsdienst und widmete sich dann historisch-antiquarischen Studien. Er begründete, von Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gezogen und 1840 zum Zeremonienmeister ernannt, das königliche Hausarchiv und ward 1856 Direktor desselben. Seit 1853 Oberzeremonienmeister und 1856 Wirklicher Geheimer Rat, ward er 1858 in Lissabon zum Granden erster Klasse mit dem Titel eines Grafen von Alcantara und 1861 zum preußischen Grafen ernannt. Auch ward er zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Er starb 9. Aug. 1882. S. machte sich unter anderm durch folgende Arbeiten bekannt: "Altertümer und Kunstdenkmale des Hauses Hohenzollern" (Berl. 1838-67, 2 Foliobände), "Geschichte der Burggrafen von Nürnberg" (Görl. 1843), "Monumenta Zollerana" (Berl. 1843-62, 7 Bde.), "Der Schwanenorden" (Halle 1845), "Beiträge zur Geschichte des schlesischen Adels" (Berl. 1860-64, 2 Hefte), "Stammtafel des Gesamthauses Hohenzollern" (das. 1869; neue Ausg. 1879, 6 Blatt), "Hohenzollern. Beschreibung u. Geschichte der Burg" (Nürnb. 1871), "Friedrich Wilhelm III. und seine Söhne" (Berl. 1874), "Die Attribute des neuen Deutschen Reichs" (3. Aufl., das. 1882), "Die Titel und Wappen des preußischen Königshauses" (das. 1875), "Kloster Heilsbronn" (das. 1877) und gab mit Kugler das Prachtwerk "Die Hohenzollern und das deutsche Vaterland" (3. Aufl., Münch. 1884, 2 Bde.) sowie mit Hänle "Das Buch vom Schwanenorden" (das. 1881) heraus. Auch leitete er den Bau der Burg Hohenzollern und die Wiederherstellung der Klosterkirche zu Heilsbronn. Stillgericht, s. Femgerichte. Stilling, Schriftsteller, s. Jung 2). Stillingia L. (Talgbaum), Gattung aus der Familie der Euphorbiaceen, meist Sträucher mit wechselständigen, ganzen Blättern, endständigen Blütenähren und dreisamigen Kapseln. S. sebifera Michx. (Exoecaria sebifera J. Müll., s. Tafel "Öle und Fette liefernde Pflanzen"), ein kleiner Baum mit langgestielten, breit rhombisch-eiförmigen, ganzrandigen Blättern und großer, kugelig-elliptischer Kapsel, besitzt haselnußgroße, schwarze Samen, welche mit talgartigem Fett umgeben sind. Er ist in China und Japan heimisch, wird dort sowie in Ost- und Westindien, Nordamerika, Algerien und Südfrankreich kultiviert und liefert den chinesischen Talg. Durch Pressen der von der Fetthülle befreiten Samen erhält man fettes Öl. S. silvatica J. Müll., ein Strauch mit fast sitzenden und linealischen bis elliptisch lanzettlichen Blättern, im südlichen Nordamerika, liefert eine purgierend wirkende Wurzel. Stillkoller, s. Dummkoller. Stillleben (holländ. Stilleven, engl. Still-life, franz. Nature morte, ital. Riposo), ein Zweig der Malerei, welcher die Darstellung lebloser Gegenstände, wie toter Tiere (Wild, Geflügel und Fische), Haus-, Küchen- und Tischgeräte, Früchte, Blumen, Kostbarkeiten, Raritäten etc., zum Gegenstand hat und besonders durch ein geschicktes Arrangement, durch koloristische Reize und feine Beleuchtung zu wirken sucht. Schon im Altertum entwickelte sich das Stillwater - Stimme. der alexandrinischen Zeit zu größter Blüte, wofür die pompejanischen Wandbilder noch zahlreiche Beispiele liefern. Die Malerei der Renaissance behandelte das S. nicht als eine selbständige Gattung der Malerei. Seit dem Anfang des 17. Jahrh. wurde es jedoch von den niederländischen Malern in großem Umfang kultiviert und zur höchsten Virtuosität entwickelt, wobei man zwei Richtungen zu unterscheiden hat, deren eine nach glänzender koloristischer Wirkung bei einer mehr aufs Ganze gerichteten dekorativen Behandlung strebte, während die andre mehr auf peinliche, miniaturartige Wiedergabe der Einzelheiten sah. Die Hauptvertreter der niederländischen Stilllebenmalerei sind: J. Brueghel der ältere, Snyders, Seghers, die Familie de Heem, A. van Beijeren, W. Kalf, Heda, W. van Aelst, Dou, Fyt, Weenix, R. Ruysch, van Huysum u. a. m. Im 19. Jahrh. ist das S. wieder sehr in Aufnahme gekommen, in Frankreich besonders durch Robie, Vollon und Ph. Rousseau, in Deutschland durch Preyer (Düsseldorf), die Berliner Hoguet, P. Meyerheim, Hertel, Th. und R. Grönland, Heimerdinger (Hamburg), namentlich aber durch die Malerinnen Begas-Parmentier, H. v. Preuschen, Hormuth-Kallmorgan, Hedinger u. a. Vgl. Blumen- und Früchtemalerei. Stillwater, Stadt im nordamerikan. Staat Minnesota, 25 km nordöstlich von St. Paul, am schiffbaren St. Croix, hat ein Staatsgefängnis, bedeutenden Holzhandel und (1885) 16,437 Stilo (ital.), Stil; S. osservato, der "hergebrachte", strenge Stil, besonders der reine Vokalstil, a cappella-Stil, Palestrinastil; S. rappresentativo, der für die szenische Darstellung geeignete, dramatische Stil, die um 1600 zu Florenz erfundene begleitete Monodie (s. Oper, S. 398). Stilo, Stadt in der ital. Provinz Reggio di Calabria, Kreis Gerace, am Stillaro, hat ein merkwürdiges altes Kirchlein, Seidenzucht, Weinbau und (1881) 2655 Einw. Das südöstlich davon gelegene Kap S. schließt südlich den Golf von Squillace. Stilpnosiderit (Eisenpecherz, Pecheisenstein), Mineral aus der Ordnung der Hydroxyde, tritt gewöhnlich gleichzeitig mit Brauneisenstein in nierenförmigen oder stalaktitischen, amorphen, pechschwarzen oder schwärzlichbraunen Massen mit starkem Fettglanz auf; Härte 4,5-5, spez. Gew. 3,6-3,8. S. enthält Eisenoxyd und Wasser und nähert sich bald dem Brauneisenerz (14 Proz. Wasser), bald dem Goethit (10 Proz. Wasser); er findet sich bei Siegen, Sayn, Amberg, in Böhmen und Mähren und wird mit Brauneisenstein verhüttet. Stilpon, griech. Philosoph, aus Megara, blühte um 300 v. Chr. und erhob, durch Ernst und Reinheit seiner Ethik, in welcher er ein Vorläufer der Stoiker war, sowie durch Schärfe seiner Dialektik ausgezeichnet, die megarische Schule zu großem Ansehen. Von seinen Schriften hat sich nichts Stilton, Dorf in Huntingdonshire (England), mit (1881) 645 Einw., hat seinen Namen einer berühmten Sorte Käse gegeben, der hier zuerst verkauft wurde, indes meist aus Leicestershire kommt. Stimmbänder, s. Kehlkopf. Stimmbildung. Die verschiedenen, bei der Ausbildung der Singstimmen (s. Stimme, S. 321) in Betracht zu ziehenden Momente sind: 1) Bildung des richtigen Ansatzes (s. d.) der für den Gesang geeigneten Resonanz der Vokale; 2) Schulung des Atemholens und Atemausgebens (mittels des messa di voce), also Kräftigung der Respirationsorgane, welche die erste Vorbedingung einer Kräftigung der Stimme ist; 3) Übung im Festhalten der Tonhöhe (zugleich eine Übung der beteiligten Muskeln und Bänder und des Gehörs, ebenfalls mittels des Messa di voce); 4) Ausgleichung der Klangfarbe der Töne (wobei zu beachten ist, daß manchmal ein einzelner Ton schlecht anspricht); 5) Erweiterung des Stimmumfanges (durch Übung der Töne, welche dem Sänger bequem zu Gebote stehen); 6) Übung der Biegsamkeit der Stimme (zunächst langsame Tonverbindung in engen und weiten Intervallen, später Läuferübungen, Triller, Mordente etc.); 7) Ausbildung des Gehörs (systematische Treffübungen, Musikdiktat); 8) Übungen in der richtigen Aussprache (am besten durch Liederstudium) ; 9) Übungen im Vortrag (durch geschickte Auswahl von Werken verschiedenartigen Charakters für das Studium). Vgl. Gesang. Stimmbruch, s. Mutation. Stimme (Vox), im physiologischen Sinn der Inbegriff der Töne, welche im tierischen Organismus beim Durchgang des Atems durch den Kehlkopf willkürlich erzeugt werden. Das menschliche Stimmorgan zerfällt in das Windrohr, das Zungenwerk und in das Ansatzrohr. Der Kehlkopf ist ein Zungenwerk mit membranösen Zungen (den Stimmbändern). Als Windrohr dienen die Luftröhre und deren Verästelungen, als Zungen die beiden untern Stimmbänder, und das Ansatzrohr wird gebildet von den obern Teilen des Kehlkopfes (den Morgagnischen Taschen und den sogen. obern Stimmbändern) sowie von der Schlund-, Mund- und Nasenhöhle. Der Vorgang bei der Stimmbildung, welche auf regelmäßigen periodischen Explosionen der durch die enge Stimmritze tretenden Luft beruht, ist nun folgender: Die Luftröhre leitet die unter einem gewissen Druck stehende Ausatmungsluft gegen die mehr oder weniger gespannten und also schwingungsfähigen Stimmbänder, die jedoch für sich keine oder nur ganz schwache Töne geben. Die beiden untern Stimmbänder treten von den Seiten her einander entgegen und verwandeln die zwischen ihnen liegende Stimmritze in eine feine Spalte, welche dem Luftaustritt ein gewisses Hindernis entgegensetzt. Dadurch wird eine zu schnelle Entleerung des in den Lungen vorhandenen Luftvorrats verhindert, und es wird möglich, einmal den Ton längere Zeit hindurch auszuhalten und das andre Mal die Luft des Windrohrs durch den Druck der Ausatmungsmuskeln in eine bestimmte Spannung zu versetzen. Der Luftstoß drängt die Stimmbänder in die Höhe und etwas auseinander; sofort aber schwingen die Bänder zurück, und die Stimmritze wird dadurch wieder verengert. Dieses Schwingen der Stimmbänder mit abwechselnder minimaler Verengerung und Erweiterung der Stimmritze wiederholt sich oft und in rhythmischer Weise, d. h. die Schwingungen sind regelmäßige. Dadurch wird auch die Luft des Ansatzrohrs in regelmäßige, stehende, also tönende Schwingungen versetzt. Zur Hervorbringung selbst der schwächsten Töne ist eine gewisse Stärke des Anblasens nötig, d. h. es muß die Luft im Windrohr eine gewisse Spannung haben, welche wir ihr durch Zusammendrücken des Brustkorbes, d. h. durch die Ausatmung, geben. Bei großer Kraftlosigkeit der Atmungsmuskeln und bei einer Öffnung in der Luftröhre (Wunde) geht daher die S. verloren. Übrigens dienen die Wandungen der Luftröhre und der Bronchien sowie die in ihnen eingeschlossenen Luftmassen als Resonanzapparate, denn sie verstärken durch ihr Mitschwingen die Töne. Menschen mit entwickeltem Brustkorb haben darum eine kräftige S.; der Brustkorb selbst wird durch die Stimme (des Menschen). S. in Schwingungen versetzt, welche die auf den Brustkorb aufgelegte Hand wahrzunehmen vermag (Stimmvibration des Thorax). Selbst beim heftigsten und schnellsten Ausatmen entstehen keine Töne, welche der S. irgendwie vergleichbar wären, sondern nur blasende oder keuchende Geräusche infolge der Reibung der Luft im Kehlkopf und an andern Stellen der Luftwege. Tonbildung ist immer nur möglich, wenn der Luftstrom regelmäßig unterbrochen wird durch die gespannten Stimmbänder. Aus diesem Grund muß eine feine Stimmritze vorhanden sein, wenn es zur Tonbildung kommen soll, denn die weite Stimmritze gibt kein hinreichendes Hemmnis für den Luftstrom ab. Diese Stimmritze wird ausschließlich durch die untern Stimmbänder gebildet, denn wenn man am toten Kehlkopf die untern Stimmbänder abträgt, so bekommt man mittels der obern Stimmbänder allein keine Töne mehr. Bei höhern Tönen näherten sich zwar auch die obern Bänder einander, doch nie in dem Grade, daß dadurch ein zur Tonbildung hinreichendes Lufthindernis gebildet wurde. Entfernt man aber am toten Kehlkopf die obern Bänder, so erlangt man durch die untern Bänder immer noch mit Leichtigkeit Töne, nur von etwas anderm Klang als bei unversehrtem Kehlkopf. Ebensowenig wird durch Verstümmelung der obern Bänder die Tonhöhe verändert. Die untern Bänder sind demnach unentbehrlich zur Tonerzeugung, und sie allein verdienen daher den Namen der Stimmbänder. Die Bildung der engen Stimmritze wird dadurch bewirkt, daß die Gießkannenknorpel aneinander rücken und somit den freien Rand der Stimmbänder einander nähern. Mit zunehmender Tonhöhe wird die Stimmritze enger und kürzer. Ganz unentbehrlich für die Stimmbildung ist die gehörige Spannung und Elastizität der Stimmbänder. Ist der Schleimüberzug derselben entzündlich geschwollen, mit zähem und dickem Schleim belegt, oder sind die Stimmbänder durch andre krankhafte Prozesse, Neubildungen etc., verdickt, so sind sie unfähig, in gehöriger Weise zu schwingen. Die Tongebung ist dann mehr oder weniger gehindert, die Töne werden rauh, unangenehmer und tiefer; in höherm Grade tritt völlige Stimmlosigkeit ein. Außerdem ist zum Hervorbringen eines Tons von bestimmter Höhe erforderlich, daß Länge und Spannung der Stimmbänder unverändert bleiben. Die Bildung und Öffnung der Stimmritze ist an die Ortsbewegungen gebunden, welche die beiden Gießkannenknorpel ausführen. Durch das Auseinanderrücken letzterer wird die Stimmritze gebildet (geschlossen), durch die Rückwärtsbewegung derselben werden die Stimmbänder gespannt und umgekehrt. Die Tonhöhe ist abhängig von der Länge und der Spannung der Stimmbänder. Die Länge der Stimmbänder ist von großem Einfluß auf die Stimmlage in der Art, daß mit langen Stimmbändern (beim Mann) eine tiefe, mit kurzen Stimmbändern (beim Kind und Weib) eine hohe Stimmlage verbunden ist. Für jedes einzelne Stimmorgan ist die Spannung der Bänder das Hauptveränderungsmittel der Tonhöhe: je größer die Spannung, um so höher der betreffende Ton. Die Spannung der Stimmbänder erfolgt durch Muskelwirkung , wobei ihr hinterer Insertionspunkt sich von dem vordern entfernt. Für alle die Formveränderungen, welche mit der Stimmritze bei der Tonbildung vor sich gehen, sind besondere Muskeln am Kehlkopf angebracht. Die Tonhöhe steigt jedoch nicht bloß mit zunehmender Spannung der Stimmbänder, sondern auch mit zunehmender Stärke des Luftstroms, welcher durch die Stimmritze geht. Eine und dieselbe Tonhöhe ist also erreichbar entweder durch stärkere Bänderspannung bei zugleich ruhigem Ausatmungsstrom oder mittels schwächerer Spannung der Bänder bei stärkerm Luftstrom. Im erstern Fall hat der Ton einen angenehmern Klang, aber beide Faktoren sind wichtige Kompensationsmittel der Tonhöhe. Auch erklärt sich hieraus, daß die höchsten Töne niemals schwach, die niedrigsten niemals sehr stark gegeben werden können. Obschon während des Ausatmens mit Abnahme des Luftvorrats auch die Kraft des Anblasens abnimmt, so kann der Ton trotzdem auf gleicher Höhe erhalten werden durch zunehmende Spannung der Stimmbänder. Das Ansatzrohr der musikalischen Zungenwerke wird am menschlichen Stimmorgan mit mannigfachen, der S. zu gute kommenden Modifikationen durch diejenigen Abschnitte der Luftwege vertreten, welche oberhalb der untern Stimmbänder liegen, also durch die Rachen-, Mund- und Nasenhöhle. Dieses Ansatzrohr verändert zwar nicht wesentlich die Tonhöhe, wohl aber den Klang und besonders die Stärke des Tons. Zuhalten der Nase, Schließen oder Öffnen des Mundes z. B. verändern in der That niemals die Höhe, wohl aber den Klang und die Stärke der Töne. Ein Verschluß der Nase ändert, wenn der Ausatmungsstrom schwach und der Mund weit geöffnet ist, den Klang der Töne verhältnismäßig nur wenig; bei starkem Luftstrom aber wird der Klang näselnd, indem die Wände der Nasenhöhle die Schallwellen nicht bloß reflektieren, sondern auch selbst in stärkere, den Klang modifizierende Schwingungen geraten. Zunehmende Räumlichkeit der Mund- und Nasenhöhle begünstigt, umfängliche Verknöcherung der Kehlkopfknorpel vermindert die Nach dem Umfang der menschlichen S. unterscheidet man den Sopran oder die höhere Frauenstimme, den Alt oder die tiefere Frauenstimme, den Tenor oder die hohe Männerstimme und den Baß oder die tiefe Männerstimme. Der Sopran liegt ungefähr eine Oktave höher als der Tenor, der Alt um ebensoviel höher als der Baß. Zwischen dem tiefsten Baß- und höchsten Sopranton liegen etwas über 3 1/2 Oktaven. Rechnet man die Stimmen von seltener Tiefe und Höhe dazu, so beträgt der ganze Umfang der Menschenstimme sogar 5 Oktaven; ihr tiefster Ton hat 80, ihr höchster 1024 Schwingungen in der Sekunde. Eine gute Einzelstimme umfaßt 2 Oktaven (und etwas darüber) musikalisch verwendbarer Töne. Stimmen von größerm Umfang sind nicht so selten, ja selbst ein Gebiet von 3 1/2 Oktaven wurde schon beobachtet. Der Baß erreicht ausnahmsweise f1, Kinderstimmen und der Frauensopran manchmal